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Jan Krömer - Ermittler in Ostfriesland - Die Fälle 12 bis 14

von Moa Graven (Autor:in)
350 Seiten
Reihe: Ermittler Jan Krömer, Band 5

Zusammenfassung

Jan Krömer und Lisa Berthold jagen in Aurich (Ostfriesland) immer Serienkiller. In diesem Sammelband erwarten sie drei weitere fesselnde Krimis mit dem etwas außergewöhnlichen Ermittlerduo, das zurückgezogen in einem alten Haus in Tannenhausen lebt. Dieser Sammelband enthält die Fälle 12 bis 14 mit den Titeln TATTOO, Es führt kein Weg zurück und Der einsamste Tod. Nervenkitzel von der ersten bis zur letzten Seite.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

Jan Krömer Ermittler in Ostfriesland

Die Fälle 12 – 14

 

TATTOO

 

Es führt kein Weg zurück

 

Der einsamste Tod

TATTOO – Zum Inhalt

Keine Zeit für Krisen, obwohl Jan von der Sinnlosigkeit seines Jobs überzeugt in ein großes emotionales Loch zu fallen droht. Düstere Gedanken bestimmen seinen Tag und ziehen auch Lisa mit runter. Es ist Ende November, dunkel und stürmisch. Und dann gibt es grausame Mordfälle, die diese Sinnlosigkeit noch zu überflügeln scheinen.

Lethargie

Es setzte ihm alles zu und Lisa wusste nicht, wie lange sie den Kollegen in der Dienststelle noch erklären konnte, dass Jan eine leichte Grippe im Griff hatte. Aber das war noch das kleinere Übel. Viel schlimmer war es für sie, dass sie spürte, bald mit ihrem Latein am Ende zu sein. Seit einer Woche hatte Jan das Haus praktisch nicht mehr verlassen. Tagsüber lag er mit Chief zusammen auf dem Sofa und starrte zum Fenster. Er aß kaum etwas und erst am Abend machte er sich ein Brot oder so und öffnete die erste Rotweinfleische. Es schien alles zu viel für ihn zu sein. Zuerst sein Sohn Jonar, der sich entschieden hatte, wieder nach Norwegen zu gehen. Lisa wusste, wie sehr er an dem Jungen, den er erst so spät kennen gelernt hatte, hing. Es musste ihm das Herz entreißen, dass er ihn praktisch nicht mehr sehen würde. Weder konnte und wollte Jonar ständig nach Deutschland kommen, noch konnte sie sich vorstellen, dass Jan zwischen Aurich und Norwegen pendelte. Die logischste Konsequenz also, dass sich Vater und Sohn auseinanderlebten.

Und dann noch die Sache mit Katrin. Er hatte ihr beim Halloweenfest mit den ostfriesischen Kollegen bei in Rhauderfehn praktisch das Leben gerettet, als er sich auf den Angreifer mit dem Samureischwert geworfen hatte, bevor dieser noch einmal zuschlagen konnte.

Guntram hatte sich wohl tausend Mal dafür mit Tränen in den Augen bei ihm bedankt. Doch Jan wollte keinen Dank und hatte alles mit einer Handbewegung abgetan. »Das hätte doch jeder getan«, hatte er gesagt, als sie sich in Rhauderfehn auf den Weg gemacht hatten. Während der Fahrt hatte Jan nicht viel gesagt, außer, dass das für ihn das letzte Mal gewesen war, dass er etwas mit den anderen Kollegen in Ostfriesland zu tun haben wollte. Ihm schien alles nur noch auf die Nerven zu gehen.

Jetzt versuchte Lisa gerade, möglichst geräuschlos einen Tee zuzubereiten. Es war Sonntagnachmittag und Jan war auf dem Sofa eingenickt. Chief lag auf dem Boden zu seinen Füßen und räkelte sich. Wenn dem Hund jetzt noch etwas zustößt, dachte Lisa, dann wird er völlig den Verstand verlieren. Jan hing an dem Tier, das ließ sich kaum in Worte fassen. Und der Hund wurde langsam alt. Immer seltener hatte er im Sommer überhaupt Lust gehabt, draußen durch den Wald zu streifen und blieb, nachdem er sein Geschäft gleich hinter dem Haus erledigt hatte, hinten im Flur liegen und sah nach draußen. Es ähnelte dem, wie Jan sich nun verhielt.

Es war Ende November und der Wind pfiff um die Hausecke. Die Bäume des angrenzenden Waldes wiegten sich sachte hin und her, als würden sie sich auf ein Fest vorbereiten. Vielleicht spinne ich auch langsam, dachte Lisa. Und wundern würde es sie auch schon längst nicht mehr. Sie war zu viel allein. Allein mit Jan. Und das war im Prinzip dasselbe.

»Lisa?«

Jan, der wohl wach geworden sein musste, hatte sie erschreckt, als er ihren Namen sagte. Es klang in die Stille hinein wie ein Schreien.

»Jan«, erwiderte sie, »ich wusste nicht ... ich mache uns gerade einen Tee.«

»Das ist gut«, erwiderte er, setzte sich aufrecht hin, achtete dabei auf Chief, um ihn nicht mit den Füßen zu streifen und wuschelte sich durchs Haar. »Wie spät ist es eigentlich?«

Sie sah zur Armbanduhr. »Gleich vier.«

»Es wird schon wieder dunkel.«

»Ja.« Sie goss das Wasser auf, das schon vor Minuten so weit gewesen war, bevor sie sich in Gedanken verlor. Sie stellte die Kanne auf das Stövchen auf dem Tisch und wagte nicht, sich zu ihm aufs Sofa zu setzen, sondern blieb auf dem Stuhl zu seiner Rechten. Sie stützte die Arme auf den Tisch und legte ihr Kinn in die Hände.

»Was denkst du«, fuhr Jan fort, »wie geht es Katrin?«

Wahrscheinlich hat er wieder von der Sache geträumt, konstatierte Lisa. Es war in der letzten Zeit öfter vorgekommen.

»Soll ich sie morgen mal anrufen?«, fragte sie zurück.

»Nein, das ist nicht nötig.«

Sie goss den Tee ein, auch für ihn, und sie schwiegen weiter. Jeder auf seine Weise dem Leben nachtrauernd. Das Schlimmste für Lisa war, dass sie nicht mehr an ihn herankam. Seit dem letzten Sommer war er so weit weg. Da hatte Jonar das erste Mal eine Andeutung in die Richtung gemacht, dass es ihm in Norwegen bestimmt besser gefallen würde. Er war von seiner Studienreise nach Australien zurückgekehrt und offenbar zu einem anderen Menschen geworden, dem weites Land und Freiheit mehr zu bedeuten vermochten, als in der Nähe seines Vaters zu sein. So jedenfalls schien Jan es interpretiert zu haben. Aber konnte er es Jonar verübeln, hatte er einmal, als er noch bereit war, darüber zu sprechen, zu Lisa gesagt. Bis zu dessen sechzehntem Lebensjahr hatte Jan gar nichts von der Existenz seines Sohnes gewusst. Warum also sollte dem Jungen so viel daran liegen, jetzt bei seinem Vater zu bleiben? Und doch hatte es Jan tiefer getroffen, als es ihm lieb war. Er hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass es jemanden gab, der ihm ähnlich sah. Sein eigen Fleisch und Blut. Bewusst hätte er mit Mitte dreißig ganz sicher kein Kind mehr in die Welt gesetzt. Deshalb war Jonar so etwas wie ein Geschenk für ihn. Er liebte ihn über alles. Und jetzt musste Jan lernen, dass Liebe auch so richtig weh tun konnte. Ganz anders, als wenn eine Frau einen verließ oder man selber die Reißleine zog. Mit Jonar war das alles ein viel einschneidenderes Ereignis.

»Ich glaube, ich gehe heute früh ins Bett«, sagte Lisa schließlich und stellte ihren leeren Teebecher in die Spüle.

»Gute Nacht«, murmelte Jan, dem entgangen war, dass sie gar nicht jetzt sofort gemeint hatte.

Trotzdem ließ sie ihn allein. Und sie wusste, dass er die ganze Nacht dort vor dem Fenster mit Chief sitzen bleiben würde.

 

Gefesselt

Schon wieder waren Blätter auf ihren Rasen gefallen. Die alte Kastanie brauchte immer am längsten, um sich auf den bevorstehenden Winter vorzubereiten.

Gesine Peters schob die Gardine zurück vors Fenster. Wohl oder übel würde sie gleich wohl wieder nach draußen gehen müssen mit ihrer Harke. Im Grunde machte ihr Laub in den Beeten ja nichts aus. Doch vorne vorm Haus auf dem Rasen, da gehörten sie einfach nicht hin. Und seitdem sie alleine lebte, musste sie sich um alles kümmern. Auch, was das Haus und den Garten betraf. Sie hatte schon des Öfteren mit dem Gedanken gespielt, das Haus, das für sie alleine eigentlich viel zu groß war, zu verkaufen. Im letzten Moment allerdings zögerte sie dann doch immer, einen Immobilienmakler anzurufen. Es hingen so viele Erinnerungen zwischen diesen Wänden. Ihr ganzes Leben hatte sich hier abgespielt. Gemeinsam mit Harmannus hatte sie vier Kinder großgezogen. Damals war das so, dass sie sich um den Haushalt und die Erziehung kümmerte. Sie hatte es nie bereut und verstand ihre beiden erwachsenen Töchter manchmal nicht, wenn diese darauf bestanden, morgens um halb sieben aus dem Haus zu gehen, um einer sinnvolleren Arbeit als der Sorge um die Familie nachzugehen. Gesine wusste, wie sie über ihr Leben dachten. Doch es machte ihr nichts aus. Sie hatte es aufgegeben, ihnen zu zeigen, dass jeder Moment, den sie hier verbracht hatte, es wert gewesen war.

Sie stellte das Geschirr auf die Spülablage und griff nach ihrer dicken Wolljacke. Dazu ein Schal und eine Mütze, so war sie gegen die Kälte, die sie draußen erwartete, gewappnet.

Die Harke stand in einem kleinen Abstellschuppen neben dem Haus und Gesine zog die verwitterte Holztür, die niemals abgeschlossen wurde, auf. Ihr Blick fiel auf ein altes Schaukelpferd. Es hatte ihrer ältesten Tochter gehört. Ein Ohr war abgebrochen und ihr Mann hatte es nicht mehr geschafft, es zu reparieren. Gesine verdrängte die aufkommenden Gefühle, die bei dem Anblick zwangsläufig in ihr aufstiegen, und ging wieder nach draußen.

Es war gar nicht so kalt, wie sie geglaubt hatte. Bevor sie nach vorne ging, um den Rasen vom frisch gefallenen Laub zu befreien, fiel ihr Blick noch einmal in den Nachbargarten. Das geschah immer automatisch. Und nebenan bei Claudia gab es auch immer etwas zu sehen. Die alleinstehende Frau im Alter ihrer ältesten Tochter gehörte zu den Menschen, die einen Garten für die Tiere gestalteten. Jedenfalls behauptete Claudia das immer, wenn sie sich über die Buchsbaumhecke hinweg unterhielten. Das Ergebnis war, dass es bei Claudia im Sommer wucherte. Vor allem Wildkräuter, was Harmannus immer ärgerlich Unkraut genannt hatte. Claudia hatte einmal versucht, ihn darüber aufzuklären, doch er hatte nur abgewinkt.

Jetzt im Herbst sah der Garten immer noch wild aus, doch auch er hatte seine Farben an die herannahende dunkle Jahreszeit verloren. Claudia häufte abgebrochene Gehölze auf und harkte großzügig Laub zusammen für die Wildtiere, die Schutz im Winter suchten. Das fand Gesine im Prinzip auch richtig, konnte sich aber selber nicht zu so einer Verwilderung durchringen. Aber einen Laubhaufen, direkt neben dem Haus vor dem kleinen Schuppen, den hatte nun auch sie. Im vergangenen Sommer hatte Claudia ein altes Sofa mitten auf ihren nicht gemähten Rasen gestellt. Als Gesine sie fragte, ob sie es an die Straße stellen wollte, da würde sie dann sicher gerne behilflich sein, da hatte Claudia nur gelacht. Es sei zwar alt und nicht mehr schön für die Wohnung, aber im Garten, da könne es durchaus noch seine Dienste leisten. Und fortan saß Claudia auf einem Sofa im Garten. Gesine hatte insgeheim den Kopf geschüttelt, aber nichts weiter dazu gesagt.

Jetzt allerdings, als sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass Claudia auf dem Sofa saß, obwohl die Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt lagen, brachte es sie doch ins Grübeln. Konnte ein Mensch wirklich so verrückt sein und sich jetzt da draußen hinsetzen? Nicht einmal ihrer Nachbarin hätte sie so etwas zugetraut. Sie trug auch keine Jacke. Das war schon komisch. Gefesselt von dem Anblick rief Gesine über die Hecke hinweg:

»Claudia, alles in Ordnung bei dir?«

Es gab keine Antwort und auch keine Regung auf der anderen Seite.

Gesine sah sich unsicher um. Niemand sonst war um diese Zeit hier draußen zu sehen. Das war ja auch kein Wunder, ihre Häuser lagen mit wenigen weiteren ziemlich abgelegen am Rande von Ihlow. Hier kam am frühen Nachmittag nur der Postbote vorbei, wenn überhaupt. Also war es jetzt an ihr, sich Gewissheit zu verschaffen, dass mit Claudia alles in Ordnung war.

Gesine stellte die Harke gegen die Hauswand, zog ihre Strickjacke fester um sich und ging zu ihrem Gartentor, um auf das Nachbargrundstück zu gelangen.

Als sie vor dem Sofa stand, auf dem Claudia saß, brachte sie keinen Laut heraus, obwohl sie völlig geschockt war von dem Anblick. Claudia war tot. Ihr Gesicht war leichenblass, die Augen weit geöffnet und rot unterlaufen. Die Hände waren vor ihrem Bauch mit einem Strick gefesselt. Beinahe bereute Gesine, dass sie nicht die Gleichgültigkeit gegenüber Laub auf dem Rasen an den Tag gelegt hatte, wie ihre nun tote Nachbarin. Es wäre ihr einiges erspart geblieben.

»Großer Gott«, stieß Gesine schließlich aus und rannte so schnell es ihre Gicht zuließ, zum Haus zurück, um die Polizei zu rufen.

In Tannenhausen

Jan stand noch unter der Dusche, als bei Lisa, die schon früher aus dem Haus gegangen war, die Nachricht einging, dass es in Ihlow eine Tote gab. Sie versuchte, ihn auf dem Handy zu erreichen, doch er nahm nicht ab.

Als er das Wasser abstellte, fühlte Jan sich wie gelähmt. Er hatte bis sechs Uhr am Morgen in der Wohnküche gesessen, weil er nicht schlafen konnte. Während er grübelte, fielen ihm immer wieder die Augen zu, doch eine innere Unruhe brachte ihn fast zur Verzweiflung. Dabei hatte er nicht einmal besonders viel getrunken gehabt. Es war einfach so, dass er nicht mehr wusste, wofür das alles gut sein sollte. Morgens aufstehen, sich duschen, frühstücken und zur Arbeit fahren. Mit dem Abschied von Jonar war ihm diese Trostlosigkeit noch einmal mehr deutlich geworden. Und deshalb stand er jetzt in der Kabine und konnte sich kaum rühren. Er wusste, dass, wenn er sich jetzt abtrocknete, sich anzog und nach unten in die Küche ging, dass dann gar nichts mehr aufzuhalten wäre. Der Tag, er würde ihn einfach überrollen. Und davor graute es ihn. Dann hörte er ein nebulöses Geräusch. Er lauschte. Sein Handy. Das gab schließlich den Ausschlag, nach dem Handtuch zu greifen.

Es war Lisa gewesen und er rief sofort zurück.

»Man«, schimpfte sie los, »was treibst du da eigentlich solange. Hast du schon mal was von Arbeitszeiten gehört?«

»Was ist denn los«, blieb Jan ruhig. Immer, wenn sie so ausflippte, war etwas passiert. Er nahm es ihr nicht übel.

»Eine Tote in Ihlow«, sagte sie schon ruhiger, »draußen im Garten. Ich wollte gerade ohne dich losfahren.«

»Mach das ruhig«, sagte Jan, »ich komme direkt dorthin.«

»Okay.« Sie gab ihm die Adresse durch und sie legten auf.

War das sein Adrenalin?, fragte sich Jan. Eine Tote im Garten sollte ihm Motivation genug sein, sich auf die Arbeit zu freuen? Lustlos setzte er sich noch einen Kaffee an. Er wusste, dass er es unterbewusst aus dem Grunde tat, damit Lisa schon die ersten Aussagen aufgenommen hatte, wenn er kam. Vielleicht war sogar schon das Opfer weg. An diesem Morgen war ihm nicht nach Toten.

 

Lisa parkte vor dem Haus, in dem bereits überall Lichter brannten. Die Kollegen von der Spurensicherung waren dieses Mal schneller gewesen als sie. Das gab ihr zu denken. Sie wusste, dass es Jans Schuld war. Oder doch nicht? Früher, da war sie einfach losgefahren, wenn sie ihn nicht erreichte. Dieses Mal hatte sie es nicht getan. Ein Kollege winkte sie hinter das Haus in den Garten.

Lisa stapfte durch das hohe Gras und wunderte sich. War das heute so üblich, dass es so verwildert aussah? Selbst vorne vor dem Haus? Es war nicht so, dass es ihr wichtig gewesen wäre. Aber irgendwie zog es ihre Aufmerksamkeit auf sich. Dann sah sie das rot geblümte Sofa. Und darauf saß eine Frau und sah in ihre Richtung. Jedenfalls schien es so. Ihre großen dunklen Augen wirkten flehend, als Lisa näher kam.

»Moin«, sagte Ole Meemken der Gerichtsmediziner, der ebenfalls schon vor ihr eingetroffen war.

»Hallo«, sagte sie schmallippig, weil sie den Anblick der Toten immer noch in sich aufnahm. »Ihre Hände sind gefesselt.«

»Ach was ... wär mir jetzt gar nicht aufgefallen.«

Meemken schien schlecht drauf zu sein, doch das war ihr im Moment egal.

Hatte die Tote gebetet, bevor sie starb? Ihre Finger waren ineinander gefaltet. Und dann der flehentliche Blick. Doch das konnte auch damit zusammenhängen, dass sie wusste, dass sie sterben würde, als man ihr die Fesseln umlegte.

»Ist Jan krank?«, fragte Ole jetzt, weil ihm die Bemerkung von eben wohl leidtat.

»Was?«

»Jan«, wiederholte er, »ist der krank?«

»Ach so, nein, er wird gleich hier sein.«

»Na dann.« Er kam mit einem Stöhnen von den Knien hoch, weil er sich eben mit den Schuhen der Toten beschäftigt hatte. »Sie sitzt seit gut zwölf Stunden hier, würde ich sagen. Die Schuhe haben die Feuchtigkeit der letzten Nacht aufgenommen, aber nur marginal.«

»Wahrscheinlich hätte die Nachbarin sie dann wohl auch schon eher bemerkt«, meinte Lisa.

»Ja, kann sein.«

»Also ist sie gestern Abend ermordet worden.«

»Das hab ich nicht gesagt«, entgegnete er und stemmte die Hände in den Rücken. »Sie wurde gestern hier auf das Sofa gesetzt, das lässt sich aus dem Zustand der Schuhe und der Kleidung rückschließen. Wie lange sie tatsächlich tot ist, muss ich in Oldenburg näher untersuchen.«

»Sicher«, räumte Lisa ein, »oh, da kommt Jan.«

Beide sahen ihm jetzt dabei zu, wie er unter dem Absperrband hindurchging und in ihre Richtung lief. Die Hände hatte er tief in seinem Parka vergraben und den Kragen hochgeschlagen. Offensichtlich war ihm kalt.

»Hallo«, sagte er knapp und beschäftigte sich sofort mit der Frau auf dem Sofa. Lisa und Ole gingen ein paar Schritte zur Seite und sahen ihm dabei zu, wie er in die Hocke ging und dem Opfer direkt in die Augen sah. Dann kam er wieder hoch, ging um das Sofa herum. Blieb immer wieder stehen und sah auf die Frau, die, hätte man es nicht besser gewusst, zu spüren schien, dass sie fixiert wurde.

»Stand das Sofa schon dort, oder wurde es erst mit dem Opfer zusammen dorthin gestellt?«, fragte Jan dann und stellte sich neben Lisa.

»Das weiß ich nicht«, gab sie zu. »Ich bin auch noch nicht so lange hier. Die Nachbarin hat sie entdeckt, wir können gleich mit ihr sprechen.« Sie zeigte über die Hecke zu dem Haus. Es ärgerte sie, dass sie sich diese Frage noch nicht gestellt hatte. Wenn die Frau mit dem Sofa zusammen rausgetragen worden war, dann könnte es ein Hinweis auf ein Ritual sein. Vielleicht eine Familiensache, weil man Sofas wie dieses in der Regel in Häusern fand, wo mehrere Menschen zusammenlebten. Robuster fester Stoff und großes Muster auf eher dunkler Farbe. Strapazierfähig und so auch gegen tobende Kinder gewappnet.

»Nicht schlimm«, sagte Jan, »es war nur das Erste, was ich mich gefragt habe. Und dann die gefalteten Hände. Ein religiöses Motiv? Das alles werden wir in Erfahrung bringen müssen. Wie heißt sie denn?«

»Claudia Bley«, erwiderte Lisa, »sie lebte hier offensichtlich alleine, wenn ich es richtig verstanden habe.«

»Wer hat das gesagt?«

»Ich war das«, mischte sich Ole ein, dem der Ton von Jan gegenüber seiner Kollegin nicht gefiel. »Einer der Kollegen hat ja mit der Nachbarin schon geredet, weil sie angerufen hat. Da hieß es wohl, sie lebt alleine hier.«

»Na gut«, sagte Jan, »und bitte versuche auch herauszufinden, was das für ein Geruch ist in ihren Haaren.«

Ole zog die Stirn kraus. »Geruch? Was genau meinst du?«

»Komm«, sagte Jan und lockte ihn mit dem Zeigefinger zum Sofa. »Beug dich auf gut zwanzig Zentimeter zu ihr herab, am besten von hinten und dann atme tief ein.«

Ole tat mit leichtem Widerwillen, was Jan von ihm erwartete, obwohl er sich ziemlich dämlich dabei vorkam. Lisa sah sich das Schauspiel an und war irgendwie froh, dass Jan wieder in seinem Element war.

»Vielleicht Essig«, meinte Ole und richtete sich wieder auf.

»Ja, sowas in der Art. Vielleicht findest du ja in Oldenburg mehr heraus.«

»Klar, kann ich versuchen. Seid ihr dann soweit mit ihr fertig?«

»Einen Moment bitte«, sagte Jan, »ich wäre gerne noch ein wenig mit ihr alleine, wenn ihr nichts dagegen habt.«

Ole riss die Hände hoch. »Oh, von mir aus. Ich hab ja nachher noch das Vergnügen.« Ein wenig beleidigt schlich er davon und ging ins Haus zu den Männern von der Spurensicherung.

»Soll ich auch gehen?«, fragte Lisa unsicher. »Ich meine, ich könnte schon zur Nachbarin rübergehen.«

»Quatsch«, sagte Jan und grinste, »ich wollte nur Oles Gesicht sehen.«

»Na, dir scheint es ja wirklich besser zu gehen.« Sie lachte mit.

Er erwiderte darauf nichts, sondern ging in einigem Abstand noch einmal um das Sofa herum. Immer wieder blieb er kurz stehen, sah zum Himmel, dann wieder zum Opfer. Was macht er da nur, fragte sich Lisa. Dieses Schauspiel, es faszinierte sie. Genau das bewunderte sie an Jan. Diesen Gesichtsausdruck, wenn er bei der Arbeit war. Es hätte wirklich nichts gegeben, was ihn in diesem Moment hätte stören können. Er sog den Tatort, die ersichtlichen Umstände und noch vieles weiter darüber hinaus, was sich auch schon im Ansatz ihrer Vorstellungskraft entzog, in sich auf und zog seine Schlüsse daraus. Sie wusste, dass sie nie so sein würde wie er. Er besaß eine Gabe, Dinge zu erahnen. Fast erschrak sie, als er dann auf sie zuging, weil er fertig war.

»Wir können jetzt gehen«, sagte er und sah ihr direkt ins Gesicht. »Du warst wohl ganz weit weg mit deinen Gedanken«, stellte er fest.

Nicht so weit, wie du denkst, dachte sie und nickte. »Dann lass uns jetzt zur Nachbarin gehen.«

 

Gesine Peters hatte schon längere Zeit hinter der Gardine gestanden und ließ sie jetzt los, als sie sah, dass zwei Beamte auf ihr Grundstück gingen. Es war soweit. Sie musste jetzt ihre Aussage machen. Es war das erste Mal, dass sie es mit der Kriminalpolizei zu tun hatte. Deshalb wusste sie auch nicht, wie man sich in solchen Situationen verhielt. Es klingelte an der Tür und sie fuhr sich noch einmal über ihren Haarknoten am Hinterkopf, bevor sie öffnete.

»Guten Tag«, sagte Lisa, »wir sind wegen Ihrer Nachbarin hier.« Sie stellte Jan und sich mit Namen vor.

»Schreckliche Sache«, sagte Gesine, »ich habe Tee aufgesetzt, kommen Sie doch herein.«

Jan gefiel das große alte Haus mit den hohen Decken. Ein Geruch stieg in seine Nase, als er die Tür hinter sich schloss. Es war bereits das zweite Mal an diesem Tag, dass er etwas roch, aber nicht sagen konnte, was es war. Das irritierte ihn. In der Regel wiederholten sich Gerüche und wurden dadurch zur Nebensache. Im Haus dieser Frau roch es nach Wärme, fand er. Und das lag nicht nur an dem Kachelofen aus hellen Fliesen im Flur, an dem sie vorbeikamen.

Auf dem dunklen Tisch im hellen großzügigen Esszimmer standen drei Teetassen und eine Kanne auf einem Stövchen, in dem ein Licht brannte.

»Sie haben die Polizei gerufen«, konstatierte Lisa, »als Sie ihre Nachbarin gesehen haben.«

Gesine schürzte die Lippen und nickte. »Ich wusste eigentlich gleich, dass da etwas nicht stimmt. Claudia war zwar manchmal etwas verrückt, aber so nun auch wieder nicht.«

»Sie meinen, dass sie auf einem Sofa draußen in ihrem Garten saß?«

»Ach«, machte Gesine, »sie wird mir fehlen. Sie hat immer so verrückte Sachen gemacht. Und als sie das Sofa im Sommer nach draußen geschleppt hat, da dachte ich zunächst, es kommt auf den Sperrmüll. Ich hätte ihr ja gerne dabei geholfen, doch durch meine schmerzenden Gelenke fehlt mir mittlerweile die Kraft für sowas.«

Lisa warf Jan einen vieldeutigen Blick zu. Es war dann wohl doch kein Familienritual gewesen, das Sofa stand schon länger dort.

»Es ist nicht gerade üblich, sein Sofa nach draußen zu stellen«, stellte Lisa fest. »Hat Claudia Ihnen denn erzählt, warum sie das gemacht hat?«

Gesine lächelte das erste Mal. »Sie wollte es gemütlich haben«, sagte sie, »Claudia meinte immer, dass es draußen am schönsten wäre, es aber im Grunde nur unbequeme oder ungeeignete oder lästige Möbel für den Garten gebe. Entweder, man saß darauf wie auf einem Folterstuhl oder man musste alles abends ins Haus tragen, weil es regnen könnte.«

»Das ist bei einem Sofa aber sicher ähnlich«, gab Lisa zu bedenken.

»Schon. Aber für Claudia war das anders. Sie sagte immer, das Sofa wird vom Regen nass und es wird von der Sonne wieder getrocknet. So würde es sich perfekt in den Rhythmus der Natur einfügen. Und weil es alt war, wäre es ihr auch egal, wenn es irgendwann tatsächlich an die Straße gestellt werden müsste.«

Jan war indes noch immer mit den Gerüchen beschäftigt. Was war das nur gewesen, was die Tote auf dem Kopf gehabt hatte? Es roch nicht nach einem Haarspray oder Gel. Und nach dem, was Gesine Peters da erzählte, war Claudia Bley auch nicht der Typ für sowas. Eher stellte er sich vor, dass sie sich Tannenzweige oder Rosen ins Haar steckte. Und plötzlich hatte er den Geruch wieder sehr intensiv in der Nase. So, als könnte er ihn nehmen und in eine Tüte stecken. Ob es das war? Hatte sie eine Blume im Haar getragen, als man sie tötete? Und wenn ja, wo war diese Blume, die so intensiv gerochen hatte, dann jetzt geblieben?

»Jan«, Lisa stupste ihn am Arm, »möchtest du noch Tee?«

Jan sah auf und in das Gesicht von Gesine Peters, die die Kanne über seiner Tasse hielt. »Nein«, sagte er, »vielen Dank.«

Sie stellte die Kanne auf das Stövchen zurück.

»Ihre Nachbarin war also anders als die anderen?«, riss Jan nun die Befragung an sich.

Gesine nickte. »Ja, ganz bestimmt. Sie war auf ihre ganz eigene Art verrückt, würde ich sagen. Aber nicht unsympathisch dabei.«

»Wie äußerte sich das. Ich meine, außer, dass sie Sofas in den Garten stellte?«

»Ach, wie soll man das beschreiben. Es ist ja heutzutage so, dass alles, was nicht jeder macht, als verrückt bezeichnet wird.«

»Das war sicher schon immer so«, meinte er nachdenklich.

Sie nickte zustimmend. »Und wenn man es als verrückt betrachtet, immer wildfremde Menschen zu sich ins Haus zum Essen einzuladen, oder, sämtliche Tiere, die auf dem Grundstück herumlungern durchzufüttern, dann war Claudia wohl tatsächlich verrückt.«

»Sie hat wildfremde Menschen eingeladen?«, hakte Jan interessiert nach. »Warum?«

Gesine wiegte ihren Kopf hin und her. »Ich habe sie nie danach gefragt, naja, nicht direkt. Aber sie muss es meinem Gesicht wohl angesehen haben, dass es mir suspekt vorkommt. Es waren die unterschiedlichsten Typen, Männer, Frauen, jung oder alt.«

»Wie kam es denn dazu? Ich meine, sie wird ja nicht losgezogen sein und wildfremde Menschen angesprochen und eingeladen haben?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie an jedem Samstag Gäste hatte. Ich habe mich nie konkret mir ihr darüber unterhalten. Und einmal, da war ich auch drüben. Das hatte sich spontan so ergeben. Es waren an diesem Abend nur jüngere Menschen da und ich kam wir vor, als besuche ich meine Enkelkinder.« Sie lächelte verträumt bei dieser Erinnerung. »Es war ein wunderbarer Abend. Ich habe sehr viel gelacht. Wissen Sie, manchmal glaube ich, wir sollten dafür sorgen, dass alte Menschen nicht unter sich bleiben, sondern mit den Jungen zusammenleben. Das bereichert das Leben doch. Stattdessen werden wir Alten in Heime abgeschoben und dürfen nicht einmal unsere Haustiere mitnehmen.«

Sie ist viel alleine, dachte Jan, sonst würde sie nicht so in den Themen herumspringen. Sie hatte eben selten jemanden, dem sie alles, was ihr so durch den Kopf ging, erzählen konnte. Da musste ihr eine Nachbarin wie Claudia Bley wie ein wahres Geschenk vorgekommen sein.

»Wie lange wohnte Claudia denn eigentlich schon hier?«, fragte er.

»Acht Jahre«, kam es wie es aus der Pistole geschossen. »Ich weiß das so genau, weil damals mein Harmannus das erste Mal ins Krankenhaus musste wegen einer schlimmen Diagnose. Und als der Krankenwagen abfuhr, da stand ich draußen und habe ihm nachgesehen. Im nächsten Moment fuhr dann ein Möbelwagen vor. Und dahinter ein blauer Opel. Das war Claudia. Ich wusste ja, dass das Nachbarhaus schon länger leer stand. Aber durch die Sache mit Harmannus hatte ich keine Zeit oder auch kein Interesse, mich damit zu beschäftigen, was mit dem Haus geschieht.«

»Sie hat es also gekauft?«

»Ja, so war das. Nach einer üblen Scheidung, wie sie mir mal im Vertrauen erzählte, hatte sie ein wenig Geld und beschlossen, sich aufs Land zurückzuziehen, weil ihr Tiere dann doch die liebsten Gesprächspartner geworden wären.«

Jan kam das Bild des Opfers wieder in den Sinn. Die großen dunklen Augen und die gefalteten Hände. Wer konnte einer augenscheinlich netten und spendablen Frau so etwas angetan haben? Offensichtlich gab es jemanden, der Claudia Bley eben nicht für nett und sympathisch gehalten hatte.

»Sind Sie erneut dort zu Gast gewesen?«, fragte er jetzt, »ich meine, wenn Ihre Nachbarin einlud? Haben Sie andere Gäste kennengelernt?«

»Nein«, winkte Gesine gleich ab, »das war nichts für mich. Ich bin eine alte Frau, die abends ihre Ruhe braucht. Ich lese gerne und gehe früh schlafen.«

»Also fanden diese Einladungen immer nur abends statt?«

Sie nickte. »Und manchmal, da wurde es auch etwas lauter, aber beschwert habe ich mich nie.«

»Laut? Inwiefern? Gab es Streit?«

»Nein, das glaube ich nicht. Sie haben nur viel getrunken und geredet. Dazu die Musik. Sie wissen ja sicher, wie das so ist auf einer Party, junger Mann.«

Nein, das wusste Jan nicht. Darüber war er in diesem Moment auch sehr froh. Allerdings war es wirklich bedauerlich, dass Gesine Peters keine allzu neugierige Nachbarin war. So trug sie eher nur wenig und bruchstückhaft zu dem Bild bei, was er sich von Claudia Bley und ihren Freunden zu machen versuchte.

»Aber Frau Bley hat Ihnen doch sicher hin und wieder von diesen Einladungen und den Gästen erzählt«, hakte Lisa nach, die sah, wie Jan mit sich rang. Seit sie ihn kannte, war er ein Eigenbrötler.

»Naja, so oft haben wir ja nicht geredet«, antwortete Gesine mit einer zögerlichen Handbewegung. »Es ist schon so, wie man immer sagt, im Alter wird man einsam. Aber es ist nicht so, dass es mir etwas ausmacht. Ich lebe viel in der Erinnerung. So ist das eben, wenn man als Letzte aus der Familie zurückbleibt und auf dem Land lebt.«

»Vielen Dank«, sagte Jan und stand plötzlich auf, »sicher kommen wir noch einmal auf Sie zurück, wenn wir Fragen haben. Und Sie melden sich bitte jederzeit bei uns, wenn Ihnen noch etwas einfällt, was wichtig sein könnte.«

»Sicher«, sagte sie und brachte die beiden zur Tür.

Opfer

Keno Terfehr hatte an diesem Morgen beschlossen, nicht zur Arbeit zu gehen. Schon am gestrigen Abend hatten ihn leichte Kopfschmerzen geplagt, die sich nun zu einer richtigen Migräne ausgewachsen hatten über Nacht.

Sicher, er hätte wie üblich seine Tabletten nehmen können, die Zähne zusammenbeißen und den Tag irgendwie durchstehen. Das machte er oft. Aber in letzter Zeit fragte er sich immer öfter, warum er es eigentlich tat.

Dass sein Leben neuerdings von Zweifeln geplagt wurde, lag auch daran, dass ihn seine langjährige Freundin Rebekka von heute auf morgen verlassen hatte. Das war jetzt schon über drei Monate her, aber Keno hatte es noch nicht überwunden. Ja, seitdem Rebekka weg war, ließ er sich hängen. Und vielleicht waren sogar die Migräneattacken häufiger geworden. Als knapp Vierzigjähriger war er einfach mit der Situation überfordert, plötzlich von vorne anfangen zu müssen. Frauen kennen lernen, Dates haben und das weitere Leben planen. Er hatte gedacht, mit Rebekka und ihm, da wäre alles in trockenen Tüchern. Eigentlich hatte er sich sogar schon gefragt, wann sie endlich auf das Babythema zu sprechen kommen würde. Dann nämlich, so sein Hintergedanke, würde er sie endlich fragen, ob sie ihn heiraten wollte.

Und jetzt war alles vorbei.

Keno quälte sich aus dem Bett und wankte ins Badezimmer. In seinem Kopf hämmerte es. Im Spiegelschrank kramte er nach Tabletten, während er mit der anderen Hand schon das Wasser anstellte und seinen Zahnputzbecher damit füllte. Mit verzerrtem Gesicht schluckte er dann zwei Tabletten und spülte den bitteren Geschmack mit noch mehr Wasser herunter. Er schlug sich kaltes Wasser ins Gesicht, zog sich seinen Jogginganzug über und ging nach unten in die Küche. Er griff nach dem Telefon, das auf dem Tisch lag, um bei seinem Arbeitgeber anzurufen. Doch bevor er soweit kam, klingelte es an der Tür. Wer konnte das sein?, fragte sich Keno. Es war ja noch nicht einmal halb acht. Weder der Postbote noch der Paketdienst war hier auf dem Land so früh unterwegs.

Für einen Moment vergaß er seine Kopfschmerzen und den Arbeitgeber und schlurfte auf Socken neugierig zur Tür und machte auf.

Vor ihm stand ein Mann in dunklem Overall, den er nicht kannte.

Am Abend

Auch wenn es zunächst den Anschein gehabt hatte, dass man bei einer Frau wie Claudia Bley durchaus Motive für einen Mord würde finden können dank ihres lockeren Lebenswandels, so blieb doch alles eher im Vagen, was Jan und Lisa bisher herausgefunden hatten.

Das Einzige, was Lisa gefiel, war, dass Jan wieder zugänglicher wurde. So saßen sie an diesem Abend fast so wie früher beisammen, fand sie, als sie erneut Käse aus dem Kühlschrank genommen hatte und damit zu ihm zurück aufs Sofa ging, wo er bereits Rotwein nachgeschenkt hatte.

»Viel haben wir ja nicht gerade«, sagte sie und zog die Beine hoch. »Das ist doch eigentlich erstaunlich, wenn man sich Claudia Bley nach den Schilderungen von ihrer Nachbarin vorstellt.«

»Hm«, machte Jan, »vielleicht kennen wir noch nicht alle ihre Geheimnisse.«

»Du meinst, da ist noch was?«

»Warum nicht. Jeder hat Geheimnisse. Es muss einen Grund dafür geben, dass ihr jemand so etwas angetan hat.«

»Sicher, da hast du Recht. »Es war auf jeden Fall kein Raubüberfall. Wertsachen und auch Bargeld sind noch im Haus gewesen.«

»Vielleicht gibt uns Oles abschließender Bericht mehr Aufschluss darüber, welchen Typ Täter wir suchen«, meinte Jan und beugte sich zu Chief, der unter dem Tisch lag herunter, und kraulte ihm über den Kopf. »Sie hatte Katzen«, sagte er mehr zu sich selbst.

»Claudia Bley?«, fragte Lisa, »woher weißt du das?«

»Ich habe leere Futterdosen im Müll gefunden.«

»Ach so. Aber das können ja auch wilde fremde Katzen gewesen sein, die sie gefüttert hat.«

»Stimmt. Tiere gehören einem sowieso nicht, das bilden sich die Menschen nur ein.«

»Siehst du das auch so bei Chief?«

»Natürlich. Ich habe mich nur dazu verpflichtet, mich um ihn zu kümmern. Und Hunde sind auch wieder ganz anders als Katzen. Die kommen in der Regel auch alleine zurecht.«

»Dann bist du sicher die Katze und ich der Hund«, sagte Lisa nachdenklich.

Er sah sie fragend an. »Denkst du?«

Sie nickte. »Ich komme alleine nicht zurecht, Jan.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte er und trank einen Schluck Rotwein. »Da stellst du dein Licht jetzt aber ganz schön unter den Scheffel.«

Die Stimmung war eindeutig gekippt, denn Lisa saß bedrückt in ihrer Ecke und starrte in ihr Glas.

»Lisa«, sagte Jan, »was ist los mit dir? Willst du darüber reden?«

Sachte schüttelte sie den Kopf und er sah eine Träne, die in ihr Rotweinglas tropfte.

»Lisa«, wiederholte er und griff nach ihrer Hand, »was bedrückt dich?«

Plötzlich konnte sie ihre Gefühle nicht mehr unterdrücken und weinte heftig los. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, presste sie von Tränen geschüttelt hervor. »Manchmal weiß ich nicht mehr, wofür ich überhaupt noch lebe.« Sie schluchzte und suchte in ihrer Jeans nach einem Taschentuch, das sie schließlich fand und sich schnäuzte.

»Es ist meine Schuld«, flüsterte Jan, »es ist wegen mir, dass es dir nicht gut geht, ich weiß.«

»Nein«, warf sie ein, »das stimmt doch nicht. Es liegt an mir. Ich habe irgendwie ... wie soll ich es sagen. Ich habe das Gefühl, die Perspektive verloren zu haben. Alles kommt mir so sinnlos vor.«

»Willkommen im Club«, sagte Jan, »das geht mir schon lange so und das weißt du auch.«

Sie nickte.

»Und dann die Sache mit Jonar«, fuhr er fort, »das hat alles noch einmal schlimmer gemacht.«

»Das weiß ich doch«, sagte sie und hatte sich wieder im Griff. Immer, wenn sie Jan helfen konnte, fühlte sie sich besser. »Das muss ja auch wirklich schlimm sein, sein Kind nicht mehr zu sehen.«

»Er ist ja kein Kind mehr«, sagte Jan, »doch das macht es nicht besser. Er ist ein Teil von mir und ein sehr spätes Geschenk für mich gewesen. Ich konnte mir ja nie vorstellen, eigene Kinder zu haben.«

»Das kann ich auch nicht«, sagte Lisa. »Und das ist doch irgendwie nicht normal, oder?«

Er runzelte die Stirn und griff wieder zu seinem Glas. »So solltest du nicht denken«, sagte er ernst, »so etwas wie normal gibt es nicht. Das muss ich dir doch nicht erklären.«

»Nein«, bestätigte sie, »so meine ich das ja auch nicht. Aber eigentlich wäre es doch so, dass ich irgendwann wenigstens den Wunsch verspüren müsste, ich bin doch eine Frau.«

»Lisa«, sagte Jan und schüttelte den Kopf, »ich glaube, das meinst du jetzt nicht ernst. Ich gebe dir recht, wir als Ermittler sind vielleicht nicht normal in dem Sinne, dass wir keiner üblich geregelten Beschäftigung nachgehen und es obendrein noch mit üblen Killern zu tun haben. Ja, vielleicht ist es sogar das, was dich davon abhält, überhaupt nur an eine eigene Familie mit Kindern zu denken. Was solltest du denen denn abends erzählen, was du den ganzen Tag bei der Arbeit gemacht hast? Leichen beguckt und Mörder gejagt?«

Lisa musste unwillkürlich lachen. »Das ist so typisch«, sagte sie, »du nimmst mich einfach nicht ernst.«

»Ich nehme dich immer ernst, Lisa, das kann ich dir versichern. Aber du bist doch nicht so mies drauf, weil du keine Kinder hast. Was also steckt dahinter?«

Lisa hätte jetzt gerne das Thema gewechselt, wieder hin zum Mordfall. Sie schämte sich dafür, dass die Gefühle so mit ihr durchgegangen waren.

»Ich weiß nicht«, wich sie aus, »vielleicht hast du wirklich recht, und es liegt an dem Job. Wir haben es doch nur mit Toten und Verbrechern zu tun. Wie soll man da denn keinen schiefen Blick auf die Welt entwickeln? Wie soll man da nach Feierabend noch loslassen können, wenn man weiß, dass hinter jedem Gesicht, das einen anlächelt, auch ein ganz böser Mensch stecken kann.«

Jan verstand, was sie meinte. Und eigentlich waren genau das die Gründe, warum ihn der Beruf als Ermittler interessiert hatte. Das Böse im Menschen zu durchleuchten. Von ihrer Warte aus betrachtet war er ganz sicher nicht normal, doch er empfand es nicht so, sondern wunderte sich immer, wie andere ihr Leben aushielten.

»Ich habe in letzter Zeit öfter darüber nachgedacht, den Job hinzuschmeißen«, sagte er plötzlich zu ihrer Verwunderung.

»Wieso?«, fragte sie.

»Naja«, fuhr er fort, »es ist die Sinnlosigkeit in allem. Wir nehmen einen Killer fest und hundert andere morden am selben Tag munter weiter. Wir kriegen doch immer nur die Spitze des Eisbergs zu sehen. Was erreichen wir eigentlich mit unserer Arbeit? Wird die Gesellschaft dadurch auch nur ein Fünkchen besser? Im Grunde ist das, was wir machen, doch nur eine Alibiveranstaltung für den Staat, der dann behaupten kann, dass alles Menschenmögliche für die Sicherheit getan wird. Aber in Wahrheit ist das doch eine große Lüge. Niemand ist sicher. Niemand. Und nirgendwo gibt es Sicherheit. Jeden kann es überall und jeden Tag erwischen.«

»Das klingt sehr destruktiv«, meinte Lisa nachdenklich, obwohl sie verstand, worauf er hinauswollte. Und wenn man dem Gedankengang folgte, dann war ihre Arbeit tatsächlich sinnlos. »Als du damals anfingst«, sagte sie, »da hast du deine Aufgabe aber doch sicher positiver gesehen, oder?«

»Da war ich jung ...«.

»Du übertreibst«, meinte sie, »du bist doch nicht alt.« Sie musterte ihn von der Seite. Er sah in diesem Moment so verletzlich aus, dass sie ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Doch sie wusste, dass er es falsch verstehen würde. Und wahrscheinlich lag er damit nicht einmal daneben. Sie liebte ihn. Doch das würde sie ihm gegenüber niemals zugeben können, weil sie wusste, dass er für sie nicht so empfand. Niemals so empfinden würde. Und das war es, was ihr die Luft zum Atmen nahm, ihr die Kehle zuschnürte. Sie lebte mit einem Mann unter einem Dach, der ihr mehr bedeutete, als ihr eigenes Leben. Und ja, Jan Krömer, dachte sie, ich will ein Kind von dir. Ich will nichts mehr auf der Welt als genau das. Doch es war eine selbstzerstörerische Illusion, der sie sich hier hingab. Letztlich etwas, was in ihrer Fantasie bestand und nicht mit dem realen Leben und dem Mann, der neben ihr saß, zu tun hatte. Es wurde Zeit, dass sie sich von ihren Träumereien endlich verabschiedete.

»Ist ja auch egal«, sagte er und gähnte. »Vielleicht sollten wir jetzt einfach schlafen und uns in schöne Träume flüchten.«

Das war wieder so typisch Jan. Erst machte er ein Riesenfass auf, um dann im nächsten Moment alles mit einem Satz wegzuwischen.

»Du hast recht«, bestätigte sie, »es ist ja auch schon spät. Und morgen gibt es bestimmt den Bericht von Ole und wir kommen weiter.«

Während Lisa ins Bad ging, öffnete Jan die hintere Tür nach draußen und ging mit Chief hinters Haus. Auch, als sie dann kurz darauf in ihr Zimmer ging, waren die beiden noch nicht zurück. Sie schlang die Arme um sich, weil es ihr plötzlich kalt war. Sie war alleine im Haus. Es fühlte sich befremdlich an.

Oles Bericht

Ole haderte mit sich. Im Prinzip war er mit der Obduktion des Opfers Claudia Bley fertig. Doch es fühlte sich nicht so an. Da war noch etwas, was ihm zu schaffen machte und er zögerte jetzt schon seit einer Stunde, den Bericht nach Aurich zu senden.

Was ihn quälte, war die Tatsache, dass er keine eindeutige Todesursache ausmachen konnte, obwohl es auf den ersten Blick eindeutig erschien, woran Claudia Bley gestorben war. Sie hatte einen Herzinfarkt erlitten. Aber wie trieb man einen offensichtlich gesunden Menschen dazu, einen Herzinfarkt zu erleiden? Nichts an den Organen, die er entnommen hatte, wies darauf hin, dass sie ein Herzleiden gehabt hatte. Untermauert wurde das Ganze noch durch vorhandene Arztberichte. Demnach war Claudia Bley eher selten zum Arzt gegangen. Sie war zwar ein wenig übergewichtig gewesen, doch das war auch schon alles, worauf ihr Arzt sie dann bei den wenigen Konsultationen hingewiesen hatte.

Sicher, tröstete sich der Gerichtsmediziner, es gab immer die Möglichkeit einer versteckten, nicht weiter in Erscheinung getretenen, Herzschwäche. Und natürlich konnte diese dann tragend zum Tod führen, wenn man seinem vermeintlichen Mörder ausgeliefert war.

Es war einfach so, dass Ole mit seiner Arbeit unzufrieden war, weil sie keine eindeutigen Ergebnisse lieferte. Jedenfalls keine, die ihn zufriedenstellten.

Er kreuzte die Hände hinter seinem Kopf und dachte nach. Hatte er etwas übersehen? Wurde er nachlässig, weil er den Job schon zu lange machte? Er stand auf und ging wieder in den Raum zurück, wo Claudia Bley unter einem Tuch lag. Magisch wurde er davon angezogen, so, als hätte sie nach ihm gerufen. Er zog das Tuch beiseite und sah auf ihren nackten Körper.

Er hatte sich während seiner beruflichen Laufbahn soweit distanzieren können, dass er in diesen Körpern keine Menschen mehr sah. Sie waren nur noch Hüllen, die einmal mit Leben gefüllt waren und jetzt, da das Leben ausgehaucht war, nur noch Fleisch übrigließen, dass keine Persönlichkeit mehr besaß. Und unter diesen Voraussetzungen fiel es ihm auch nicht schwer, sie auseinanderzuschneiden, das Herz und die Leber zu entnehmen und in seinen Händen zu wiegen.

Er hatte es bisher niemandem gesagt, dass er diese Objektivität mittlerweile nur noch mit einem entsprechenden Alkoholpegel erreichen konnte. Es war nicht so, dass er während der Arbeit trank. Nein. Aber am Abend, wenn er nach Hause kam, alleine in seiner Wohnung saß, dann schaffte er es nicht einmal mehr, den Fernseher einzuschalten. Es interessierte ihn einfach nicht, was die Welt der vermeintlich normalen Menschen dort draußen machte. Er saß mit seinem Whisky auf dem Sofa und trank, bis er die nötige Bettschwere spürte. Dann ging er schlafen.

Claudia Bley war bestimmt ein interessanter Mensch gewesen, dachte er jetzt, als er ihre für ihr Alter noch gut geformten Brüste betrachtete. Sie hatte alleine gelebt wie er. Sie hatte sich ein Sofa mitten auf den Rasen gestellt, den sie nicht mähte. Sie hatte fremde Menschen zu sich nach Hause eingeladen, um nicht einsam zu sein. Er könnte so etwas niemals tun und deshalb bewunderte er sie insgeheim. Ja, das war es, diese Tote, die ging ihm nahe. Und das, obwohl er sie nicht gekannt hatte. Einfach nur, weil sie offensichtlich ein guter Mensch gewesen war, den man ermordet hatte.

Und vielleicht lag darin die Diskrepanz, dachte er. Sie hatte einen Herzinfarkt erlitten, worauf der Täter hingearbeitet zu haben schien. Denn hinterher hatte er ihr die Arme zusammengebunden und sie draußen auf ihr Sofa gesetzt. Das wäre doch gar nicht nötig gewesen. Sie war ja tot. Er hatte sein Ziel doch erreicht. Aber er wollte mehr mit ihr machen. Wollte sie als wehrlos darstellen. Ja, das war es wohl gewesen. Er wollte ein Mörder sein. Es reichte ihm nicht, dass sie einfach tot war. Er wollte dafür gefeiert werden.

Ole ging noch einmal um den Tisch herum und fuhr sogar einmal ganz kurz mit seiner Hand über ihre Haut. Sie war eiskalt. Warum wunderte es ihn? Er wusste es nicht. Doch jetzt war es genug, bevor er noch völlig den Verstand verlor.

Er deckte sie zu und ging in sein Büro wieder an den Schreibtisch zurück. Er ergänzte den Bericht um seine Gedankengänge von eben und schickte ihn los. Sollten doch Jan und Lisa sich die Köpfe zerbrechen. Sein Job war das ja schließlich nicht.

 

»Endlich«, sagte Lisa, als die Mail von Ole bei ihr aufblinkte. »Der Bericht ist da.«

»Das wurde aber auch Zeit«, murmelte Jan, der ziellos im Internet gesurft hatte. »Druckst du ihn für uns aus?«

»Sicher«, erwiderte sie obenhin und war bereits damit beschäftigt. Anschließend ging sie zu seinem Schreibtisch, reichte ihm eine Ausfertigung und setzte sich wieder an ihren und beide lasen schweigend.

»Was ist denn mit Ole los?«, murmelte Jan.

»Wie?«, fragte sie und sah auf.

»Na, diese ganzen Randnotizen, sowas hat er sonst doch nicht gemacht. Seit wann teilt er uns seine Gedanken in den Berichten mit. Zieht Schlussfolgerungen, die eigentlich wir ziehen müssten.«

»Hm«, machte Lisa, »schon komisch, das stimmt. Aber irgendwie auch interessant. Ich meine, diese Sache mit dem Herzinfarkt. Und dass er sich über das Opfer Gedanken macht, ist doch auch irgendwie sein gutes Recht.«

»Schon«, gab Jan mit verzogenem Gesicht zu, »aber sonst macht er sowas nicht. Irgendwas stimmt nicht mit ihm.«

»Das solltest du nicht überbewerten, er ist doch auch nur ein Mensch.«

»Aber das war er schon immer, ließ es aber nie so raushängen«, blieb Jan beharrlich bei seiner Meinung, dass Ole sich merkwürdig verhielt.

»Wir können uns hier jetzt aber nicht mit Ole beschäftigen«, meinte Lisa, »wir müssen den Mord aufklären. Denn das hat er schon richtig interpretiert. Es hätte dem Mörder genug sein können, dass das Opfer tot war. Aber nein, er musste noch einen Ritualmord daraus machen.«

»So sind sie eben, die Serienkiller«, sagte Jan, »sie lieben es, uns Rätsel aufzugeben.«

»Serienkiller?«, wiederholte Lisa und kam zu ihm an den Schreibtisch und lehnte sich daran. »Du denkst, es wird weitere Opfer geben?«

Er nickte. »Sonst hätte er sich das Ritual wirklich sparen können, da gebe ich Ole recht. Wir sollten auch in den ungeklärten Fällen in der Datenbank recherchieren, ob es ähnliche gelagerte Fakten in der Vergangenheit gab.«

»Du meinst Herzinfarkte?«

»Nicht nur. Ich meine auf den ersten Blick natürliche Todesumstände, die sich dann doch als Mord herausgestellt haben, aber nie geklärt wurden.«

»Die Sache hinkt aber«, meinte Lisa, »wenn es ein natürlicher Tod ist, dann legt das niemand als ungeklärten Mord zu den Akten.«

»Vielleicht ist es sogar das«, meinte Jan nachdenklich. »Stell dir doch mal vor, der Täter hat schon öfter zugeschlagen und immer ging die Gerichtsmedizin von einem natürlichen Tod aus und klappte den Deckel zu. Das muss ihn doch irgendwie gefuchst haben. Wo blieb denn da der Ruhm für ihn und sein Werk. Also musste er seine Strategie ändern und noch eine Inszenierung hinzufügen.«

»Ich finde das alles ziemlich weit hergeholt«, gab Lisa zu bedenken, »wenn wir so an die Sache rangehen, dann verrennen wir uns glaub ich schnell.«

»Wir können ja klein anfangen und uns in ihrem direkten Umfeld umsehen. Könnte allerdings schwierig werden, da sie keine weiteren Verwandten hat außer ihrem geschiedenen Ehemann, der vermutlich kein Motiv haben dürfte.«

»Und die Leute, die sie eingeladen hat, von denen wir aber keine Namen haben.«

»Eben. Das macht es nicht gerade leichter. Es ist schon erstaunlich, wie eine Frau mit Ende vierzig sich praktisch anonym in der Gesellschaft bewegen kann.«

Jan reckte seine Arme nach oben, legte den Kopf in den Nacken. Dann stand er auf und sah auf die Bilder, die hinter seinem Schreibtisch an der großen Wand hingen.

»Hat sie einer besonderen Kirche angehört«, sagte er mehr zu sich selbst und strich sich übers Kinn.

»Sie war ausgetreten«, antwortete Lisa. »Du meinst, wegen der gefalteten Hände?«

Er nickte.

»Sie sind gefesselt«, meinte Lisa, »vielleicht hat sie jemand für eine Hexe gehalten.«

»Interessanter Gedanke«, murmelte Jan. »Aber war sie dafür nicht eigentlich ein viel zu guter Mensch?«

Lisa zog die Schultern hoch. Sie war neben ihn getreten und sah jetzt auch auf die Fotos.

»Woran erkennt man einen guten Menschen?«, fragte sie zurück.

Sie schwiegen beide und ließen die Bilder und das Gesagte auf sich wirken. So arbeiteten sie am besten zusammen. Quasi über einen unsichtbaren Faden waren ihre Gedanken miteinander verbunden. Sie waren ein gut eingespieltes Team. Und wahrscheinlich sehr viel mehr als das.

»Hast du denn jetzt schon mal wieder was von Katrin gehört?«, fragte Jan plötzlich und drehte der Bilderwand den Rücken zu und beugte sich über seinen Schreibtisch.

»Hm«, machte Lisa, die völlig umschwenken musste, da sie sich in das Bild von Claudia Bley, die auf dem Sofa saß, verbissen hatte. »Ich habe mit ihr telefoniert. Es geht ihr soweit gut. Sie würde sogar gerne wieder arbeiten, aber ihr Arzt verbietet es noch.«

»Typisch Katrin«, sagte Jan nur. Und damit schien das Thema schon wieder für ihn erledigt zu sein. »Hast du schon recherchiert, wie man einen Herzinfarkt bei einem relativ stabil gesunden Menschen herbeiführen kann?«

»Ähm ... nein«, sagte Lisa, »aber ich kann mich gleich dransetzen, wenn wir hier fertig sind.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch rüber. »Aber da dürfte es viele Möglichkeiten geben. Angefangen von Medikamenten bis hin zu Elektroschockern.«

»Sicher. Ole hat ja nichts feststellen können. Es geht nur ums Prinzip, ich meine, auf welche Art Täter müssen wir uns konzentrieren? Ist es einer, der sich an ihr rächen wollte und ihr deshalb einen Stromschlag versetzt hat, oder jemand, der sie gequält hat.«

»Gequält«, wiederholte Lisa, während sie bereits etwas in ihre Tastatur tippte. »Kann man jemanden so lange quälen, dass er an einem Herzinfarkt stirbt?«

»Ich weiß nicht ...«. Jan setzte sich auf seinen Bürostuhl und legte die Füße auf den Tisch. »Irgendwie kann ich mir noch kein konkretes Bild vom Täter machen, wenn ich nicht genau weiß, wie sie gestorben ist.«

»Vielleicht ist er ein ganz normaler Typ. Ein Tischler, der in Aurich arbeitet und nach Feierabend darüber nachdenkt, Frauen in den mittleren Jahren zu töten. Einfach so.«

»Dann hätte er sich nicht Claudia Bley ausgesucht«, meinte Jan und ging tatsächlich ernsthaft auf ihre These ein. »Sie hätte aus einem normalen Typen glaube ich keine Aggressionen herauskitzeln können. Weißt du was, ich möchte nochmal mit der Nachbarin sprechen. Ist es okay, wenn ich alleine hinfahre?«

»Sicher«, antwortete Lisa, »wir sehen uns dann später zu Hause.« Sie wusste, dass er nicht wieder in die Dienststelle kommen würde.

Gesine

Gesine schälte gerade Kartoffeln, als sie meinte, schon wieder einen Wagen beim Nachbargrundstück zu hören. Seitdem man Claudia ermordet hatte, schlief sie nicht mehr gut. Ja, sie hatte sogar plötzlich Angst alleine im Haus. Bei jedem Geräusch schreckte sie nachts auf.

Sie legte die Kartoffel und das Messer beiseite, wischte ihre Hände an ihrer Schürze ab und ging zum Fenster. Es stieg ein Mann aus dem Wagen. Sie erkannte ihn. Er war schon bei ihr im Haus gewesen. Beruhigt ging Gesine in die Küche zurück, als es kurz darauf auch schon an der Tür klingelte. Nanu, dachte sie und ging auf den Flur, um zu öffnen.

»Hallo«, sagte Jan, »dürfte ich Sie vielleicht noch einmal kurz sprechen?«

»Sicher«, sagte Gesine und bat ihn, weiter hereinzukommen. Im Grunde genommen war sie froh über die Abwechslung. »Soll ich uns einen Tee kochen?«

Jan sah sich kurz in der Küche um und entdeckte die Kartoffeln auf der Spüle. »Das ist nicht nötig«, sagte er, »ich sehe, Sie bereiten gerade Ihr Mittagessen zu. Ich will auch gar nicht lange stören.«

»Ach was«, winkte Gesine ab, »das Essen mache ich doch sowieso nur noch aus Langeweile. Meistens habe ich gar keinen richtigen Appetit. Es schmeckt nicht immer, wenn man alleine ist.«

Jan meinte, eine gewisse Freude darüber in ihrer Stimme zu vernehmen, dass er da war. Deshalb stimmte er zu. »Dann nehme ich gerne einen Tee.«

Er sah ihr dabei zu, wie sie Wasser in einen Kessel laufen ließ und diesen auf eine Herdplatte stellte. Die weiße Porzellankanne mit dem Blumenmuster befüllte sie mit Teeblättern auf eine Art, als handele es sich um ein heiliges Ritual. Er stellte sich vor, dass sie Jonars Großmutter in Norwegen sei, die sich jetzt um seinen Sohn kümmerte. Bei einer Frau wie Gesine wäre er bestimmt gut aufgehoben. Er selber konnte sich nicht mehr an die Eltern von Viveca erinnern. Ja, manchmal fiel es ihm sogar schwer, sich das Gesicht seiner damals großen Liebe vorzustellen. Es war so ungerecht, dass sie schon tot war. Er hätte sich mehr um sie kümmern sollen. Ein Geräusch holte ihn von ganz weit weg wieder zurück in die Küche, in der es unterschwellig nach Mandeln roch. Gesine hatte Tassen auf den Tisch gestellt.

»Kluntje und Sahne?«, fragte sie ihn.

»Ich trinke schwarz«, erwiderte er und es wunderte ihn, dass sie es offensichtlich auch tat.

»Das ist gut«, sagte sie und lächelte, »Sahne hätte ich sowieso nicht im Haus gehabt. Und auf den Kluntje verzichte ich, damit ich nicht zu viel Zucker zu mir nehme. Finden Sie es komisch, dass eine alte Frau wie ich noch auf ihre Gesundheit achtet?«

Jan runzelte die Stirn. Darauf wusste er nichts zu erwidern. Weder wollte er ihr bestätigen, dass er sie für alt hielt, noch hatte er jemals über solche Fragen nachgedacht.

»Schon gut«, sagte sie und lachte, »ich sehe, wir verstehen uns.«

Mag sein, dachte Jan. Doch im Grunde bezweifelte er es. Sie goss das Wasser in die Kanne und stellte sie auf das Stövchen, in dem ein Teelicht flackerte.

»Heute ist der Himmel ausnahmsweise mal offener«, sagte sie und seufzte. »Ich mag diese dunkle Jahreszeit nicht. Und jetzt, wo nebenan dieser schreckliche Mord passiert ist ...«.

Endlich waren sie beim Thema.

»Ja, deswegen bin ich auch hier«, sagte er und sah auf ihre Hände, die sie ineinander rieb, so als würde es sie frieren. Dabei war es ziemlich warm in der Küche. Alte Leute eben, dachte er. »Es wäre schön, wenn Sie sich noch an Details zu den Besuchern nebenan erinnern könnten. Jetzt, da ein wenig Zeit vergangen ist, fällt es Ihnen vielleicht leichter. Ich meine, der erste Schock ...«.

»Ja ja, schon gut, junger Mann.« Gesine schenkte Tee ein. »Sie haben ja recht. Es war ein großer Schock. Und ehrlich gesagt, seitdem das passiert ist, da fühle ich mich in meinem Haus nicht mehr so ganz sicher. Früher, da habe ich nachts manchmal gar vergessen abzuschließen. Heute sehe ich mindestens drei Mal nach, bevor ich ins Bett gehe. Hoffentlich hört das irgendwann wieder auf.«

Jan hatte da so seine Zweifel, sprach sie aber nicht laut aus.

»Können Sie sich denn an überhaupt keinen Namen erinnern?«, fragte er stattdessen. »Irgendetwas könnte Claudia Bley doch mal nebenbei erwähnt haben, wenn Sie sich über den Zaun hinweg unterhielten. Vielleicht auch nur ein Vorname oder einen Ort, wo der Besucher oder die Besucherin herkam. Irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte, diesen brutalen Mord aufzuklären.«

Gesine verarbeitete das Gesagte, indem sie ihre Teetasse zwischen ihren Händen hielt und pustete.

»Ich würde Ihnen so gerne weiterhelfen«, sagte sie und nickte dabei, »das dürfen Sie mir gerne glauben. Aber Claudia hat keine Namen erwähnt. Wir haben uns nur oberflächlich über die ganzen Besucher unterhalten. Ich wollte nicht, dass sie den Eindruck gewinnt, dass es mir unangenehm wäre oder ich sie einfach nur aus Neugier ausfragen würde. So bin ich eben nicht. Manch andere Nachbarin hätte da wahrscheinlich anders reagiert.«

»Ganz bestimmt sogar«, murmelte Jan, der die fast vornehm scheinende Zurückhaltung seines Gegenübers lobenswert aber in diesem Zusammenhang wenig hilfreich fand. Ja, irgendwie fand er ihr Verhalten sogar ein wenig übertrieben. Man musste ja nicht gleich als neugierig gelten, nur weil man sich dafür interessierte, was in dem Nachbarhaus vor sich ging. Irgendwie war man ja indirekt immer auch selber davon betroffen. Warum also legte Gesine Peters so großen Wert darauf, dass sie im Grunde von nichts wusste? Verheimlichte sie etwas? Hätte es sie selber belastet, wenn sie es sagte?

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann«, sagte Gesine mit einem leichten Seufzer und schenkte noch einmal Tee für beide nach.

»Schon gut«, sagte Jan, »wir werden ja auch noch mit den weiter entfernt liegenden Nachbarn sprechen. Vielleicht haben wir da mehr Glück. Haben Sie eigentlich Kinder?«

Gesine Peters sah ihn mit hochgezogenen Brauen erstaunt an. »Ja«, sagte sie dann, »aber die sind schon lange aus dem Haus und wohnen nicht mehr hier.«

»Aber sie kommen Sie doch bestimmt öfter besuchen?«

Gesine Peters lachte kurz auf. »Sicher, Weihnachten, Ostern und manchmal sogar zu meinem Geburtstag.«

»Also eher selten?«

Sie nickte. »Aber ich nehme es ihnen nicht übel. Sie haben alle ihr eigenes Leben und wenig Zeit.«

Jan fragte sich, warum es ihm so wichtig erschienen war, noch einmal mit dieser Frau zu sprechen. Da war etwas Unterschwelliges, das ihn beschäftigte. Doch im Moment, da konnte er es noch nicht greifen. Er trank seinen Tee auf und verabschiedete sich.

Draußen vor der Tür sog er die frische Luft ein. Es würde in der kommenden Nacht vielleicht das erste Mal frieren, dachte er und musste an Chief denken. Es war gut, dass der Hund nachts nicht mehr draußen schlief. Als er das letzte Mal spät am Abend mit ihm kurz im Wald unterwegs gewesen war, da war ihm aufgefallen, dass der Hund am linken Hinterlauf lahmte und sich öfter hinsetzte als sonst. Er machte sich Sorgen um das Tier. Er mochte den Gedanken, ihn jetzt auch noch zu verlieren, nicht in sein Herz lassen.

Jan schüttelte sich kurz und ging dann nach nebenan, um noch einmal einen Blick in Claudia Bleys Haus zu werfen.

Zweifellos war sie ein interessanter Typ gewesen. Überall an den Wänden hingen vergrößerte Fotoaufnahmen, die sie auf Reisen um die ganze Welt mit vielen anderen Gesichtern zeigten. Offensichtlich hatte sie die Menschen geliebt. Und umgekehrt war es wohl auch so gewesen. Traf es immer die Falschen? Diese Frage nach dem Warum bei einem Mord war ein Klischee. Doch in diesem Fall wurde es belegt. Jedenfalls auf den ersten Blick. Bei jedem Menschen gab es nämlich auch die Schattenseiten. Und Jan war darauf aus, so eine dunkle Stimmung im Leben von Claudia Bley zu erkennen.

Das Haus war großzügig geschnitten. In der Küche stand ein großer sperriger Tisch, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte. An ihm fanden mindestens zwölf Personen zum Essen Platz. An einigen Stellen gab es dunkelrote Flecke, die wahrscheinlich vom Rotwein kamen. Jan schloss die Augen und stellte sich die Gruppe vor, die hier zusammen gefeiert hatte. Er meinte, sogar den Duft, den das Essen hier verbreitet haben musste, zu erahnen. Ein Hauch von Knoblauch schwebte immer noch unter der Decke. Die Decken waren hoch, wie bei so alten Häusern üblich und die Fenster mit Sprossen und gusseisernen Griffen zum Öffnen besetzt. Warum brachte jemand einen Menschen wie Claudia Bley um?

Jan öffnete die Augen wieder und ging ein paar Schritte um den Tisch herum. Er stellte sich verschiedene Gesichter vor, die hier beisammengesessen hatten. Wann hatte einer der Gäste entschieden, dass Claudia Bley sterben musste? Es erschien ihm unwahrscheinlich, dass der Täter sie vor dem Verbrechen nicht schon öfter hier im Haus aufgesucht hatte. Also musste er die Namen der Besucher haben. Er öffnete im Vorbeigehen einige Hängeschränke, sah Behälter mit Zucker, Mehl und Salz, schob hier und da etwas zur Seite.

Der Blick aus dem Fenster führte direkt in den Garten. Dort, wo das Sofa gestanden hatte, das jetzt in der Kriminaltechnik auseinandergenommen wurde.

Der Himmel verfinsterte sich immer mehr und die Lichtverhältnisse in der Küche wurden so, dass er Dinge zu sehen glaubte, die vielleicht gar nicht da waren. Irritiert ging er auf den Flur und machte Licht. Große schwere dunkle Schränke, die ihm jetzt erst richtig auffielen. Sie waren stilvoll, passten aber von der Optik nicht zusammen. Vielleicht hatte Claudia Bley genau wie er gerne beim Trödler eingekauft. War sie eine Einsiedlerin wie er auch gewesen. Und würde man auch eines Tages ihn ermorden und keinen außer vielleicht Lisa würde es überhaupt scheren? Jan stand da und atmete den Duft eines anderen Menschen ein, der nicht mehr da war. Nie mehr wiederkehren würde. So wie Jonar. Das war genau der Punkt, der ihn so schwer belastete, dachte er und ging weiter in den nächsten Raum.

Das Schlafzimmer war sehr groß und spartanisch eingerichtet. Ein Doppelbett mit zerwühlten Laken. Nein, Claudia Bley war keine Frau gewesen, die Betten machte. Man ging doch abends sowieso wieder hinein. Und auf ihn strahlte das, wie zu einem Berg aufgetürmte Oberbett und das eingedrückte Kissen, in dem ihr Kopf zuletzt gelegen hatte, eine unbestimmte Ruhe, gar Gemütlichkeit aus. Es ermöglichte ihm, sich die Frau, die dort vor ihrem Tod gelegen hatte, vorzustellen. War sie alleine gewesen? Das Kissen neben ihrem schien unberührt. Wo hatte der Täter sie getötet? Hatte er sie im Schlaf überrascht und hatte sie deshalb einen Herzinfarkt erlitten? Bei einer Frau Ende vierzig in gesundem Allgemeinzustand nur schwer vorstellbar. Vielleicht hatte er sie tatsächlich überrascht, aber zunächst nur betäubt. Dann gab er ihr eine Substanz, die einen Herzinfarkt verursachte. Schließlich trug er sie nach draußen und setzte sie aufs Sofa, um sie als betendes Opfer zu drapieren. Vorher muste er sie noch angezogen haben, was bei einer bewusstlosen Frau kein Problem sein dürfte.

Jan zog sein Handy aus der Hosentasche und rief bei Ole an.

»Jan?«, meldete sich der Gerichtsmediziner und klang mürrisch.

»He Ole«, erwiderte Jan, »kannst du dir nochmal die Kleidung des Opfers vornehmen?«

»Claudia Bley?«

»Ja. Ich denke, der Täter hat sie angezogen.«

»Aha. Aber die Kleidung ist doch eigentlich Sache der Spurensuche.«

»Das weiß ich ja, aber ich bin gerade in ihrer Wohnung.«

»Ich verstehe nicht so ganz den Zusammenhang ...«.

»Es geht mir darum, auf der Kleidung etwas zu finden, was es sonst im Haus auch gibt. Ich meine Partikel oder Hautschuppen. Irgendwas. Das würde den Täter identifizieren können, wenn er schon einmal bei ihr im Haus gewesen ist. Ich meine, auch bevor er sie getötet hat. Dann muss es einfach mehr Spuren von ihm geben.«

»Okay. Und wenn nicht?«

»Dann wissen wir zumindest, dass er nicht ständiger Gast bei ihren Einladungen war.«

»Leuchtet mir ein. Ich werde mich mal mit den Kollegen von der Spusi kurzschließen.«

»Danke«, sagte Jan und sie legten auf.

Dann ging er zu dem einen Schrank, in dem Claudia Bley offensichtlich alles Lebensnotwendige aufbewahrte. Er hatte zwei Türen und vier Schubladen. Auf den Stangen hingen ein paar Hemdblusen auf zwei Bügeln übereinander und in den Fächern lagen zerknüllte Pullover und Jeans. Ordnung war nicht das Thema dieser Frau gewesen. In den Schubladen lag die Unterwäsche. Oft versteckten Frauen hier ihre Geheimnisse, dachte er und schob ein paar Slips und Büstenhalter hin und her. Und tatsächlich. Da lag ein Bilderrahmen mit dem Rücken nach oben. Mit spitzen Fingern zog Jan ihn zwischen der Wäsche hervor und drehte ihn um. Das Foto zeigte Claudia Bley mit einem etwas jünger wirkenden Mann. Ihre große Liebe? Warum sonst sollte sie dieses Foto hier aufbewahren. Und dass es in die Schublade gewandert war, deutete darauf hin, dass die Beziehung vorbei war. Jan meinte, das Gesicht des Mannes schon einmal gesehen zu haben. Er versuchte sich zu erinnern und setzte sich dabei in Gedanken auf das Bett. Er hatte diesen Mann schon einmal irgendwo gesehen, da war er sich jetzt ganz sicher. Es dauerte noch einen Moment, bis es ihm schließlich einfiel. Es war der Sohn von Gesine Peters. Er hatte ihn auf einem Foto an der Wand gesehen, als er ihr eben vom Flur aus in die Küche gefolgt war.

Es wurde Zeit, dass er sich noch einmal mit ihr unterhielt. Den Bilderrahmen legte er auf das Bett.

»Oh«, sagte Gesine, als sie erneut aufmachte. »Haben Sie etwas vergessen, junger Mann?«

»Ich nicht«, sagte Jan, »aber Sie haben vergessen zu erwähnen, dass Ihr Sohn ein Verhältnis mit Claudia Bley gehabt hat.«

Peinlich berührt und bei einer offensichtlichen Lüge ertappt lief Gesine rot an.

»Sie müssen das verstehen«, sagte sie, »ich wollte nicht, dass Sie etwas Falsches von Johann denken.«

»Was hätte ich denn denken können?«, fragte Jan, »etwa, dass Ihr Sohn der Mörder von Claudia Bley sein könnte?«

»Um Himmels willen.« Gesine schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Ich denke, wir sollten uns noch einmal unterhalten«, sagte Jan und wartete, bis Gesine ihn wieder in die Küche führte.

Dann schilderte die alte Frau ihm, wie fasziniert ihr Sohn vom ersten Moment an von Claudia gewesen war, als er sie kennenlernte. Es war auf dem Geburtstagsfest ihres verstorbenen Mannes gewesen. Johann, der eigentlich in Hamburg lebte, war übers Wochenende zu Besuch gewesen, weil sich die lange Fahrt sonst nicht gelohnt hätte, wie er meinte. Und dann am Sonntagmorgen, da sei er schon sehr früh zum Joggen im nahegelegenen Waldstück aufgebrochen. Und als er zurückkam, da war Claudia bereits draußen im Garten gewesen, um die Rosen zu gießen. So hätten sich die beiden kennengelernt.

»Und wann wurde aus den beiden ein Paar?«, fragte Jan.

Gesine zuckte mit den Schultern. »So genau lässt sich sowas ja nie sagen. Aber wir, also mein Mann und ich, wir haben erst nach einer Weile davon erfahren, als er immer öfter zu Besuch kam.«

»Verstehe. Es gab jetzt einen Grund für ihn, öfter nach Ostfriesland zu kommen.«

Sie nickte.

»Ist Ihr Sohn verheiratet oder in einer festen Beziehung gewesen, als er die Affäre mit Claudia Bley einging.«

»Aber nein«, antwortete Gesine, »so einer ist unser Johann nicht. Er betrügt niemanden und er bringt auch keinen um«, stellte sie deutlich klar, dass sie nicht davon ausging, dass ihr Sohn etwas mit dem Tod der Nachbarin zu tun haben könnte.

»Ihr Sohn ist etwas jünger als Claudia Bley gewesen, richtig?«

»Nur ein paar Jahre«, antwortete Gesine, »aber das machte ihm nichts aus. Und ihr wohl auch nicht.«

»Hatten Sie in der Zeit, wo Johann mit ihrer Nachbarin liiert war, denn nicht mehr mit Frau Bley zu tun?«

»Nein, da hat sich nichts geändert. Und wenn Johann bei ihr war, er hat irgendwann dann auch bei ihr übernachtet, wenn er hier war, dann haben wir die beiden ja gar nicht mehr gesehen.«

»Hm. Und wie lange ging das so? Ich meine, wann wurde die Beziehung beendet und von wem?«

»So genau weiß ich das nicht. Johann hat nicht darüber gesprochen. Aber ich denke, sie hat Schluss gemacht. Sonst hätte er sicher darüber geredet.«

»Ja, wahrscheinlich haben Sie recht. Trotzdem müsste ich wissen, wie lange die beiden zusammen waren. Bitte versuchen Sie, sich zu erinnern.«

Gesine wand sich und rang um eine Antwort. Jan ahnte, dass es noch nicht so lange her sein konnte.

»Lassen Sie mich raten«, sagte er deshalb, »nicht mehr als ein paar Monate, richtig?«

Fast erleichtert atmete Gesine auf und nickte. »Sie haben recht. Aber das bedeutet nicht, dass Johann etwas mit ihrem Tod zu tun hatte.«

»Nun, das werden wir ermitteln müssen«, erwiderte Jan. Er ließ sich die Adresse des Sohnes geben und bat Gesine, ihn nicht anzurufen, damit er nicht gewarnt wurde. Sie versprach es schweren Herzens.

Draußen im Wagen nahm Jan Kontakt zu den Kollegen in Hamburg auf, damit man Johann Peters festsetzte und nach Aurich zum Verhör brachte.

Todeskampf

Das Erste, was er spürte, als er wieder zu sich kam, war ein stechender Schmerz am Fuß. Es konnte auch das Bein sein, so genau konnte er es in seinem Dämmerzustand nicht orten. Er wusste nur, dass es höllisch weh tat. Wie ein Messer, dass blitzschnell in sein Fleisch gebohrt wurde. Immer wieder. Er versuchte, sein Bein wegzuziehen, damit das endlich aufhörte. Aber das war unmöglich. Denn, so registrierte er jetzt, er war wohl an den Stuhl gebunden, auf dem er saß. Immer wieder stach der spitze Gegenstand auf ihn ein. Er konnte nichts dagegen machen. Denn auch seine Hände waren bewegungsunfähig. Mit wässrigem Blick sah er nach vorne, als die Benommenheit erträglicher wurde. Seine Finger waren ineinander verhakt und die Handgelenke mit einem Seil zusammengebunden. Das Einzige, was er tun konnte, war, die Hände gemeinsam ein wenig nach oben zu ziehen und dann in die Ausgangspositionen zurückzuführen. Eine böse Erkenntnis ließ ihn den Atem anhalten. Jemand wollte ihn töten. Was sonst sollte der Grund dafür sein, dass man ihn hier an einen Stuhl kettete und fesselte? In dem fahlen Licht des Raumes konnte er nicht viel mehr als seine eigenen Hände und die Umrisse einiger Möbelstücke erkennen. Doch er wusste, dass er in seiner Küche saß. Alleine der Geruch bestätigte ihm dies. Wo er doch so gerne mit Knoblauch kochte. Überall hing der für ihn betörende Duft in den Wänden. Doch jetzt, in Anbetracht der unheimlichen Umstände, da blieb ihm keine Zeit, zu genießen.

Es fiel ihm wieder ein, dass jemand an seine Tür geklingelt hatte. Aber das war doch schon viel länger her, meinte er sich zu erinnern. Was war hier los? Ja, tatsächlich war er durch die neuen Erkenntnisse für einen Moment von seinem Schmerz im Bein oder auch im Fuß abgelenkt gewesen. Umso härter stach der Gegner jetzt wieder zu. Hart und spitz. Er musste auf einen Knochen gestoßen sein. Und es waren mehrere. So langsam dämmerte es Keno. Da waren Ratten, die um seinen Stuhl tanzten. Um den besten Platz kämpften, um ihn zu zerstören. Der Schmerz, er wurde unerträglich, so dass Keno wieder die Besinnung verlor.

Der Beobachter

Er fand es interessant, dass der Ermittler noch einmal ins Haus gekommen war. Im letzten Moment war es ihm gelungen, durch den Hinterausgang aus dem Haus zu verschwinden. Er hatte sich hinter der hohen Hecke, die zum Waldrand führte, versteckt. Jan Krömer hieß er und sah verdammt gut aus.

Als er aus dem Wagen stieg, da war er gar nicht in das Haus von Claudia gegangen, sondern war zum Nachbarhaus gelaufen. Zu dieser alten Schachtel, die immer neugierig über den Zaun sah, wenn Claudia Besuch bekam.

Ach Claudia, du warst wirklich eine harte Nuss. Er grinste in sich hinein.

Er sah, wie die Alte den Ermittler mit ins Haus nahm. Sicher hatte er noch Fragen an sie. Doch, so dachte er verschmitzt bei sich, sie werden niemals herausfinden, wer Claudia ermordet hat. Denn ich bin einfach zu schlau für sie.

Fast wäre er bereit gewesen, erneut in das Haus seines Opfers zu gehen. Sich einfach irgendwo im Schrank verstecken und abwarten, was passiert. Ja, er liebte diesen Nervenkitzel. Schon seit geraumer Zeit hatte er sich mit Jan Krömer und der unscheinbaren Kollegin beschäftigt. Es hatte hin und wieder in der Zeitung gestanden, dass die beiden schwerste Verbrechen von Serienmördern aufklärten. Irgendjemand musste ihnen jetzt mal gehörig die Bilanz versauen. Denn ihn, so war er sich sicher, würden sie niemals in die Finger kriegen.

So langsam wurde es ihm zu kalt hier draußen. Sollte er einfach im Wald verschwinden und ein anderes Mal wiederkommen? Während er noch darüber nachdachte, ging die Tür bei der Alten wieder auf. Der Ermittler ging nach draußen, die Tür schloss sich hinter ihm und er stand einfach da und sah in den Himmel. Was machte er da nur? Fasziniert blieb sein Blick an dem fein geschnittenen Gesicht des Ermittlers hängen. Jan Krömer. Ein einfacher und schöner Name zugleich. Wie sich seine Haut wohl anfühlen mochte? Sicher besser als seine eigene, dachte er fuhr sich mit der Hand über die vielen Narben. Es war nicht seine Schuld, dass er so aussah.

Als er bemerkte, dass der Ermittler nun in das Haus von Claudia Bley ging, entschied er sich, für diesen Tag das Weite zu suchen.

Johann Peters

Jan war nach Hause gefahren, weil er wusste, dass Lisa dort auf ihn warten würde.

»Du warst ja ganz schön lange weg«, begrüßte sie ihn. »Der Kaffee schmeckt wahrscheinlich nicht mehr.« Sie deutete auf die Kanne auf dem Tisch.

»Dafür haben wir jetzt sowieso keine Zeit«, erwiderte er und zog nicht einmal seine Jacke aus. »Wir müssen gleich in die Dienststelle für ein Verhör.«

»Verhör?«, wiederholte Lisa neugierig und kam vom Sofa hoch. »Du hast jemanden festgenommen? Wen?«

»Es ist kompliziert«, erwiderte er, »es geht um Johann Peters, den Sohn der Nachbarin. Ich erkläre dir alles während der Fahrt.«

Schnell schnappte sich Lisa ihre Jacke und fuhr mit ihren Füßen in die Boots. Chief lugte mit einem Auge unter dem Tisch hervor und drehte sich wieder um, als er meinte, dass alles ganz normal war. Dann gingen sie zum Wagen.

Die Kollegen aus Hamburg waren erwartungsgemäß noch nicht mit dem Verdächtigen angekommen, als sie ins Büro kamen.

»Das wäre ja ein Ding«, meinte Lisa, als sie sich auf ihren Schreibtisch setzte, »stell dir vor, der Fall klärt sich so einfach auf. Praktisch von selber.«

»Naja«, meinte Jan, »manchmal läuft es eben so.«

»Dumm nur, dass das Foto noch in der Schublade lag. Damit hat dieser Peters wohl nicht gerechnet, sonst hätte er es mitgenommen.«

»Da hat er geschlafen, das stimmt. Ansonsten dürfte er alle seine Spuren verwischt haben. Bis auf das Bild. Aber irgendwie wundert es mich, dass er es nicht gefunden hat. Es lag schließlich in einem nicht extrem schwer zugänglichen Schrank. Und jeder Idiot weiß ja, dass Frauen ihre Geheimnisse bekanntlich zwischen ihrer Unterwäsche aufbewahren.«

»Tatsächlich«, sinnierte Lisa und ging in Gedanken zu ihren eigenen Sachen. Sie hortete ihre Unterwäsche in einem alten Koffer, den sie mal auf einem Flohmarkt entdeckt hatte. Große Geheimnisse enthielt er indes nicht.

»Naja, jedenfalls denke ich, dass es so ist.« Jan hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und die Hände im Nacken verschränkt.

»Trotzdem finde ich es merkwürdig, dass er so oberflächlich gearbeitet hat, wo er doch alles andere akribisch ausführte«, blieb Lisa mit ihrer Einschätzung beharrlich. »Ich meine, jemand, der so einen Aufwand betreibt, übersieht dann einfach mal ein Foto, mit dem er in Nullkommanichts identifiziert werden kann. Das leuchtet mir irgendwie nicht ein.«

»Ich stimme dir uneingeschränkt zu«, sagte Jan, »doch im Moment haben wir leider keinen anderen Täter.« Er gähnte und streckte sich durch.

Lisa verfiel wieder in ihre Gedankenwelt, in der sich alles um die Frage drehte, was eigentlich aus ihr werden sollte. Was war mit ihr los, dass sie bei ihrem Kollegen lebte und ihre Unterwäsche in einem alten Koffer verwahrte? Damals, als sie auf die Polizeischule ging, ach, es war schon so lange her, dass es sich praktisch fremd anfühlte, an die Zeit zurückzudenken. Aber damals, da war sie noch voller Elan gewesen. Sie wollte die berühmte Welt retten, eben auf ihre Art, indem sie die Menschen schnappte, die sie mit ihren Untaten verschlechterten. Ihre Eltern waren damals sehr stolz auf sie gewesen. Mittlerweile lebten sie nicht mehr, dachte Lisa fast erleichtert. Was würden sie darüber denken, wenn sie sahen, wie ihre so hoffnungsvolle Tochter jetzt in einer Dauerdepression mit ihrem Kollegen lebte. Nein, es war besser, sie sahen es nicht mehr mit an. Es hätte ihnen das Herz gebrochen.

Die Bürotür ging auf und ein Kollege in Uniform steckte seinen Kopf herein.

»He«, sagte er und es war sofort klar, dass er aus Hamburg kam. »Das Paket ist abgeliefert. Wir haben ihn in seiner Wohnung geschnappt. Aber er war ganz friedlich und hat sich nicht geweigert, mitzukommen.«

Jan war aufgestanden und stand mit verschränkten Armen vor dem Mann, der doppelt so breit wirkte wie er, und etwas größer war. Er fragte sich, ob die Glatze echt war oder geschoren. Der breite silberne Ring im linken Ohr ließ ihn an eine Werbung denken, die er früher als Kind mal gesehen hatte.

»Danke«, sagte Jan, »gute Arbeit. Sicher fahrt ihr gleich zurück, nehme ich an.«

»Jo.«

»Die Wohnung von Peters wird sicher schon auf Spuren untersucht.«

»Das ist der Job.«

»Okay. Dann kümmern wir uns jetzt um den Rest.«

Der Polizist nickte beiden noch einmal zu und wandte sich dann zum Gehen.

»Möchtest du in der Großstadt arbeiten?«, fragte Jan, der sich wieder Lisa zugewandt hatte. Sie schüttelte nur nachdenklich den Kopf zur Antwort. »Dann knöpfen wir uns den Typen jetzt mal vor.«

 

Johann Peters hatte nicht viel gesagt, als man ihn in seiner Wohnung überwältigte. Zuerst wusste er gar nicht, worum es eigentlich ging. Er hatte doch nur seine Schicht hinter sich gebracht und war dann nach Hause gefahren, um ein bisschen zu schlafen. Dann hatte es an der Tür geklingelt und jemand hatte wild dagegen geschlagen. Das hatte ihn aufgeschreckt. Es war alles ganz schnell gegangen. Er hatte kaum Zeit, sich zu erklären oder Fragen zu stellen. Einer der Beamten hatte ihn hart rangenommen und ihm die Arme bis zum Anschlag auf den Rücken gedreht. Dann endlich hatte er erfahren, was man eigentlich wollte. Er sollte in Aurich verhört werden zum Mord an Claudia Bley. Da waren ihm das erste Mal die Knie weggesackt. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie überhaupt tot war.

 

»Jan Krömer«, sagte Jan, als er sich Peters gegenüber an den Tisch setzte. »Und das ist meine Kollegin Lisa Berthold. Wir bearbeiten den Mordfall Claudia Bley. Und Sie werden als dringend tatverdächtig betrachtet. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie mit uns reden wollen oder zunächst einen Anwalt hinzuziehen möchten.«

Johann Peters ließ das Gesagte erst mal sacken und ruckelte sich auf seinem harten Stuhl zurecht. War es schlau, jetzt schon nach juristischem Beistand zu rufen. Er hatte doch gar nichts getan. Wenn er jetzt nicht kooperierte, machte ihn das doch erst recht verdächtig. Also entschied er anders.

»Ich habe nichts zu verbergen, ich brauche keinen Anwalt«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

»Okay, Ihre Entscheidung«, sagte Jan. »Sie kannten das Opfer Claudia Bley, richtig?«

»Wenn Sie die Nachbarin meiner Mutter in Ihlow meinen, dann ja.«

Jan klappte die Akte auf, die er mitgebracht hatte, und legte ein Foto von Claudia auf den Tisch. »Ist sie das?«

Peters nickte. »Aber ich wusste gar nicht, dass sie tot ist«, sagte er mit fast weinerlicher Stimme.

Jan sah ihn eindringlich an. Sagte er die Wahrheit?

»Sie wollen andeuten«, fuhr Jan fort, »dass Sie erst durch die Beamten in Hamburg erfahren haben, dass Claudia Bley tot ist?«

Peters nickte wieder.

»Schwer zu glauben«, meinte Jan, »warum hätte Ihre Mutter Ihnen denn nicht davon erzählen sollen?«

»Ach, das ist leicht erklärt«, erwiderte Peters fast erleichtert. »Wir haben nicht so viel Kontakt miteinander. Und sie hat es auch nie gut gefunden, dass ich überhaupt mit Claudia zusammen war. Ihr gefiel der Altersunterschied nicht, oder was weiß ich. Das war mir auch ehrlich gesagt egal. Ich habe Claudia wirklich geliebt.«

»Warum haben Sie sich dann getrennt?«, mischte sich Lisa das erste Mal in das Verhör ein.

»Sie wollte nicht mehr mit mir zusammen sein«, antwortete Peters und verlor sich in ihrem Gesicht.

»Weshalb nicht?«, fragte Lisa, der es unangenehm war, dass er sie so anstarrte.

Peters zog die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht. Sie hat es nicht so genau gesagt. Vielleicht war ich ihr einfach zu gewöhnlich.«

»Das heißt also, sie hat plötzlich Schluss gemacht ohne ersichtlichen Grund?«

»Ja, so könnte man es wohl sagen. Eines Abends, wir hatten gerade miteinander geschlafen, da sagte sie plötzlich, dass es das letzte Mal gewesen war. Sie schenkte mir dieses letzte Mal zum Abschied.« In seine Augen traten tatsächlich Tränen.

»Das klingt etwas sonderbar«, meinte Lisa, die froh war, dass er endlich einfach nur auf seine Finger sah, die er ineinander verschlungen hatte.

»Ich konnte es ja auch nicht kapieren, wir hatten uns doch so gut verstanden. Aber sie hat mir keine weitere Erklärung gegeben, das müssen Sie mir glauben.«

»Und Sie haben das einfach so hingenommen?«, hakte Jan nach, um nach einem Motiv zu suchen.

»Was hätte ich denn machen sollen?«, stellte Perters eine Gegenfrage.

In dem Moment war Jan klar, warum es eine Frau wie Claudia nicht länger mit ihm ausgehalten hatte. Er war ein Waschlappen. Ein Waschlappen ohne jegliche Kreativität und Witz. Warum sollte eine Frau wie sie mit so einem Trottel leben wollen. Ein völlig absurder Gedanke.

»Sie haben also nichts unternommen, um sie umzustimmen?«, fragte Jan.

Peters schüttelte mit dem Kopf. »Ich hab meine Sachen genommen und bin nach Hause gefahren. Claudia war so. Wenn sie etwas sagte, dann meinte sie es auch so. Ich wusste, dass es sinnlos sein würde, sie noch einmal umstimmen zu wollen.«

»Wann genau war das? Und hatten Sie danach noch einmal Kontakt zu ihr?«

Peters musste nicht lange nachdenken. Er wusste den Tag und die Stunde genau. »Und danach habe ich nichts mehr von ihr gehört und sie hat sich auch nicht mehr bei mir gemeldet. Es war eine harte Zeit, doch so langsam war ich drüber weg. Und dann das.« Er deutete auf das Foto, das Claudia tot auf dem Sofa sitzend zeigte. »Wer macht sowas?«

»Gute Frage«, sagte Jan. Ihm war dieser Peters zu langweilig und auch irgendwie egal. »Wir werden Ihre Hamburger Wohnung natürlich auf Spuren untersuchen müssen. Sie bleiben über Nacht hier.«

»Sie werden schon sehen, dass ich recht habe«, sagte Johann Peters, als Jan und Lisa sich zum Gehen erhoben.

»Was für ein Schwachkopf«, sagte Jan, als er mit Lisa auf dem Flur war.

»Wie meinst du das?«, fragte sie zurück.

»Naja, was wollte eine Frau wie Claudia Bley von so einem Typen?«

»Eine Frau wie Claudia Bley«, wiederholte Lisa, »wie meinst du das? Sie war doch keine Heilige. Oder ist mir da etwas entgangen.«

»Ach, egal«, wischte er alles eben Gesagte mit einer Handbewegung weg. »Auf jeden Fall ist er nicht unser Täter, soviel steht fest.«

»Hm«, machte Lisa, die nicht ganz verstand, wovon er da redete. Wieso sollte er denn nicht der Mörder sein können, nur, weil er etwas einfältig wirkte. Und überhaupt, was meinte Jan, wenn er von Claudia Bley von »so einer Frau« sprach. Drehte er jetzt völlig durch? »Lass uns nach Hause fahren«, schlug sie vor. »Hier können wir jetzt nichts mehr ausrichten.«

Während der Fahrt schwiegen sie und Lisa sah aus dem Fenster. Es gab dort nichts zu sehen, denn dafür war es schon viel zu dunkel. Auf dem Land, da kannte man im Gegensatz zu ständig beleuchteten Großstädten noch den Unterschied zwischen Tag und Nacht. Beinahe war sie dankbar dafür. Denn was im Verborgenen blieb, hatte sie nicht zu kümmern. Im Beifahrerspiegel sah sie plötzlich Scheinwerfer in einiger Entfernung auftauchen. Da fuhr jemand in dieselbe Richtung wie sie. Das wunderte sie eigentlich, denn so viele zog es um diese Zeit nicht nach Tannenhausen. Sie hielt den Wagen im Blick, doch irgendwann bog er nach links in einen Waldweg ab.

Kleine und große Grübeleien

Lisa lag in ihrem Bett und konnte nicht einschlafen. Als sie nach Hause gekommen waren, hatte Jan darum gebeten, alleine zu sein. Er wollte sogar mit Chief im Wald spazieren gehen. Das hatte sie nicht gewollt. Weder, alleine auf dem Sofa sitzen wie ein Trauerkloß. Noch, dass er in der Kälte draußen herumrannte, nur, weil er seine Ruhe vor ihr haben wollte. Also war sie einfach ins Bett gegangen. Nicht beleidigt, oder im Zorn. Sie hatte es einfach gesagt, dass sie auch sehr müde sei. Ihn zu fragen, warum er überhaupt alleine sein wollte, darauf hatte sie verzichtet. Sie wusste, dass es nicht wegen ihr war.

Jan hatte sich über Johann Peters geärgert. Nicht, weil er glaubte, dass er log. Nein, es war eher die Einfältigkeit, die Peters zweifellos ausstrahlte. Was er sagte, stimmte. Er redete nicht lange um den Brei herum. Aber warum hatte Jan ihm das alles so übel genommen? So persönlich?

Es war ihr ja schon seit geraumer Zeit aufgefallen, dass Jan anders war als sonst. Noch merkwürdiger, hätte man auch sagen können. Dieser Gedanke ließ sie schmunzeln. Sie zog die Bettdecke noch höher bis unters Kinn und kuschelte sich ein. Und noch ein weiterer Gedanke breitete sich in ihr aus. Sie musste es schaffen, wieder die nötige Distanz zu Jan zu finden. Es war irre von ihr, sich vorzustellen, dass sie ein gemeinsames Kind haben könnten. Jetzt, im Nachblick, schämte sie sich fast dafür, dass sie auch den Sex davor nicht ausgeschlossen hatte. Der nahende Winter, er nagte wohl an ihnen beiden.

Es dauerte noch einige wenige Augenblicke, bis Lisa hin und wieder zuckte und dann endlich einschlief.

 

Jan saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, doch er hielt es fast nicht aus. Diese Enge im Raum. Der Ofen, er glühte immer noch, obwohl er schon vor einer halben Stunde das letzte Holz aufgelegt hatte. Chief indes lag von der Wärme gestreichelt zufrieden unter dem Tisch. Dieser Anblick alleine hinderte Jan daran, einfach nach draußen in den Wald zu rennen. Woher kam nur diese permanente Ruhelosigkeit und Aggressivität?, fragte er sich im Stillen. Und was ihn noch mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass er gemein zu Lisa war. Das hatte sie wirklich nicht verdient. Sie war der beste Mensch, den er jemals kennen gelernt hatte. Wer sonst würde es hier mit ihm aushalten können? Vielleicht ist sie ein Geschenk, dachte er und musste schmunzeln. Er schenkte sich noch einmal Rotwein nach und hatte jetzt sogar Lust, Musik zu hören. Er hatte sich bei seinem letzten Einkauf vor ein paar Tagen die neueste CD seiner Lieblingsband gekauft, aber bisher noch gar nicht reingehört. Er stellte sein Glas ab und ging zur Anlage, wo die CD noch in Folie verpackt obenauf lag.

Kurz darauf erklangen die ersten Töne. Eben typisch Snow Patrol. Er liebte die Stimme des Sängers. Er liebte alles an dieser Band. Und das hing natürlich auch damit zusammen, dass es gerade diese Musik war, die ihn für immer an seine einstiege Liebe erinnern würde. Es war schon ziemlich lange her, dass er das letzte Mal an Virginia gedacht hatte. Er fühlte sich in diesem Moment so unendlich alt. Mit ihr, ja, da wäre er gerne alt geworden. Oder doch lieber mit Viveca, der Mutter seines Sohnes? Eines war sicher, dann hätte er Virginia niemals getroffen. Gab es Zufälle überhaupt? Eigentlich glaubte er nicht daran.

Die Titel wechselten und plötzlich fühlte Jan die Musik ganz tief in sein Herz dringen. So hingebungsvoll die Stimme, die zurückhaltende Musik. Er hörte diesen Song zum ersten Mal und war sofort gefangen. Er nahm die Hülle und suchte nach dem Titel. What if this is all the Love you ever get? Einfach gigantisch, dachte Jan und stellte auf Repeat. Es passte so gut zu seiner derzeitigen Stimmung. Ja, was wäre, wenn das jetzt hier schon alles gewesen wäre, was er an Liebe zu erwarten hatte in seinem Leben? War er nicht schon reich genug beschenkt worden in dieser Richtung? Musste er jetzt zufrieden sein? Möglich. Und auch gar nicht so schwer nachvollziehbar. Das Lied wiederholte sich, während Jan Rotwein trank, sich zu Chief auf den Boden setzte und ihn streichelte. Mein Leben ist so reich, wie es sich ein Mensch nur wünschen kann, dachte er und Tränen sammelten sich in seinen Augen. Er wurde von einem Hund geliebt und von einer Frau, der er immer wieder vor den Kopf stieß. Lisa. Plötzlich wusste er wieder, was wirklich wichtig im Leben war.

 

Lisa wurde von einem Geräusch geweckt. Es wurde bereits hell draußen. Sie spürte etwas, einen leichten Druck. Und dann sah sie eine Hand und erschrak. Die Hand lag auf ihrem Kopfkissen. Sie drehte sich vorsichtig um.

»Jan?«, fragte sie tonlos. Er hatte die Augen bereits aufgeschlagen und lächelte sie an. »Was machst du hier?« Es war verrückt. Damit, dass er jetzt hier neben ihr im Bett lag, wurden ihre kühnsten Träume Wirklichkeit. Und sofort machte sich in ihr Angst breit. War das normal? Träumte sie in Wahrheit noch.

»Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte Jan und zog seinen Arm hinter ihr entlang. »Ich wollte einfach nicht alleine sein.«

Ach so, dachte sie, alles wie immer. »Schon okay«, erwiderte sie und war froh, gestern nicht nackt ins Bett gegangen zu sein. »Ich hab das gar nicht gemerkt, dass du hier ...«.

»Wollen wir frühstücken?«, fragte er und lächelte.

Nimmt er Drogen?, fragte sich Lisa. Doch das würde nicht zu ihm passen. »Eine gute Idee«, erwiderte sie, »ich könnte uns Kaffee machen.«

»Nein nein«, wehrte Jan ab und kletterte über sie hinweg. Er trug seine Shorts und ein Unterhemd. »Ich stehe zuerst auf, du ruhst dich erst mal richtig aus. Es tut mir leid, wenn ich in der letzten Zeit unausstehlich war, ehrlich.«

Er kniete jetzt vor dem Bett und sah sie direkt an.

»In der letzten Zeit?«, spielte Lisa die Verblüffte.

»Ja, du hast recht«, gab er zu, »irgendwie habe ich schon länger den Faden verloren. Ich weiß auch nicht, vielleicht war alles zuviel für mich geworden. Aber jetzt weiß ich, was wichtig ist. Du bist wichtig für mich, Lisa. Du bist meine beste Freundin.«

Sie musste jetzt was unternehmen, sonst würde sie heulen. Also schlang sie einen Arm um seinen Nacken und zog ihn zu sich heran. »Du bist auch mein bester Freund, Jan Krömer«, sagte sie und unterdrückte einen Schluchzer.

»Ich finde es schön, dass das möglich ist«, sagte Jan, und löste sich von ihr, »ich meine, dass wir als Mann und Frau trotzdem einfach nur Freunde sein können. Dann mache ich jetzt mal Kaffee.«

Lisa sah ihm nach. Besser das, als gar nichts, dachte sie. Und irgendwie war es auch schön, einen besten Freund zu haben. Es gab so viele einsame Menschen, aber sie gehörte nicht mehr dazu.

Sie wartete, bis er im Bad fertig war, und stand dann auch auf.

 

In der Tageszeitung war der Mord an Claudia Bley noch immer Thema. Alleine die mysteriösen Umstände luden zu wilden Spekulationen ein. Zudem die Polizei wie immer mauerte, wie in einem Kommentar beklagt wurde.

»Was machen wir heute?«, fragte Lisa, als sie sich Kaffee nachschenkte.

Jan zog die Schultern hoch. »Wir könnten Johann Peters nochmal verhören«, schlug er halbherzig vor.

»Aber du glaubst doch nicht, dass er der Täter ist«, wandte Lisa ein. »Wozu also?«

»Ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht bringen Oles Recherchen zu ihrer Kleidung uns ja weiter. Bisher hat er sich aber nicht gemeldet. Oder bei dir?«

Lisa sah auf ihr Handy und schüttelte mit dem Kopf.

»Er wirkt in letzter Zeit ziemlich angespannt«, meinte Jan, »findest du nicht? Man traut sich ja kaum noch, ihn anzurufen.«

»Hm, ist mir noch nicht so konkret aufgefallen«, meinte Lisa. »Aber wenn du möchtest, dann frag ich mal bei ihm nach. Vielleicht steht er mehr auf weiblichen Charme.« Sie grinste.

Doch soweit kam sie nicht, da ihr Handy plötzlich klingelte.

»Hallo?«, sagte sie kurz darauf. Ihr Gesicht verdunkelte sich, als sie aufmerksam zuhörte. »Okay«, sagte sie dann, »wir sind gleich da.«

»Was ist los?«, fragte Jan, als sie das Gespräch beendet hatte.

»Ein Mord in Aurich. Ein Mann in seiner Wohnung. Ziemlich üble Sache, offensichtlich wurde er von Ratten angefressen und ist und verblutet.«

Jan zog die Stirn kraus. »Dann haben wir jetzt also zwei Mordfälle am Hals. Wahrscheinlich brauchen wir dann Verstärkung.«

»Lass uns erst mal hinfahren«, schlug Lisa vor und stapelte das Geschirr zusammen, ließ es aber auf dem Tisch stehen.

Das zweite Opfer

Vor dem Wohnblock aus dunkelroten Klinkern standen zwei Streifenwagen, deren Blaulicht lautlose Signale an die Schaulustigen sendeten, die sich in der Straße versammelt hatten.

Jan parkte den Wagen zwischen zwei großen Eichen und sie gingen zum Eingang, der offenstand. Die Wohnung des Opfers befand sich im zweiten Stock und sie stiegen die schmuddeligen Stufen nach oben.

Auch dort stand eine Tür offen. Auf der Klingel stand Keno Terfehr. Ein Kollege von der Spurensicherung nickte ihnen zu, als sie eintraten.

»Er sitzt in der Küche«, sagte der Kollege und wies mit der weiß behandschuhten Hand in die Richtung.

Das grelle Licht der Küchenlampe verschlimmerte dann das Bild, auf das sie sich innerlich schon vorbereitet hatten. Von Ratten zerfressen zu werden musste eine große Schweinerei hinterlassen. Und so war es dann auch. Das Blut, das sich um die Stuhlbeine herum geschlängelt hatte, war bereits angetrocknet. Von den Füßen waren im Prinzip nur noch die Knochen übrig.

Lisa hielt sich eine Hand vor den Mund, weil sie den bestialischen Gestank nicht direkt einatmen wollte. Jan nutzte dazu auch noch ein Taschentuch.

»Wieso nur die Füße«, nuschelte Lisa in ihre Finger.

»Vielleicht waren sie satt«, meinte Jan und ging einmal um das Opfer, das mitten in den Raum gerückt worden war, herum. Der Mann musste stark geschwitzt haben, die Haare klebten ihm am Kopf. Dieser war nach vorne gekippt und Jan hoffte, dass es schnell gegangen war. Allerdings ging er nicht davon aus, nach dem Anblick, der sich ihnen bot. Die Tiere mussten den Mann immer wieder attackiert haben. Und Lisa hatte recht. Warum hatten sie sich nur für seine Füße bis maximal zu den Waden hin interessiert? Dafür konnte es nur eine Erklärung geben.

Ole kam herein und unterbrach ihn in seinen Überlegungen.

»Moin«, sagte der Gerichtsmediziner knapp, »was ist eigentlich in Ostfriesland los? Die Menschen haben wohl nichts anderes mehr zu tun, als andere um die Ecke zu bringen.« Er schüttelte sich bei dem Anblick und begann dann sogleich mit der Arbeit.

»Das waren Ratten«, sagte Jan.

»Woher weißt du das?«, entgegnete Ole.

»Die Kollegen von der Spusi haben überall Rattenkot gefunden. Allerdings keine Ratten.«

»Hm. Dann wollen wir mal sehen.« Er streifte sich seine Gummihandschuhe über, nachdem er sich Menthol unter die Nase gerieben hatte.

»Gibt es schon erste Ergebnisse zu meiner Anfrage?«, wagte Jan sich vor und ging neben Ole in die Knie.

»Du meinst die Kleidung«, antwortete Ole, »ja, da hab ich tatsächlich was gefunden, was es sonst nicht im Haus gab. Eine DNA. Ich hab die Sache in die Kriminaltechnik gegeben, bisher keine Treffer.«

Und wann wolltest du mir davon erzählen?, dachte Jan im Stillen und ärgerte sich. Wurde Ole jetzt größenwahnsinnig und spielte sich als Oberermittler auf?

»Danke«, sagte Jan mit knirschenden Zähnen. »Hoffentlich hilft uns das weiter.«

»Hm«, machte Ole und suchte den leblosen Körper mit seinen Blicken ab. »Da hat ihn wohl jemand nicht leiden können«, meinte er dann. »Aber außer den Füßen sehe ich da im Moment keine weiteren Verletzungen auf den ersten Blick.«

Jan fielen die schlanken Hände des Opfers auf. Auf jeden Fall handelte es sich nicht um einen Handwerker. Ansonsten kannten sie bisher nur seinen Namen. Das würde sich wohl bald ändern.

»Ich lass dich mal deine Arbeit machen«, sagte Jan und stellte sich wieder auf.

»Der Bericht kommt wie immer«, murmelte Ole und warf einen Blick durch den Hemdkragen auf den Rücken des Opfers.

Jan fragte nicht, warum er das tat. Sicher Routine, um nach Verletzungen zu suchen. Er wandte sich Lisa zu, die in einiger Entfernung dastand und sich nicht von dem Anblick lösen konnte.

»Warum hat der Täter die Ratten wieder mitgenommen?«, fragte sie folgerichtig. »Er hätte sie doch auch hier erschlagen können, als sie ihren Zweck erfüllt hatten.«

»Stimmt«, erwiderte Jan, »hätte er. Aber er hat es nicht getan, sondern die Ratten solange wirken lassen, bis er sicher sein konnte, dass das Opfer verblutet. Dann hat er die Tiere eingesammelt, wie auch immer, und hat Keno Terfehr seinem Schicksal überlassen. Es war klar, dass er das nicht überleben konnte, wenn er keine ärztliche Hilfe bekam.«

»Wir können unmöglich zwei so harte Parallelfälle alleine lösen«, meinte Lisa und raufte sich durch die Haare. »Wir kommen doch schon bei Claudia Bley nicht weiter.«

»Du hast recht«, stimmte Jan zu, »wenn wir in der Dienststelle sind, werde ich in Osnabrück Bescheid geben. Allerdings weiß ich jetzt schon, was die sagen werden. Arbeitet einfach einen Fall nach dem anderen ab, wir haben keine Leute übrig.«

»So wird es wohl sein«, seufzte Lisa, »also rufen wir gar nicht erst dort an.«

Jan nickte und beide sahen sich in den anderen Zimmern der Wohnung um.

Keno Terfehr war ein wenig auffälliger Typ gewesen. Die Einrichtung des Vierunddreißigjährigen wirkte sauber und langweilig. Die Möbel waren schon älter und vielleicht sogar von anderen übernommen worden. Er war Single und arbeitete in einem Supermarkt, was sie anhand von Gehaltsabrechnungen feststellten.

»Schwer vorstellbar, dass es einer seiner Kollegen sein soll, der ihm das angetan hat«, sagte Lisa, als sie wieder in der Küche standen. Man hatte Keno Terfehr bereits abtransportiert. Nur der Stuhl mit dem Blut darum herum, er stand noch da.

»Das war mehr als nur ein Mord«, meinte Jan. Er stand an den Kühlschrank gelehnt und sah mit halb zugekniffenen Augen auf die Szene, die sich ihm bot. »Für mich ist das eher eine sich lang hinziehende Hinrichtung.«

»Sicher«, bestätigte Lisa, »der Täter hätte es wesentlich einfacher haben können. Einfach eine Knarre und abdrücken. Oder auch eine Axt, immer sehr wirkungsvoll. Aber trotzdem hat er diesen langen quälenden Tod für sein Opfer ausgewählt. Warum? Wollte er sich für etwas rächen? Und sieht es nach dem, was wir jetzt von Keno Terfehr wissen, etwa danach aus, als ob er etwas getan haben könnte, für das man ihn derart bestrafen müsste?«

Jan zog die Schultern hoch. »Auf den ersten Blick erkennt man so etwas ja nie. Die Kollegen werden den PC durchstöbern. Vielleicht entdecken sie eine Verbindung zu Pädophilenringen. Dann wäre so eine Art zu sterben sicher angebracht.«

Lisa verkniff sich eine Gegenrede, weil sie ihm insgeheim zustimmte. Wer Kindern etwas antat, hatte nichts anderes als das da verdient.

»Er hat Briefmarken gesammelt«, sagte sie stattdessen. »Im Wohnzimmerschrank lagen mehrere Alben. Vielleicht hat er sie auch von seinen Eltern geerbt.«

»Hm, Briefmarken würden glaube ich zu ihm passen.« Jan fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Lassen wir die Kollegen den Rest hier erledigen. Ich würde jetzt lieber nach Hause fahren.«

Lisa sah auf die Uhr. »Ist es dafür nicht noch ein bisschen früh?«

»Vielleicht. Aber im Moment müssen wir sowieso wieder abwarten.«

Auf dem Weg nach Tannenhausen kam ihnen auf den letzten Kilometern ein weißer Kastenwagen entgegen, dem sie keine weitere Beachtung schenkten.

Der Fahrer indes sah erschrocken auf, als er Jans Wagen erkannte. Da hatte er ja mal wieder Glück gehabt.

 

»Wonach riecht es hier?«, war das Erste, was Jan sagte, als sie ins Haus kamen.

»Wieso?«, fragte Lisa zurück und legte ihre Jacke über den Stuhl im Flur.

»Ich weiß nicht«, sagte Jan. »Es riecht merkwürdig.«

Als er weiter in die Küche kam, fiel ihm als Erstes der weiße Umschlag auf, der auf dem Tisch lag. Er wusste, dass er nicht von ihnen beiden stammte.

»Halt«, sagte er leise und hob einen Arm, als Lisa hinter ihm in die Küche kommen wollte. »Da liegt etwas auf dem Tisch. Warte im Flur.«

»Was?«, fragte sie verwirrt, weil sie nicht verstand, wovon er redete.

»Mach es einfach«, bat Jan und ging vorsichtig an den Tisch heran.

Für Jan Krömer, las er. Der Brief war also für ihn bestimmt. Er wusste, dass er den Brief nicht öffnen durfte, wenn er nach Vorschrift handelte. Doch das hatte ihn ja noch nie interessiert. Er zog ein paar Handschuhe aus seiner Jackentasche und nahm den Brief vorsichtig in die Hand. Wieder dieser penetrante Geruch, der ihm schon beim Hereinkommen aufgefallen war. Der Umschlag war nicht zugeklebt, so dass er ihn leicht öffnen konnte. Mit spitzen Fingern zog er eine Fotografie heraus. Mehr war nicht darin.

Jan brauchte nicht lange zu überlegen, wer das auf dem Foto war. Eindeutig Keno Terfehr. Lisa war neben ihn getreten, weil ihr die Sache einfach zu lange dauerte.

»Das Opfer«, flüsterte sie.

»Dann war der Täter hier im Haus«, schlussfolgerte Jan. »Und es ist auch noch gar nicht so lange her.«

»Da war ein Wagen«, erinnerte sich Lisa, »ich meine eben, als wir hier in den Wald einbogen. Kurz vorher ist uns ein weißer Kastenwagen entgegengekommen.«

»Bist du sicher?«, fragte Jan, der sich an so etwas nicht erinnern konnte.

»Ja, ganz sicher. Und jetzt, wenn ich so überlege, kürzlich, als wir abends nach Hause fuhren, da ist uns für eine Weile ein Wagen gefolgt. Allerdings ist er dann irgendwann in einen Seitenweg abgebogen.«

»Der Täter spielt mit uns«, sagte Jan und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Die Botschaft auf dem Bild ist eindeutig. Als wir das Opfer in der Wohnung gesehen haben, waren die Hände nicht mit einem Seil zusammengebunden. Hier auf dem Foto allerdings schon. Er will, dass wir es wissen.«

»Dass er Claudia Bley und auch Keno Terfehr auf dem Gewissen hat«, sagte Lisa tonlos. »Aber warum hat er dann die Hände nicht einfach zusammengebunden gelassen. Dann hätten wir doch auch unsere Schlüsse gezogen.«

»Vielleicht hatte es praktische Gründe«, meinte Jan. »Oder er wollte uns einfach noch ein bisschen auf die Folter spannen, bevor wir einen Zusammenhang sehen. Er konnte ja nicht wissen, dass wir gleich nach der Tatortbesichtigung wieder nach Hause fahren. Wahrscheinlich hätten wir ihn sogar noch angetroffen, wenn wir etwas schneller gewesen wären.«

»Oh mein Gott.« Lisa fasste sich an die Brust und ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. »Er war hier im Haus. Gerade eben noch. Wo ist Chief?«

Augenblicklich sprang Jan vom Stuhl hoch und ließ den Brief achtlos auf den Tisch fallen. Er sah in jedem Zimmer nach. Doch Chief war nicht da. Also rannte er in den Wald und rief nach dem Hund. Lisa blieb im Haus zurück und weinte, als sie alle Zimmer noch einmal kontrollierte und sogar unter den Betten nachsah. Chief war nicht da. Und Jan rannte panisch durch den Wald.

Nervenkitzel

Da hab ich ja mehr Glück als Verstand, dachte er und grinste. Und dabei war es ihm in diesem Moment gar nicht nach Lachen zumute. So war das nämlich nicht von ihm geplant gewesen. Und wenn die beiden jetzt eins und eins zusammenzählten, dann wussten sie, dass er einen weißen Kastenwagen fuhr. So dumm waren sie nämlich nicht. Bereits seit einem Jahr beschäftigte er sich mit ihnen, allerdings in erster Linie mit Jan Krömer. Was hätte er dafür gegeben, nur einmal so gut auszusehen und erfolgreich zu sein.

Doch jetzt sah auch er seine Stunde gekommen. Man würde nicht mehr über ihn hinwegsehen wie über eine lästige Fliege. Er war es, der Aurich und die Umgebung bald Tag und Nacht in Atem halten würde. Allerdings musste er zusehen, dass er den Wagen loswurde. Eigentlich schade, darin ließ sich so allerhand transportieren.

Er beschloss, etwas weiter raus aus Ostfriesland zu fahren und dort nicht nur die Kiste mit den toten Ratten in einem großen See verschwinden zu lassen, sondern den Wagen gleich mit.

Und danach, so nahm er sich vor, würde er nicht mehr so leichtsinnig sein.

Sorge um Chief

Völlig durchgeschwitzt, obwohl es eigentlich kalt war, draußen, kam Jan nach über einer Stunde Suche aus dem Wald zurück. Chief trabte hinter ihm her.

»Wo hast du ihn gefunden?«, fragte Lisa und ging gleichzeitig vor Chief in die Knie und schlang beide Arme um das Tier, das alles stoisch über sich ergehen ließ.

»Ich glaube, er hatte sich verlaufen«, antwortete Jan und zog sein durchgeschwitztes Hemd über den Kopf. »Und ich brauche jetzt erst mal eine Dusche.«

»Verlaufen? Aber er kennt sich doch hier in der Gegend aus«, erwiderte Lisa und kam wieder hoch.

»Vielleicht verliert er langsam den Orientierungssinn«, mutmaßte Jan, »halb blind ist er ja auch schon. Wir sollten ihn vielleicht nicht mehr alleine in den Wald lassen.« Er verließ die Küche und ging ins Bad.

Lisa sah auf Chief herab, der sich bereits unter den Tisch gelegt hatte und selig schnaufend eingeschlafen war. Jan hatte recht. Man konnte Chief nicht mehr sich selbst überlassen. Der Hund wurde alt. Und sie hatte große Angst um ihn gehabt. Was noch passieren konnte, das mochte sie sich gar nicht ausmalen. Jan würde durchdrehen, wenn dieser Typ hier nochmal ins Haus kam und seinem Hund etwas antat. Aber immerhin hatten sie jetzt einen ersten Hinweis. Sie suchten einen Mann mit weißem Kastenwagen. Irgendwie ging sie davon aus, dass es sich um einen männlichen Täter handelte. Würde eine Frau einem Opfer die Füße wegnagen lassen von einem Haufen Ratten? Nein, sie konnte es sich irgendwie nicht vorstellen.

Während sie auf Jan wartete, kochte sie einen heißen Tee und schmierte ein paar Käsebrote.

Es setzte bereits die Dämmerung ein, als sie dann zusammen auf dem Sofa saßen und schweigend tranken und aßen. Die Atemgeräusche von Chief wirkten auf beide beruhigend.

Deshalb schreckten sie auch regelrecht auf, als plötzlich Lisas Handy klingelte. Es war Ole. Sie ging ran und stellte auf Laut.

»Es könnte sein, dass die Fälle zusammengehören«, sagte der Gerichtsmediziner.

»Ja«, bestätigte Lisa, »das wissen wir schon.«

»Hä? Wer hat euch denn informiert?« Ole schien es zu bedauern, dass seine Neuigkeit schon wieder veraltet war.

»Jemand war in Jans Haus und hat eine Nachricht hinterlassen. Oder vielmehr ein Foto des Opfers, Keno Terfehr. Es zeigt ihn auf dem Stuhl in der Küche, so wie wir ihn vorgefunden haben. Allerdings mit zusammengebundenen Händen. Genauso wie bei Claudia Bley.«

»Was?«, rief Ole aus, »dieser Mistkerl war bei euch im Haus? Lebt er noch?«

»Vermutlich«, erwiderte Lisa, »wir haben ihn ja nicht dabei erwischt. Allerdings ist uns ein Kastenwagen aufgefallen, als wir nach Hause fuhren. Vielleicht eine erste Spur.«

»Das ist ja eine Schweinerei«, echauffierte sich Ole. »Dann ist es wohl ein Serientäter.«

»Davon kann man ausgehen«, mischte sich Jan jetzt ein. »Aber danke, dass du uns gleich informiert hast.«

»Keine Ursache.«

»Und die Todesursache ist tatsächlich Verbluten? Oder hast du noch etwas anderes gefunden?«

»Ne«, sagte Ole, »sonst war da nichts. Aber das will ja nichts heißen. Bei Claudia Bley wissen wir ja auch noch nicht, wo der Herzinfarkt herkam. Ich nehme an, dass der Täter den Terfehr auch zunächst betäubt hat.«

»Wieso das?«

»Naja, keine Spuren von Gegenwehr.«

»Verstehe. Danke nochmal Ole. Und wenn du mal in der Nähe bist, dann komm doch einfach rein und hol dir einen Tee bei uns ab.«

»Klar, mach ich«, sagte Ole und wirkte erstaunt. »Bis dann also.«

Sie legten auf.

»Ein schrecklicher Gedanke, dass er hier im Haus war«, sagte Lisa, als sie ihr Handy wieder weglegte.

»Wir werden nicht mehr so sorglos damit umgehen können«, erwiderte Jan. »Wir müssen in Zukunft abschließen, wenn wir das Haus verlassen. Und auch Chief sollte drinbleiben.«

»Aber warum hat er das getan? Warum kam er überhaupt hierher?«

»Es muss etwas Persönliches sein«, antwortete Jan. »Er will mir beweisen, dass er es kann.«

»Ob er dich kennt?«

»Vielleicht. Muss aber nicht unbedingt zutreffen. Es gibt Täter, die die Macht über den Mord, den sie begehen, hinaus auskosten wollen. Dazu gehört dann wohl auch, dass sie mit der Polizei spielen.«

»Aber am Ende will er doch gefasst werden, meinst du das?«

»Wahrscheinlich schon. Wenn er jetzt schon zweimal getötet hat, dann kommt noch mehr auf uns zu.«

»Vielleicht ist er gerade dabei, jemanden zu töten«, sagte Lisa.

»Oder er hat es längst getan. Die Leichenfunde müssen ja nicht zwingend chronologisch mit den Mordtaten sein. Wenn ich es richtig beurteile, dann war Keno Terfehr auch vor Claudia Bley tot. Doch hat man sie schneller gefunden. Zum einen, weil sie draußen war und dann die Nachbarin.«

»Ach Gott«, sagte Lisa, »Johann Peters. Wir sollten ihn wirklich langsam laufen lassen.«

Jan lachte auf. »Ja, du hast recht. Gleich morgen früh setzen wir ihn auf freien Fuß.«

Lisa rückte näher an ihn heran. »Ist das in Ordnung?«, fragte sie.

»Sicher«, antwortete Jan und legte einen Arm um sie. »Wir sind doch die besten Freunde, also dürfen wir das.«

Lisa schmiegte sich an ihn. Es fühlte sich so gut an. »Es ist schon komisch«, sagte sie leise, »wie schwer es Erwachsenen doch fällt, Berührungen zuzulassen. Einfach nur Berührungen, die nichts mit Erotik zu tun haben.«

»Ja«, bestätigte Jan, »damit tun sich die Menschen schwer. Und wenn wir Hand in Hand in die Dienststelle kommen, einfach, weil wir uns gern haben, dann wird es sofort heißen, dass wir ein Paar sind.«

»Nun«, meinte Lisa, »das darf man den Kollegen dann aber nicht übel nehmen. Aber wir müssen es ja nicht übertreiben.«

Beide mussten lachen. Es wirkte so erlösend auf sie, dass sie wieder entspannter miteinander umgingen. Es schien, als sei wieder alles im Reinen zwischen ihnen. Jeder ging an seinen Platz zurück und versuchte nicht, jemand anderes zu sein.

Jan nahm die Fernbedienung der Anlage und drückte auf Play.

»Was ist das?«, fragte Lisa nach den ersten Tönen, »es klingt schön.«

»Die neue CD von Snow Patrol«, erklärte Jan, »meiner Lieblingsband.«

»Ich weiß«, sagte Lisa mehr zu sich selbst. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er immer wieder diesen einen Song gespielt hatte, wenn er trank, als Viktoria ihn verlassen hatte. Erst später wurde ihr klar, dass er gar nicht um sie, sondern um Virginia getrauert hatte. Jan und die Frauen. Kein leichtes Kapitel. Und sie war die Einzige, die jetzt hier auf dem Sofa neben ihm sitzen durfte und praktisch in seinen Armen lag. Gab es ein größeres Glück für sie auf Erden? Nun, jedenfalls keines, das sie jemals erreichen würde, dachte sie und summte leise mit.

Irrwege

»Das wird ein Nachspiel haben«, wetterte Johann Peters, als er von einem Beamten aus der Dienststelle begleitet wurde.

Jan hatte darauf verzichtet, ihm die gute Neuigkeit selber zu überbringen, aber da die Tür offenstand, hörten er und Lisa den bislang Verdächtigen zetern.

»Das wird ihm eine Lehre sein«, sagte Jan und schmunzelte. »Der wird für den Rest seines Lebens auf dem richtigen Pfad bleiben.«

»Das ist gemein«, entgegnete Lisa, »aber wahrscheinlich hast du recht. Den können wir getrost von unserer Liste streichen.«

»Dann machen wir uns jetzt an die Arbeit«, sagte Jan und legte die Füße auf den Tisch. »Kannst du dich noch an die Marke des Lieferwagens erinnern?«

»Leider nicht«, antwortete Lisa betrübt, »du weißt ja, Frauen und Autos.« Sie zog eine Schnute. »Aber wenn ich ihn auf einem Foto sehe, dann erkenne ich ihn bestimmt wieder.«

»Dann an die Arbeit, im Internet gibt es jede Menge Bilder. Ich werde mich noch einmal mit unseren Opfern beschäftigen und gucken, ob es irgendeine Verbindung zwischen ihnen gibt.«

Nach einer gefühlten Ewigkeit war es Lisa, die einen Treffer landete.

»Das könnte er sein«, sagte sie und Jan ging rüber zu ihrem Schreibtisch und sah auf den Bildschirm.

»Ein Caddy«, stellte er fest, »die gibt es wie Sand am Meer. Und das Kennzeichen haben wir auch nicht.«

»Aber wir gehen schon davon aus, dass er hier aus der Gegend kommt«, ließ Lisa sich nicht entmutigen. Es ist doch immerhin ein Anfang.«

»Schon«, meinte Jan und lehnte sich auf ihren Schreibtisch. »Bei meiner Suche sieht es noch schlechter aus. Es gibt keine sichtbare Verbindung zwischen den Opfern. Wonach also sucht er sie sich aus?«

»Sie waren beide Single«, schlug Lisa vor.

»Die gibt es auch wie Sand am Meer«, meinte Jan und schlenderte wieder rüber zu seinem Platz. Er setzte sich auf seinen Schreibtisch, verschränkte die Arme vor der Brust und sah auf die Fotos der Opfer an der Pinnwand. »Er war in ähnlichem Alter wie Johann Peters«, murmelte er, »ob er auch etwas mit Claudia Bley gehabt hat?«

»Du meinst Keno Terfehr?«

»Sicher.«

»Hm ...«. Lisa kam um ihren Schreibtisch herum und setzte sich neben ihn. Dabei zog sie ihre Füße auf seinen Bürostuhl. »Er könnte einer von ihren Gästen im Haus gewesen sein.«

»Stimmt. Und wenn das wirklich so ist, dann finden die Kriminaltechniker Hinweise darauf, dass er in ihrem Haus gewesen ist.«

»Wir könnten auch noch einmal mit einem Foto von Terfehr zu der Nachbarin fahren. Vielleicht erinnert sie sich ja doch.«

»Gute Idee«, meinte Jan, »dann lass uns gleich losfahren. Mir fällt hier die Decke auf den Kopf.«

 

Gesine Peters harkte Laub vor dem Haus, als sie dort ankamen. Ihr Kopf ging hoch, als sie den Wagen hörte und ihr Blick verfinsterte sich merklich, als sie erkannte, wer dort kam.

Jan stellte seinen Wagen auf der Auffahrt von Claudia Bley ab und sie stiegen aus und liefen zum Nachbarhaus.

»Hallo Frau Peters«, sagte Lisa.

Gesine stützte sich auf ihre Harke auf und machte keine Anstalten, den Gruß zu erwidern.

»Wir haben Ihren Sohn wieder laufen lassen«, fuhr Lisa fort, »aber deswegen sind wir nicht hier. Könnten wir Sie kurz im Haus sprechen?«

Die alte Frau murmelte etwas, lehnte die Harke gegen eine alte Kastanie und lief voraus auf den Eingang zu.

Jan verdrehte die Augen, als Lisa ihn kurz ansah. Dann folgten sie ihr ins Haus.

»Ich hab es Ihnen ja gleich gesagt«, ereiferte sich Gesine dann, als sie ihren dunkelgrünen Mantel an die Garderobe hängte, »mein Johann hat nichts mit der Sache zu tun.«

»Wir müssen allen Hinweisen nachgehen«, sagte Lisa, »aber ich denke, wir können Ihren Sohn jetzt weitestgehend aus dem Täterkreis ausschließen.«

Gesine ging leicht gebückt voraus in die Küche, wo es mollig warm war. Das Holz im Ofen knisterte. »Tee?«, fragte sie nur.

»So lange bleiben wir nicht«, antwortete Jan. »Es geht nur um eine Identifizierung. Kennen Sie diesen Mann?« Er hielt ihr direkt das Foto von Keno Terfehr vor die Augen.

Die alte Frau blinzelte ein paar Mal und schüttelte dann mit dem Kopf. »Den hab ich noch nie gesehen. Was ist mit ihm?«

»Er wurde ebenfalls ermordet«, klärte Jan auf. »Vielleicht sehen Sie sich das Foto noch einmal unter der Küchenlampe ganz genau an. Es ist sehr wichtig für uns.«

»Er wurde ermordet?«, murmelte Gesine und nahm das Foto an sich und ging ein paar Schritte zum Küchentisch, so dass das Bild besser ausgeleuchtet wurde. »Hat das denn etwas mit Claudia zu tun?«, fragte sie dann folgerichtig.

»Das wissen wir noch nicht«, gab Jan nur die halbe Wahrheit preis, dass sie bereits von einem Serientäter ausgingen. »Allerdings könnte es ja sein, dass er Gast hier bei Ihrer Nachbarin im Haus gewesen ist.«

Gesine setzte sich jetzt auf einen Stuhl und starrte auf das Bild.

»Es tut mir leid, Herr Kommissar«, sagte sie schließlich, »aber diesen Mann hier, den habe ich noch nie gesehen.« Sie reichte Jan das Bild zurück.

Eigentlich wären sie hier an dieser Stelle jetzt fertig gewesen und hätten gehen können. Doch irgendwie war Jan noch nicht so ganz zufrieden mit dem Ergebnis.

»Was ist mit einem weißen Caddy?«, fragte er und Gesine zog die Stirn in Falten. »Das ist ein Transporter, ein Kastenwagen«, erläuterte er. »Ist Ihnen so ein Wagen hier in der Gegend schon einmal aufgefallen?«

Gesine faltete die Hände und dachte nach. »So viele Autos fahren hier ja auch nicht lang«, sagte sie dann. »Der Postwagen ist auch groß und gelb, aber ein weißer Wagen ... hm, es kann sein, dass ich mal einen hier gesehen habe.«

Na endlich, dachte Jan. »Sind Sie sicher? Wann war das denn?«

Gesine wischte sich mit den Händen übers Gesicht. »Da muss ich nachdenken. Vielleicht ist es im Sommer gewesen.«

»Okay«, sagte Jan und setzte sich jetzt mit an den Tisch. »Und woran genau erinnern Sie sich da? Ist er nur hier lang gefahren oder war er auch nebenan?«

»Sind Sie sicher, dass Sie keinen Tee möchten?«, fragte Gesine und schielte zum Ofen.

»Nein, danke«, lehnte Jan erneut ab. »Es geht mir jetzt nur noch um den weißen Wagen, dann gehen wir wieder. Also ...«.

Sie schürzte die Lippen und sagte dann: »Der weiße Wagen, der war nicht bei Claudia. Nein, jetzt erinnere ich mich. Er hat ein Stückchen weiter beim Wald geparkt. Ich war nach dem Essen ein wenig spazieren gegangen, wegen der Verdauung und so. Und ja, da habe ich so einen Wagen gesehen.«

Er hat Claudia Bley ausspioniert, dachte Jan, genauso wie mich.

»Und den Fahrer? Haben Sie den auch gesehen?«

»Nein, nur den Wagen. Ja, ich bin mir ganz sicher. Und eigentlich ist er mir auch nur aufgefallen, weil er so komisch geparkt war. Ich meine, das macht man doch nicht, den halben Spazierweg versperren.«

»Da haben Sie sicher recht«, bestätigte Jan. Sollte er noch nach dem Kennzeichen fragen? »Wissen Sie, ob der Wagen von hier war?«

Sie nickte. »Ja, er war von hier«, sagte sie zu seiner Verwunderung. »Es war ein Auricher Kennzeichen. Ich weiß das jetzt wieder, weil ich damals zuerst dachte, dass es bestimmt einer von diesen rücksichtslosen Urlaubern ist, die immer hierherkommen.«

»Danke«, sagte Jan und wirkte erleichtert. »Vielen Dank. Und die Sache mit Ihrem Sohn, sie tut mir leid.«

»Schon gut«, winkte Gesine ab, »er hat es ja überlebt. Aber dieser arme junge Mann auf dem Foto, Sie denken wirklich, dass der Mann mit dem weißen Wagen dahintersteckt? Und er hat auch Claudia umgebracht. Oh meine Güte, ich bin ihm im Sommer vielleicht begegnet. Da bekomme ich ja direkt eine Gänsehaut. Ich brauche jetzt einen Tee.«

»Genießen Sie ihn«, sagte Lisa aufmunternd. Dann verließen die beiden das Haus.

Draußen entschied Jan, noch einmal in das Haus von Claudia Bley zu gehen. Warum, das hätte er gar nicht so genau sagen können. Es war so ein Gefühl, etwas übersehen zu haben.

»Er war hier, er war bei uns im Haus, er ist mit Sicherheit auch hier im Haus gewesen. Ich weiß es einfach«, sagte er, als sie ins Haus gingen.

»Sicher«, sagte Lisa, »wenn er wirklich der Täter ist, dann war er natürlich hier im Haus. Aber was genau willst du jetzt hier finden? Ich meine, die Spuren werden doch schon analysiert.«

»Natürlich, aber denk doch mal nach«, sagte Jan, »er hat uns ein Foto vom Opfer Keno Terfehr in die Küche auf den Tisch gelegt. Er will, dass wir wissen, was er tut. Dass er es ist, der die Fäden in der Hand hält. Vielleicht hat er ja auch hier bei Claudia Bley ein Zeichen hinterlassen, das wir bisher übersehen haben.«

»Okay«, sagte Lisa, die ahnte, wie der Adrenalinspiegel ihres Kollegen in die Höhe schoss. »Also suchen wir nach einem Umschlag mit einem Foto?«

»Ich weiß nicht«, sagte er abwesend, »aber was ist, wenn er es auch gewesen ist, der das Foto von Claudia Bley und Johann Peters in die Wäsche gelegt hat. Wenn er sie schon so lange beobachtet hat, dann wusste er, dass sie mit dem Sohn der Nachbarin zusammen war. Er wollte uns auf die falsche Fährte locken, einfach, weil er es kann. Und sicher hat er auch noch seinen Spaß daran gehabt, als er sah, dass wir Johann Peters verhaften.«

»Du denkst, er beobachtet uns ständig? Dann sind vielleicht Kameras bei uns im Haus«, sagte Lisa und wirkte verunsichert.

»Das ist möglich. Wir sollten ein Team hinschicken, das es checkt. Aber ich weiß nicht, eigentlich wäre das auch irgendwie übertrieben, ich meine, uns abzuhören.«

»Irgendwie schon«, sagte Lisa und holte ihr Handy aus der Jackentasche. »Soll ich trotzdem anrufen?«

Jan schüttelte mit dem Kopf und ging ins Schlafzimmer, um noch einmal Witterung aufzunehmen.

 

Als Lisa mit den Kollegen gesprochen hatte, sah sie sich im Badezimmer um. Claudia Bley war wohl eine Frau gewesen, die ihr natürliches Aussehen nicht durch Make-up zerstörte. So wie ich, dachte Lisa. Sie hatte auch weder Kajal, Puder oder Lidschatten. Ganz zu schweigen von Lippenstift. Lisa hatte noch nie verstanden, warum Frauen sich anmalten wie Clowns. Doch daran würde sich wohl nichts mehr ändern in der modernen Glitzerwelt der sozialen Netzwerke. Sie selber hatte sich auch einen Account bei Instagram angelegt und war aus Spaß einigen Prominenten gefolgt. Was die dort trieben, fand sie irgendwie nur peinlich. Aber sie war ja auch Polizistin und kein Model. Sie stellte das Duschgel in einer geschmackvollen Glasflasche zurück auf den Wannenrand. Gute Düfte, ja die waren Claudia Bley wichtig gewesen. Auch die Seifen rochen herrlich nach Sandelholz und Zitrone. Es hätte nicht viel gefehlt und Lisa hätte sich eine, die noch verpackt im Schrank lag, eingesteckt. Auf jeden Fall schrieb sie sich die Marke als Notiz in ihr Handy.

»Was machst du da?« Jan war lautlos hinter sie getreten.

»Nichts weiter«, antwortete Lisa ertappt und steckte ihr Handy weg. »Die Seife riecht so gut, da dachte ich ...«.

»Ja«, sagte Jan und ging nicht weiter darauf ein, »überhaupt riecht es hier im Haus sehr gut. Das ist mir schon beim ersten Mal aufgefallen. Und weißt du was, das steht im krassen Gegensatz zu unserem Täter. Als wir nach Hause kamen, da habe ich doch sofort gerochen, dass einer im Haus gewesen ist. Und es roch nicht nach Lavendel.«

»Verstehe«, sagte Lisa und setzte sich auf den Wannenrand. »Du meinst, er stinkt?«

»Na ja, das ist vielleicht zu viel gesagt. Aber er riecht unangenehm, irgendwie säuerlich.«

»Was könnte das bedeuten? Wäscht er sich nicht?«

»Das wäre eine Erklärung. Abgestandener Schweiß gehört nicht zu meinen Lieblingsmarken«, sagte Jan und setzte sich zu ihr. »Aber es könnte auch auf eine Krankheit hindeuten«, meinte er nachdenklich. »Wir sollten Ole mal fragen, was das sein könnte. Vielleicht auch eine Entzündung im Mundraum.«

»Igitt«, sagte Lisa, »jetzt habe ich diese Gerüche auch im Kopf.« Sie drehte sich um und griff nach der gut riechenden Seife und hielt sie sich unter die Nase. »Da gefällt mir das schon besser.«

Jan sah sie eindringlich an.

»Was ist?«, fragte sie und legte die Seife wieder zurück.

»Na ja«, sagte er, »stell dir doch mal vor, das ist der Grund, warum er tötet. Er neidet es den anderen, weil sie nicht so übel riechen wie er.«

»Jan, also wirklich«, Lisa lachte und stupste ihn am Arm. »Deswegen bringt man doch niemanden um.«

»Nein«, blieb Jan ernst, »da hast du vollkommen recht. Deswegen nicht. Aber wenn man selber seinen eigenen Geruch nicht verbessern kann, dann könnte es zu einer Abneigung gegen gut riechende Menschen werden. Vielleicht hat unser Täter sich wirklich bemüht, seinen Geruch loszuwerden. Aber aus irgendeinem Grund, da geht das nicht. Menschen wenden sich von übelriechenden Leuten ab, das ist auf jeden Fall Fakt. Insofern dürfte unser Täter ganz sicher ein Single sein. Es sei denn, er findet eine Frau mit einem defekten Geruchssinn.«

»Okay«, sagte Lisa, »dann halten wir das mal fest. Ich werde Ole gleich während der Fahrt anrufen und um Auskunft bitten. Hast du noch einen weiteren Hinweis gefunden?«

»Nein«, sagte Jan, »aber trotzdem finde ich, sind wir schon ein gutes Stück weitergekommen.«

Als sie im Wagen saßen, entschied Jan noch einmal um und sie fuhren nach Oldenburg, um direkt mit Ole zu sprechen.

Verletzungen

Diese ganzen Umstände, sie ärgerten ihn. Und das alles nur, weil er fahrlässig gehandelt hatte. Jetzt war der weiße Van im Eimer und er musste mit einer wesentlich älteren Rostlaube, die er bei einem kleineren Autohändler in Bad Zwischenahn gekauft hatte, klarkommen.

Zudem zahlte er immer bar, um keine unnötigen Spuren zu hinterlassen. Allerdings hatte der Händler ihn merkwürdig angesehen, als er sein Portemonnaie aus der Tasche zog und zweieinhalb Tausend Euro hinblätterte.

Mit Sicherheit würde er sich an sein Gesicht erinnern, wenn es irgendwann drauf ankam und man auch im Fernsehen nach ihm fahndete. Soweit durfte es nicht kommen. Also hieß es von nun an, keine Fehler mehr zu machen.

Und an allem war nur dieser Jan Krömer schuld. Er hatte ihn mit seiner überheblichen Lässigkeit herausgefordert. Immer war er der Gewinner auf ganzer Linie. Die Presse schrieb über ihn, dass er zu den außergewöhnlichsten Ermittlern gehörte, die jemals in Ostfriesland gearbeitet hätten. Um sein Zuhause im Wald von Tannenhausen, in dem er mit seiner direkten Kollegin lebte, rankten so manche Gerüchte. Aber selbst, wenn ihn einige für verrückt hielten, sie konnten wenigstens in Sicherheit leben, wenn er sich um eine Sache kümmerte.

Auch seine eigene Nachbarin schwärmte von diesem Typen. Das war dann wohl der ausschlaggebende Punkt gewesen. Denn er war heimlich in sie verliebt. Doch er konnte machen, was er wollte, sie sah ihn einfach nicht. Und deshalb, so hatte er beschlossen, musste sie sterben. Doch das war riskant, denn sie wohnte in dem Haus direkt neben seinem. Ein Nervenkitzel, den er sich vielleicht für später aufbewahren sollte. Ja, sie konnte die Letzte sein, der er es zeigen würde. Nein, so ging man einfach nicht mit ihm um.

Insofern war es gar nicht so schlecht, dass er den weißen Wagen nicht mehr fuhr. Wer achtete schon auf einen heruntergekommenen dunklen Mitsubishi.

In der Gerichtsmedizin

Ole wunderte sich, als Jan und Lisa überraschend bei ihm auftauchten. »Hatten wir einen Termin?«, fragte er und legte seine Brille zur Seite.

»Moin Ole«, sagte Jan, »es ist wichtig und am Telefon lässt sich so etwas immer schwer erklären.«

»Schon gut«, sagte Ole und wirkte erschöpft. Er rieb sich übers Gesicht. »Ich hatte sowieso gerade Pause. Worum geht es denn?«

»Im weitesten Sinne um Gerüche, und zwar üble«, fuhr Jan fort und er und Lisa setzten sich zu Ole an den Schreibtisch.

»Gerüche?«, wiederholte dieser und wurde neugierig. »Bestimmt hat es mit den aktuellen Morden zu tun.«

Jan nickte. »Das erste Mal fiel mir dieser üble Geruch als entscheidend belastendes Indiz ja auf, als der Täter in meinem Haus gewesen war. Und als Lisa und ich eben nochmal in dem Haus von Claudia Bley gewesen sind, da ... ach, das führt jetzt alles zu weit. Wir möchten einfach wissen, ob es bestimmte Krankheiten gibt, bei denen man besonders riecht. Oder auch Mittel, die man nimmt, wenn man krank ist und dann entsprechend transpiriert. Sowas in der Art eben.«

Ole sah von einem zum anderen. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte die Hände vor dem Bauch gefaltet zusammen.

»Ich habe Krebs«, sagte er dann. Mehr nicht.

Jan verstand zunächst nicht ganz. Sollte das ein Scherz oder ein Hinweis sein. Doch Oles Blick blieb gleich, er lachte nicht.

Lisa ahnte, dass er es ernst meinte und sagte: »Das tut mir leid. Wie schlimm ist es?« Sie hatte Mühe, die ersten Tränen zu unterdrücken.

»Sehr schlimm«, sagte Ole und schluckte hart. »Die Bauchspeicheldrüse. Unheilbar.«

Deshalb war Ole also so unausstehlich geworden in der letzten Zeit, dachte Jan. Wie würde es ihm selber ergehen, wenn er erfuhr, dass er bald sterben würde? Wahrscheinlich würde er den Job schmeißen und die letzten Monate irgendwo in der Südsee verbringen. Und er fragte sich, warum er das nicht sowieso tat. »Ole«, sagte er, »das ist ... unfassbar. Was hast du jetzt vor?«

»Hm«, machte Ole, »was soll man da noch vorhaben? Der Drops ist gelutscht, wie man so schön sagt.«

»Was sagt dein Arzt dazu?«, fragte Lisa, »es gibt doch heutzutage viele Möglichkeiten, mit dem Krebs fertigzuwerden.«

»Lisa«, sagte Ole und sah sie mit freundlichem Lächeln an, »es ist endgültig. Das Thema geht ja schon eine ganze Weile. Vielleicht bleibt mir noch ein halbes Jahr, wenn ich Glück habe. Und sieh dich um, wo ich arbeite. Wenn einer weiß, dass das Leben endlich ist, dann ich.«

»Okay«, sagte Jan, »ich denke, wir haben verstanden. Wenn wir irgendetwas für dich tun können ...«.

»Danke«, sagte Ole und meinte es ehrlich. »Aber jetzt tu ich erst mal was für euch. Es geht also um üble Gerüche.«

»Richtig«, sagte Jan und war froh, dass sie wieder auf sachlicher Ebene agieren konnten. Es war nicht so, dass Ole ihm nicht leidtat, doch er redete eben nicht gerne darüber, wenn es um Gefühle ging.

»Tja«, sagte Ole gedehnt, »da kommt vieles infrage. Zum Beispiel Bakterien im Rachenraum und Magenprobleme, Nierenerkrankung oder Diabetes. Besondere Schweißentwicklungen können auf die Schilddrüse hinweisen. Such dir was aus. Und das sind ja nur die körperlichen Möglichkeiten, die sicher noch weiter gehen. Hinzu kommt natürlich noch eine grundsätzliche mangelnde Körperhygiene und natürlich auch Medikamente oder Salben, die ein Mensch nutzen kann.«

Jan verdaute das Gehörte. »Ein interessanter Gedanke«, sagte er dann und rieb sich übers Kinn.

»Was?«, fragte Lisa.

»Na ja, es muss ja nicht von innen kommen, warum dieser Mensch so übel riecht. Was ist, wenn es eine äußere Erkrankung ist und er sich mit einer speziellen Paste einreibt.«

»Okay, kann sein«, bestätigte Lisa.

»Vermutlich riecht das noch viel intensiver und bleibt eher in den Räumen hängen«, fügte Ole hinzu. »Auf jeden Fall bei dem Einbruch in euer Haus lange genug.«

»Einbruch ist gut«, sagte Lisa und lachte halbherzig. »Bisher haben wir nie abgeschlossen. Aber das ist jetzt anders.«

»Reingekommen wäre er so oder so«, sagte Jan, »indem wir nicht abschließen bleiben wenigstens die Türen und Fenster heile.«

»So kann man das auch sehen«, bestätigte Ole. »Leute, lasst die Türen für Verbrecher auf, der neue Slogan der Polizei Aurich.«

»Haha«, lachte Jan. Die ganze Situation wurde entspannter. »Wenn wir mal von einer Hauterkrankung ausgehen«, setzte er fort, »welche Salben gibt es da?«

»Ach du liebe Güte«, sagte Ole und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Da musst du wohl in eine Apotheke gehen und sämtliche Medikamente durchschnüffeln.«

»Gar keine so schlechte Idee«, erwiderte Jan. »Vielleicht erkenne ich ja sogar den Geruch wieder. Dann wissen wir, worunter der Typ leidet.«

»Na dann viel Vergnügen«, meinte Ole, »es gibt zig Tausende Salben und Cremes. Es ist ja auch durchaus möglich, dass das, was du gerochen hast, nicht einmal verschreibungspflichtig ist.«

»Aber deshalb kann ich doch diese Spur nicht in den Wind schießen«, meinte Jan. »Wir haben ja sonst nichts Konkretes in der Hand.«

Ole stand auf und sah auf seine Uhr. »So, meine Pause ist um. Außerdem wollte ich euch noch etwas Interessantes zeigen, worauf ich bei meiner erneuten Begutachtung gestoßen bin.«

»Das sagst du erst jetzt.« Jan folgte ihm mit Lisa in den Leichenraum.

Ole ging zunächst zu dem Tisch, auf dem Claudia Bley auf den Bauch gedreht lag.

»Hier«, sagte er und zeigte auf die Schulter. »Seht ihr das?«

Er wies mit seinem schwebenden Zeigefinger auf eine kleine getrocknete Wunde, die man leicht hätte übersehen können, wenn man kein geschultes Auge wie ein Gerichtsmediziner hatte, dem zunächst alles mysteriös erschien.

»Und?«, fragte Jan, »hatte sie dort einen Pickel?« Er meinte die Frage durchaus ernst.

»Tja, das habe ich zunächst auch vermutet«, sagte Ole, »deshalb habe ich der Wunde auch keine größere Beachtung geschenkt und in meinem Bericht unerwähnt gelassen. Allerdings ist mir ein ähnliches Bild dann an dem jungen Mann aufgefallen.«

»Keno Terfehr?«, fragte Lisa.

Ole nickte und ging zu dem anderen Tisch, wo das Opfer ebenfalls auf den Bauch gedreht lag. Dann wies er mit seinem Zeigefinger ebenfalls auf die Schulter.

»Sieht ähnlich aus«, bestätigte Jan. »Aber was könnte das sein? Auch Zufall?«

»Sicher könnte es ein Zufall sein. Vielleicht hatten beide Pickel«, sagte Ole und grinste süffisant. »Aber ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass diese Wunden mit dem gleichen Gegenstand zugefügt wurden.«

»Du weißt, was dahintersteckt?«, fragte Jan und runzelte die Stirn.

Ole nickte. »Und das ist das Spannende an der Sache. Auf den ersten Blick sieht die Verletzung wie, nun ja, sagen wir mal ein aufgekratzter Pickel aus. Oder eine verkrustete Impfung, daran hab ich auch schon gedacht.«

»Und auf den zweiten Blick?«, fragte Lisa und beugte sich weit über den Toten herunter, um noch genauer hinzusehen.

»Auf den zweiten Blick allerdings«, sagte Ole betont, »ist es alles andere als ein Zufall. Denn in der Wunde steckte ein Gegenstand.«

»Und was?«, fragte Lisa, die äußerlich nichts Besonderes entdecken konnte. »Sieht irgendwie aus wie ein Rosenmuster.«

»Ja«, bestätigte Ole, »gar nicht so schlecht. In die Haut der Opfer wurde eine Schraube eingedreht. Eine verrostete Schraube wohlgemerkt. Und mit der Zeit hätte sie auf jeden Fall zu Irritationen im Gewebe als auch auf der Oberfläche der Haut geführt.«

»Du meinst, wenn man die beiden nicht ermordet hätte«, schlussfolgerte Jan. Denn wenn ein Mensch tot war, gab es auch keine derartigen Reaktionen mehr.

»Richtig«, bestätigte Ole. »Du triffst den Nagel auf den Kopf.«

»Wenn es also gar nichts mehr gebracht hat, warum hat er es dennoch getan?«

»Tja, das ist euer Job, das herauszufinden.«

»Wie hätte so eine Reaktion denn ausgesehen? Wie eine Rose, wie Lisa vermutet?«

»Kann sein«, antwortete Ole. »So genau kann ich das nicht sagen. Außerdem reagiert ja auch jeder Hauttyp anders. Aber auf jeden Fall wäre es ein schönes Bildchen geworden.«

»Ein Tattoo«, murmelte Jan, »er hätte seinen Opfern also ein Tattoo verpasst.«

»Vielleicht hat er ja selber solche Vernarbungen«, schlug Lisa vor, »das würde seinen Hass auf die anderen erklären, denen es besser geht. Und damit sie genauso leiden, deshalb jagt er ihnen Schrauben in den Körper.«

»Aber sie kommen in ihrer Wirkung nicht zur Entfaltung«, wiederholte Jan seinen Ansatz. »Warum also tut er es trotzdem?«

»Es bereitete den Opfern auf jeden Fall Schmerzen«, meinte Ole, »soviel ist sicher. Wenn er ihnen bei vollem Bewusstsein Schrauben eindreht, das ist nicht ohne.«

»Ob Claudia Bley deshalb einen Herzinfarkt erlitten haben könnte?«, fragte Jan nachdenklich.

Ole nickte. »Es war auf dem Rücken, da ist so ein Effekt noch einmal stärker, weil das Opfer ja gar nicht sehen kann, was der Täter da treibt. Und dann stell dir das zusammen mit dem enormen Schmerz vor. Das kann selbst einen offensichtlich herzgesunden Menschen die Sicherungen durchbrennen lassen. Sie war ja auch nicht mehr die Jüngste.«

Alle Drei sahen wieder auf Claudia Bley und ihren ausladenden Körper, der totenbleich unter dem starken Licht der Lampe, die über dem Tisch hing, schimmerte.

»Wie lange hätte er warten müssen, bis sich etwas aufgrund der Schraube verändert hätte?«, fragte Jan.

»Oh, gar nicht so lange«, antwortete Ole, »ein Fremdkörper in der Haut, dazu noch verrostet, der arbeitet sich schnell raus.«

»Aber die Zeit hatte unser Täter wohl nicht«, meinte Jan. »Danke Ole, wir haben jetzt wieder einiges erfahren. Und auch wenn es sich blöd anhört, wenn ich das sage, aber lass den Kopf nicht hängen.«

»Schon gut«, winkte Ole ab, »es gibt eben Dinge, die nicht zu ändern sind.«

Mutter

Eine Pflegerin war noch im Haus, als er zurückkehrte. Deshalb stellte er seinen Wagen an der Straße ab. Er mochte diese Frauen nicht, die sich um seine Mutter kümmerten. Sie waren so überfreundlich, doch er sah es in ihren Augen, dass sie sich vor der Patientin ekelten. Er konnte es sogar verstehen. Wer grub schon gerne seine Hand in den Kot von fremden Menschen.

Er selber wartete immer, bis sie weg waren. Oder am besten war er gar nicht im Haus. Er hatte zig Schlüssel nachmachen lassen, damit die Pfleger machen konnten, was sie wollten. Hauptsache, es ging ihn nichts an.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144888
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (August)
Schlagworte
Aurich Ermittler Thriller Krimi Spannung Ostfrieslandkrimi Noir Psychothriller

Autor

  • Moa Graven (Autor:in)

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann.