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Die große Story

ihr achter Fall

von Laura B. Reich (Autor:in)
492 Seiten
Reihe: Elli Klinger ermittelt, Band 8

Zusammenfassung

Die private Ermittlerin Elli Klinger erhält von einer Frau den Routineauftrag, Beweise für die Untreue ihres Ehemanns zu beschaffen, damit sie bei der Scheidung auf belastendes Material zurückgreifen kann. Kommissar Klaus Nimrod wird zu einem ominösen Fund gerufen. Ein Angler fand im Fluss eine abgetrennte Hand. Doch wo ist die Leiche? Der Journalist Fred Rupp war einstmals durch spektakuläre Enthüllungsstorys über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Nach langer Durststrecke recherchiert er wieder für einen neuen Knüller, doch ihm fehlen Beweise und das Geld dafür zu bezahlen. Die Polizistin Ulrike Porsch stellt nach einer spektakulären Verfolgungsjagd quer durch die Stadt zwei Bankräuber und wird vorübergehend vom Dienst freigestellt. Was verbindet die Fälle miteinander? Weder Elli noch die Polizei sehen einen Zusammenhang, bis ein weiterer Mord geschieht. Niemand ahnt, dass sich hinter all dem eine viel größere Affäre mit internationalem Ausmaß verbirgt. Die Gegner scheinen übermächtig und gut vernetzt. Da kommt es zur Katastrophe. Ellis Nichte Lucy wird entführt. Diesmal muss die Ermittlerin über ihre Grenzen gehen und bedient sich illegaler Mittel. Sie gerät in Lebensgefahr. Die Situation ist so ernst wie nie zuvor, denn der Gegner hat beschlossen, Elli Klinger und Fred Rupp zu beseitigen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Inhalt

Prolog

Misstrauen

Missempfinden

Missetaten

Missgeschick

Missklang

Missgriff

Missmut

Misserfolg

Missraten

Mission

Missetäter

Missionsarbeit

Epilog

 

Prolog

Das leise Klicken des Federhebels, der gegen die Schutzkappe drückt und das Surren des Reibrädchens über das Cer-Eisen, das den Funken erzeugt, sind neben dem permanenten Zirpen der Grillen die einzigen Geräusche, die die Stille der lauen Herbstnacht durchdringen. Er ist kein Freund der Neuen Medien, die so spielend einfach überwachbar sind. Da werden ihn seine jüngeren Berufskollegen niemals vom Gegenteil überzeugen können. Kürzlich faselte jemand von einem Tor-Netzwerk, das angeblich die Verbindungsdaten anonymisieren und den Zugang ins Internet und Darknet deutlich sicherer machen würde. So etwas benötigt er nicht. Seine Sicherheiten sind ursprünglicher. Eine davon bezeichnete Aristoteles bereits vor 2.400 Jahren in seiner Naturphilosophie als eines der vier Grundelemente, das Feuer. Er schließt die Kappe des Sturmfeuerzeugs mit dem Daumen und hält das Stück Papier mit spitzen Fingern, bis die Flamme beinahe seine Fingerspitzen erreicht. Das Hitzegefühl ist wichtig. Er hat gelernt, den Schmerz mit der Information zu verknüpfen, die ihm wie immer als Botschaft auf einem Zettel übermittelt wurde. Sein Datenspeicher ist weder ein USB-Stick noch eine Cloud. Auch hier verlässt er sich lieber auf seinen Verstand. Die Flamme erlischt endgültig, als er das Papier mit dem Schuh austritt und die schwarz-graue Asche sich mit dem feinen Kies vermischt. Das ist genug Datensicherheit, denn obwohl das verbrannte Medium inklusive der Kugelschreiberfarbe, chemisch gesehen, nachweisbar ist und sich von der Schuhsohle nicht rückstandsfrei entfernen lässt, so bleibt die eigentliche Information den neugierigen Augen Dritter verborgen. Genau genommen hätte sich sein Auftraggeber die Mühe sparen können, denn die heutige Nachricht bestätigte nur das, was er bereits selbst recherchiert und beobachtet hatte. Ihm ist klar, dass er, bedingt durch das zeitaufwendigere papierlastige Prozedere, in der Vergangenheit deutlich weniger Aufträge annehmen konnte, als einige der Kollegen. Doch das stört ihn nicht. Er lebt genügsam und hat sich schon vor über 20 Jahren eine eigene Lebensphilosophie erarbeitet. Es wäre pure Verschwendung gewesen, dies nicht zu tun, denn schließlich besitzt er einige akademische Grade. Darunter auch einen Dr. sc. phil., den er nach der Promotion an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg verliehen bekam. Das ist lange her. Ihm standen damals viele Türen offen, und das weltweit. Doch er entschloss sich einen gänzlich anderen Weg einzuschlagen, wobei ‹entschließen› einen freien Willen implizieren mag. Dem war definitiv nicht so, denn höchstens das Universum selbst verschuldete die Tatsache, dass er sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand und unfreiwilliger Zeuge eines bestialischen Mordes wurde. Jetzt kann er darüber schmunzeln und sich der Ironie des Schicksals nahezu emotionslos ergeben. Doch tief in seinem Inneren verborgen, lauert die grässliche Bestie, die die Wahrheit sah und binnen weniger Stunden sein Leben völlig auf den Kopf stellte.

Ein rascher Blick auf die Leuchtziffern der Armbanduhr verraten ihm, dass er nur noch eine Stunde bis zur Dämmerung warten muss. Den Chronotyp seiner Zielperson würden die Biologen wohl als extreme Lerche bezeichnen, die bereits um 5:00 Uhr morgens quietschvergnügt durchs Leben wandelt. Dann, wenn die meisten anderen noch friedlich schlummern. Heute soll die Sonne um 7:09 Uhr aufgehen. Doch das ist für die Zielperson irrelevant. Zu diesem Zeitpunkt wird sie bereits seit über einer halben Stunde tot sein, wenn alles planmäßig verlaufen ist.

Und das wird es. Dafür hat er gesorgt. Zwei Reservepläne müssen genügen, schlägt der erste wider Erwarten fehl. Selbst für den schlimmsten Fall, dass man ihn kurz nach der Tat überprüfen oder gar festnehmen sollte, werden die Ermittlungsbehörden den Pass eines gewissen Philip Thaler vorfinden, einem ausgewanderten Geschäftsmann aus Neuseeland auf Urlaubsreise durch Europa. Bisher benötigte er jedoch nur zweimal in über 20 Jahren eine Alternative. Das hat er nur seiner gewissenhaften Vorbereitung zu verdanken, davon ist er überzeugt. Auch wenn ihn manche jungen Branchenkollegen belächeln und ihn hinter seinem Rücken wegen seiner pedantischen Arbeitsweise gerne Dr. P. nennen, beweisen seine bisherigen Erfolge die Art der Vorgehensweise. Er verachtet die selbstgefälligen Jungkollegen, die in den letzten Jahren aus sämtlichen Herren Ländern in die Branche drängen. Neben großspurigen Reden setzen sie vor allem auf Hi-Tech, Kaliber und Masse, statt auf Klasse. Geduld, Ausdauer, Fingerspitzengefühl und Präzisionsarbeit werden meist durch Feuerkraft und Brutalität kompensiert. Nicht in jedem Fall ein adäquater Ersatz. Dessen ist sich auch sein Auftraggeber bewusst. Für zwei Wochen Arbeit akzeptierte er, 350.000 € zu bezahlen. Seinen üblichen Tagessatz von 25.000 €, ein Betrag, der ihm durchaus angemessen erscheint, und nicht nur ihm. Womöglich wäre der Auftraggeber sogar bereit gewesen, das Doppelte auf den Tisch zu legen, angesichts der Vita der Person. Doch Gier liegt ihm fern. Für ihn zählte schon immer eine faire Forderung, für eine solide Arbeit zu stellen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Aus einem leichten Jogging-Rucksack holt er einen in Tuch gewickelten Gegenstand und legt ihn neben sich auf die Parkbank. Er braucht kein Licht, um den Bramit auf den Lauf der Waffe zu schrauben, der man die Jahre kaum ansieht. Sie gehört zu einer der ersten Waffen, die er sich besorgte. Der russische Nagant M1895 wurde 1938 produziert und zählt zu den neueren Modellen des Revolvers, der bis 1945 gebaut wurde. Das Besondere daran ist, dass man einen Schalldämpfer verwenden kann, was bei nur wenigen Revolvern möglich ist. Er sieht die mitleidigen Blicke seiner Kollegen, die meist nur ein müdes Lächeln erübrigen, während sie ihn mit stolzgeschwellter Brust eine Walther P99Q mit Mündungssignaturreduzierer, Zubehörschiene, Laservisier und restlichtverstärktem Zielfernrohr präsentieren. Selbst das 15-schüssige Magazin erzeugt bei ihm noch keinen Neid. Sein Revolver fasst lediglich sieben Patronen, die jedoch vollauf genügen. Zwei Kugeln töten in Kopf und Herz, eine zur Sicherheit in die Leber, das war’s üblicherweise. Die restlichen vier dienen als Reserve oder der unmittelbaren Verteidigung, und das alles, ohne Spuren, sprich Patronenhülsen, zurückzulassen, denn die verbleiben in der Trommel. Dabei geht es ihm nicht um die Verschleierung der verwendeten Waffe, sondern um die des Standorts des Schützen, der ohne Hülsen deutlich schwerer zu ermitteln ist. Nebenbei muss er sich keinerlei Gedanken um zufällig hinterlassene Fingerabdrücke machen. Alles Kriterien, die ein echter Profi in jedem Fall bedenken und je nach Relevanz sorgfältig gegeneinander abwägen sollte. Seine Kollegen verlassen sich allzu oft darauf, binnen kürzester Zeit eine möglichst große Distanz zum Tatort zurückzulegen. Je mehr Landesgrenzen überwunden werden, desto besser. Landet man jedoch im System der Behörden, dann verbleibt man dort und wird zukünftig verglichen.

Behutsam verstaut er die Waffe in einem extra eingearbeiteten Holster unter dem Kapuzenshirt und zieht den Reißverschluss ein Stück weit nach oben. Speziell eingenähte Polster auf beiden Seiten sorgen dafür, dass er sie völlig unauffällig mit sich führen kann, selbst wenn er in der Kleidung einen flotten Sprint hinlegen müsste. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, während er den fleckigen Lappen wieder in den Rucksack packt. Spätestens seit zwei Tagen ist er überzeugt, dass der Auftrag ein Kinderspiel werden wird. Alles läuft nach Plan, im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Zielperson erwies sich als penibel pünktlich. Laut seinen Aufzeichnungen lagen zwischen dem täglichen Erscheinen maximal drei Minuten Differenz und das in einem Beobachtungszeitraum von zehn Tagen.

Die Wartezeit überbrückt er mit Meditation, die er vor einem guten Jahrzehnt in einem laotischen Kloster erlernte. Damals befand er sich aus unterschiedlichsten Gründen in einer massiven Krise. Er stand kurz davor, alles hinzuschmeißen. Privat, beruflich und auftragsmäßig passte nichts mehr zusammen. Das reinste Desaster. Einer seiner wenigen Freunde gab ihm den Tipp, den er zunächst als weder angemessen noch zielführend wertete, bis ein weiterer Schicksalsschlag ihn zum Handeln zwang.

Seufzend nimmt er die Füße hoch und begibt sich in den Lotussitz, der im Yoga als Padmasana bezeichnet wird. Er verzichtet darauf, die Sneakers auszuziehen, ebenso wie das Kapuzenshirt. Im Ernstfall will er binnen Sekunden in der Lage sein, zu handeln. Mit geschlossenen Augen beginnt er tief zu atmen, berührt mit den Zeigefingern die Daumen und legt die Hände behutsam auf die Knie. Nach wenigen Atemzügen spürt er die Entspannung einsetzen. Körper und Geist verschmelzen und verdrängen Ärger, Zweifel und Sorgen. Die ersten Vogelstimmen lösen das Zirpen der Grillen ab, während er nur noch Ohren für den eigenen Puls und die Atmung hat. Energie und Zuversicht kehren zurück, so wie er es nicht nur erwartet, sondern sich auch innigst gewünscht hat. Auf seine innere Uhr ist Verlass, die ihn eine knappe Viertelstunde vor der geplanten Tatzeit aus der Tiefenentspannung zurückholt. Es bleibt ihm genügend Zeit, den Warteplatz aufzugeben und zur tatsächlichen Startposition zu wechseln. Er wird der Zielperson entgegenjoggen. Der Weg gibt ihm durch ein ausreichendes Sichtfenster die Gelegenheit, das Aufeinandertreffen relativ genau zu kalkulieren. Sein Opfer bewies nicht nur in puncto Lauftempo äußerste Präzision, sondern auch bei der Wahl der Orte für Dehnübungen. Der vorgesehene Tatort, eine Holzbrücke mit niederem Geländer, ist durch Bäume, Buschwerk und eine sanfte Anhöhe nur schwer einsehbar. Ideal also für sein Vorhaben.

 

Kurz zuckt ein Lächeln auf, bevor der Gesichtsausdruck in die volle Konzentration zurückkehrt. Eine Schweizer Uhr könnte nicht exakter funktionieren, als dieser Mann. In Gedanken zählt er mit und handelt unmittelbar nach acht Wiederholungen, genau dann, als die Zielperson den Fuß vom Geländer nimmt und den Lauf über die Brücke fortsetzen will. Alles geht rasend schnell. Ein letztes Mal vergewissert er sich, dass sie niemand beobachtet, bevor er mit einer fließenden Bewegung die Waffe zieht. Der Schalldämpfer macht kaum ein Geräusch. Es klingt wie kurzes Husten, als drei Schüsse Schulter, Kopf und in Höhe des Herzens den Rücken treffen. Die Schussfolge war absichtlich so gewählt und lässt das Opfer eine Rechtsdrehung vollführen, sodass er nur wenige rasche Schritte benötigt, dem Sterbenden einen finalen Stoß zu versetzen. Es gleicht eher einem harmlosen Rempler, als er mit dem Ellenbogen die Wirbelsäule des Mannes trifft. Das Einschussloch ist kaum zu erkennen, wäre da nicht ein sich rasch ausbreitender Blutfleck. Ihm bleibt der Anblick des ungläubig verzerrten Gesichts erspart, als der Körper über das Geländer in den träge dahin fließenden Fluss stürzt. Mit einem fast perfekten Kopfsprung taucht der Tote ein, sodass kaum Wasser empor spritzt. Doch selbst wenn er auf dem Bauch gelandet wäre, hätte es keinen Unterschied gemacht. Zu dieser Zeit ist er hier mutterseelenalleine, abgesehen von den unzähligen Vogelstimmen, die, jede für sich um die geräuschvolle Vormachtstellung kämpft. Der Leichnam treibt in der Mitte des Flusses und wird bald das Wehr erreichen. Wenn er sich konzentriert und das Vogelgezwitscher ausblendet, kann er in der Ferne das Tosen des Wassers hören. Dort wird der Tote in den Sog gerissen und zwischen schweren Baumstämmen zermalmt, die der Strudel noch nicht freigegeben hat. Hier rächt sich die Vorliebe des Opfers für unauffällige graue Joggingkleidung und einem blauen Sweatshirt. Er bezweifelt jedoch, ob es einen Unterschied gemacht hätte, wäre sein Zielobjekt mit Kleidung in Warnfarben unterwegs gewesen. Noch auf dem Herweg hat er sich selbst davon überzeugt, das Wehr inspiziert und den bunt zusammengewürfelten Plastik-Unrat bemerkt, der sich nicht mehr aus dem Mahlstrom befreien kann. Ein paar farbige Kleidungsstücke würden niemanden auffallen.

Seelenruhig schraubt er den Schalldämpfer vom Revolver. Einmal mehr zahlt sich die Wahl der Waffe aus, denn ansonsten müsste er das Gras und Gebüsch entlang des Wegs nach Patronenhülsen absuchen und würde womöglich mehr Spuren, wie Fasern und Fußabdrücke hinterlassen, als entfernen. Obwohl er die Schüsse in kurzer Folge abgab, hatte er dabei schätzungsweise 20 Meter zurückgelegt. Eine lange Strecke, um drei kleine Hülsen zu finden, noch bevor die Sonne aufgegangen ist.

Konzentriert beäugt er die Umgebung und dreht sich einmal im Kreis, während er den Revolver neben dem Schalldämpfer im Rucksack verstaut. Alles geht automatisch. Jeder Handgriff sitzt. Er könnte es ebenso mit geschlossenen Augen. Eine weitere Eigenart, die ihm, dem Dr. P., einigen Spott einbrachte. Doch die echten Profis wissen genau, dass der Rückzug den heikelsten Teil der Mission darstellt. Denn Verschwinden, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen, ist nur durch sorgfältige Planung und disziplinierte Durchführung möglich.

Weit entfernt am Wiesenrand entdeckt er eine Frau auf einem Fahrrad, die einen großen braunen Hund an der Leine neben sich führt. Will sie heute nicht ausnahmsweise quer über die Wiese und durch das Gebüsch fahren, so benötigt sie auf dem geschotterten Weg noch gute vier Minuten bis zur Holzbrücke. Er kennt die Frau vom Sehen und hat die Zeit bereits einige Male gestoppt.

Fünf Minuten später wird er im Auto sitzen und auf dem Weg zur Unterkunft sein. Vormittags wird er die restliche Summe abholen und alles vorbereiten, damit er sich im Notfall umgehend in den wohlverdienten Ruhestand begeben kann. Dies war sein vorletzter Auftrag. Kein spektakuläres Meisterstück, aber solide Arbeit für eine angemessene Entlohnung. Er hat genug beiseitegelegt, um einen ruhigen Lebensabend verbringen zu können. Nicht hier, sondern weit entfernt. In einem Land, wo man wenige Fragen stellt, und Fremden gegenüber genauso offen ist, wie den Einheimischen. Dann wird er endlich wieder den wahren Leidenschaften frönen können, der Astronomie und Philosophie.

Warum er noch einen weiteren Auftrag annahm weiß er selbst nicht so genau, denn er weicht nur ungern von einem bereits gefassten Entschluss ab. Die Frau klang verzweifelt und vertrauensvoll zugleich. Das sagt ihm zumindest die jahrelange Erfahrung. Auf die Forderung, binnen zwölf Stunden die Hälfte im Voraus bezahlen zu müssen, ging sie erst nach kurzem Zögern ein. Eine Reaktion, die ihm authentischer vorkam, als eine sofortige Zusage. Im anderen Fall hätte er wohl einen beliebigen Grund gefunden, ihr einen Korb zu geben. Vorsicht walten lassen, ist die Grundvoraussetzung für den Job, auch wenn sie das Codewort kannte. Davon wird er auch nicht beim vermeintlich letzten Auftrag abweichen.

Misstrauen

Die neuen Eigentümer haben für das japanische Restaurant Sekandohōmu keine Mühen und Kosten gescheut. Er bedeutet übersetzt so viel wie ‹Das zweite Zuhause›. Der Vorraum ist als gemütlicher Wartebereich mit mehreren Sitzgruppen gestaltet. Gleichzeitig dient er als klassischer japanischer Garten mit Flusslauf, einem roten hölzernen Tor einer Steinbrücke und allerlei Bonsais.

Im Inneren des Restaurants herrscht nicht, wie man es erwarten würde, die übliche raumoptimierte Aufteilung der Plätze. Niemand wollte hier möglichst viele Gäste auf engstem Raum unterbringen. Vielmehr erinnert es an eine riesige Terrasse mit loser Anordnung von Tischen und Stühlen. Hüfthohe Steinmauern, bepflanzt mit allerlei fremdartigen Blumen, darunter unzählige Orchideen, große Pflanzkübel mit Bambus und segelähnliche Reistapeten mit beeindruckenden japanischen Kalligrafien, Shodō genannt, trennen die Sitzgruppen voneinander. Hier wurde eindeutig Wert auf exotische Ursprünglichkeit gepaart mit Eleganz und Intimität gelegt. Dementsprechend gehört das Lokal nicht nur zu den begehrtesten, sondern auch teuersten der Stadt, was jedoch seine Berechtigung hat.

Kein Besucher kommt mit der Erwartung hierher, um binnen kurzer Zeit billiges japanisches Fast Food zu konsumieren. Den Gästen wird das Gefühl vermittelt, dass sich Speisen in Kombination mit spirituellem Erleben auf einer völlig neuen Ebene perfekt ergänzen. Hier zu essen, gleicht dem Besuch eines Events.

 

«Das Menü war vorzüglich, Frau Rawell. Sie haben nicht zu viel versprochen», lächelt er und nickt anerkennend.

«Das freut mich, Herr Bukowski, denn Sushi, Fugo und Seeigel sind nicht jedermanns Sache. Da habe ich schon manche meiner Freunde und Begleiter insgeheim die Nase rümpfen sehen, auch wenn sich keiner traute, es offen auszusprechen», schmunzelt sie. «Oder wirke ich auf Sie so furchteinflößend und einschüchternd?»

Er zögert kurz und errötet. War das ein erneuter Versuch, mit ihm zu flirten oder eine neutrale Frage? Bereits seit Stunden stellt er sich immer wieder die Frage und ist noch zu keinem befriedigenden Ergebnis gelangt. Mahnende Worte seiner Freundin Lucy schießen ihm durch den Kopf. Sie besitzt ein deutlich besseres Gespür für solche Dinge, wie er. Das hat sie eindeutig mit ihrer Tante Elli gemein, die er nur allzu gut kennt. Er wagt, sogar behaupten zu dürfen, dass er über das höfliche nachbarschaftliche Verhältnis hinaus, mittlerweile mit der Ermittlerin befreundet ist. Spätestens seitdem sie ihm bei den Werbeaufnahmen aus der Patsche half und kurzfristig, als Model einsprang. Ein Glücksfall in doppelter Hinsicht. Dass er sich danach in ihre Nichte verliebte, kommt für ihn noch immer einem Traum gleich.

Frau Rawell mustert ihn aufmerksam und runzelt die Stirn. Sie hat ihn bei seinem gedanklichen Ausflug ertappt, neigt den Kopf fragend zur Seite und wartet offenbar tatsächlich auf eine Antwort.

Er räuspert sich und schlägt die Augen nieder. Ihr intensiver Blick verwirrt ihn zunehmend und lässt ihm keinen klaren Gedanken fassen. Tief in ihm regt sich ein Verlangen nach der Dame, das er bisher nicht kannte.

«Nun, Frau Rawell, in Ihrer Position ist es durchaus zielführend, wenn Sie mit einem gewissen Nachdruck agieren. Den Frauen in Führungspositionen wird in der Regel ein bisschen mehr abverlangt, als Männern.»

Er hebt den Kopf, auch wenn er sich überwinden muss, und schaut ihr in die Augen. Was er sieht, überrascht ihn. Anstatt, wie befürchtet, verärgert oder amüsiert zu sein, bildet er sich ein, so etwas wie Respekt zu erkennen.

Ohne auf seine Äußerung zu antworten, wechselt sie das Thema. «Ich denke, ich werde jetzt rasch meine Nase pudern gehen und mich um die Rechnung kümmern. Wir führen das Gespräch an einem intimeren Ort fort.» Sie legt eine Pause ein, ohne ihn anzusehen, und kramt geschäftig in ihrer Handtasche. So, als wüsste sie genau, welches Programm sie dadurch bei seinem ganz persönlichen Kopfkino provoziert. Folglich zuckt er erschrocken zusammen, als sie unvermittelt nachsetzt. «Ich kenne eine hübsche Bar in der Innenstadt mit hervorragenden Drinks und guter Musik.» Sie lächelt kokett, dreht sich abrupt auf den hohen Absätzen ihrer wildledernen schwarzen Overknees um und läuft mit elegantem Hüftschwung in Richtung der Toiletten.

Ohne es zu wollen, starrt er ihr hinterher. Wohlgeformte Beine, die ein Stück perlmuttglänzende dunkelblaue Feinstrumpfhose zwischen Stiefeln und dem kurzen Rock preisgeben. Sie bewegt sich wie jemand, der bereits einige Erfahrungen auf dem Laufsteg gesammelt hat. Dafür würde auch die perfekte Kombination ihrer Kleidung sprechen. Ein gelungener Spagat aus businessmäßiger Eleganz und dezenter Provokation. Schließlich verfügt er als Fotograf über einen geschulten Blick für genau solche Details.

Die Situation überfordert ihn eindeutig. Warum hat er sich auch darauf eingelassen? Zuerst ein Geschäftsessen in einem hochpreisigen Lokal? Nein, nicht in irgendeinem, sondern dem momentan angesagtesten der ganzen Stadt, wenn er es genau betrachtet. Mit üblichen Wartezeiten für Normalsterbliche bis zu einem halben Jahr, wie ihn ein Bekannter kürzlich erzählte. Niemand soll behaupten, er hätte sich nicht informiert. Er muss schmunzeln, weil ihm wieder seine Nachbarin Elli durch den Kopf spukt. Sie als Ermittlerin wäre sicherlich stolz auf ihn.

Sein Blick schweift über die anderen Tische, die meist nur mit zwei Personen besetzt sind. Schlagartig kehren seine Gedanken zurück ins hier und jetzt. Was soll er tun? Höflich aber nachdrücklich ablehnen? Kann er sich das überhaupt erlauben? Der Werbeauftrag von Hartmut Wetzels Firma SPEXTRA ist der lukrativste seit Jahren und er hätte das Geld bitternötig. Oder das Risiko eingehen und mit ihr eine hübsche Bar besuchen, wie sie es nannte? Wo er doch kaum Alkohol verträgt und die zwei Gläser Wein noch überdeutlich spürt. Was hat sie vor?

Ein Arbeitsessen hieß es. Um in aller Ruhe die Zielrichtung der Marketingaktion genauer zu erläutern. Es klang plausibel, denn damit ist es für ihn einfacher, an den nächsten Tagen bei den Fotoaufnahmen die Szene zu gestalten und die Models anzuleiten. Er rechnet mit mindestens einer Woche, nachdem er nun die Details erläutert bekam. Endlich wieder ein Kunde mit konkreten Vorstellungen, was heutzutage leider immer seltener vorkommt. Was passiert, wenn er ihr einen Korb gibt? Und was, wenn nicht? Ihm bleiben nur noch wenige Augenblicke, sich darüber klar zu werden und sich zu entscheiden. Soeben verlässt sie den Gang, der zu den Toiletten führt und nähert sich dem Tresen. Er sieht, wie sie kurz mit einem japanischen Kellner spricht, der sich mit mehrmaligem Verbeugen zu bedanken scheint und ihr die Kreditkarte und einen Bewirtungsbeleg übergibt. Sie verbeugt sich ebenfalls lächelnd und kommt auf ihn zu.

«Ich habe bereits ein Taxi für uns bestellt. Es sollte jeden Augenblick eintreffen. Wollen wir draußen warten? Dann könnte ich noch rasch meinem hässlichen Laster frönen», kichert sie kleinmädchenhaft und zeigt ihm eine Schachtel Zigaretten.

Er nickt reflexartig und erhebt sich ungelenk. So viel zu einer Möglichkeit, abzulehnen. Das wird er sich wohl abschminken müssen, wenn er nicht riskieren will, den Auftrag zu verlieren. War es nicht er selbst, der ihr gerade eben einen gewissen Nachdruck in ihren Entscheidungen nachsagte? Das hat er nun davon. Er holt tief Luft und beeilt sich, ihr in den langen Ledermantel zu helfen. Sofort steigt ihm ihr Parfüm in die Nase. Eine Mischung aus fruchtiger Spritzigkeit, süßer Vanille, herbem Sandelholz und einer leicht pudrigen Note, die er nicht genau zuordnen kann. Jetzt kommt ihm zugute, bereits mehrmals für Parfümhersteller fotografiert zu haben. Damals bekam er sogar eine Kurzeinweisung von einem echten Berufsschnüffler. Beiläufig bemerkt er, dass sie sich tatsächlich frisch gepudert und nachgeschminkt hat. Er wäre auch hier ein schlechter Fotograf, würden ihm solche Details nicht ins Auge fallen. Und die Ohrringe? Trug sie nicht andere beim Essen? Ihr schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, streift seinen Handrücken. Seidenweich, schießt ihm durch den Kopf. Er spürt, wie der Puls beschleunigt und er unvermittelt den Atem anhält. Verwirrt greift er nach der Jacke und benötigt mehrere Versuche, bis die linke Hand endlich das Ärmelloch findet. Frau Rawell hat bereits die erste Glastür erreicht, die automatisch aufschwingt. Mit ein paar raschen Schritten holt er sie ein, bevor sich die eigentliche Eingangstür mit einem dezenten Klang eines traditionellen Gongs öffnet. Er lässt ihr den Vortritt und deutet etwas tollpatschig eine galante Verbeugung an. Sie grinst amüsiert und streckt ihm die Hand entgegen. «Wir können uns ab jetzt gerne duzen. Ich bin Lucinda.»

Unbeholfen greift er nach ihrer Hand. «Frederic. Ich heiße Frederic», antwortet er mit rauer Stimme und entdeckt aus dem Augenwinkel die Scheinwerfer eines Autos. Das Taxi ist überpünktlich.

«Angenehm. Offiziell anstoßen können wir gleich noch in der Bar. Ein echter Geheimtipp, wenn du verstehst», lächelt sie und zwinkert ihm zu.

Er nickt wortlos und will ihr die Tür des Taxis öffnen.

«Lass mal gut sein Frederic. Ich rauche jetzt erst noch eine Zigarette. Aber du darfst gerne einstweilen einsteigen. Es ist irgendwie frisch geworden. Findest du nicht?»

Er nickt erneut. In seinen Ohren klingt es weniger nach einer Frage, obwohl sie es als solche formulierte. Zögernd verharrt er für einen kurzen Augenblick, bis sie sich die Zigarette anzündet und einen ersten tiefen Zug nimmt. Mit der Hand deutet sie an, dass er doch einsteigen solle. Und er folgt ihrer Aufforderung wie ein braves Hündchen.

 

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Der Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude der Firma ist bis auf die beiden Autos des Wachpersonals verwaist. Sie parkt bewusst auf der Straße außerhalb des Geländes, um den Überwachungskameras zu entgehen. Niemand soll Verdacht schöpfen, dass sie nicht sofort aussteigt. In den vergangenen Stunden ist es empfindlich kalt geworden. Selbst hier im Auto spürt sie es, weil sie viel zu zeitig eintraf und bereits über 20 Minuten bewegungslos ausharrt. In ihrer Aufregung wollte sie unbedingt pünktlich sein. Ihr bleibt schließlich nur eine gute Chance, mit großem Glück noch eine zweite.

Das Handy zeigt 23:25 Uhr. In wenigen Minuten erfolgt der alltägliche Schichtwechsel des Wachpersonals. Sie kennt Igor, der die Nachtschicht übernimmt, nur flüchtig vom täglichen morgendlichen Grüßen. Jedoch hat sie längst den Eindruck gewonnen, dass er gerne an etwas mehr als dem üblichen Small Talk interessiert wäre. Bisher ignorierte sie allerdings sämtliche seiner Offerten höflich und bestimmt, obwohl es ihr natürlich schmeichelt, bei 24 Jahren Altersunterschied, wie sie zwischenzeitlich in Erfahrung brachte. Welche Frau würde nicht liebend gerne von einem deutlich jüngeren Mann begehrt oder zumindest noch als ausreichend attraktiv befunden werden?

Igor mag ein netter Kerl sein, das will sie nicht bestreiten. Sie sammelte jedoch mit seiner Art von Burschen bereits ganz eigene Erfahrungen, auf die sie gerne verzichtet hätte. Seitdem sind Russen und alle die nur entfernt danach aussehen oder sich ähnlich benehmen, ein absolutes Tabu.

Sie erinnert sich, als wäre es letzte Woche geschehen. Zwei Freundinnen überredeten sie, sie auf eine Party von Kommilitonen zu begleiten, die zunächst völlig harmlos begann. Doch je später es wurde und je weniger Studenten übrig geblieben waren, desto härter ging es zur Sache. Sie musste all ihre Kräfte aufbieten, nahezu sämtliche anzüglichen Angebote abzulehnen. Außer beim Alkohol ließ sie sich auf keinerlei Zugeständnisse ein. Die einzige Droge, die sie einigermaßen kontrollieren könnte, dachte sie in ihrer damaligen Naivität. Als ihre beiden Freundinnen begannen, auf dem Tisch zu tanzen und dabei einen Striptease hinlegten, bis lediglich die Stringtangas übrig blieben, wollte sie nur noch schleunigst nach Hause. Die verbliebenen drei russischen und zwei bulgarischen Studenten waren von der Show hellauf begeistert und drängten sie dazu, ebenfalls zu tanzen. Der Alkohol vernebelte ihre Sinne. Sie bildete sich ein, schneller dem Ganzen entkommen zu können, wenn sie sich zumindest ein bisschen kooperativ zeigen würde. Sie kam bis zum Pullover und der Bluse, als sie es nicht länger ertrug. Die Mimik und Gestik der Männer sprachen für sich. Dazu musste sie nichts von den mit schwerer Zunge zugerufenen Anfeuerungen in deren Muttersprache verstehen. Ihre beiden Freundinnen gingen einen Schritt weiter und verhalfen ihr ungewollt zur Flucht. Je zwei der Studenten teilten sich eine der Frauen, sodass sie selbst in lediglich ein grobschlächtiges Gesicht eines Russen blickte, der sie erwartungsvoll anstarrte. Trotz gehöriger Mengen Alkohol und noch härteren Drogen erstaunte sie die rasche Reaktion, als sie in den High Heels ungelenk vom Tisch sprang, beinahe stürzte, sich den Pullover und die Handtasche schnappte und versuchte, die Tür zu erreichen. Er versperrte ihr den Weg, so als hätte er ihren Fluchtversuch geahnt. Die verschwitzte Bluse nahm er in seine bratpfannengroßen Hände und hielt sie sich immer wieder an die Nase, um verzückt daran zu schnüffeln. Es mag der Ekel gewesen sein, der ihr zusätzliche Kräfte verlieh, ihm einen so gewaltigen Stoß gegen die Brust zu versetzen, dass er rückwärts taumelte, über eine Flasche am Boden stürzte und unsanft auf dem Hinterteil landete. Panisch sprang sie über seine Beine, rannte in die Diele und riss dabei mehrere Bierflaschen von einer Kommode, die auf dem Teppichboden fielen, ohne zu zerbrechen. Die Wohnungstür war verschlossen, doch zum Glück steckte der Schlüssel. Trotzdem büßte sie zwei Fingernägel ein, als sie in ihrer blanken Verzweiflung den Riegel und das Schloss versuchte, gleichzeitig zu öffnen. Der laute Schrei des Russen, der offenbar die Verblüffung über seinen Sturz überwunden hatte, machte es nicht leichter. Sie wimmerte und spürte nicht einmal die Tränen der Resignation, die ihr über die Wangen liefen und hässliche schwarze Spuren der Schminke hinterließen. Raus hier. Weg. Weit weg. Das war alles, was ihre Gedanken beherrschte. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie plötzlich auf dem Gehsteig, in der einen Hand den Pullover und in der anderen ihre Handtasche. Ein kalter Wind ließ sie erschaudern. Die Zähne schlugen hart aufeinander. Die Straße war zu jener nachtschlafenden Zeit menschenleer. Hektisch zuckte ihr Kopf hin und her, bis ihr wieder einfiel, in welche Richtung sie gehen musste. Schluchzend schlüpfte sie in den Pullover. Auch wenn sie die Bluse und die Jacke zurückgelassen hatte, so konnte sie zumindest die Handtasche mit allen wichtigen Utensilien darin retten. Für einen Moment überlegte sie, sich ein Taxi zu rufen, doch der nächste Stand lag mehrere Hundert Meter entfernt, am Südausgang des Bahnhofs. Sie hatte keine Lust, nur eine Minute länger hier zu verweilen. Bruchstückhaft kann sie sich daran erinnern, wie sie nach Hause kam. Sie weiß nur noch, dass sie eine Woche lang die Vorlesungen geschwänzt hatte, weil sie null Bock verspürte, ihren beiden Freundinnen zu begegnen.

 

Sie strafft die Schultern, holt tief Luft und packt die Handtasche fester. Mit schnellem Schritt nähert sie sich der Pforte. Die Absätze der dunkelblauen Pumps hallen auf den Fliesen unnatürlich laut. Der Wachmann Igor hebt den Blick und lächelt ihr zu, während ihn sein Kollege unwirsch auf den Arm knufft und ihm offenbar etwas im Wachbuch zeigt. Es gab heute einen Feueralarm in einer der Fertigungshallen, zum Glück nur ein Fehlalarm. Trotzdem rückte die Feuerwehr an und die Beschäftigten mussten für kurze Zeit die Halle verlassen, bis die Ursache des Alarms, ein defekter Rauchmelder, gefunden war. Solche Vorgänge müssen im Wachbuch verzeichnet werden und gehören sicherlich zu den Highlights im täglichen Einheitstrott des Personals an der Pforte. Igor öffnet den Mund, doch bevor er eine Frage stellen kann, kommt sie ihm zuvor.

«Ich muss noch einmal kurz hoch. Dummerweise habe ich wichtige Papiere im Büro vergessen, die Herr Wetzel gleich morgen früh benötigt. Sie wissen, wenn der Chef ....» Sie beendet den Satz nicht, zuckt entschuldigend die Schultern und ringt sich ein Lächeln ab.

Igor reagiert so, wie sie es vorhergesehen hat. Er schenkt ihr ebenfalls ein breites Lächeln und deutet lediglich eine leichte Verbeugung an. Danach widmet er sich wieder dem missmutigen Kollegen.

Die erste Hürde ist genommen, ohne dass sie sich in die Liste hätte eintragen müssen. Sämtliche Angestellten, die nach 21:00 Uhr noch einmal die Firma betreten, werden üblicherweise vom Wachpersonal in eine Anwesenheitsliste ein- und auch wieder ausgetragen. Dies hat ausschließlich versicherungstechnische Gründe, da im Falle einer Notsituation bekannt sein muss, ob und wer sich, wo auf dem Firmengelände aufhält. Sie hatte gepokert, dass Igor darauf verzichten würde, sie einzutragen, weil er es auch die letzten beiden Male nicht getan hatte. Sie darf es nur nicht übertreiben und startet die Stoppuhr auf dem Handy. Exakt zehn Minuten müssen ihr genügen, um keinen Verdacht zu erregen. Maximal zwei Minuten länger, aber nicht mehr.

Sobald sie sich aus dem Sichtbereich der Pforte befindet, streift sie sich die Schuhe ab und beginnt zu rennen. Keuchend erreicht sie kurz darauf ihr Büro, schaltet das Licht ein, um wenigstens von außen keinen Verdacht zu erregen, und rennt weiter. Sie verliert dadurch kostbare Zeit, doch Sicherheit geht vor. Am Ende des Ganges befindet sich ihr Ziel, das Büro, das nicht ihres ist. Sie aktiviert die Taschenlampenfunktion des Smartphones und weiß genau, in welchem Hängeregister sie suchen muss. Die Hände zittern, sodass sie weitere Sekunden einbüßt, bis sie die richtigen Akten findet. Zwei lose Blätter fallen zu Boden, eines davon verschwindet zielgenau unter dem Rollcontainer am Schreibtisch. Fluchend geht sie in die Knie und reißt sich prompt mit dem Fingernagel eine Laufmasche in den Strumpf. Sie könnte heulen über ihre Ungeschicklichkeit. Vielleicht soll es einfach nicht sein, schießt es ihr durch den Kopf. Nein, falsch. Diese Grübelei hat sie bereits hinter sich gelassen. Sie tut genau das Richtige. Ächzend ertastet sie mit den Fingerspitzen das Blatt und zieht es hervor. Nur noch vier Minuten und 47 Sekunden. Hastig breitet sie die Akten auf dem Schreibtisch aus und beginnt sie der Reihe nach abzufotografieren. Brauchte die Blitzfunktion schon immer so lange, um sich neu aufzuladen? Mit Schrecken stellt sie fest, dass sie kaum noch Akku hat. Da vergaß sie doch prompt das Handy zu laden. So ein verfluchter Mist. Erneut heult sie auf und fotografiert weitere acht Blätter, bis der Akku abrupt und diesmal endgültig den Dienst verweigert. Blitz- und Taschenlampenfunktion gehören wohl zu den Energiefressern. Mit einem Mal ist es stockdunkel. Ein Geräusch lässt sie verharren. Sie traut sich kaum, zu atmen. Ihre Gedanken rasen. Ob Igor nach ihr sehen will und gerade ihr verwaistes Büro inspiziert? Sie könnte sagen, sie hätte dringend auf die Toilette gemusst. Doch die liegt genau am entgegengesetzten Ende des Ganges. Alles bleibt still. Keine Schritte, niemand, der fragend ruft. Sie beruhigt sich und lässt pfeifend die Luft aus den Lungen. Es hilft nichts. Sie braucht Licht. In dem schwachen Zwielicht kann sie die Akten weder fotografieren, noch zurück räumen. Ihre Finger ertasten den Schalter der LED-Tageslichtlampe und drücken ihn. Geblendet schließt sie die Augen, wegen der ungewohnt grellen Helligkeit. Erneut verrinnen die Sekunden. Nun wäre es ein Leichtes, die restlichen Blätter aufzunehmen, doch das Handy ist tot, so sehr sie wischt, und den Einschaltknopf drückt. Keine Fotos, keine Stoppuhr, alles weg. Sie hat völlig das Gefühl verloren, wie viel Zeit ihr noch bleibt, denn ohne Saft versagt auch die Uhr. Sie schließt die Augen und ballt die Hände. Nur keine Panik, nicht jetzt. Ihr Appell zeigt Wirkung. Diesmal gelingt es ihr, die Finger zu beruhigen und die Blätter in genau der richtigen Reihenfolge einzuheften. Nur bei den beiden losen Akten zögert sie. Hoffentlich erinnert sich niemand, an welcher Stelle sie einsortiert waren. Behutsam schiebt sie das schwere Hängeregister möglichst geräuschlos in das Fach. Danach schnappt sie sich das Handy, die Schuhe und die Handtasche, bevor sie den Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen lässt und das Licht ausschaltet. Zurück auf dem Flur stößt sie erleichtert die Luft aus, die sie bei all der Aufregung immer wieder angehalten hat. Im Vorübergehen löscht sie rasch das Licht in ihrem Büro und vergisst nicht, die Tür unverschlossen und halb geöffnet zu belassen, so wie gewohnt. Erst auf dem letzten Treppenabsatz schlüpft sie in die Schuhe, ordnet die Haare und bemüht sich um einen souveränen lässigen Gang. Wenige Stufen vor dem Ende der Treppe schießt es ihr siedendheiß durch den Kopf, dass sie keine Papiere bei sich trägt. Ihre Handtasche ist deutlich zu klein, außer sie hätte sie gefaltet, was nicht üblich wäre. So viel zu ihrer Notlüge. Es bleiben ihr nur wenige Sekunden und der Schwindel könnte auffliegen. Sie spürt Schmerzen im Kiefer, weil sie die Zähne mehrmals krampfhaft fest zusammengebissen hat. Mit kreisenden Bewegungen presst sie beide Daumen auf die Stellen, bis er allmählich nachlässt. Zumindest verhilft ihr die Zwangspause dazu, sich einen Plan zurechtzulegen. Sie beschließt, in die Offensive zu gehen. Das Einzige, was ihr auf die Schnelle einfällt. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Locker bleiben, lächeln, freundlich sein und nicht übertreiben, feuert sie sich an.

Der Wachmann hebt wie erwartet den Kopf.

«Guten Abend Igor», grüßt sie und spielt an einer Haarsträhne. «Das wollte ich Ihnen schon beim letzten Mal sagen. Ich bewundere Sie, dass sie immer nur die Nachtschichten arbeiten. Ist das nicht sehr anstrengend?»

Er hebt erstaunt die Augenbrauen und zeigt ihr mit breitem Grinsen eine Reihe überraschend makelloser Zähne.

«Halb so schlimm», winkt er ab. «Ich bin gerne nachts wach und genieße die Ruhe.» Er breitet die Arme aus und lässt den Blick durch die Eingangshalle schweifen.

«Das wäre nichts für mich», schüttelt sie lächelnd den Kopf und wischt sich kokett eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Ich brauche dringend meinen Schönheitsschlaf, sonst bin ich hinterher den ganzen Tag über nicht ansprechbar.»

Sie bemerkt, wie Igor den Mund öffnet, und rechnet bereits mit einer anzüglichen Bemerkung oder zumindest mit einem Kompliment. Doch nichts davon geschieht.

Stattdessen zuckt er mit hochrotem Gesicht die Schultern und senkt beschämt den Kopf.

Sie vernimmt ein schüchtern gemurmeltes «Dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Nacht Frau Lohse und bis morgen.»

Sie zögert, doch er hält weiterhin den Kopf gesenkt.

«Na dann auch Ihnen eine ruhige Nacht Igor. Bis morgen früh dann», entgegnet sie freundlich, verspürt jedoch eine Spur Enttäuschung. Erst draußen auf dem Parkplatz in der kühlen Nachtluft meldet sich der rationale Verstand zurück. Warum hadert sie nur? Weswegen fühlt sie sich enttäuscht, weder angebaggert worden zu sein, noch ein halbherziges Kompliment bekommen zu haben? Da will sie die Situation retten und prompt meldet sich gekränkte Eitelkeit. Anstatt sich zu freuen, dass zumindest an der Pforte alles perfekt geklappt hat, spuckt ihr das eigene Ego in die Suppe. «Wie erbärmlich», schnaubt sie leise und drückt den elektronischen Türöffner. Das Auto quittiert es mit dem Ausklappen der Spiegel und einem kurzen Aufleuchten der Blinker. Sie wirft einen Blick zurück zur Pforte, wo sie durch die getönten Glastüren eine Gestalt erkennen kann, die eindeutig in ihre Richtung schaut. Seufzend steigt sie ein und drückt den Startknopf. Der Motor erwacht mit leisem Schnurren zum Leben und schaltet automatisch die Scheinwerfer ein. Erst als sie langsam vom Parkplatz rollt, wird ihr bewusst, wie knapp und riskant es in den vergangenen Minuten zugegangen war. Was, wenn Igor sie auf die Akten angesprochen hätte? Oder darauf bestanden hätte, dass sie sich doch noch in die Liste einträgt? Gänsehaut überfällt sie und lässt sie fröstelnd erschaudern. Nun kann sie nur hoffen, dass die Datenübergabe reibungsloser über die Bühne geht. Außerdem ist ihr bewusst, dass sie es noch einmal wagen muss. Worauf hat sie sich nur eingelassen? Doch jetzt ist es zu spät, die Sache abzublasen. Zu weit hat sie sich aus ihrer bisherigen heilen Welt, ihrer gewohnten Komfortzone entfernt. Sie muss es zu Ende bringen. Zur Sicherheit wird sie erst in einigen Tagen den nächsten Versuch unternehmen, um auch die restlichen Akten zu fotografieren, sonst war alles umsonst.

 

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«Du gehst jetzt sofort nach Hause. Für dich ist heute Schluss», kommandiert meine Chefin Kitti Kiss resolut und fuchtelt mit erhobenem Finger herum. Noch bevor ich protestieren kann, gibt sie mir einen Klaps auf den Po und haucht mir gleichzeitig einen Kuss auf die Wange.

Ich unterdrücke im letzten Moment mein Murren, drehe mich stattdessen zu ihr, mache einen Schritt zurück und salutiere zackig: «Jawohl Boss!»

Kitti errötet und zischt hastig: «Lass das bitte.» Aufgeregt fuchtelt Sie mit den Händen und wirft einen unauffälligen Blick in die Gaststube. Doch die drei noch übrig gebliebenen Stammgäste unterhalten sich lautstark und gestenreich. Sie haben höchstens Augen für ihre Biergläser.

Ich schmunzle wortlos, rühre mich jedoch nicht von der Stelle. Ein bisschen muss sie leiden für ihren frechen Klaps, das Aas. Sie weiß genau, wie ich normalerweise reagiere, wenn jemand meinem Po ungefragt zu nahe kommt. Ich sehe das nervöse Flackern in ihren Augen und bekomme Mitleid. Wenn ich ehrlich bin, gehört sie wohl zu den ganz wenigen Freundinnen, denen ich diese Freiheit zugestehe.

«Willst du einen Limoncello für den Weg?»

«Ein richtiger Kuss wäre mir lieber, Boss. Hatte meinen Letzten heute Morgen, wo ich noch nicht ganz bei mir war», entgegne ich schlagfertig und bringe sie erneut zum Erröten. Ich weiß auch nicht, was gerade in mich gefahren ist und meine Hormone so in Wallung versetzt hat. Mein Freund Jörg machte heute Morgen während des Frühstücks in der Küche so eindeutig zweideutige Bemerkungen, was mir erst im Büro bewusst wurde, nachdem ich mir das Protokoll des aktuellen Falls durchgelesen hatte. Wirkte er beim Abschied deshalb ein wenig enttäuscht, als ich mich lediglich mit einem halbherzigen Kuss verabschiedete? Hatte er mit einem Quickie spekuliert, gegen den ich selten Einwände erhebe? Eigentlich müsste er mich inzwischen gut genug kennen. Wenn ich kurz davor stehe, einen Auftrag zu beenden, bin ich kaum empfänglich für irgendwelche anderen Dinge.

Sie überwindet ihre Scham, wirft einen raschen Blick in den Gastraum, zuckt die Schultern und kommt auf mich zu. Ich leiste keinen Widerstand, als sie mich rückwärts gegen die Tür des Aufenthaltsraums drückt, meine Handgelenke packt und meine Lippen erobert. Sie muss sich strecken, weil ich mit den Absätzen deutlich größer bin. Keuchend drängt sich ihre Zunge zwischen meine Zähne. Küssen beherrscht sie, das hat sie mir bereits mehrmals bewiesen. Ich schmecke intensives Zitronenaroma. Ihre Lieblingsbonbons seit dem sie aufgehört hat, zu rauchen. Ich lasse mich genüsslich treiben, schließe die Augen, und spüre eine unbändige Lust in mir hochsteigen. Sekundenlang kämpfen unsere Zungen um die Vormacht, ehe ich gedanklich die Reißleine ziehe, sie blitzschnell packe und mit einem Hebelgriff nun meinerseits gegen die Tür presse. Sie reißt überrascht die Augen auf, bevor wir uns keuchend voneinander trennen.

«Oh, entschuldigt Leute, ich wollte euch nicht stören», höre ich hinter mir Klaras Stimme. Diesmal erröten wir beide. Sie übergeht geflissentlich unsere Reaktionen und wischt sich die Hände an einem großen Geschirrtuch trocken. «Ich wollte nur fragen, ob wir die Küche schon schließen dürfen. Anna hat morgen Vorlesungen.»

«Ja klar», tönt es wie im Duett, als Kitti und ich gleichzeitig antworten. Wir lachen, während Klara den Kopf schüttelt und abwinkt. «Schon verstanden, ihr habt wieder mal das Vergnügen und wir, die Küchenzombies, die Arbeit», seufzt sie spielerisch und verdreht die Augen.

«Komm her du Küken», kichere ich und packe sie kurz an den Schultern. «Schafft ihr das wirklich ohne mich? Seid ehrlich.» Ich drehe den Kopf zu Kitti, die den Daumen in die Höhe streckt.

«Na klar, Mama. Lydia kommt doch auch», grinst sie.

«Ich geb dir gleich Mama, du freches Stück. Die Mama legt dich, ohne lange zu fackeln, übers Knie.»

«Das will ich sehen, Mama», entgegnet diesmal Klara provokant, und flieht in die Küche, als ich drohend auf sie zulaufe.

Kitti muss lachen. «Ich weiß schon jetzt, was mir am meisten fehlen wird, wenn du nicht da bist.»

«Übertreib nicht so maßlos. Du arbeitest mit netten Kolleginnen, hast lauter freundliche Gäste und darfst dabei rund um die Uhr tolle Musik hören.»

Ich deute mit dem Daumen hinter mich auf die großen Lautsprecher. Frontmann Urban Breed gibt mit der Band Trail of Murder zu so später Stunde den fetzigen Kracher ‹I know Shadows› zum besten.

Kitti nickt verkniffen, schaut jedoch alles andere als glücklich aus der Wäsche.

«Ich bin ja schließlich nicht aus der Welt», schmunzle ich und stemme herausfordernd die Fäuste in die Hüfte.

Sie imitiert meine Geste. «Du bist die Einzige, die Gernot bändigen kann. Das weißt du genau. Seitdem seine Flamme Martina für vier Wochen ihren Bruder besucht, ist es dem alten Brummbären tierisch langweilig.»

«Dann schicke den lieben Herrn Geiger in die Küche, wenn er dich nervt, und lass ihn etwas Besonderes kreieren. Setze es auf die Tageskarte, das freut ihn. Und dich befreit es garantiert für ein paar Stunden von der Nörgelei, glaub mir.»

Sie neigt den Kopf zur Seite und kneift die Augen zusammen. «Stimmt. Das könnte funktionieren. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?»

«Für ausgefallene Ideen ist schließlich Mama da», necke ich sie, sodass wir erneut lachen müssen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich die Stammgäste suchend umdrehen. «Chefin, du wirst gewünscht» raune ich.

Kitti versteht sofort. Sie nickt und winkt mir zu. «Bis dann irgendwann. Pass auf dich auf Kate Johnson.»

Ich zwinkere ihr zu und schaue ihr hinterher. Sie schüttelt das Haar, sodass für einen kurzen Augenblick die blau gefärbte linke Hälfte, mit der von Natur aus schwarzen rechten verschmilzt. Mit geschäftsmäßigen Schritten nähert sie sich den Zechbrüdern, die lautstark alle drei leeren Gläser in die Höhe halten. Das wird wohl noch eine Weile dauern. Die Uhr über dem Tresen zeigt 01:17. Für solche hoffnungslosen Fälle wäre Gernot hilfreich. Ich habe ihn jedes Mal bewundert, wie spielend einfach er es immer wieder geschafft hatte, seine Gäste binnen weniger Minuten nach Hause zu schicken, ohne dass sie es ihm übel nahmen. Immerhin akzeptierten sie Kitti anstandslos als neue Inhaberin, was nicht zuletzt an Gernots Zuspruch gelegen haben mag. Mich freut es, dass es beiden auf ihre eigene Art und Weise guttut. Kitti ist in den vergangenen Monaten regelrecht aufgeblüht, während sich Gernot deutlich geräuschloser mit der neuen Rolle als Privatier abgefunden hat, als ich annahm. Ganz nebenbei bin ich auch deshalb erleichtert, weil ich bis vor Kurzem noch annehmen musste, dass er es sich in den Kopf gesetzt hat, mir seine geliebte Kneipe zu übergeben. Ihm einen Korb geben hätte ich wohl nicht übers Herz gebracht. Jörg hätte mich sicherlich dabei unterstützt, wo er nur kann und meine Kolleginnen ebenso.

Seufzend drehe ich mich um und eile zum Hinterausgang, versäume es jedoch nicht, mich auf dem Weg von Klara und ihrer jüngeren Schwester Anna zu verabschieden, die gerade geräuschvoll die letzten Pfannen unter dem Herd verstauen. Beide werfen mir eine Kusshand zu und wirken traurig. Am Liebsten würde ich auch sie in den Arm nehmen und drücken. Doch Abschiede liegen mir nicht. Eine der wenigen Anlässe, bei denen ich meine Emotionen nur mit großer Mühe kontrollieren kann.

Eine kalte Windbö schlägt mir entgegen, als ich die Hintertür öffne und zum Fahrrad laufe. Die Jeansjacke ist viel zu dünn und lässt mich sofort frösteln. Ich werde wohl ein bisschen heftiger in die Pedale treten, dass mir warm wird. Ob Jörg noch wach geblieben ist? Trotz der Kälte und der klappernden Zähne spüre ich erneut Lust in mir aufsteigen. Warum war ich heute Morgen nur so abweisend zu ihm? Den Auftrag, der mir so im Magen lag, konnte ich binnen einer Stunde abschließen. Das Protokoll zu Ende schreiben, Beweisfotos ausdrucken, samt der Rechnung eintüten und per Einschreiben zur Post bringen. Die beiden übrig gebliebenen Aufträge sind mittlerweile reine Routine. Eine Recherche zum Aufspüren von vermeintlichen Erben und ein besorgter Ehemann, den es brennend interessiert, was seine Frau den lieben langen Tag als Hausfrau und Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern so alles treibt. Wäre da nicht noch dieser ominöse Anruf gewesen, hätte ich es beinahe schon wieder bereut, mich bei Kitti in der Kneipe für die nächste Zeit abgemeldet zu haben. Ist ein Urlaub von meinem Nebenjob wirklich so nötig, wie Jörg und Serena ständig behaupten?

Im Nachhinein weiß ich selbst nicht, was ich an der aufgesprochenen Nachricht so seltsam finde. Eine Frau Herrler hatte mich für den nächsten Tag um einen Rückruf gebeten, also streng genommen heute. Es ginge um ihren Mann. Wäre ich einerseits nicht gerade zur Post unterwegs gewesen, als sie anrief, bräuchte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Andererseits falle ich immer wieder in alte Gewohnheiten zurück. Da wäre die Sache mit der Angst, dass mir die Klienten ausgehen, was mich inzwischen zunehmend ärgert. Was bringt mich nur dazu, dabei so panisch zu reagieren? Abgesehen von den ersten zwei Jahren, wo es schleppend anlief, kann ich mich seit mehr als zehn Jahren nicht beschweren, im Gegenteil. In Gedanken verdrehe ich die Augen über mich selbst und erinnere mich an den Anruf. Was sie wohl von mir will? So interessant es sein mag, ein bisschen zu mutmaßen, was mich erwarten könnte, so lästig ist es aber auch, wenn sich Klienten auf dem Anrufbeantworter nicht klar ausdrücken. Lediglich anhand der Stimme versuche ich mir die Person vorzustellen und habe dabei schon manche Überraschung erlebt. Ein anspruchsvoller Fall wäre im Moment vielleicht genau das Richtige. Der meine grauen Zellen anregt, die sich momentan wieder viel zu sehr mit ungelegten Eiern beschäftigen und Probleme finden, wo vermutlich gar keine existieren. Jörg schießt mir durch den Kopf und bringt sofort meine Libido in Wallung. Serena drängt sich in die Szene und verursacht ein Chaos. Ich heule kurz laut auf und bin mir im ersten Moment dessen gar nicht bewusst. Nur gut, dass die Straßen menschenleer sind und mich niemand hören kann. Warum stochert mein Verstand ständig in diesem Pulverfass herum? Es läuft doch alles prima und weit und breit keine brennende Lunte in Sicht. «Schluss jetzt», murmle ich, bevor ich noch kräftiger in die Pedale trete.

Keuchend gehe ich aus dem Sattel und will trotz des steilen Anstiegs das Tempo halten. Gedanken um die Kälte muss ich mir jedenfalls nicht mehr machen, obwohl die Ohren bitzeln. Am Liebsten würde ich die Jeansjacke öffnen, lasse es jedoch bleiben. Noch zweimal abbiegen und ich bin zu Hause. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich nicht mehr automatisch den Weg zu meiner kleinen Wohnung in der Südstadt nahm. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, dass ich in Jörgs großzügigem Loft wohnen darf. Es bietet nicht nur mehr Platz, genug für uns beide, sondern auch einen unverbauten Blick auf die Wiesen und den Fluss. Für ihn stand es niemals zur Debatte. Er sah es als Selbstverständlichkeit an, dass ich bei ihm einziehe, als wir uns entschlossen haben, es miteinander zu versuchen. Ich hingegen musste ein Stück meiner Eigenständigkeit aufgeben, für die ich lange gekämpft habe. Es tröstet mich jedoch, dass ich die Mietwohnung nicht aufgegeben habe, sondern mit dem Vermieter verhandelte und sie zeitweise untervermieten darf. Momentan nutzt sie Kitti, bis der Umbau ihrer eigenen Wohnung abgeschlossen ist, was jedoch noch eine ganze Zeit dauern wird. Gernot bestand darauf, dass sie nicht nur die Gasträume, sondern auch seine Eigentumswohnung über der Kneipe und die Kellerräume bekommen sollte. Martina und er hätten schließlich genügend Geld und keine Nachkommen. Ich hatte Kitti noch nie zuvor so gerührt und beschämt zugleich gesehen. In beiderseitigem Interesse ließen sie ihr Arrangement von einem Notar beglaubigen, obwohl Gernot sogar darauf verzichtet hätte. Kitti bestand jedoch darauf und ließ sich auch nicht umstimmen. Es macht mich ein bisschen stolz, dass er mich damals zu einem Gespräch nur unter sechs Augen einlud. Ich kann mich noch gut daran erinnern und fühlte mich anfangs absolut unwohl. Ich nahm an, er hätte sich mich ausgesucht, was ich in einer Vielzahl seiner Andeutungen hineininterpretierte. Tagelang grübelte ich, welche Gründe ich anführen könnte, abzulehnen, ohne ihn allzu sehr zu enttäuschen. Dabei hatte ich selbst den Vorschlag gemacht, Kitti eine Chance zu geben. Martina fand die Idee optimal. Sie kannte die Artistin aus dem Zirkus schließlich von Kindesbeinen an und verfolgte die persönliche Entwicklung mit Argusaugen. Kitti musste in der Vergangenheit viele Höhen und Tiefen meistern und hat letztendlich doch die Kurve gekriegt. Es wäre nur fair, ihr eine Chance zu geben, meinte sie. Ich habe den Verdacht, dass ihr Zuspruch nicht völlig uneigennützig erfolgte, denn ein Gernot im längst überfälligen Ruhestand würde auch ihr, mehr gemeinsame Freizeit ermöglichen. Ich konnte Martina nur beipflichten. Meine ehemalige Assistentin aus dem Zirkus, hatte in den vergangenen Monaten mehrmals bewiesen, dass sie nicht so rasch aufgibt, selbst wenn die Situation auf den ersten Blick aussichtslos erschien.

«Und du bis mir auch wirklich nicht böse, weil ich vorhatte Kitti und nicht dir ...?», fragte er mich und ließ den Satz unvollendet.

Ich umarmte ihn nur wortlos. Gernot wirkte mit einem Mal wie befreit. Ich konnte nur vermuten, dass es ihm ziemlich schwergefallen war, einen Weg zu finden, um mich nicht zu kränken. Bei der Verabschiedung an der Wohnungstür bestätigte er meine Befürchtungen. Schon seit Jahren bestand für ihn kein Zweifel, dass ich ihm irgendwann einmal nachfolgen würde. Ich, die ihm so sehr ans Herz gewachsen war, wie eine eigene Tochter, die er nie hatte.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich vor dem Aufzug in der Tiefgarage von Jörgs Wohnhaus stehe. Nur mit Mühe gelingt es mir, mich an die vergangenen Minuten zu erinnern, die mich völlig automatisch und unterbewusst hierher geführt haben. Nein, ich brauche mir keine Sorgen mehr machen und weiß inzwischen sehr gut, wo ich zu Hause bin und hingehöre.

01:38 Uhr zeigt mir das Smartphone. Wecke ich ihn, wenn er doch schon eingeschlafen ist? Mal sehen. Obwohl ich die letzten Minuten völlig andere Gedanken gewälzt habe, kehrt meine angestaute Lust umso heftiger zurück, als sich die Aufzugtür mit einem leisen ‹Ding› öffnet.

 

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Er schielt nervös auf die kleine Uhr am Bildschirm. Momentan sieht alles ruhig aus. In einer Viertelstunde würde sie eintreffen, schrieb sie in ihrer SMS und trieb ihm sofort den Schweiß auf die Stirn. Selten zuvor im Leben fühlte er sich so hin- und hergerissen wie in diesem Fall und gleichzeitig so ohnmächtig. Dabei musste er jahrelang genug Scheiße erdulden, bis es ihm endlich gelang, abzuhauen. Doch im Moment sieht er keine andere Lösung, als das schmutzige kleine Spiel mitzumachen.

Nur ein verdammter Buchstabe machte sie misstrauisch und genau jener lieferte ihn schließlich ans Messer. Immerhin hätte es ihn deutlich schlimmer treffen können. Eine Anzeige bei der Behörde und er säße im nächsten Bus zurück in die Heimat. Was ihn dort erwarten würde, will er sich erst gar nicht ausmalen. Sein Bachelor-Abschluss in Informatik hilft ihm dabei nicht die Bohne, ebenso, dass er fließend Deutsch und Englisch spricht, im Gegenteil. Er weiß doch, wie die Polizei und die Geheimdienste ticken. Von wegen Glasnost. Er bräuchte entweder immens viel Geld oder Beziehungen nach oben. Ihm fehlt es an beiden.

 

Was will sie gerade jetzt, ohne Vorwarnung? Er hätte sich entsprechend vorbereiten können. Aber warum fragt er sich das überhaupt? Bei ihm in Russland gibt es das Sprichwort: Prishla Beda – otvoryay vorota, was so viel wie ‹Ärger ist gekommen – öffne die Tür› bedeutet. Hier sagt man, ‹ein Unglück kommt selten allein›, hat er gelernt. Seitdem er heute aufgestanden ist, kam immer etwas Unvorhergesehenes dazwischen. Der Kaffee war aus. Er hatte übersehen, ihn auf den Einkaufszettel zu schreiben, und glatt vergessen. Dann, als er sich für die Nachtschicht anzog, riss ein Knopf am Hemd ab. Das andere lag ungebügelt im Wäschekorb. Bügeln ging schneller als nähen. Immerhin konnte er sich die Zeit fürs Kaffeekochen sparen. Dass ihm der Bus vor der Nase davon fuhr, war nur das Sahnehäubchen. Auf den Nächsten brauchte er nicht zu warten. Mitten in der Nacht drehte er nur alle 45 Minuten seine Runden. So joggte er den größten Teil des Weges und kam völlig ausgepowert und durchgeschwitzt hier an. Den Plan, das feuchte Unterhemd rasch auszuziehen und auf der Heizung zu trocknen, durchkreuzte sein kroatischer Kollege, der einen fehlerhaften Eintrag im Wachbuch über einen defekten Rauchmelder zum Staatsakt hochstilisierte.

Vor lauter Lamentieren fiel dem Kollegen nicht einmal auf, dass er der Hübschen aus der Buchhaltung ersparte, sich in die Anwesenheitsliste einzutragen. Warum der Aufwand für läppische zehn Minuten? Klar gibt es strenge Vorgaben, die er befolgt, wie alle anderen auch. Aber was, wenn man nicht einmal mehr jemanden aus der Verwaltung vertrauen darf? Allerdings muss er zugeben, wäre sie unsympathisch und hässlich, würde es ihm sicherlich schwerer fallen. Doch die Lohse ist eben eine Wucht. Es haute ihn fast vom Stuhl, als er zufällig erfuhr, wie alt sie bereits ist. Er hätte sie locker zehn Jahre jünger geschätzt.

 

Die Glastüren öffnen sich leise surrend. Er braucht den Kopf nicht erst zu heben, um zu wissen, wer sich um kurz nach drei Uhr morgens mit einer Schlüsselkarte Einlass verschafft, denn er hat sie längst auf den Monitoren der Außenkameras beobachtet.

Deutlich hört er das scharfe Klacken der spitzen Absätze ihrer Overknees auf dem Marmorfliesen, als sie sich ihm nähert und grußlos Richtung der Aufzüge entschwindet. Aus dem Augenwinkel sieht er die Hälften ihres langen Mantels aufklaffen, als sie den Arm nach vorne zum Knopf des Aufzugs streckt. Kurz erhascht er einen Blick auf das weit geöffnete Dekolleté, den Minirock und die dunkle Strumpfhose, die ihre schlanken Beine verhüllt.

Er wartet, bis sie den Aufzug betritt. Der Schlüsselbund gibt leise klirrende Laute von sich, während er ihn nervös um den Zeigefinger kreisen lässt. Seufzend starrt er auf die Uhr, bis exakt drei Minuten verstrichen sind. Er schnuppert und riecht die dezente Note ihres edlen Parfüms, als er sich langsam erhebt. Sie hat ihn bereits vor Monaten ausführlich instruiert, als sie ihn mit dem Fehler konfrontierte, dem bisher niemanden aufgefallen war. «Der Anfang vom Ende», brummt er kaum hörbar und läuft zum Aufzug. Ins Wachbuch hat er eingetragen, dass er sich auf die Inspektionsrunde begibt, die zweite von insgesamt vier je Schicht.

Die Tür zum Kopierraum ist nur angelehnt. Er klopft leise gegen den Rahmen, wartet jedoch nicht auf eine Antwort. Er braucht einen Moment, bis sich die Augen an das schummrige Zwielicht gewöhnt, denn außer einem beleuchteten Notausgangschild und Stand-by-Lämpchen der Kopierer, erhellt nur das spärliche Licht aus dem Gang den Raum.

Sie mag es gerne schummrig, verrucht und möglichst hart, hatte sie ihm beim ersten Mal ins Ohr geflüstert. Noch ehe er reagieren konnte, hatte sie bereits seine Hose geöffnet, mit geschickten Fingern genau das entpackt, was sie interessierte und ihm so einen heftigen Blowjob verpasst, dass er beinahe Sterne sah. Danach musste er sie ficken und ihr zwei Orgasmen bescheren, bevor sie sich endlich zufriedengab. Er war es nicht gewohnt, dass die Frau verlangte, dabei gewürgt und geschlagen zu werden. Aus Furcht etwas falsch zu machen, gab er ihren Forderungen nach. Dabei traf er sie aus Versehen so unglücklich an der Unterlippe, dass diese aufplatzte und feine Blutstropfen auf sein weißes Hemd spritzten. Sie hatte nur gelacht, ihm mit der Hand das Haar gekrault und lapidar bemerkt, dass sie es beim nächsten Mal nicht mehr straflos durchgehen lassen würde. Mittlerweile konnte er sie dazu bringen, dass sie sich mit etwas härteren Klapsen auf den Po zufriedengab. Er bringt es einfach nicht fertig, grundlos jemanden zu schlagen, erst recht nicht eine schwächere Frau und schon gar nicht ins Gesicht.

Er öffnet den Gürtel und streift die Hose ab. Die Unterhose überlässt er ihr, denn das gehört bereits zu ihrem Spiel. Binnen weniger Augenblicke hat sie ihn mit geschickten Fingern, flinker Zunge und heißem Mund so sehr erregt, dass er kurz davor steht, zu kommen.

Sie gibt ihn keuchend frei. In perfektem Russisch schleudert sie ihm entgegen: «Mne nuzhno eto brutal’nyy», bevor sie sich umdreht und ihm das nackte Gesäß entgegenstreckt.

Sie will es also brutal? Dann muss er sich zusammenreißen. Laut klatschend verabreicht er ihr eine Tracht Prügel, abwechselnd auf beide Pobacken und empfindet heute zum ersten Mal so etwas, wie Genugtuung. Die letzten Schläge setzt er so fest, dass ihm die Finger bitzeln und sie leise stöhnt. Ansatzlos versenkt er sich in der gierigen Grotte, die durch die handfeste Vorarbeit fast überläuft. Er rammt sich in sie, wie ein Berserker und gibt erst auf, als sie sich zitternd versteift und den Rücken krümmt. Den Orgasmus presst sie beinahe lautlos wimmernd in den Ärmel ihrer Bluse.

Ohne ihr eine Pause zu gönnen, dreht er sie um, hebt sie auf einen Beistelltisch für die Kopien und reißt ihre Füße nach oben. Erneut dringt er nahezu widerstandslos in sie ein. Sie umklammert die Beine, spreizt sie weit auseinander, sodass er noch tiefer in sie eindringen kann. Er pumpt langsamer, jedoch mit der vollen Länge und wartet auf ihr Kommando. Insgeheim hofft er, dass sie heute darauf verzichtet, doch schon hört er den kehligen Befehl.

Er würgt sie mit der rechten Hand, während er sich mit der linken an der Wand hinter ihr abstützt. Die röchelnden Laute machen ihn beinahe verrückt. Die Angst, zu fest zuzudrücken, steigt von Mal zu Mal, obwohl er doch eigentlich darin geübt sein sollte. Nur mit großer Überwindung gelingt es ihm, nur kurz nach ihrem zweiten Höhepunkt ebenfalls zu kommen und sich in ihr zu ergießen.

«Kein Kondom, die ganze Ladung, in die Fotze oder in den Arsch! Bis auf den letzten Tropfen. Kapiert?» Er dachte damals, sie würde sich über ihn lustig machen, als sie ihm mit jenen derben Ausdrücken bombardierte. Doch es war ihr voller Ernst.

Heftig atmend zieht er sich aus ihr zurück. Noch ehe er seine Hose hochgezogen und den Gürtel geschlossen hat, steht sie neben ihm, den langen Mantel bis oben zugeknöpft. Sie reicht ihm etwas, das aussieht, wie eine Zigarette. In Wirklichkeit ist es jedoch ein eng gerollter gelber Schein, den sie mit einem blauen Haargummi zusammengebunden hat. «Bol’shoye spasibo», haucht sie leise und geht als Erste auf den Gang hinaus. Eigentlich müsste er sich bei ihr bedanken und wartet auch diesmal, bis der Klang der Absätze nicht mehr zu hören ist.

Sie wird den Aufzug nehmen und er schleunigst die Runde beenden. Wenn er wieder zu seinem Platz im Foyer zurückkehrt, wird sie längst das Gebäude verlassen haben.

 

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Er kann sich kaum noch auf den Füßen halten und hat das Gefühl, dass ihm jeden Augenblick die Beine versagen. Zweimal ist er schon beim Überqueren der Straße am Bordstein hängen geblieben. Langsam wird er zu alt für den Mist. Vor zehn Jahren wäre er für eine gute Story sogar quer durch die Hölle gekrochen. Doch das war damals. Seine Hand zittert, als er sich an einem verrosteten Treppengeländer festhält. Er schaut nach oben und kneift die Augen zusammen. Obwohl die Sonne deutlich später, wie noch vor wenigen Wochen aufgeht, ist der rote Feuerball am Horizont viel zu hell für seine erschöpften Augen, die die ganze Nacht über Wache halten mussten. Ihn fröstelt. Kein Wunder. Wann hat er das letzte Mal überhaupt etwas gegessen, abgesehen von der Currywurst an der Bude unten am Fluss? Er schlägt den Kragen nach oben und drückt sich hinter einen Mauervorsprung, um dem schneidenden Wind zumindest für einen Moment zu entgehen.

 

Gedankenversunken schweift sein Blick in die Ferne, als er die vergangenen Stunden Revue passieren lässt. Im Nachhinein fragt er sich, wie er denn nur auf diese Schnapsidee kam, das Haus zu beobachten und zu warten. Warten auf was? Was hätte geschehen sollen? Dass sich zwielichtige Subjekte blicken lassen? Ominöse Hintermänner auftauchen, am besten mit einem LKW vorfahren und verdächtig erscheinende Kisten ausladen? Oder zumindest edle Lederköfferchen mit dubiosem Inhalt die Besitzer wechseln?

Stattdessen schlug er sich die Nacht um die Ohren, verfolgte planlos die Zielperson, die für 21:00 Uhr ein Taxi bestellt hatte und sich zu einem noblen Restaurant chauffieren ließ. Dort wurde sie bereits erwartet. Ein lauschiges Abendessen also, denn ein Geschäftsessen sah üblicherweise anders aus. Zwei Stunden später verließen die beiden das Lokal und nahmen abermals ein Taxi. Diesmal führte der Weg quer durch die halbe Stadt zu einer angesagten Szene-Bar in der Südstadt, die nicht nur wie das Restaurant zuvor, deutlich über dem Budget lag, das er sich hätte leisten können. Dementsprechend sah es auf dem Parkplatz der Gäste aus. Er registrierte Porsche, Maserati, BMW, Mercedes, Ferrari und sogar einen Lotus, die allesamt mehr Wert waren, als er in seinem Job bisher verdient hatte.

Bis kurz nach zwei Uhr spannten sie ihn auf die Folter, bevor sie sich vor der Bar mit flüchtigen Küsschen auf die Wange verabschiedeten und in gegensätzliche Richtungen loszogen. Er stand unschlüssig, hungrig, übermüdet und bis auf die Knochen durchgefroren vor der Wahl, wem er folgen sollte, entschloss sich jedoch nicht von seinem gefassten Plan abzurücken und seine auserkorene Zielperson weiterhin zu observieren. Er ahnte, in welche Richtung die Fahrt gehen würde, und behielt auch recht. Der Abstecher in die Firma verwunderte ihn kaum. Manche denken einfach, sie seien unentbehrlich, und das rund um die Uhr. Zu der Gruppe Menschen gehört eindeutig sie. Am Ziel bei ihr zu Hause machte dann der Wagen schlapp, sodass es ihm gerade noch gelang, in eine Parkbucht zu rollen. Aus der Ferne beobachtete er das Taxi, sah sie aussteigen und durch das Gartentor gehen. Der Bewegungsmelder reagierte nur wenige Sekunden später und tauchte die Eingangstür und Garage in gleißendes Licht. Für einen kurzen Moment glaubte er, im Rückspiegel Scheinwerfer zu sehen und erschrak. Doch als er sich umdrehte, war die Straße unbefahren. Hatte er sich getäuscht oder wurde er womöglich verfolgt? Er kannte das Gefühl nur zu gut und konnte sich bisher immer auf seinen Instinkt verlassen. Dieses unbestimmte Kribbeln, verbunden mit spontaner Gänsehaut. So als würde man die Gefahr eher ahnen und spüren, als tatsächlich sehen. Wenn er nachdachte, beschlich ihn diese Ahnung bereits vor über zwei Wochen zum ersten Mal. Doch niemals konnte er etwas Verdächtiges entdecken. Entweder jemand observierte ihn professionell oder seine Nerven spielten ihm einfach einen Streich. Würden sich die Beweise, auf die er noch immer warten musste, als echt erweisen, könnte er einigen Leuten gehörig auf die Füße treten. Und in der Regel kannte man in dieser Branche keine Nachsicht. Gefahrenquellen wurden beseitigt, basta. Geriet er bereits in deren Fokus? Gehörte er etwa zur potenziellen Gruppe der Gefährder?

Kopfschüttelnd verwarf er den Gedanken. Das hier war schließlich nicht das Chateau Rouge oder Tschertanowo. Er drehte sich wieder um und starrte auf die Tankanzeige. Wie konnte er nur übersehen, dass er auf Reserve fuhr? Aber was hätte es geändert? Er war blank bis auf wenige Euro. So klamm bei Kasse war er noch nie. Leon erneut anzupumpen scheidet aus. Es genügt schon, dass er ihm das mit dem liegen gebliebenen Auto beichten muss. Er will sich gar nicht ausmalen, wie sein Freund reagieren wird. Da lebt er bereits seit mehreren Monaten bei ihm auf Pump, denn wegen Mietschulden musste er erst vor einem halben Jahr seine eigene Wohnung aufgeben. Eigentlich entkam er nur dem Gerichtsvollzieher, nachdem er monatelang die Schreiben des Vermieters und Gerichts ignorierte. Privatinsolvenz kommt für ihn nicht infrage. Eher wandert er aus, wenn er auch nicht weiß, wohin. Oder macht dem allen ein Ende. Wenn er ehrlich zu sich selbst ist, und das war er in den vergangenen Jahren nur sehr selten, so hätte er es längst kommen sehen müssen.

Karola hat viel zu lange zugesehen, ihn unterstützt, ihn sogar mit sensiblen und vertraulichen Informationen versorgt und den Mund gehalten, anstatt ihm die Meinung zu geigen und mit einem Arschtritt in die Realität zu befördern. Doch das wäre nicht Karola, jedenfalls nicht die, in die er sich damals verliebt hatte und mit der er schon ein Jahr später zusammen wohnte. Alles Hadern nützt nichts. Er sollte dankbar sein, dass sie es überhaupt so lange mit ihm ausgehalten hatte, seine fadenscheinigen Ausreden jedes Mal schluckte, seine Launen ertrug, ihm Geld zuschob, obwohl sie selbst kaum etwas verdiente. Ihm wird noch jetzt übel, wenn er nur daran denkt, was sie dafür erdulden musste. Nur durch einen blöden Zufall erfuhr er es von einer von Karolas Arbeitskolleginnen, dass sie wohl wieder im Büro des Chefs aufgehalten wurde. Zunächst dachte er sich nichts dabei, doch der Blick der Kollegin, eine Mischung aus Mitleid und Neid brachte, ihn ins Grübeln. Obwohl er glaubte, hinter der Tür Stimmen zu hören, blieb sein Klopfen ungehört. Bis heute weiß er nicht, warum er es nicht einfach dabei bewenden ließ. Doch etwas in ihm hatte sein Misstrauen geweckt und verlangte nach Gewissheit. Behutsam öffnete er die Vorzimmertür. Der Raum war leer, die Zwischentür zum Büro des Chefs jedoch nur bis auf einen schmalen Spalt angelehnt. Was er sah, ließ ihn vom Glauben abfallen. Er hatte es ihr gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Seine Beobachtung an jenem Abend versetzte ihrer Beziehung einen tödlichen Dolchstoß, eine Wunde, die nie mehr verheilte. Zwei Tage lang lehnte er ihr Angebot ab, ihm ein paar Scheine zu leihen. Sofort schossen ihm die Bilder durch den Kopf, die er für den Rest seines Lebens nicht vergessen wird und es genau so lange bereuen wird, sie überhaupt gesehen zu haben. Karola am Boden kniend mit Armen auf den Rücken gefesselt. Graues Panzertape, bis zu den Ellbogen. Schwarze Kajal-Spuren bis zum Kinn. Sie jammert und würgt, weil er ihr seinen ....

 

Die lebhaften Bilder im Kopf überwältigen ihn. Er muss würgen, dreht sich stöhnend zur Seite und spürt den eisigen Wind an der Wange. Was hat sie nur getan? Für ihn? Minutenlang verharrt er schwer atmend, bis sich die Übelkeit endgültig verflüchtigt hat. Fauliger Geruch drängt sich in sein Bewusstsein. Die Biotonnen, die in wenigen Stunden geleert werden, verströmen alles andere als Wohlgerüche. Schwerfällig stößt er sich von der Wand ab und setzt seinen Nachhauseweg quer durch die Stadt fort. Es mag teils der Müdigkeit geschuldet sein, dass ihn die wildesten Gewissensbisse durchfluten. Viel zu spät. Für einiges gibt es keine zweite Chance. Der Zug ist dafür längst abgefahren.

Umso wichtiger ist es, dass er endlich die letzten Beweise bekommt, die er für die Geschichte unbedingt benötig sonst war alles umsonst. Über zwei Jahre nervenaufreibende Recherche und Observierung. Er kennt seinen Chefredakteur gut genug und in gewisser Weise kann er ihn sogar wegen des ablehnenden Verhaltens verstehen. Dass er ihm keinen Vorschuss mehr gewährt, hat er sich schließlich nur selbst zuzuschreiben. Für Kohle muss man Leistung bringen. Das ist nun zweimal in Folge gründlich schief gelaufen, sodass die Redaktion noch immer auf seine Rückzahlung wartet, denn geliefert hat er nur Kleinvieh, was nicht der Rede wert war und kaum zum Abstottern taugte. Seine Hand zittert so sehr, dass er Mühe hat, sich eine der letzten verbliebenen Zigaretten anzustecken. Er benötigt ein paar Versuche, das Feuerzeug zu einer kläglichen Flamme zu überreden. Kein Gas mehr. Es scheint wie verhext zu sein. Kein Benzin, kein Gas, kein Geld, keine Beziehung, kein echtes Zuhause, keine Beweise, keine Story. Geht es noch schlimmer? Womit hat er das verdient? So kurz vor dem Ziel darf er einfach nicht scheitern. Hastig zieht er am Filter, um das Glimmen des Tabaks anzufachen. Der erste tiefe Atemzug lässt ihn sofort husten. Wollte er nicht längst mit der scheiß Qualmerei aufhören? Keuchend beugt er sich nach vorne, spuckt den eklig schmeckenden Speichel aus. Kein Flachmann. Die letzte Flasche leerte er gegen Mitternacht, um nicht gänzlich zu erfrieren. Er hatte sie in einer Tankstelle mitgehen lassen. So weit ist es schon gekommen, dass er billigen Fusel in der Tanke klaut. Momentan ist sein Kopf, wie leer geblasen, keine neue Idee, keine weitere Option, die ihm als Alternative dient, kein Plan B. Und selbst Plan A weißt jede Menge Schwachpunkte auf. Ein heißeres Kichern entfährt ihm und vermischt sich mit bellendem Husten. Wutentbrannt wirft er die Zigarette auf den Boden und trampelt sie mit dem Fuß aus, bis ihm die Tränen in die Augen schießen. Er zittert inzwischen wie Espenlaub und will nur noch schleunigst weg von hier. Zurück in die Wohnung, und schlafen. Er muss wieder zu Kräften kommen, denn es bleibt ihm nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen und den morgigen Tag abzuwarten.

 

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Sie hätte sich beinahe von der Dunkelheit und der angenehmen Wärme der Standheizung einlullen lassen. Doch jetzt ist sie sofort hellwach, startet den Motor und wendet sich zu ihrem Beifahrer. «He Ludwig, aufwachen. Ich glaube, es tut sich etwas.»

«Ich schlafe nicht, liebste Bianca», antwortet er knurrend und setzt sich aufrecht hin. «Ich habe lediglich geruht und dabei für einen Moment die Augen geschlossen. Außerdem ist es stockdunkel. Da macht es sowieso keinen Unterschied ob auf oder zu.»

«Schon gut. Jetzt brauche ich dich aber mit offenen Augen», kichert sie, setzt den Blinker und rollt aus der Parklücke.

«Vermutlich wieder die gleiche Luftnummer, wie die letzten Male», brummt er. Leise stöhnend beugt er sich vor, öffnet das Handschuhfach und reicht ihr wortlos eine SIG Sauer P229 und zwei Ersatzmagazine. Sie lässt die Dienstpistole in einer fließenden Bewegung in das Holster unter der Windjacke gleiten und die Magazine den Außentaschen verschwinden. Nur ein Waffenexperte würde die Spezialmunition als beschichtete Hartkern-Uranmunition erkennen, die selbst stärkste Panzerungen und Schutzwesten durchschlagen kann und laut deutschem Waffengesetz verboten ist.

«Mag sein, allerdings weißt du genau ....»

«Ja, ja, Job ist Job», unterbricht er sie seufzend und winkt ab. Automatisch gleiten die Finger unter seine Jacke und ertasten den Griff der Heckler & Koch P8. «Und bevor du mich wieder fragen solltest, beide Sturmgewehr-Babys schlummern friedlich und geladen in ihren Koffern hinter uns.»

«Sehr gut», nickt sie verkniffen und reduziert die Geschwindigkeit, um mehr Abstand zu halten.

Er mustert sie aufmerksam von der Seite und bemerkt sofort die Anspannung. So gut kennt er sie mittlerweile, um ihre aktuelle Gemütsverfassung zu erkennen. «Du erwartest doch keine unliebsamen Überraschungen, oder?», fragt er und bemüht sich um einen beiläufigen Tonfall.

Ohne sich zu ihm zu drehen, schüttelt sie nur kurz den Kopf. «Nicht mehr, als die letzten Wochen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass es bis zum finalen Showdown nicht mehr lange dauern wird.»

Er nickt wortlos und knetet das Kinn. Nur einen Sekundenbruchteil später wird er in den Sitz gepresst. Er hört sie fluchen, als sie mit einem Kick-down Vollgas gibt und den 240 PS-starken 2-Liter-Motor des silbergrauen Ford Mondeos aufheulen lässt. Bisher mussten sie nur selten ans Limit gehen. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass erst bei 240 km/h Schicht im Schacht ist. Aus dem Augenwinkel sieht er die Ampel auf Rot umschalten, bevor sie die Kreuzung passieren.

«Scheiße, das war knapp», stöhnt sie und nimmt den Fuß wieder vom Gaspedal.

«Korrekt. Kannst du mich das nächste Mal wenigstens vorwarnen?», murrt er verärgert und massiert die schmerzenden Muskeln in Höhe der Lendenwirbel, die sich stechend beschweren, sodass er es bis in die Fußspitzen spüren kann.

«Na klar, gerne. Soll ich dir eine Postkarte schicken, mit Blümchen vielleicht?», entgegnet sie sarkastisch. Deutlich versöhnlicher fügt sie hinzu: «Wieder die Bandscheiben?»

Er kann nur stöhnend nicken, holt einen Blister aus der Jackentasche und entnimmt eine Tablette.

«Hier habe ich noch Wasser. Ungeöffnet, wenn es dich beruhigt.» Diesmal hört er sogar die Sorge in ihrer Stimme.

Er nickt dankbar und öffnet sie bedächtig. Zischend entweicht die Kohlensäure, sodass er einige Anläufe benötigt, bis er die Flasche öffnen kann, ohne gebadet zu werden. Gierig trinkt er mehrere Schlucke, weil die Tablette bereits beginnt, sich aufzulösen und einen eklig bitteren Geschmack auf der Zunge hinterlässt.

Sie versucht, so viel wie möglich Abstand zu halten, um nicht entdeckt zu werden. Das Auto vor ihnen verringert die Geschwindigkeit und biegt, ohne zu blinken, rechts in eine Straße ab, die einen Hügel hinauf führt. Auf einem Straßenschild liest er Meisenweg.

«Das ist der Vogelberg, so nennen ihn die Einheimischen», lacht sie trocken. «Hier wohnen nur lauter feine und reiche Pinkel in ihren Luxusvillen mit Swimmingpools und was weiß ich noch.»

Er nickt wortlos. Sie biegt ebenfalls rechts in die Schwalbenstraße ein. Ein Taxi kommt ihnen mit leuchtendem Schild auf dem Dach entgegen. Ihre Zielperson hat inzwischen einen gehörigen Vorsprung herausgefahren, sodass sie das Tempolimit 30 km/h ignoriert, um wieder etwas aufzuholen. Das Auto vor ihnen fährt bis zur letzten Abzweigung und biegt abermals ab, diesmal links. Die Schwalbenstraße endet nach 100 Metern in einem Wendehammer. Sie folgt dem Wagen und bemerkt gerade noch das Sackgassenschild, als die Bremslichter des Vordermanns schon rot aufleuchten. Undeutlich fluchend schaltet sie die Scheinwerfer aus und schafft es im letzten Moment, mit viel zu viel Schwung, in einer Parklücke hineinzufahren. Der rechte Vorderreifen touchiert den Randstein und beschwert sich lautstark, ebenso wie ihr Beifahrer, der hart im Gurt landet, als sie eine Vollbremsung einlegt. Das ABS rattert, bevor der Wagen mit nur wenigen Zentimetern Abstand zu einem Altglas-Container zum Stehen kommt.

«Puh, das war Maßarbeit», grinst sie und runzelt amüsiert die Stirn, als sie den empörten Blick ihres Beifahrers bemerkt. Reflexartig zuckt sie die Schultern. «Eine Sackgasse, sorry. Oder wärst du vorbeigefahren, Ludwig?», stellt sie ihm eine rhetorische Frage. Er weiß schließlich genauso gut, wie sie, was das Standardverfahren vorsieht. Normalerweise ist es unauffälliger, wenn der Verfolger vorbei fährt. Aber hier in dem kaum befahrenen Wohngebiet hätten sie wenigstens zu einem Anwesen gehören müssen, um nicht aufzufallen.

«Schon gut. Da ich gerade den Hausschlüssel zu meiner Villa in der Firma hab liegen lassen ...», grummelt er und beendet den Satz nicht.

Er kam also zu dem gleichen Schluss, was sie angesichts ihrer rüden Fahrweise ein bisschen beruhigt. Sie drückt den Start-/Stop-Knopf und lässt den Motor verstummen.

«Schöne Aussicht hier oben», flötet er vergnügt, obwohl sein Gesichtsausdruck etwas ganz anderes sagt. Die Container und hohe Hecken neben dem Gehsteig versperren ihm vollkommen die Sicht. Während sie, bedingt durch den leicht nach links abbiegenden Straßenverlauf, alles im Blick hat.

«Stimmt, finde ich auch», antwortet sie nüchtern und greift nach dem Feldstecher, der stets griffbereit in der Türablage liegt. Die Zielperson hat mittlerweile ebenfalls hinter einer Verkehrsinsel auf der linken Seite eingeparkt. «Schade, dass wir nicht wissen, wer hier wohnt», murmelt sie leise und grinst innerlich, als sie Ludwigs Seufzen vernimmt.

«Du brichst dir keinen Zacken aus der Krone, wenn du mich einfach fragen würdest, liebe Bianca», flötet er. Sein Tonfall trieft voller Sarkasmus.

Sie zuckt lediglich stumm die Schultern und dreht sachte am Fokussierrad. Nur wenige Minuten später liest er ihr eine Liste sämtlicher Eigentümer sortiert nach Hausnummern vor. In der Hinsicht beneidet sie ihm um seine Beziehungen, die nahezu alles ermöglichen, legal, illegal, scheißegal.

Sie stößt einen leisen Pfiff aus, als ihr einer der Namen bekannt vorkommt. «Ich glaube, ich weiß, was unser Mann hier sucht», bemerkt sie und nickt bekräftigend.

«Vorhin das Taxi, das uns entgegenfuhr? Du denkst doch nicht, er beobachtet ...?»

«Wen sonst? Allmählich macht die ganze Sache Sinn», unterbricht sie ihn grinsend. Sie hält ihm den Feldstecher entgegen. «Wir können gerne Platz tauschen. Dann würde ich mich eine Runde aufs Ohr legen.»

Er nimmt ihn ihr aus der Hand, versäumt es jedoch nicht, die Liste auf dem Display des Smartphones bis zu Ende zu scrollen. Sicher ist sicher. Doch er muss Bianca zustimmen. Ihre Annahme klingt am plausibelsten.

«Das bedeutet aber auch, dass wir uns ab sofort um Hilfe bemühen müssen», entgegnet er nachdenklich und mustert sie mit ernstem Blick.

Sie dreht sich zu ihm. «Ich denke, es wäre in jedem Fall besser, wenn wir noch einen gewissen Puffer hätten. Wir sind nur zu zweit und ich befürchte, wir haben in Kürze ein Auge auf drei zu werfen.»

Er nickt nachdenklich und runzelt die Stirn. «Das heißt aber definitiv jemand Externen, denn ....»

«Ja, ja, schon klar», unterbricht sie ihn und winkt ab. «Ich dachte zuerst, du hättest etwas an meiner Fahrweise auszusetzen.»

«Liebe Bianca, so etwas würde ich mir nie anmaßen. Jedoch befürchte ich, dass ....»

Sie unterbricht ihn erneut und hebt die Hände. «Ich hab es schon kapiert. Bin ja nicht doof. Ich habe ebenso wie du das Gefühl, dass er uns auf die Schliche gekommen ist. Vielleicht schon gestern.»

Er hebt die Augenbrauen und beäugt sie amüsiert. «Ich mache dir keinerlei Vorwürfe», beginnt er versöhnlich. «Soll ich versuchen, jemanden zu finden?»

«Nein Ludwig. Ich mach das. Denn ich habe es vermutlich auch verbockt. Gestern kam mir bereits eine Idee. Aber wir müssten an unser Spesenkonto gehen.»

«Na Geld sollte nicht das Problem sein», bemerkt er.

«Gut, dann lass mich mal machen. Aber jetzt brauche ich erst ein paar Stunden Schönheitsschlaf.»

«Ich lasse mich überraschen», grinst er und klopft ihr auf die Schulter. «Komm, wir tauschen die Plätze.»

Sie nickt verkniffen und streckt den Arm zum Schalter für die Innenbeleuchtung, um sie auszuschalten. Erneut erntet sie ein amüsiertes Grinsen, bevor sie die Fahrertür öffnet und sie die Plätze tauschen. «Was ist?», fragt sie lauernd.

«Ich lobe mir deine Umsicht, liebe Bianca, nichts weiter.»

 

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Der rote Feuerball ist erst vor einer halben Stunde am Horizont erschienen und taucht die Landschaft in ein warmes gelborange. Leise rockige Klänge einer bekannten US-amerikanischen Band dringen an sein Ohr. Sie erinnern ihn an seine Jugend, als er damals gegen die Familie rebellierte und sich einige Jahre lang in den berüchtigtsten Spielhallen und übelsten Spelunken aufhielt, obwohl er anfangs noch nicht einmal volljährig war. Creedence Clearwater Revival existierten weniger als fünf Jahre und hatten sich erst zwei Jahre zuvor getrennt. Trotzdem war ihre Musik angesagt und fasziniert ihn bis heute. Mit den Händen in den Hosentaschen steht er am Fenster seines Eckbüros im obersten Stockwerk und wiegt den Kopf zu ‹The working Man›. Auch er wurde an einem Sonntag geboren, wie der Text des Liedes erzählt. Wer weiß, ob er hier stehen würde, hätte er nicht damals Beziehungen knüpfen können, die sich später nicht nur einmal als sehr hilfreich erwiesen. Man würde sie als zwielichtige Gestalten bezeichnen, manche sogar als Kriminelle und Abschaum. Doch erstaunlicherweise lernte er rasch, dass selbst in diesen Kreisen eine gewisse Ethik herrschte, wenn auch gänzlich verschieden zu den üblichen Werten der Gesellschaft. Manchmal ist es nützlich, jemanden zu kennen, der sich die Hände für einen schmutzig macht, ohne lange Fragen zu stellen, solange nur der Preis stimmt.

Der Blick seiner eisblauen Augen ist in die Ferne gerichtet. Ihm war es schon immer wichtig, den Überblick zu behalten. Es gehört zu einer seiner Maxime, seitdem er damals die marode Firma SPEXTRA, spezialisiert auf Sondermaschinen zur Kunststoffverarbeitung, wie Extruder und Spritzgussstationen, vom Vater übernommen hatte. Notgedrungen, denn sonst wäre er enterbt und das Vermögen unter seinen beiden jüngeren Schwestern aufgeteilt worden. Sie verstanden es zeit ihres Lebens Vater um den kleinen Finger zu wickeln und ihn allzu oft blöd oder schuldig aussehen zu lassen. Kaum verwunderlich, dass er seit der Übernahme der Firma offiziell keinerlei Kontakte mehr mit ihnen pflegt. Nicht einmal zum Geburtstag ihrer Mutter im vergangenen Monat trafen sie aufeinander. Das soll jedoch nicht heißen, dass er seine Geschwister nicht überwachen lässt, um gewappnet zu sein. Der Rechtsstreit zur Übernahme der Firma ist bis zum heutigen Tag noch nicht abgeschlossen. Seine Schwestern klagen, weil sie sich benachteiligt fühlen. SPEXTRA sei viel mehr wert, als das alte Herrenhaus mit dem zwei Hektar großen Grundstück, der Villa in Mt. Moritz mit privatem Zugang zum See und den beiden Ferienwohnungen an der Algarve im kleinen Ort Albufeira direkt am Golfplatz. Heute mag das sogar stimmen, doch damals als er die Bücher das erste Mal zu Gesicht bekam, überlegte er einen ganzen Monat, ob er der gigantischen Schuldenlast überhaupt gewachsen sei. Ein Studienkollege, Genie in Dingen Finanzen, stellte gemeinsam mit ihm einen langfristigen Businessplan auf, der nicht nur die Firma vor dem Ruin rettete, sondern mit einem nachhaltigen Konzept noch heute nachwirkt und die Last inzwischen auf mehrere Standbeine verteilt.

Seufzend schweift sein Blick über die Hausdächer hinunter bis zum Fluss, den er gerade noch erahnen kann. Zu Anfang haderte er damit, dass sein Vater die Firma nicht unten in der Industriezone gegründet hatte, wo die Grundstückspreise günstiger und sämtliche Infrastrukturen bereits vorhanden waren. Seitdem jedoch die Autobahn erweitert und ein Autohof ganz in der Nähe gebaut wurde, erweist sich seine Lage als optimal. Anstatt den Lieferverkehr mitten durch die Stadt schleusen zu müssen, bis hinunter zum Fluss, liegt SPEXTRA nur wenige hundert Meter von der nächsten Autobahnauffahrt entfernt. So, als hätte es sein Vater damals in weiser Voraussicht geahnt. Er muss schmunzeln, denn Weitsicht war eine Eigenschaft, die er seinem alten Herren gänzlich absprechen kann. Was allerdings die Beziehungen zur örtlichen Politik bis ganz nach oben betraf, war er bestens aufgestellt. Er kann sich noch an unzählige Einladungen erinnern, meist unter einem wohltätigen Anlass getarnt, wie es so schön hieß. Zu jenen Feierlichkeiten tummelten sich illustre Herrschaften und deren Damen, angefangen von Bürgermeistern, den Landräten bis hinauf zu einem Staatssekretär. Was dabei besprochen wurde, entzieht sich seiner Kenntnis. Doch er bezweifelt, dass sie sich nur über ideale Golfressorts, gewinnbringende Gemälde, edle Weine, teure Autos und schöne Frauen unterhielten. Ob sein Vater schon damals Kenntnis erlangte, was im Planfeststellungsverfahren der Region für die nächsten Jahrzehnte vorgesehen war? Zuzutrauen wäre es ihm. Auch wenn er als Geschäftsmann wenig Erfolge vorzuweisen hatte, so verstand er sich zumindest als genialer und einflussreicher Lobbyist.

In dieser Hinsicht trat er nicht in Vaters Fußstapfen. Genauso wenig wie in finanziellen Angelegenheiten, denn schon vor Jahren hat sein Privatvermögen die Millionengrenze überschritten. Hartmut Wetzel, Chef von SPEXTRA, ein Multimillionär. Ein beruhigendes Gefühl, obwohl man stets gewappnet sein muss, auf konjunkturelle Veränderungen rasch und flexibel zu reagieren. Dazu war es notwendig, sich die richtige Mannschaft an Bord zu holen. Und das hat er von Beginn an getan. Ein schmerzhafter Prozess, besonders nach der Übernahme, bei dem persönliche Schicksale keine wesentliche Rolle spielen dürfen. Er ist schließlich weder Sozialstation für Drückeberger noch für gescheiterte Existenzen. Ein Umstand, den er dem Betriebsrat bis zum heutigen Tag mit schlagkräftigen Argumenten und hohen Abfindungen verkaufen muss. Doch letztendlich bestätigt der Erfolg sein striktes und konsequentes Handeln. Nur ein einziges Mal kam es zu einem Gerichtsprozess, der jedoch nach zwei Verhandlungstagen in einem Vergleich endete. Alle anderen Entlassungen wurden stets mit einem Auflösungsvertrag und Abfindungssummen vollzogen, die deutlich über dem regionalen Durchschnitt lagen. Nur von den wenigsten trennte er sich tatsächlich im Streit.

 

Er sieht das Auto seiner Prokuristin Lucinda Rawell auf den Parkplatz rollen. Ein betagtes weißes BMW-Cabrio, von dem sie sich offenbar nicht trennen kann, obwohl sie sich längst einen modernen Porsche hätte leisten können. Anfangs war er skeptisch, ob sie die nötige Durchsetzungskraft besitzen würde, denn ihre Vita umfasste nur wenige, in seinen Augen unbedeutende Referenzen. Es mag wohl eher an der Art und Weise gelegen haben, wie das damalige Vorstellungsgespräch verlief. Obwohl er nicht abstreiten will, dass ihn auch ihre körperlichen Attribute überzeugten. Manche mögen ihn für einen waschechten Chauvinisten oder Frauenfeind halten. Das Gegenteil ist der Fall. Er gehört zu den Letzten, der einer Frau keine Chance geben würde, sich beruflich zu beweisen. Er hat allerdings auch gelernt, dass Menschen viel lieber mit attraktiven Ihresgleichen, egal ob Mann oder Frau, interagieren. Und genau diesen Umstand macht er sich bis zum heutigen Tage zunutze. Laut ausgesprochen hat er es jedoch noch nie. Sollen sie ihn doch für einen Macho halten und unterschätzen. Hauptsache, die Auftragslage bleibt weiterhin auf hohem Niveau.

Er weiß von den Fotoaufnahmen für eine neue Promo-Aktion. Ob sie sich deshalb besonders in Schale geworfen hat? Die Hand in seiner Hosentasche begibt sich auf Wanderschaft. Die einzige Anzüglichkeit und Freiheit, die er sich herausnimmt. Was seine Mitarbeiter in ihrer Freizeit tun und lassen ist ihm egal, doch sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz sind ihm ein Gräuel und werden strikt unterbunden.

Sehnsüchtig wirft er einen letzten Blick auf die stets kühl und dominant wirkende Prokuristin, die mit hohen Absätzen ihrer schwarzen Stiefel, ihrer 1,64 m Körpergröße heute gute zehn Extra-Zentimeter spendiert. Bei ihr hat er es sich ernsthaft einige Male überlegt, gegen seine eigenen Spielregeln zu verstoßen. Doch ist es das wert, damit womöglich alles aufs Spiel zu setzen, was er sich bisher hart erarbeitet hat?

Theoretisch ist er ungebunden, nachdem seine Frau vor drei Jahren an Krebs verstarb. Ein Verlust, den er bis heute nicht richtig verarbeitet hat, trotz massiver und kostspieliger Therapien. Sie bedeutete für ihn einen wichtigen Rückhalt. Eine neutrale Ratgeberin, die sich niemals aktiv in die Geschäfte einmischte.

Seufzend wendet er sich ab und zieht rasch die Hand aus der Hosentasche. Auf seinem Schreibtisch warten einige unerfreuliche Angelegenheiten, die es zu regeln gilt. Er greift nach dem Smartphone und sucht eine Nummer, während er einen Schnellhefter aufschlägt. Der Gesprächspartner nimmt bereits nach dem zweiten Klingelton ab.

«Guten Morgen, Wetzel hier.» Er lauscht und blättert bis zur letzten Seite mit großformatigen Fotoaufnahmen, die teils gestochen scharf Szenen zeigen, trotz des mangelnden Lichts. Es zahlt sich eben aus, Profis zu engagieren. «Ja, ich habe, ihren Bericht vorliegen. Und es besteht kein Zweifel? Vergessen Sie die Frage. Die Bilder sprechen für sich. Was schlagen Sie vor?» Stirnrunzelnd hört er zu und nickt mehrere Male zustimmend, obwohl ihm der Gegenüber nicht sehen kann. «Das sehe ich genauso. Es bedeutet jedoch auch, dass unser Handlungsspielraum nun erschöpft ist und wir ...»

Unwillig verzieht er das Gesicht. Er schätzt es nicht sehr, wenn er unterbrochen wird, obwohl er die vorgetragenen Einwände nachvollziehen kann. Was er jedoch ebenfalls über all die Jahre schmerzlich gelernt hat, ist die Tatsache, dass perfektes Timing und rasches Handeln in manchen Situationen erfolgversprechender sind, als Zögern und zu langes Taktieren und Abwarten.

«Ich gebe Ihnen recht», antwortet er versöhnlicher, «doch es ändert nichts an den Fakten. Und die sind für mich eindeutig. Fahren Sie fort, wie besprochen. Das Geld erhalten Sie heute Abend am vereinbarten Ort. Ja, selbstverständlich, so wie Sie es angegeben haben. Ich erwarte dafür einen reibungslosen Ablauf. Fehler können wir uns nicht leisten.» Grußlos trennt er das Gespräch und schiebt den Schnellhefter nach einem letzten Blick auf eines der Fotos beiseite. Schade, wie man sich nur in einem Menschen täuschen kann? Und das ihm, der ansonsten stets das glückliche Händchen besaß? Liegt es womöglich daran, dass er hier mehr dem Bauchgefühl und weniger dem Verstand vertraute?

Er greift zum nächsten Schnellhefter. Ebenfalls eine eindeutige Situation. Nicht einmal die Security weiß über seine versteckten Kameras Bescheid, die Daten ausschließlich auf einen separaten Server übertragen. Nur er und der Mitarbeiter einer externen Firma haben einen Zugang. Die Installation erfolgte am Wochenende des Betriebsausflugs vor fünf Jahren. Nur ein Angestellter einer Wach- und Schließgesellschaft schob Dienst und ließ die Handwerker auf das Gelände. Sie gaben vor, die elektrischen Systeme instandzusetzen. Mit offiziellem Auftrag aus der Chefetage ein durchaus sinnvolles Unterfangen, dringende Reparaturen an der Elektrik am Wochenende durchzuführen, wenn sich niemand in der Firma aufhält und die Produktion stillsteht.

Mehrere Bilder zeigen eine Angestellte der Buchhaltung, die sich eindeutig Akten beschaffte, die definitiv nicht zu ihrem Aufgabengebiet gehörten und sie deshalb nichts angingen. Er hat zu Hause das gesamte Video gesichtet. Die wenigen Standbilder wären jedoch schon ausreichend genug, das unautorisierte Handeln aufzudecken. Ihm sind allerdings die Hände gebunden. Eine vermeintlich unerlaubte Akteneinsicht ist eine Sache, doch illegale Überwachung der Beschäftigten ist strikt verboten. Es würde dem Betriebsrat nur gefundenes Fressen liefern, ihm Zugeständnisse abzuringen. Dass es zu einem Skandal käme, bezweifelt er. Es läge in niemands Interesse, SPEXTRA einen Imageschaden zuzufügen und dadurch unnötig Arbeitsplätze zu gefährden.

Ihm ist klar, dass er diese Angelegenheit außerhalb der Firma regeln muss. Deshalb hat bereits die nötigen Schritte eingeleitet, die er für unerlässlich hält. Die Akten sind absichtlich nicht unter Verschluss, um eben genau dies nicht zu provozieren, unerwünschte Aufmerksamkeit. Aus ihm nicht bekannten Gründen ist es nun jedoch geschehen. Jemand interessiert sich dafür und könnte unwiderruflichen Schaden verursachen, wenn die Daten in Hände gerieten, die daraus gewisse Schlüsse ziehen könnten.

Er greift erneut zum Smartphone und startet eine ganz bestimmte App, bevor er eine Nummer wählt. Wie bereits befürchtet, klingelt es endlos. Er steht kurz davor, die Verbindung zu trennen, als doch jemand das Gespräch annimmt.

«Ich bin es, der Isländer. Wie weit seid ihr?»

Er lauscht aufmerksam der tiefen, mürrischen Stimme, die ihrem Unmut über die frühe Stunde nur allzu deutlich kundtut. Geduldig erträgt er die bildgewaltige Sprache seines Gesprächsteilnehmers und verdreht die Augen. Den Spitznamen Isländer bekam er von einem schwedischen Rocker wegen der eisblauen Augenfarbe, den blonden Haaren und des Vornamens, den es auch in Island gibt. Nach kurzer Zeit nannte ihn beinahe jeder so.

«Bist du nun wach?», entgegnet er überraschend sanft. «Ja, es ist noch früh am Morgen. Ich brauche jedoch bald Resultate, bevor es zu spät ist.»

Die Adern treten an den Schläfen hervor, als er die Zähne zusammenbeißt und wortlos zuhört. Nur einmal unterbricht er den Redefluss mit der Frage: «Und du bist dir ganz sicher?» Seine Miene verdüstert sich, je länger die Stimme am anderen Ende redet. Nachdem sie geendet hat, herrscht sekundenlang Stille. Er muss sich gedanklich sortieren, bevor er antwortet.

«Danke, gute Arbeit. Auch wenn ich darauf gehofft habe, dass es .... Egal. Du weißt, was zu tun ist. Fehler können wir uns nicht leisten.» Schon zum zweiten Mal verwendet er diese Floskel, und weiß nur zu gut, welche finalen Konsequenzen sie nach sich zieht.

Auch hier trennt er das Gespräch grußlos. Mit steinernem Ausdruck entnimmt er dem Schnellhefter die Papiere und füttert den Aktenvernichter neben dem Schreibtisch. Er hat dafür gesorgt, dass die Dinge ihren Lauf nehmen. Mehr kann er nicht tun. Für ihn ist die Angelegenheit erledigt.

Ab sofort wird er sich für heute nur noch um angenehme Dinge kümmern. Beginnen wird er mit einem Gespräch mit Frau Rawell. Sie hat ihn gebeten, die Werbeaufnahmen zu koordinieren und zumindest eine grobe Vorauswahl zu treffen, weil sie befürchtet, sein Marketingleiter würde übers Ziel hinaus schießen. Schmunzelnd verlässt er das Büro, weiß er doch recht genau, in welcher Art und Weise dieser gerne Grenzen überschreitet. Was im Kopierraum im Keller nach dem Ende der Arbeitszeit geschieht, sieht nur seine Überwachungstechnik und er. Ihm ist es jedoch egal, solange das Equipment dabei keinen Schaden nimmt. Gewisse Freiheiten zahlen sich früher oder später stets aus, sei es auch nur, um einen Gefallen einzufordern.

 

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Ein ziehender Schmerz im Bauch lässt mich leise aufstöhnen. Reflexartig krümme ich mich zusammen und ziehe die Knie an die Brust. Nur mühevoll öffne ich die Augen. Es ist noch stockdunkel draußen. Kein Wunder, der Wecker zeigt mir 05:56 Uhr. So ein Mist. Da könnte ich einmal ein bisschen länger schlafen, und dann so etwas. Sind die vier Wochen schon wieder rum? Gefühlt hatte ich meine Periode letzte Woche, allerhöchstens vorletzte. Aber was ärgere ich mich? Vor zwei Tagen nahm ich die letzte Pille. Ich habe es nur total vergessen. Stöhnend krieche ich zum Bettrand. Wenn ich keine Blutlache hinterlassen will, muss ich schleunigst ins Bad. Solche Krämpfe bleiben meistens nicht ohne Folgen. Das Letzte, was ich möchte, ist, das Bett neu beziehen. Sehnsüchtig werfe ich einen Blick auf Jörgs Umriss, den ich mehr erahne, als sehen kann. Ich höre seinen Atem. Ja, danach wäre es mir gewesen, nachdem er gestern so fertig aussah und ich es einfach nicht übers Herz brachte, ihn mit meiner überreizten Libido zu bedrängen. Deshalb habe ich mir fest vorgenommen, ihn heute Morgen etwas Besonderes zu bieten, nachdem ich ihn bei seinem morgendlichen Versuch tags zuvor so sträflich übergangen hatte. Frustriert stoße ich die Luft aus und angle mit der Zehe nach den Sandalen. Das wäre eine tolle Überraschung geworden, eine Blutorgie, im wahrsten Sinne des Wortes, mit mir in der Hauptrolle. Ich will mir gar nicht ausmalen, was es für eine Sauerei hätte geben können. Nicht dass es das erste Mal gewesen wäre, dass mich diese Plage unvorbereitet trifft, wie irgendwann wohl jede von uns Frauen. Ich kann mich besonders an eine Peinlichkeit erinnern, die allerdings mich viel mehr störte, als ihn. Er lächelte nur, zuckte die Schultern und meinte, dass wir wenigstens Gleitmittel gespart hätten. Im Nachhinein wundere ich mich nicht nur, sondern bin ihm sehr dankbar. Ich weiß nicht, wie andere Leidtragende in solchen Situationen reagieren. Meine Freundin Bettina war stets aus dem Häuschen, daran kann ich mich noch bestens erinnern. Serena hingegen kann kaum etwas so leicht aus der Ruhe bringen. Außerdem nimmt sie wie ich die Pille zeitgleich, sodass wir auch gemeinsam leiden. Wirklich darüber gesprochen haben wir jedoch nicht. Selbst von meiner Schwester Rebecca weiß ich in dieser Hinsicht überhaupt nichts.

Seufzend schweift mein Blick über die Silhouette unter dem Laken. Erneut jagt ein Krampfanfall durch den Bauch. Rasch halte ich mir eine Hand zwischen die Beine und laufe mit zusammengekniffenen Schenkeln zur Tür. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es auf die Toilette, bevor sich ein dunkelroter Schwall in die Schüssel ergießt. Die wenigen Tropfen auf der Hand wische ich mit Toilettenpapier ab. Mir kommen die Worte der Frauenärztin ins Gedächtnis, die doch meinte, dass die Blutungen bei der Einnahme eines Kontrazeptivs normalerweise schwächer ausfallen. Wieder einmal typisch. In dieser Hinsicht bin ich also nicht normal. Genervt greife ich nach mehr Papier und wische mich ab. Schon der Geruch auf nüchternem Magen verursacht Ekel in mir. Angewidert werfe ich einen Blick auf den Schüsselinhalt. Alles rot. Ich drücke den Knopf und spüle damit nicht nur die Blutreste, sondern auch gleich den kümmerlichen Rest meiner Lust auf Sex dem Abfluss hinunter. Was ich jetzt dringend brauche, sind erst einmal ein XXL-Tampon und eine heiße Dusche, sonst kann ich das mit der guten Laune für heute sofort abhaken.

Während ich mich mit geschlossenen Augen langsam vor dem Massagestrahl, drehe, den ich auf die härteste Stufe gestellt habe, spüre ich, wie sich zumindest mein Körper allmählich wieder entspannt. Ich brauche eine ganze Weile, bis sich das Gefühl auch im Kopf einstellt. Automatisch ertasten die Fingerspitzen die Narbe unter der Brust. Ein Relikt, dass mich stets daran erinnert, wie gefährlich mein Beruf sein kann. Ich seufze verkniffen, verdränge die grässlichen Bilder von damals aus dem Kopf und schicke die Finger weiter auf Wanderschaft. Jörgs Hände wären mir jetzt lieber, doch ein erster Anfang ist getan. Die Lust kehrt zurück, wenn auch zögerlich. Ich muss einfach ignorieren, was gerade in mir steckt. Darf nicht so egoistisch sein. Schließlich gibt es Alternativen. In Windeseile springe ich aus der Dusche, putze die Zähne, föhne die Haare und lege sogar ein bisschen Schminke auf. Das nervig blaue Schnürchen verstecke ich unter einen schwarzen Slip mit Spitze. Er wird es sowieso noch früh genug bemerken.

Ich schleiche aus dem Badezimmer und öffne behutsam die Tür zum Schlafzimmer, die ich nur angelehnt habe. Jörg hat sich auf die Seite gedreht und schaut nun in meine leere Betthälfte. Die Zudecke ist verrutscht. Ich sehe seinen nackten Po und einen Teil des Rückens. Er scheint weiterhin fest zu schlafen. 07:06 Uhr zeigt der Wecker. Ich habe ihn heute auf 08:15 Uhr gestellt, könnte also noch eine gute Stunde dösen. Für einen Augenblick überlege ich, ob ich das auch tun soll. Am Ende schlafe ich jedoch wieder tief ein und versäume, wenn er aufsteht, was eigentlich regelmäßig passiert. Ich fragte mich schon so oft, wie es ihm ständig gelingt, wenige Minuten vor dem Weckalarm aufzuwachen. Während ich Mühe habe, selbst bei laut gestellter Musik überhaupt ein Auge aufzubekommen. Egal wie, er kann es, ich hingegen nicht. Seufzend löse ich mich aus der Starre, husche auf meine Bettseite und krieche unter die Zudecke. Jörg bewegt sich und schmatzt. Mist. Jetzt habe ich ihn doch geweckt. Das fahle Grau der Dämmerung, das durch die Spalten in der Jalousie dringt, lässt mich zumindest die Konturen erahnen. Ich spüre seine Hand auf der Zudecke, die tastend nach mir sucht. Sein genuscheltes «Elli? Du bist schon wach?», reime ich mir zusammen, denn verstanden habe ich es nicht.

«Ja, mein Schatz», hauche ich und schicke auch eine Hand auf Wanderschaft. Rasch finde ich das Ziel meiner Sehnsucht. Was ich vorfinde, gefällt mir außerordentlich und entlockt mir ein verzücktes Seufzen. Es überrascht mich jedoch nicht wirklich. Im Gegenteil hätte ich mir Sorgen gemacht, wäre es anders gewesen. Für einen Moment zögere ich und spiele mit dem Gedanken, ihm meine Kehrseite anzubieten. Der braune Salon ist schließlich geöffnet. Doch plötzlich quält mich erneut ein Krampf und tötet meine Lust, als hätte jemand den Notausschalter gedrückt. Na toll. Ganz großes Kino. Ich massiere seinen steifen Penis, mache ihn heiß, und dann so etwas. Ärgern bringt mich allerdings auch nicht weiter. Und enttäuschen will ich ihn ebenso wenig. Nach ein paar tiefen Atemzügen beruhigt sich der Schmerz, sodass ich Plan B aus der Schublade hole. Wie romantisch, jetzt nutze ich beim Sex schon Pläne. Nur gut, dass er mich nicht sehen kann, wie ich die Augen verdrehe und mich unter seine Decke schiebe. Zum Glück habe ich auf Lippenstift verzichtet, schießt es mir durch den Kopf, bevor ich die Lippen öffne und sein heißes Fleisch in den Mund nehme. Ich fühle, wie er zuckt und den Rücken durchdrückt. Vorsichtig lasse ich ihn tiefer gleiten und konzentriere mich darauf, den Würgereiz zu unterdrücken. Es kostete mir anfangs viel Mühe. Aber als ich es endlich geschafft habe, war ich ziemlich stolz. Jörg hatte es nie von mir verlangt, doch Einwände erhob er ebenso wenig. Immer schneller sauge ich ihn in den Mund und drücke ihn mit der Zunge wieder hinaus, während ich mit einer Hand im gleichen Rhythmus den Schaft massiere. Jörg stöhnt laut auf und krault mein Haar. Sein Griff wird härter. Ich spüre, wie er kurz davor steht, zu kommen und erweckt damit unerwartet meine eigene Lust. Nur schade, dass ich gerade keine Hand frei habe. Er scheint es zu fühlen oder zu ahnen und tastet nach den Brüsten. Oh, was würde ich nur dafür geben, ihn tief in mir zu spüren. Mich ihm völlig hinzugeben und hart gevögelt zu werden. Für einen Moment komme ich aus dem Rhythmus und muss prompt würgen. Er packt meinen Kopf fester, um sich mir zu entziehen, doch ich lasse nicht nach und schicke stattdessen den Zeigefinger der freien Hand auf die Suche. Noch einmal erhöhe ich den Takt und fühle, wie seine pralle Eichel in meinem Mund weiter wächst. Jeden Augenblick erreicht er seinen Orgasmus. Ohne länger zu zögern, drücke ich die Fingerspitze sanft durch seine Rosette und lasse ihn damit förmlich explodieren. Er bäumt sich auf, dass ich Mühe habe, ihn aufzunehmen und seine Ladung zu schlucken. Sein Höhepunkt ist heftig. Ich spüre es am Finger ebenso wie im Mund. Sekundenlang verharre ich bewegungslos und warte ab, bis das Zucken nachlässt. Jede Bewegung würde ihn überreizen und ihm den Augenblick verderben. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie viel Überwindung es ihm gekostet hatte, mir das zu gestehen, weil er mich keinesfalls verletzen wollte. Dabei war ich es, die ihm unbeabsichtigt den Spaß geraubt hatte.

Behutsam lasse ich seinen allmählich erschlaffenden Penis aus dem Mund gleiten und lecke die letzten Reste des Spermas ab. Mich erwartet ein zufriedenes Grinsen, als ich unter der Bettdecke hervorkrieche. Er hat die Nachttischlampe eingeschaltet, die den Raum in ein mildes warmes Orange taucht, so als würde gerade die Sonne aufgehen.

«Guten Morgen mein Schatz», schnurre ich und fahre mir demonstrativ mit dem Handrücken über den Mund.

Er quittiert meine Geste mit einem amüsierten Blick.

«Guten Morgen Elli. Und Dankeschön.»

«Wofür denn?», frage ich provokant und neige den Kopf zur Seite.

«Na, dass du dir dein Frühstück heute ausnahmsweise einmal selbst besorgt hast», kichert er.

«Du willst mich also auf Diät setzen. Bin ich wohl zu dick geworden?» Mit gespieltem Vorwurf hebe ich die Augenbrauen.

«Der Angeklagte verweigert die Aussage, Madam, denn alles was ich sagen würde, könnte zu meinen Ungunsten ausgelegt werden.»

Ich kneife die Augen zusammen, beäuge ihn lauernd und lasse ihn ein bisschen schmoren. «Na gut, das lasse ich gelten, Herr Wegmann. Gerade noch die Kurve gekriegt.»

«Puh, dabei befürchtete ich schon, du willst mich auf Diät setzen, aber ....» Er beendet den Satz nicht, deutet stattdessen mit dem Kinn auf meinen Bauch.

«Ja, heute Morgen. Aus heiterem Himmel», maule ich und senke die Augen.

«Gib mir ein paar Minuten, dass ich rasch ins Bad springe, dann könnten wir über eine zweite Runde reden. Du weißt, dass es ....»

«... dir nichts ausmacht, ja», unterbreche ich ihn kopfschüttelnd. «Ist lieb gemeint, aber die Zicke da drin muss sich erst wieder etwas beruhigen», murre ich und lege die Hand auf den Bauch.

«So schlimm?», fragt er besorgt.

«Ach was. Heute Abend ist alles bestimmt wieder im Lot», winke ich ab.

«Soll das ein Angebot sein, Frau Klinger?», grinst er verführerisch und klimpert mit den Augen.

«Nenne es eine Reservierung, Herr Wegmann», antworte ich altklug und scheuche ihn gestenreich aus dem Bett.

 

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Er schmunzelt, als er den Knopf drückt und die Kaffeemaschine brummend und gurgelnd zum Leben erwacht. Sofort steigt ihm der angenehme Geruch von frisch gemahlenen Bohnen in die Nase, während er wartet, bis sich der Becher allmählich mit der aromatischen braunen Flüssigkeit füllt. So früh am Morgen ist es noch empfindlich kühl draußen, sodass er Dunstwölkchen vom heißen Kaffee aufsteigen sieht. Rasch schließt er das Fenster, das sowieso viel zu lange offen stand. Ein blinkendes Licht signalisiert, dass der Brühvorgang abgeschlossen ist. Der Becher fühlt sich angenehm warm in der Hand an. Er lässt es sich nicht nehmen, noch einmal genießerisch mit geschlossenen Augen an der Tasse zu schnuppern. Warum ist er nicht schon viel früher auf die Idee gekommen, sich auf eigene Kosten eine Kaffeemaschine zu leisten, um diesem grauenvollen Automatengebräu zu entkommen? Eigentlich peinlich, dass sein ständiges Gejammere dazu führte, dass letztendlich Miriam Abhilfe schaffte und ihm eine Maschine zum Geburtstag schenkte. Sein Kollege Brunner war eingeweiht. Er spendierte nicht nur die erste Tüte Bohnen, sondern auch die feuerfeste Kachel, die der Brandschutz vorschrieb.

Leise ächzend lässt er sich auf den Stuhl sinken und mustert die Aktenstapel auf dem Schreibtisch. Die Farben der Schnellhefter markieren die Art der Tat. Eine Idee seines Kollegen Brunner. Er schlürft gierig am heißen Kaffee und verbrennt sich dabei fast die Zunge. Frustriert stellt der den Becher zur Seite und greift nach einer Akte. Er kommt nicht mehr dazu, den Hefter aufzuschlagen, denn es klopft an der Tür. Brunner steckt den Kopf herein und sieht besorgt aus. Das hat in der Regel nichts Gutes zu bedeuten.

«Klaus, wir müssen sofort los.»

«Was jetzt? Ich habe mir gerade einen frischen Kaffee durchgelassen, den ersten heute.»

Brunner wirft einen Blick auf den Becher und zuckt entschuldigend mit den Schultern. «Das tut mir leid, aber entweder du nimmst ihn mit oder er wird wohl kalt werden.»

«Und was gibt es so Wichtiges, das nicht ein paar Minuten aufgeschoben werden kann? Eine Leiche? Die läuft normalerweise nicht mehr davon», entgegnet er sarkastisch, erhebt sich jedoch aus dem Stuhl.

«Dazu fehlt das meiste», grinst Brunner verkniffen. «Ein Angler hatte heute Morgen unten am Fluss eine abgetrennte Hand am Haken.»

«Eine Hand? Du willst mich veralbern. Das ist höchstens ein Fall für die Gerichtsmedizin, wenn da nicht noch mehr dranhängt.» Gestenreich deutet er eine Körperform an.

«Das würde ich normalerweise auch so sehen. Doch unser Kollege Kirkhoff ging auf Nummer sicher, organisierte Taucher und eine Hundertschaft, die den Fluss und sämtliche Zuflüsse absuchten. Gerade eben wurden sie im Grundbach fündig. Sie entdeckten eine Leiche, eingeklemmt unter Wurzeln unweit des Wehrs. Sie wird im Moment von Tauchern geborgen. Ihr fehlt eine Hand. Das habe ich schon erfahren. Dr. Nüsslein ist bereits vor Ort und wartet auf uns.»

«Der frischgebackene Erste Polizeihauptkommissar hat also nichts anbrennen lassen und sogleich seine berüchtigten Beziehungen ausgespielt», brummt er mehr zu sich, als zu Brunner.

«Du musst zugeben, es hat auch was für sich. Wer weiß, ob und wann wir sonst etwas gefunden hätten.»

«Ja, ja, schon gut Peter», winkt er ab und nippt an dem immer noch zu heißen Kaffee. «Ich sehe das genauso. Außerdem ist er seit der Beförderung richtig umgänglich und deutlich entspannter geworden, finde ich.»

«Du meinst, unser Iceman taut allmählich auf?», scherzt sein Kollege.

Er zuckt wortlos die Schultern und wirft einen sehnsüchtigen Blick auf den Kaffeebecher, bevor er nach dem Holster mit der Dienstwaffe und dem Trenchcoat greift. «Also, worauf wartest du?»

 

Die Fahrt verläuft erstaunlich flüssig trotz des Berufsverkehrs und zahlreicher Baustellen, die sein Kollege routiniert umfährt und so manchen Schleichweg nutzt. Brunner lenkt den schwarzen Audi A6 Avant auf einen geschotterten Parkplatz, auf dem bereits über ein Dutzend Einsatzfahrzeuge von Polizei, Bereitschaft, Rettungsdienst, der Feuerwehr und dem THW stehen. Ein Polizist hinter einer mobilen Absperrung hält sie auf, lässt sie jedoch passieren, als sie ihre Dienstausweise zeigen und deutet hinüber zu einer Gruppe Bäume am Ufer des Grundbachs.

«Das ist ja wirklich ganz großes Kino heute», murrt er und deutet auf eine Lücke zwischen zwei Streifenwagen. «Stell dich dort hin. Da sind wir gut behütet und müssen nicht so weit laufen.»

Brunner schmunzelt kopfschüttelnd. «Du hättest den Kaffee lieber doch mitnehmen sollen.»

«Das hätte sich die verwaiste Hand früher überlegen sollen, am besten, bevor sie sich von ihrem Herren getrennt hat», entgegnet er sarkastisch und runzelt die Stirn. «Ist sie denn überhaupt von einem Mann?»

«Sorry, das haben sie mir nicht gesagt. Ich nehme es aber an», zuckt Brunner die Schultern.

«Egal, Leiche ist Leiche. Die Frau Doktor wird uns sicherlich umgehend aufklären.»

 

Sie passieren eine weitere Absperrung, als sie sich dem Uferbereich nähern. Im weißen Schutzanzug verhüllt, beugt sich die Rechtsmedizinerin Renate Nüsslein, über einen Körper.

«Den Anzug können wir uns heute wenigstens sparen», raunt er Brunner zu.

«Und zum Glück die Gummistiefel ebenso», nickt sein Kollege grinsend.

«Ach, die Herren Kriminaler sind auch schon zur Stelle», bemerkt sie gereizt, ohne sich umzudrehen. Mit einer langen Pinzette zieht sie ein Projektil aus einem Einschussloch im Rücken des Leichnams und lässt es in ein Plastiktütchen fallen. Sie winkt einem Uniformierten und gibt ihm die Tüte. «Bitte sofort in die KTU. Am besten bringen sie es persönlich bei Frau Hofmann vorbei.»

Der Polizist nickt wortlos und entfernt sich rasch in Richtung Parkplatz.

Sie streift den Mundschutz ab und erhebt sich. «Hallo Klaus, hallo Brunner, entschuldigt die frühe Störung. Aber Leichen haben die Eigenart, sich nicht nach irgendwelchen Uhrzeiten zu richten. Sie tauchen auf, wann und wo sie wollen.»

«Da sprechen Sie mir aus der Seele. Mein Kollege musste auf den ersten Kaffee verzichten», seufzt Brunner und deutet mit dem Kinn auf ihn.

Noch bevor er antworten kann, kommt Dr. Nüsslein auf ihn zu, umarmt ihn und haucht ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. «Das tut mir echt leid, Klaus. Wie geht es Miriam?»

Er öffnet ein paar Mal den Mund, wie ein Fisch auf dem Trockenen, bevor er verkniffen lächelt und den Tadel hinunter schluckt. Renate ist genauso gewieft, wie ihre Kollegin Miriam, das muss er neidlos anerkennen. Sie kennt seine Schwachstellen beinahe so gut, wie seine Freundin. Manchmal hat er den Verdacht, sie sprechen hinter seinem Rücken über ihn, was wohl zwischen guten Freundinnen vollkommen normal sein wird.

«Danke der Nachfrage. Ihr geht es gut. Sie kehrt bald wieder von der Fortbildungsreihe über ‹Forensische Osteologie› zurück.»

Renate hebt erstaunt die Augenbrauen, was er trotz der Schutzbekleidung sehen kann.

«Hört, hört, da spricht ein wahrer Fachmann. Sag ihr bitte einen schönen Gruß. Ich rufe sie die nächsten Tage an. Aber nun zu unserem unfreiwilligen Protagonisten hier.» Sie dreht sich um und winkt ihnen, ihr zu folgen.

Der Oberkörper des Leichnams ist nackt. Neben ihm liegen in zwei großen Plastiktüten ein blaues Sweatshirt und ein dunkles T-Shirt. Ansonsten ist der Tote mit einer grauen Jogginghose und modernen Turnschuhen einer Edelmarke bekleidet, die man nicht unter 250 € im Laden findet. Renate hat den Leichnam auf einer Folie auf den Bauch gedreht. Sie deutet auf das Einschussloch neben dem Schulterblatt. Abgesehen davon und dem Armstumpf weißt der Körper unzählige Prellungen Schnitte und Abschürfungen auf. Der Kopf wirkt deformiert, ebenso die linke Seite des Brustkorbs und auch der rechte Arm, der kaum noch an einen solchen erinnert.

«Was ich schon sagen kann, die aufgefundene Hand stammt von ihm. Außerdem habe ich eines der drei Projektile entfernt, wie du gerade bemerkt hast. Dieser Treffer für sich gesehen, war bereits tödlich, denn die Kugel steckte mitten im Herzen. Es war definitiv kein 9 mm-Kaliber, sondern deutlich kleiner. Es ähnelte von der Größe dem deiner Freundin Elli mit ihren 7,65 mm-Browning für die Walther PPK. Würde durchaus im Bereich des Möglichen liegen, denn es ist das am weitesten verbreitete Kaliber. Allerdings passt die Form nicht. Und ein .22er war es ebenfalls nicht. Das wäre noch kleiner.»

Er kann ihren Worten kaum folgen so sehr, nimmt ihm der Anblick mit. Er hört Brunner neben sich würgen und gibt ihm ein Zeichen. Sein Kollege nickt erleichtert und läuft schwankend zu einem Polizisten von der Streife, der sich mit den Tauchern unterhält und Notizen macht.

«Kein schöner Anblick, ich weiß», seufzt Renate und geht in die Hocke.

«Wer hat ihm denn das nur angetan?», stöhnt er und holt tief Luft. Er ist inzwischen so manchen Leichnam gewöhnt, sah unzählige Opfer von hässlichen Prügeleien. Doch dies Leiche toppt mühelos vieles, was er bisher gesehen hat.

«Nicht wer, Klaus, sondern was. Ich vermute, er ist oberhalb des Stauwehrs in den Fluss gestürzt und wurde im Mahlstrom direkt am Wehr gehörig in die Mangel genommen. Ich war kurz dort. Jede Menge Müll und mehrere große Baumstämme. Da hätte man selbst lebendig kaum eine Überlebenschance. Ein Wunder, das er überhaupt wieder frei kam. Der Sog ist bei dem Wasserstand wie eine Waschmaschine, die ihre Teile nur ungern hergibt.»

«Das heißt, er war bereits tot, als er in den Fluss fiel?»

«Ja, aber zumindest so gut wie. Der Leichnam weißt Einschüsse in der Schulter, im Kopf und hier am Rücken auf. Zwei der drei Projektile steckten noch im Körper. Lediglich am Hinterkopf fand ich eine Stelle, die eine Austrittswunde sein könnte. Angesichts der schweren Verletzungen kann ich dir das aber erst nach der Obduktion mit Sicherheit sagen.»

Er bemüht sich, nicht reflexartig auf den Schädel zu schauen. «Kennt man schon die Identität?»

Renate schüttelt den Kopf. «Leider nein. Er trug keinerlei Papiere bei sich. Die rechte Tasche der Jogginghose ist abgerissen, offenbar vom Treibholz, ebenso wie der Unterkiefer und der Großteil der Zähne im Oberkiefer. Ich vermute, dass wir uns den Zahnabgleich sparen können. Eine Probe für den DNS-Abgleich habe ich umgehend ins Labor geschickt.»

Er spürt Übelkeit aufsteigen, versucht, tief zu atmen, und nickt verkniffen. «Was sagen die Taucher?»

Sie schüttelt den Kopf. «Das ist aussichtslos. Wer weiß, wo ihm die Teile abhandengekommen sind. Entschuldige meine Ausdrucksweise. Es war immerhin schon pures Glück, dass die Hand auftauchte, die ihm vermutlich von Baumstämmen oder anderem Müll abgerissen wurde. Ohne die hätten wir ganz bestimmt nichts gefunden.»

Er nickt verkrampft. «Und wie lange befand er sich im Wasser?» Fragen stellen hilft ihm fast jedes Mal, das Gräuel zu verdrängen und sich auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Mit nichts auf der Welt würde er mit den beiden Rechtsmedizinerinnen Renate oder Miriam tauschen wollen. Ob er jemals den Mut findet, eine von beiden zu fragen, wie sie so viel Grauen ertragen können?

Renate wiegt den Kopf. «Die Kernkörpertemperatur lag exakt auf Wassertemperaturniveau, als wir ihn fanden. Was bedeutet, dass er mindestens einen Tag im Wasser gelegen haben muss. Es können aber auch zwei, maximal drei gewesen sein. Der Grundbach ist ziemlich kalt. Leider haben bereits einige Flussbewohner den Leichnam entdeckt. Bei den unzähligen offenen Wunden hatten sie leichtes Spiel, einzudringen, wenn du verstehst, was ich meine.»

Er nickt verkniffen. «Danke, dass du ihn auf den Bauch gerollt hast.»

«Sei versichert, dass ich auch nicht alle Tage so etwas auf den Tisch bekomme. Das kann einem ganz schön zusetzen, wenn nur noch wenig an einen intakten menschlichen Körper erinnert. Nur einmal hatte ich ein Opfer, das unter die Räder eines schweren Sattelzugs kam. Das sah übler aus», seufzt sie und verzieht das Gesicht. «Tja, mein Problem. Hätte ich was Anständiges gelernt, mahnte meine Mutter immer.» Sie lächelt und mustert ihn aufmerksam.

Er spürt ihren Blick mehr, als er ihn bemerkt und versucht zu scherzen: «Das wäre aber schade gewesen. Dann hätten wir uns nicht getroffen, höchstens in einem Café.»

«Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen», entgegnet sie sanft und wendet sich rasch ab. Für einen kurzen Moment sprach aus ihr nicht die übliche nüchterne Gerichtsmedizinerin. «Den Untersuchungsbericht bekommst du sobald wie möglich. Angesichts der Vielzahl der Verletzungen kann es jedoch ein bisschen dauern. Ich bin hier auch fertig und lasse ihn gleich in die Rechtsmedizin überführen.» Sie dreht sich kurz um und winkt ihm zu. «Tschüss Klaus. Und vergiss bitte die Grüße an Miriam nicht.»

«Vergesse ich nicht, versprochen. Tschüss Renate.»

Noch sekundenlang steht er unschlüssig neben ihr, doch offenbar hat sie keine Lust, sich, wie sonst, mit einer Umarmung zu verabschieden. Und er traut sich nicht, die Initiative zu übernehmen. Seufzend nickt er mehr zu sich selbst. Er läuft hinüber zu Brunner, der sich noch immer angeregt mit einem Polizisten und den Tauchern unterhält.

 

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Schmunzelnd lasse ich die heißen Szenen von heute Morgen Revue passieren, während ich am Schreibtisch sitze und darauf warte, dass der Kaffee durchläuft. Ich brauche unbedingt Nachschub, obwohl mich Jörg beim Frühstück sogar mit leckerem Cappuccino verwöhnt hatte. Vielleicht bin ich nur so schlapp, weil ich heute früh die Tage bekommen habe? Er wäre nicht das erste Mal. Schlagartig sinkt meine Laune auf den Nullpunkt. Habe ich auch genügend Tampons hier? Das würde mir gerade noch fehlen, wo mich jeden Moment eine mögliche neue Klientin besuchen will. Zumindest klang es auf dem Anrufbeantworter so, als wolle sie mich für eine Observierung engagieren.

Meine Gedanken schweifen erneut ab, während die Kaffeemaschine gurgelnd einige Dampfstöße von sich gibt. Wie es wohl Serena ergehen mag? Ich konnte mich wegen des letzten Auftrags nicht einmal gebührend von ihr verabschieden. Wenigstens scheint unser Arrangement deutlich besser zu funktionieren, als damals mit Bettina. Jörg findet Serena nett und attraktiv, was zumindest auf Gegenseitigkeit beruht. Inzwischen haben sie sogar einige wenige Themen gefunden, über die sich unterhalten können, ohne dass ich dabei bin. Anfangs spürte ich Eifersucht, doch das hat sich zum Glück gelegt. Ich bin schließlich die Allerletzte, die sich beklagen darf. Wer bekommt schon die Möglichkeit, gleichzeitig mit zwei Menschen zusammenzuleben, die man liebt? Und die sich nicht gegenseitig angehen. Lange hatte ich mir überlegt, wie weit ich gehen sollte, ohne diese Kostbarkeit womöglich zu zerstören. In einem schwachen Moment ermunterte ich sie, endlich miteinander zu schlafen, solange ich mich um das Abendessen kümmern würde. Sie wären völlig ungestört und müssten kein schlechtes Gewissen haben, mir etwas zu verheimlichen. Schließlich wären wir erwachsen und wüssten um unsere wahren Gefühle. Doch schon als ich es aussprach, packten mich die ersten Zweifel. Was hatte ich nur getan? Warum forcierte ich etwas, das ich nicht kontrollieren konnte? Was, wenn sie sich dabei unsterblich ineinander verlieben würden und ich zukünftig außen vor blieb?

 

Kopfschüttelnd verlasse ich den Tagtraum und kehre in die graue Wirklichkeit zurück. Zumindest sind es die Wolken vor dem Fenster. Der Kaffee ist durchgelaufen und noch bevor ich mir den ersten Becher befüllen kann, läutet es an der Tür des Vorzimmers. «Gutes Timing, aber zu früh», seufze ich genervt und verdrehe die Augen. Wenigstens kann ich der Klientin gleich frisch gebrühten Kaffee anbieten.

Ich husche am Spiegel vorbei, bevor ich zur Tür gehe. Frau Herrler scheint ungeduldig und klingelt bereits zum zweiten Mal, so fern es denn auch tatsächlich die Klientin ist und nicht mein hibbeliger Nachbar Frederic.

Ich setze ein freundliches Lächeln auf und öffne schwungvoll die Tür. Mir gegenüber steht ein Frau Mitte bis Ende vierzig mit pechschwarzem halblangem Haar und eisblauen Augen. Sie erscheint gleichgroß, wie ich zu sein, trägt jedoch einen langen Mantel und Stiefel mit Absätzen und ist deshalb in Wirklichkeit ein paar Zentimeter kleiner. Für einen kurzen Moment mustert sie mich, als wäre ich eine potenzielle Konkurrentin im Kampf um den begehrtesten Junggesellen, der sie am liebsten an die Gurgel springen würde.

Ihr Lächeln wirkt ähnlich künstlich, wie vermutlich mein eigenes, als sie mir die Hand entgegenstreckt und sich vorstellt.

«Guten Morgen, Frau Klinger?»

Ich nicke und erwidere den festen Händedruck. «Ja, die bin ich. Und Sie sind Frau Herrler? Wir haben einen Termin?»

«Franka Herrler, genau. Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit hatten, sich meines Problems anzunehmen.»

Sie folgt mir ins Büro, verzichtet jedoch darauf, den Mantel auszuziehen, als ich sie danach frage, und nimmt ungefragt auf dem Besucherstuhl Platz.

«Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wasser, Kaffee oder Tee?»

«Ja gerne, Kaffee bitte», lächelt sie. Diesmal habe ich den Eindruck, sie spielt mir nichts vor. Vielleicht habe ich nur überreagiert und ihren Blick missgedeutet, weil ich sie mir völlig anders vorgestellt habe. Die sanfte, teils auch aufgebrachte Stimme will so gar nicht zu ihrem äußeren, absolut gelassenen Erscheinungsbild passen.

«Mit Milch und Zucker?»

«Nein danke, schwarz genügt.»

Wenigstens bekomme ich jetzt endlich die Tasse Kaffee, die mein Körper so dringend einfordert. Ich gebe ihr einige Sekunden Bedenkzeit, greife nach Papier und Stift und werfe ihr einen fragenden Blick zu. Sie begreift sofort und räuspert sich verhalten.

«Nun Frau Klinger, um es kurz zu machen, hätte ich zunächst eine Frage. Übernehmen Sie auch Observierungen?»

«Ja, selbstverständlich. In einem gewissen Umfang gehört das zu meinen Standardangeboten, wenn es sich in einem üblichen Rahmen bewegt», lächle ich und sehe, wie sie den Kopf fragend zur Seite neigt. «Nun, das soll heißen, dass ich ohne Vorbereitung nicht in der Lage bin, einem Sportwagen mit über 300 km/h auf der Autobahn zu verfolgen oder jemanden mit dem Sportflugzeug oder einer Drohne aus der Luft zu überwachen. Außerdem verfüge ich auch über kein Geheimdienst-Equipment, um hinter Wände zu schauen, wenn das Ihre weitere Frage gewesen wäre.»

Frau Herrler hebt die Hände. «Oh, Gott bewahre. Ich denke, das wird nicht nötig sein.»

Für einen Augenblick herrscht Stille. Ich sehe, wie es in ihrem Gesicht arbeitet, und gebe ihr Zeit, sich zu sammeln.

Sie schlürft ihren Kaffee, stellt den Becher behutsam auf den Schreibtisch, so als handele es sich um ein rohes Ei. Ich lasse mir nichts anmerken. Auch nicht, wie sie den Kopf dreht und gedankenversunken aus dem Fenster blickt. Mich beschleicht das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Es mag, nur eine wage Ahnung sein. Spielt sie mir gerade wieder etwas vor? Ist sie tatsächlich so in Gedanken versunken? Mimik und Gestik wirken mir zu aufgesetzt, nicht der Situation angemessen, auch wenn sie mir noch nicht einmal erzählt hat, was ihr Problem ist.

Ich zucke zusammen, als sie sich abrupt aufsetzt und mich mit einem lauernden Blick mustert.

«Entschuldigen Sie die indiskrete Frage, Frau Klinger, sind Sie verheiratet?»

Sie sieht mein Erstaunen und senkt beschämt die Augen.

«Tut mir leid, Sie müssen nicht antworten.»

«Schon gut, Frau Herrler, nein ich bin nicht verheiratet.»

«Ja, ich wollte ..., wissen Sie ..., ach nein, weil ....» Sie richtet sich im Stuhl auf und wirkt mit einem Mal sehr traurig. «Ich habe mich vor Kurzem von meinem Mann getrennt. Das fiel mir nicht leicht, obwohl es längst überfällig war.»

Ich lasse sie reden und nicke nur wortlos.

«Ja nun, wissen Sie, ich dachte, es wäre viel einfacher, nicht so .... Wie soll ich das sagen?»

Sie wirkt hilflos und zuckt die Schultern. Mir schießt sofort mein Freund Klaus durch den Kopf, der sich vor Kurzem von seiner Frau Vanessa hat scheiden lassen, was ebenfalls längst überfällig war. Ich wunderte mich all die Jahre, wie sehr er sich unwohl fühlte oder sich über sie ärgerte, ohne die Konsequenzen zu ziehen. Zum Glück gab es außer ein paar Tränen keinen befürchteten Rosenkrieg.

Frau Herrler greift in ihre Manteltasche und holt ein Papiertaschentuch hervor. Erst jetzt wird mir bewusst, was ich bisher an ihr vermisst habe, eine Handtasche. Welche Frau geht zu einem Termin ohne Tasche, abgesehen vielleicht von mir? Sie tupft sich die Augenwinkel, bevor sie mich scheu anlächelt.

«Tja, Frau Klinger, wie soll ich es sagen?», wiederholt sie den letzten Satz. «Sie fragen sich bestimmt, warum ich jetzt noch einen Privatdetektiv benötige, wenn doch bereits die Trennung erfolgt ist. Nun, ich befürchte, dass mich mein Mann mit allen Mitteln übervorteilen möchte. Dabei weiß ich, dass er mich schon seit einer halben Ewigkeit immer wieder betrogen hat.» Ihr Redefluss stockt. Sie senkt den Blick. Ohne mich anzusehen, redet sie leise weiter. «Ich habe das die ganze Zeit stillschweigend toleriert, weil es meist nur ein, zwei Treffen mit derselben Frau waren. Und er kehrte immer wieder brav zu mir zurück, als wäre alles in Ordnung – und das war es dann auch jedes Mal eine ganze Weile. Doch seit einem Jahr hat sich das grundlegend geändert.» Sie hebt den Kopf und wirft mir einen grimmigen Blick zu. «Er hat mich nicht immer gut behandelt ..., verstehen sie?»

«Sie reden von Gewalt?», frage ich zögernd.

Frau Herrler überlegt und wiegt den Kopf. «Na ja, zum Glück nicht körperlich, wenn sie das vermuten, Frau Klinger. Aber auch Äußerungen und Missachtung können auf Dauer schmerzen und viel mehr verletzen, als ich selbst dachte.»

Ich nicke wortlos und ergänze meine Mitschrift.

«Da wäre aber noch etwas. Ich befürchte, dass er mich schon seit geraumer Zeit bestiehlt. Es waren meist kleine Mengen Bargeld und auch unregelmäßig. Ich lasse die Handtasche mit dem Geldbeutel ständig irgendwo herumliegen. Und obwohl immer mehr Leute mit Karte bezahlen, gehöre ich wohl eher zur Bargeldfraktion», lächelt sie verkniffen.

«Sie sprechen von kleineren Summen?»

«Ja Frau Klinger. Es ist mir auch höchst peinlich. Wir haben eigentlich nie über Geld gestritten, auch wenn ich in den letzten Jahren das meiste davon verdient habe. Mir fiel es auch lange nicht auf. Hier mal 10 €, dort 20 €, maximal ein Fünfziger. Aber vor ein paar Monaten fehlten 200 €. Ich bemerkte es deshalb, weil ich mir zufällig eine gewisse Summe beiseitegelegt hatte. Allerdings sprach ich ihn nicht darauf an. Wie schon gesagt, das ist mir einfach zu unangenehm, so als würde ich ihn kontrollieren. Ich fand es irgendwie nicht angemessen, ihn wegen solcher Beträge zur Rede zu stellen. Am Ende wäre er zutiefst verletzt. Im Nachhinein betrachtet hätte ich es vielleicht tun sollen.»

Ich runzle die Stirn und werfe ihr einen kritischen Blick zu. «Nun Frau Herrler, ich kann Ihre Bedenken durchaus nachvollziehen, aber ...»

Sie hebt die Hände und unterbricht mich mit rotem Kopf. «Das Finanzielle ist leider nicht das, was mich wirklich beunruhigt, Frau Klinger. Ich arbeite in der Immobilienbranche und will es auch nicht schönreden. Aber wie Sie sich vielleicht vorstellen können, ist es hier immer möglich, etwas zu finden, wenn man nur lange genug nachforscht. Egal ob Vorteilsnahme, Veruntreuung, Steuerhinterziehung oder gar Korruption, dort wo viel Geld im Spiel ist, wird getrickst und betrogen. Oft genügt ein bloßer Verdacht, nachhaltig den Ruf zu schädigen. Wenn ich eines über meinen Mann sagen kann, dann ist es seine Fähigkeit, tief zu graben. Deshalb befürchte ich, dass er mithilfe einer Kundin Material sammelt, um mich möglicherweise zu erpressen. Nun, das ist wohl auch einer der wesentlichen Gründe, sie ..., wie soll ich sagen, sie zu engagieren? Ich befürchte, dass es schmutzig wird, bei der Scheidung. Und da möchte ich gewappnet sein. Der letzte Brief seines Anwalts deutete zumindest einige unschöne Details an», nickt sie bekräftigend, so als müsste sie sich selbst Mut zusprechen.

«Sie wissen, Frau Herrler, dass es die Schuldfrage nicht mehr gibt.»

Sie nickt noch eifriger. «Ja, ja, das weiß ich. Aber wenn es um die finanziellen Angelegenheiten geht, dann kann das durchaus eine Rolle spielen. Und da ich das meiste an Vermögen mitgebracht habe, befürchte ich, dass er darauf Ansprüche erheben will und ...»

Sie vollendet den Satz nicht, was auch gar nicht nötig ist. Der Vorwurf der Untreue, die nicht abgesprochene Entnahme von Geld, wenn ich es nicht Diebstahl nennen will, und der Erpressungsverdacht sind durchaus schwerwiegend. Genaugenommen kann es mir egal sein, weswegen ich ihren Mann observieren soll, denn Auftrag ist Auftrag. Trotzdem hat mich eine ihrer Äußerungen neugierig gemacht. War es nur so dahin gesagt?

«Nun Frau Herrler, wenn Sie mir diesmal eine indiskrete Frage erlauben? Sie erwähnten, dass im Anwaltsschreiben ‹unschöne Details› angedeutet wurden. Bringt Sie das in Bedrängnis? Betrifft es die bereits von Ihnen erwähnte Erpressung? Muss ich etwas beachten?»

Frau Herrler stutzt und runzelt die Stirn, so als müsse sie nachdenken. Erst Sekunden später schüttelt sie bedächtig den Kopf und wirft mir einen trotzigen Blick zu.

«Nein Frau Klinger. Das sind völlig haltlose Beschuldigungen, die ich mit einem Federstrich entkräften kann. Eine harmlose Sache, im Gegensatz zu dem, was er über all die Jahre hinweg getrieben hat. Mir wurde das erst in den letzten paar Tagen so richtig bewusst. Sie müssen wissen, dass ich ihn einmal zufällig beobachtete, weil ich früher von einer geschäftlichen Reise zurückkam. Daheim. Auf unserem Sofa. Hätte ich damals doch nur gleich mit dem Handy Fotos gemacht. Aber ich war so perplex, dass ich einfach still und heimlich gegangen bin und die Nacht im Hotel verbrachte.»

Ich mustere sie schweigend und nehme einen Schluck Kaffee, der leider nur noch lauwarm ist.

«Ich habe verstanden, Frau Herrler. Sie möchten also für das Gericht Beweise vorlegen, dass es maßgeblich ihr Mann ist, der sie betrogen hat und noch immer tut. Am besten Fotos, die ihn in flagranti mit einer anderen Frau zeigen?»

«Ja genau, Frau Klinger. Das wäre natürlich perfekt. Aber ich denke, es müsste nicht unbedingt bis zum Äußersten gehen. Ein paar intime Gesten, Berührungen, Küsse und so etwas. Das wäre schon ausreichend. Auf alle Fälle ist jedes Foto, das ihn mit fremden Frauen zeigt, hilfreich. Vielleicht ist darunter auch eine ehemalige Kundin, die ich wiedererkenne. Das würde in jedem Fall meinen Verdacht einer Erpressung untermauern.»

Ich nicke. «Welchen zeitlichen Rahmen haben Sie sich vorgestellt? Eine Rund-um-die-Uhr-Observierung ist sehr kostspielig, möchte ich anmerken.»

«Das ist mir vollkommen klar», winkt sie ab. «Ich habe mir ein Limit gesetzt. 5.000 € sind meine Obergrenze. Wenn sie schon vorher genug Beweismaterial besorgen können, auch gut. Ich zahle Ihnen den Rest dann als Erfolgsbonus. Möchten Sie gleich eine Anzahlung?» Sie greift diesmal in ihre andere Manteltasche und holt ein Bündel 50 €-Geldscheine hervor. «Das sind 1.000 €, die könnte ich Ihnen sofort geben und binnen einer Stunde noch mehr besorgen, wenn ....»

Ich lasse sie nicht ausreden und hebe ablehnend die Hände. «Nein danke, gut gemeint, Frau Herrler, zuerst die Arbeit, dann das Finanzielle. Ein Vorschuss ist in ihrem Fall nicht notwendig.»

Noch bevor ich es ausgesprochen habe, hätte ich mich am Liebsten selbst ins Hinterteil gebissen. Ich sehe in Gedanken Serena fassungslos den Kopf schütteln, während sie mir droht, mich wegen so viel Dummheit übers Knie zu legen. Ausnahmsweise muss ich ihr recht geben. Wenn Frau Herrler schon den Fehler begeht, ein Limit zu nennen, das ich spielend ausschöpfen könnte, aber selbst so dumm bin, Vorkasse abzulehnen, dann kann man mir einfach nicht helfen.

Zum Glück bemerkt Frau Herrler nichts von dem inneren Kampf, zieht vier Scheine aus dem Bündel und schiebt sie über den Tisch.

«Keine Widerrede, Frau Klinger, ich will Ihnen nichts schuldig sein», bemerkt sie streng. Sie wirkt deutlich erleichtert und reicht mir die Hand.

«Dann ist es also abgemacht, Frau Klinger? Sie übernehmen den Fall?»

«Selbstverständlich, Frau Herrler», lächle ich verkniffen und schüttle ihre Hand. «Da wären dann nur noch einige Details, die ich mit Ihnen klären müsste, Namen, Adressen, Tagesabläufe, Gewohnheiten, Örtlichkeiten alles, was mir hilft, ihren Mann im Auge zu behalten. Außerdem stelle ich Ihnen noch eine Quittung über die Anzahlung aus. Ich will Ihnen schließlich auch nichts schuldig bleiben», lächle ich und entlocke ihr einen amüsierten Blick.

 

Nach einer guten Viertelstunde habe ich sämtliche Informationen zusammengetragen, die ich benötige, um loszulegen. Es erstaunte mich mehrmals, wie präzise sie zu einigen Fragen antworten konnte, ließ mir jedoch nichts anmerken. Ich wüsste nicht genau auf die Minute, welche Besorgungen mein Freund Jörg wann und in welcher üblichen Reihenfolge erledigt, schoss es mir durch den Kopf. Aktuelle Bilder von ihrem Mann zeigte sie mir auf dem Smartphone und entschuldigte sich dafür, dass sie ihm bereits selbst ein bisschen nachgeschlichen sei, wenn es ihr der Beruf erlaubt habe. Sie schickt mir einige der Fotos an meine E-Mail-Adresse. Als sie sich verabschiedet, fällt sie für einen kurzen Augenblick zurück, in ihre allererste Rolle, als sie mich kritisch, wenn nicht sogar eine Spur feindselig musterte. Ich schaue ihr hinterher. Sie läuft die Stufen hinab und hebt noch einmal scheu die Hand. Geschickt gespielt oder echt? Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich glauben soll. Die Stiefelabsätze hallen laut im Treppenhaus und erwecken in mir den Eindruck, als wollte sie fliehen. Eines weiß ich wenigstens schon jetzt. Irgendetwas passt hier nicht zusammen. Das sagt mir nicht nur der Bauch, sondern auch der Kopf. Obwohl ich bereits über hundert Frauen in meinem Büro sitzen hatte, verhielt sich niemand so in sich nicht schlüssig, wie diese Klientin. Zumindest erschien keine zuvor ohne eine Handtasche. Soll ich mir deshalb weiter Gedanken machen? Oder gar besorgt sein? Oder reagiere ich viel zu empfindlich? Sollte ich nicht pragmatischer sein? Einmal ist eben immer das erste Mal. Außerdem verfügt sie offenbar über die nötigen finanziellen Ressourcen, falls ich ihren Gatten längere Zeit observieren muss. Warum habe ich nicht zugegriffen und eine unverbindliche höhere Vorkasse verlangt, anstatt mich mit den 200 € zu begnügen?

Kopfschüttelnd schließe ich die Tür und höre noch, wie unten die Haustür ins Schloss fällt.

Zurück am Schreibtisch mit einer frischen Tasse Kaffee beginne ich umgehend die Notizen durchzuschauen. Es mag heutzutage nicht mehr ungewöhnlich zu sein, dass auch nach einer Heirat jeder seinen Namen behält. Frau Herrlers Begründung klang in dieser Hinsicht recht dürftig, doch legitim. Ihr Mann Fred Rupp arbeitet als Journalist und hatte angeblich auch Enthüllungsstorys geliefert. Da befanden es beide sicherer, wenn man sie nicht in namentlichem Zusammenhang brachte. Besonders weil ihr Beruf als Inhaberin eines Immobilienmaklerbüros auf Seriosität und Diskretion bedacht sei. In gewisser Weise kann ich sie verstehen, wobei ich mich ernsthaft frage, wie diese beiden zusammengekommen sind. Eine große Liebe oder die Flucht von zu Hause hatte sie nicht erwähnt und Kinder existieren ebenso wenig. Bei all meinen ähnlich gelagerten Fällen gehörte das bisher zu den Hauptgründen, warum auch völlig unterschiedliche Mentalitäten zueinandergefunden haben. Ihre kurze Bemerkung, dass er nicht immer so ausgebrannt war und früher durchaus Wert auf Höflichkeitsfloskeln und sein Äußeres legte, klang genauso wenig überzeugend in meinen Ohren, wie die drei angeführten Gründe für eine Observierung.

Seufzend tippe ich Suchbegriffe in den Browser ein. Meine Nichte Lucy und mein Hackerfreund Jonas Schuster haben mir einige Tricks gezeigt, wie man heutzutage die üblichen Social-Media-Seiten durchkämmt und für mich Fake-Profile angelegt, mit denen ich teilweise sogar als Mann agiere. «Je nach Anforderung eben», grinste Jonas vielsagend und verschaffte mir für Notfälle gleich noch Zugang zum Darknet. Mit den installierten anonymisierten Browsern, die jede Herkunft wirkungsvoll verschleiern, kann ich mich nahezu unerkannt bewegen. «Da hätten sogar der BND und die NSA ihre Probleme», lachte er verschmitzt, als er meinen ungläubigen Blick sah.

Nach dem letzten Fall, der eigentlich als harmlose Klassenfeier begann, habe ich mir geschworen, zukünftig einen etwas gründlicheren Hintergrundcheck sämtlicher Beteiligten durchzuführen, inklusive der Auftraggeber. Das hätte mir damals in Portugal viel Arbeit und Ärger erspart und mich vor manch einem blauen Fleck bewahrt. Aber wie hätte ich es denn ahnen können, dass ...?

«Bingo!», raune ich und hebe die Augenbrauen. Ihr Mann Fred Rupp hatte in der Vergangenheit tatsächlich einige brisante Geschichten veröffentlicht, die für Aufsehen gesorgt hatten. Dazu bedurfte es nur einer einfachen Suchanfrage. An alle drei Skandale kann ich mich noch erinnern. Der eine wegen Verklappung von Sonderabfällen in einem nahe gelegenen Wald brachte damals sogar die Landesregierung in Bedrängnis. Ebenso die Korruption bei der Vergabe von Gewerbeflächen, die bundesweit die Verstrickungen von Kommunen und Bauunternehmen aufdeckte. Noch ekelhafter fand ich jedoch die Sache mit dem Menschenhandel und der illegalen Prostitution, bei der mehrere Polizisten involviert waren. Diejenigen, die solche Fälle aufdecken sollten und die Frauen beschützen, bedienten sich selbst und kassierten dafür kräftig ab, dass sie wegschauten. Klaus beichtete mir damals, dass er heilfroh gewesen sei, in der Mordkommission zu arbeiten, denn einer der Mordfälle trug maßgeblich zur Aufklärung bei. Er verabscheue nichts mehr, als korrupte Kollegen. Ich muss ihm 100%ig beipflichten und lehne mich seufzend zurück.

 

Der aktuellste große Bericht von Fred Rupp liegt gute sieben Jahre zurück. Abgesehen von Bagatellen herrschte seitdem weitgehend Funkstille. Ich notiere die Überschriften und das jeweilige Ausgabedatum. Von außen betrachtet würde ich annehmen, dass sich Herr Rupp seit der Heirat vor sechs Jahren ziemlich zurückgehalten hatte oder ihm einfach kein größerer Wurf mehr gelungen war. Stellt sich nur die Frage, ob er dies freiwillig getan hatte, denn finanziell bestand keinerlei Grund, sich weiter zu profilieren. Ein ruhiger Posten in einer Lokalredaktion mit kleinen Storys und Dienst nach Vorschrift wären durchaus denkbar. Wobei ich aus Jörgs Erzählungen nur zu gut weiß, dass es in einer Redaktion äußerst selten einen wirklich ruhigen Posten gibt. In der Regel stehen dort ständig alle unter Strom und wollen nichts anderes, als sich gegenseitig übertrumpfen und den Chefredakteur beeindrucken. So läuft eben das Geschäft.

Es kann natürlich auch sein, dass die großen Enthüllungen deutlich mehr Substanz gekostet haben. Fred Rupp wäre nicht der Erste mit einem massiven Burn-out. Erwähnte seine Frau nicht, dass er gerne zu tief ins Glas schaute? Alkohol löste noch nie Probleme, sondern verursacht höchstens neue. Zumindest lassen sich dadurch die Kontrollverluste und Stimmungsschwankungen erklären, die Frau Herrler beiläufig erwähnte.

Auf sämtlichen Social-Media-Kanälen herrscht Ebbe. Keine Profile, weder als Fred noch Freddy Rupp. Wenn er wie ich unter falschem Namen unterwegs ist, habe ich sowieso keine Chance. Es gelingt mir höchstens ein Zufallstreffer. Die Suche nach den Artikeln bleibt dort ebenfalls erfolglos. Vermutlich schon zu lange her.

 

Die Suche nach Frau Herrler liefert keinen verwertbaren Treffer. Wie ist das möglich? Sie gab an, Inhaberin eines Immobilienmaklerbüros zu sein. Da sollte doch wenigstens eine eigene Webseite existieren und Einträge in Branchenverzeichnissen. Und spätestens im Impressum müssen reale Namen genannt werden. So verlangt es das Gesetz. Ich gebe die Webadresse direkt in den Browser ein und lande prompt einen Treffer. Eine modern aufgemachte animierte Seite, die angibt, dass hier überwiegend hochpreisige Immobilien angeboten werden. Das Impressum beschränkt sich jedoch nur auf die Kontaktadresse des Datenschutzbeauftragten und eine Geschäftsführung. Der Beauftragte arbeitet nicht einmal im Büro, sondern für eine Anwaltskanzlei. Zumindest hat sie hinsichtlich des Büros nicht gelogen, obwohl sie aus welchen Gründen auch immer als Inhaberin offenbar im Hintergrund bleiben möchte. Stirnrunzelnd lege ich das Kinn auf die Daumen und trommle mit den Fingern gegeneinander. Die angegebene Privatadresse kann ich mühelos auf der elektronischen Landkarte finden. Ein weitläufiges Grundstück am Vogelberg. Auf alle Fälle eine teure Gegend. Aber warum wundert mich das nicht weiter? Ich könnte rasch in den Mini springen und mich selbst davon überzeugen, ob dort tatsächlich eine Frau Herrler wohnt. Mir schießen kurz die Bilder des Bündels mit 50-Euro-Scheinen durch den Kopf. Die Frau hatte Geld, obwohl sie hier ohne Handtasche erschienen war. Und wenn ich mich nicht so saublöd angestellt hätte, läge ein beträchtlicherer Teil davon nun schon sicher verwahrt in meinen Tresor neben der Walther PPK. Weit mehr als vier magere Fünfziger. Allerdings fühle ich mich nie sonderlich wohl bei einem Fall, wenn ich nicht von mir aus in die Vorleistung gehe. Bisher bin ich mit der Strategie auch recht gut gefahren.

 

Ich schiele auf den Notizzettel. Einen weiteren Namen nannte sie mir. Bei Leon Fischer soll es sich um einen langjährigen Freund und Arbeitskollegen ihres Mannes handeln, bei dem er momentan Unterschlupf sucht. Die Eingabe liefert mir unzählige Ergebnisse. Die meisten davon haben jedoch kaum etwas mit meinem Gesuchten zu tun. Auf den ersten 20 Seiten finde ich lediglich drei Berichte, die von einem Redakteur namens Leon Fischer verfasst wurden. Sämtliche anderen Treffer stufe ich als unbrauchbar ein. In den Social-Media-Kanälen verhält es sich ähnlich. Nach Durchsicht von über 100 Profilen verlässt mich schlagartig die Lust, weiter zu suchen. Dabei habe ich nur einen Bruchteil geschafft. Muss ich denn fürs Erste mehr wissen? Einer der gefundenen Fischer scheint zumindest der Journalist zu sein und für die gleiche Tageszeitung zu arbeiten wie sein Freund und Kollege Rupp.

Eigentlich hätte ich mir eine üppigere Ausbeute gewünscht. Ich überlege kurz, ob ich Jonas bitten soll, ein paar weitere Informationen über meine Auftraggeberin in Erfahrung zu bringen.

Kopfschüttelnd schiebe ich den Notizzettel beiseite und trinke den Rest des lauwarmen Kaffees. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Nein, die Brühe in kaltem Zustand und ich werden wohl nie gute Freunde werden. Das nächste Mal schütte ich ihn gleich in den Abguss.

Missempfinden

Er weiß nicht, wie lange er geschlafen hat. Ist es noch oder schon wieder dunkel? Jedenfalls schlief er wie ein Stein und fühlt sich dementsprechend steif und ausgedörrt. Sein Hals ist rau und gereizt, das ist die erste Empfindung, nachdem er murrend seine Knochen sortiert. Der Kiefer schmerzt ebenfalls. Er muss sich im Schlaf verbissen haben. Falsch, nicht nur ver- sondern auch gebissen. Er schmeckt Blut und fühlt mit der Zungenspitze die wunde Stelle. Ein stechender Schmerz schießt durch seinen Körper, als er sich zur Seite dreht, um aufzustehen. Von den Fußspitzen bis hinauf in den Nacken. Das kommt vom ewigen Sitzen und dem anschließenden Gewaltmarsch. Wenigstens kann er sich noch an alles erinnern, obwohl er sich den Frust von der Seele gesoffen hatte. Im Dämmerlicht erkennt er die leere Wodkaflasche, die unter den Stuhl gerollt ist. Ein Grund für seinen quälenden Durst. Zu viel von dem russischen Teufelszeug.

Ächzend rollt er sich aus dem Bett und bleibt eine Weile am Bettrand sitzen. Er reibt sich den Schlaf aus dem Gesicht und massiert den Rücken. Allmählich lassen die Schmerzen nach, dafür beginnt es im Kopf zu pochen. Beim Blick auf den Radiowecker muss er die Augen zusammenkneifen. 06:34 Uhr, also früh am Morgen. Wann sieht er endlich ein, dass er längst eine Brille benötigt? Eine seiner persönlichen Baustellen, die er schon viel zu lange vor sich herschiebt. Dafür konnte er eine andere überraschend geräuschlos schließen. Nur vage erinnert er sich an die Beichte. Leon kam erst spät nach Hause und er war nicht mehr völlig Herr seiner Sinne. Trotzdem brachte er es fertig, ihm die Sache mit dem leeren Tank zu gestehen. Überraschenderweise reagierte dieser lediglich mit einem enttäuschten Blick, zuckte die Achseln und ließ sich die genaue Adresse nennen. Seine Entschuldigung, die er mit schwerer Zunge hinterherschickte, quittierte dieser wortlos nickend. Auch wenn für ihn der Fall damit eigentlich abgeschlossen war, so blieb eine gewisse Unsicherheit übrig. War Leon nun sauer oder enttäuscht und ließ es sich nur nicht anmerken? In jedem Fall musste er sich erkenntlich zeigen. Sobald er das Geld bekam, würde er 50 € Benzingeld beiseitelegen. Das war das Mindeste, was er tun konnte. Und es ist auch das Letzte, an was er sich erinnert. Der Rest verschwimmt in einem diffusen Nebel, vermischt mit Eindrücken der vergangenen Tage, die er nicht genauer zuordnen kann.

Kaffee, er braucht unbedingt einen Wachmacher. Am besten gleich eine halbe Kanne. Und Wasser, viel Wasser, nicht nur um den Brand im Magen zu löschen, sondern auch, um den Blutgeschmack loszuwerden. Schwerfällig erhebt er sich und greift sich an den Rücken. Der Schmerz ist noch nicht gänzlich verschwunden. Seine Geldbörse liegt auf dem Tisch neben der leeren Packung Zigaretten. Siedendheiß fällt ihm ein, was er bisher völlig verdrängt hat. Dabei ist es das Allerwichtigste, dass er seinen Plan weiterführen kann. Er hat weder die vereinbarte Geldsumme noch eine schlüssige oder zumindest halbwegs plausibel klingende Ausrede zur Hand. Wie soll die Übergabe vonstattengehen ohne die geforderte Kohle? Stöhnend massiert er die Schläfen. Schlagartig ist der pochende Schmerz auf Presslufthammerniveau angestiegen. Kein Wunder. Mehr torkelnd als geradeaus laufend, erreicht er die Küche. Für einen Moment muss er sich am Herd festhalten. Er braucht eine Idee, eine bessere, als das nervenaufreibende und bisher absolut ergebnislose Observieren auf gut Glück. Oder viel Geld in einem silberfarbenen Koffer. So war es zumindest ausgemacht. Dabei hat er noch nicht einmal einen besorgt. Womit auch? Die alte Reisetasche im Keller kann er vergessen. Darin hatten sich Mäuse eingenistet. Doch anstatt sie gleich zu entsorgen, entfernte er lediglich die Hinterlassenschaften mit einer Schaufel und warf das stinkende Ding in eine alte Truhe.

«Scheiße Mann, besinn dich, besinn dich», feuert er sich leise murmelnd an und beginnt die Kaffeemaschine zu befüllen. Während das Gerät gurgelnd den Dienst aufnimmt, lässt er sich auf einen Stuhl fallen, der bedenklich knarzt. Noch einmal fährt ihn ein stechender Schmerz in den Kopf, doch diesmal wirkt er beinahe befreiend. Überprüfen, das ist es. Er muss schließlich sicher sein, dass die Informationen stimmen. Ist es nicht legitim, dass er einen Beweis einfordert? Einen kleinen Happen, den er zunächst auf Echtheit prüfen muss? Dass er dies nicht mit ein paar Abfragen im Internet vor Ort erledigen kann, sollte dabei einleuchten. Immerhin handelt es sich um eine Menge Geld. Auf einen Tag mehr oder weniger kann es dem Informanten doch nicht ankommen, wenn er bedenkt, dass sich die Sache nun schon über mehrere Wochen hingezogen hat. Das würde ihm ein bisschen Zeit verschaffen. Ein bis zwei Tage höchstens. Aber vielleicht geschieht ein Wunder? Eines hat er in all den Jahren gelernt, niemals aufzugeben. Bis zur letzten Sekunde zu kämpfen, für eine gute Story. Und diese ist nicht nur gut. Das, was er sich hier geangelt hat, ist eine Sensation, ein Skandal sondersgleichen. Einer von der Sorte, der Erdbeben auslösen, der Gefüge erschüttern und Köpfe rollen lassen kann. Warum er genau in diesem Moment die Eingebung bekommt, kann er sich selbst nicht erklären. Er spürt nur das Erstaunen, dass er nicht längst an das naheliegendste dachte. Noch einmal bei seinem Chef vorstellig werden, kann er sich sparen. Der Zug ist abgefahren. Das muss er endlich akzeptieren. Doch was, wenn er die Information jemandem zuspielt, der ein gesteigertes Interesse daran hat, dass seine Story nicht veröffentlicht wird? Wenn er es nur halbwegs geschickt anstellt, könnte er gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen. Er muss nur rechtzeitig aus der Schusslinie gehen und eine Zeit lang abtauchen. Den Urlaub antreten, den er sich schon vor zehn Jahren gönnen wollte. Er könnte es sich noch einfacher machen, indem er darauf verzichtet, dass er bei dem Artikel namentlich genannt wird. Es wäre schließlich nichts Ungewöhnliches, dass bei heiklen Themen die Redaktion seine Journalisten schützt. Je länger er darüber nachdenkt, desto besser gefällt ihm die Idee. Zum ersten Mal seit Tagen hat er Grund zu lächeln. Ein Silberstreif am Horizont, endlich. So wie draußen vor dem Fenster. Obwohl er zwischen den Häusern hindurch nur einen schmalen Spalt sehen kann, wird der Tag wie bereits der gestrige wohl mit Sonnenschein beginnen. Wenn das kein gutes Zeichen ist?

 

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Diesmal benötigte er lediglich einen Tag, um sämtliche Vorbereitung abzuschließen, was jedoch an der geforderten Summe von 100.000 € nichts änderte. Ein Eil-Aufschlag quasi, zu seinem üblichen Tarif. Er wurde gezwungen, zu improvisieren, was ihm schon immer widerstrebte. Deshalb nahm er umgehend die Arbeit auf, nachdem der das Telefonat mit dem Auftraggeber trennte. Wenige Minuten später besaß er eine prall gefüllte Geldbörse, die er einem Anzugträger in der Fußgängerzone entwendet hatte. Die Leute sind selbst schuld, wenn sie beim Telefonieren mit dem Handy alles um sich herum völlig ausblenden. Die Welt ist böse. Hatten Mami und Papi versäumt, ihnen das beizubringen? Ihm konnte es nur recht sein. Eine schnelle willkommene Beute ohne großen Aufwand.

Er entnahm lediglich das Bargeld und die Kreditkarte und warf die Börse in den nächsten Abfalleimer. Wenige Minuten später hatte er mit der gestohlenen Kreditkarte ein Hotelzimmer für zwei Übernachtungen online gebucht, zerbrach das Plastikstück und entsorgte es ebenfalls in einem Abfalleimer. Ihm war klar, wie wichtig in diesem Fall Geschwindigkeit ist, denn wenn der Verlust entdeckt und die Karte gesperrt wird, war alles umsonst. Hinzu kam, dass die Karte noch keine 2-Stufen-Authentifizierung nutzte. Hinsichtlich seines Plans spielte es keine Rolle, denn sich Sorgen machen, dass jemand die Spuren tatsächlich rückverfolgen würde, ist überflüssig. Es vergeht in der Regel mindestens ein Tag. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre die Rückbuchung, sodass das Hotel leer ausgehen würde. Ihm konnte es egal sein, denn der Auftrag wäre längst erledigt und er über alle Berge oder besser, im wohlverdienten Ruhestand.

 

Er lehnt sich in den Stuhl zurück und legt den Kopf in den Nacken. Die einzelnen LEDs der indirekten Beleuchtung, die drei Seiten der Zimmerdecke des Hotelzimmers umlaufen, verschwimmen vor den Augen. Seine Gedanken begeben sich auf Wanderschaft. Er spürt den kühlen Luftzug auf den Wangen, als wäre er tatsächlich dort an jenem fernen Ort. Tausende kleiner heller Punkte funkeln um die Wette und es werden immer mehr, je länger er in den wolkenlosen Neumondhimmel starrt. Beteigeuze und Rigel ringen um die Gunst seiner Aufmerksamkeit. Zwei Sterne des Orions, die nicht unterschiedlicher sein könnten, obwohl sie doch über eine fiktiv gedachte Diagonale für das Gleichgewicht als Schulter und Fuß des Sternbildes sorgen sollen. Mit seinem 1.000-fachen Durchmesser der heimischen Sonne zählt der Schulterstern Beteigeuze zu den roten Super-Riesen und wird, in astronomischen Dimensionen gedacht, schon sehr bald die bisherige Existenz mit einer Supernova beenden. Er wäre so hell wie ein Halbmond auf der Erde zu sehen, trotz der unvorstellbaren Entfernung von über 700 Lichtjahren. Rigel hingegen, der Fuß des Orion, zeigt sich deutlich komplexer. Nicht ein Stern, sondern ein Mehrfachsystem bestehend aus Rigel A, dem blauen Riesen und B/C sorgen für den siebt hellsten Leuchtpunkt am Nachthimmel, während der vierte im Bunde, Rigel D, nur wenig dazu beiträgt. Der Hauptstern mit dem 60-fachen Sonnendurchmesser ist ähnlich weit entfernt, wie Beteigeuze, jedoch extrem massereich, sodass er bereits vor dem Übergang zum Roten Riesen einen vergleichsweise gigantischen Durchmesser besitzt.

Mehrmaliges Blinzeln bringt ihn in das Hier und Jetzt zurück, so als würde er eine Tür öffnen und einen anderen Raum betreten.

Bisher stellte er noch nie die Frage nach dem ‹Warum›. Lediglich das ‹Wer› und das ‹Wann› sind entscheidend. Das ‹Wie› ergibt sich stets erst individuell nach einer gründlichen Analyse der Situation. Diesmal ist die anstehende Aufgabe denkbar einfach. Er muss auf eine eintreffende Person warten, die er kurz vorher an der Rezeption telefonisch als seine Frau anmelden wird. Sie oder ein Begleiter werden nach ihm fragen und sollen eine eigene Schlüsselkarte ausgehändigt bekommen, sodass sie das Hotelzimmer selbstständig betreten können, ohne dass er die Tür öffnen muss. Auf dem Boden in der Diele liegt ein Blatt mit Anweisungen für die Person, nämlich zu warten und sich einstweilen auf die Couch zu setzen. Es ist nicht vorgesehen, dass der Begleiter ebenfalls das Zimmer betritt. Er wird aus dem Badezimmer kommen, wenn die Person sitzt und sie mit einer Nachricht begrüßen, die er auswendig gelernt hat. Falls sie aufstehen möchte, bittet er sie, wieder Platz zu nehmen. Seine Aufgabe soll es sein, ihr angeblich bis zur Rückkehr des Mannes die Langeweile zu vertreiben und ihr Gesellschaft zu leisten. Deshalb wird er ihr auch etwas zu Trinken anbieten.

Sobald sie ruhig genug wirkt, schlägt er zu. Er wird zusätzlich ein auf dem Stuhl bereitgelegtes Kissen benutzen, um die Waffe bis zur letzten Sekunde zu verbergen. Wenn er die geeignete Position eingenommen hat, wird er sie mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe töten. Das Kissen wird er anschließend in einen Plastikbeutel verstauen und im eigenen Koffer vom Tatort entfernen. Er wird das Zimmer umgehend verlassen, die Tür jedoch nur anlehnen. Die Schlüsselkarte verbleibt, wie vereinbart, im Raum griffbereit auf der Kommode neben dem Fernsehgerät.

Der Aufwand der Verschleierung macht jedoch nur Sinn, wenn alles unbeobachtet vonstattengeht. Die nahezu lückenlose Video-Überwachung der Gänge, hätte ihn beinahe dazu veranlassten, vom ursprünglichen Plan abzuweichen. Das Risiko der Entdeckung wäre jedoch ungleich höher gewesen, sodass er sich für die radikale Methode entschlossen hatte. Es waren echte Profis am Werk, die einen Fakt allerdings nicht bedacht hatten. Die CCD-Chips sind einem starken Laser nicht gewachsen. Er wird sich nicht damit begnügen, sie kurzfristig mittels eines Blooming-Effekts zu blenden, sondern eine der Kameras außer Gefecht setzen. Bis sie vom Service-Team ersetzt wird, vergeht mindestens ein Arbeitstag, wenn nicht noch mehr. In jedem Fall genug Zeit, um den Auftrag zu beenden. Für die anderen Kameras auf seinem Weg wird er alternative Mittel zur Verschleierung nutzen.

 

Er greift nach der Bürste und tränkt sie mit Waffenöl. Zuvor reinigte er bereits bei geöffneter Ladeklappe jede Kammer der Trommel einzeln, bevor er sie wieder mit Patronen lud. Dass er binnen weniger Stunden gleich zwei Menschen mit derselben Waffe tötet, bereitet ihm keinerlei Probleme. Im Gegenteil, die Polizei wird verzweifelt nach Zusammenhängen suchen, wo überhaupt keine existieren. Ein an und für sich perfekter Plan. Schnell verdientes Geld inklusive. Ein besonderer Bonus für den Abschluss seiner beruflichen Laufbahn als Profi.

 

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Ich ertappe mich dabei gedankenversunken auf den Schnellhefter für Frau Herrler zu linsen, den ich gleich nach ihrem Abschied angelegt habe. Immer wieder kehre ich zu unserem Gespräch zurück, das ich in keiner Art und Weise als außergewöhnlich bezeichnen würde. Das Verhalten oder besser gesagt, den Auftritt von Frau Herrler hingegen schon. Erschrocken zucke ich zusammen, als Deep Purples ‹Smoke on the Water› ertönt, der Klingelton meines Smartphones. Das Bild von Serena auf dem Display grinst mich an.

Sofort überkommt mich das schlechte Gewissen. Ich zögere, das Gespräch anzunehmen. Wollte ich nicht die kneipenfreie Zeit nutzen, um sie spontan in Norddeutschland zu besuchen, wenn Jörg sowieso mit Lesungen auf seiner Promotour beschäftigt ist? Genaugenommen hatte sogar er die Idee. Nach dem letzten Vortrag warf er mir einen mitleidigen Blick zu, nahm mich fest in den Arm und sprach es von sich aus an. Dass es völlig in Ordnung sei, wenn ich ab und an eine der Lesungen schwänzen würde. Mir müsste das Thema doch allmählich aus den Ohren quillen, auch wenn ich mich mit meinem MP3-Player über Wasser halten würde. Stattdessen solle ich lieber angenehmere Dinge unternehmen. Zum Beispiel Serena besuchen, die sich bestimmt tierisch freuen würde, während dieses ätzenden Gerichtsprozesses ein bekanntes Gesicht zu sehen. Denn ohne mit Interessenten und Vertretern der Presse kräftig ein oder zwei, meistens jedoch noch viel mehr Gläser zu heben, ging der Abend für ihn selten vorbei. Danach war bei ihm sowieso üblicherweise Schicht im Schacht. Und das soll etwas heißen, ergänze ich gedanklich und hole tief Luft.

Mit gehetzter Stimme nehme ich das Gespräch an und melde mich förmlich: «Elli Klinger, Ermittlungen, womit kann ich Ihnen helfen?»

«Ach Frau Klinger, eine bekannte Stimme und ein paar nette aufbauende Worte würden mir vollkommen genügen», schnurrt die Anwältin mit ihrer unvergleichlich charakteristischen sonoren Stimme.

«Hallo Serena, das freut mich aber. Entschuldige, dass ...»

Sie lässt mich jedoch nicht ausreden. «Ich muss dringend Abbitte leisten, dich offenbar mit emotionalen Lappalien bei etwas Wichtigem gestört zu haben, meine Hübsche.»

Nur gut, dass sie nicht sehen kann, wie ich schlagartig erröte. Notlügen liegen mir ebenso wenig, wie richtige Lügen.

«Halb so wild. Ich habe nur gerade eine Klientin verabschiedet», entgegne ich rasch, ohne lange zu überlegen. Wenigstens nahe an der Wahrheit, wenn auch mit einem unbestreitbaren zeitlichen Versatz.

«Oh, ein neuer Auftrag? Hoffentlich einer, der rasch gelöst ist, dir keine Bauchschmerzen bereitet und dir trotzdem jede Menge Kohle einbringt», kichert sie.

«Ich weiß noch nicht», zögere ich. «Die Klientin hat zumindest Geld ..., sagt sie», füge ich eilig hinzu. Beinahe hätte ich mich verraten. Nein, lügen ist wirklich nicht mein Ding.

«Na da hoffe ich nur, dass die Dame ihren vollmundigen Ankündigungen auch mit den geforderten Überweisungen Taten folgen lässt. Du weißt, was ich von Versprechungen im Allgemeinen halte», bemerkt sie lauernd.

Nur zu gut kenne ich den Tonfall und beschließe spontan, diesmal nicht darauf einzugehen. Stattdessen wechsle ich das Thema: «Ich vermisse dich, Dragon Lady.» Die letzten Wörter nuschle ich kaum hörbar, doch Serena hat mich sehr wohl verstanden und seufzt.

«Ich vermisse euch auch», raunt sie hörbar frustriert.

«Euch?», hake ich lauter nach, als beabsichtigt.

«Na klar, meine Hübsche. Wer hat mich denn die letzten Wochen mit leckerem Frühstück und Abendessen verwöhnt, dass ich kaum noch in meine Klamotten passe? Du oder ...»

«... Jörg, ich verstehe», antworte ich kleinlaut.

«Außerdem waren wir uns doch einig, dass wir es zu dritt versuchen möchten. Ich fühle mich sonst ständig, wie das lästige Anhängsel. Auch wenn wir beide ..., na ja, wie soll ich es sagen?» Für einen Augenblick herrscht Stille, bis sie seufzt. «Jörg und ich machen allmählich Fortschritte, Babyschritte, würde ich sagen. Mittlerweile konnte ich ein bisschen nachdenken und bin sicher, dass deine Idee funktionieren könnte. Der Sex mir Jörg ist wirklich ..., wie soll ich sagen? Ich sehe es einfach als Gesellschaftsspiel unter Erwachsenen und ich glaube, er auch. Das Gute ist, wir müssen uns nichts vormachen, weil wir vorher die Sache gründlich geklärt haben. Das vermeidet falsche Hoffnungen.»

Sofort regt sich in mir Eifersucht, die weder angebracht noch nötig ist. Immerhin reiße ich mich am Riemen und antworte möglichst ruhig. «Du hast ja recht, Serena. Tut mir leid, dass ich so zickig reagiere, aber momentan fühle ich mich einfach ...»

«... total überarbeitet und untervögelt?», unterbricht sie mich diesmal.

«Das triff es ziemlich gut», lache ich und fühle mich plötzlich leicht und beschwingt. So als wäre mir eine Last von den Schultern genommen. Warum muss immer sie die Vernünftige spielen und dazu noch den Finger zielgenau in jede offene Wunde legen? Ich sollte mir endlich abgewöhnen, so zickig und egoistisch zu sein, sonst wird das nichts mit uns. Tief in mir weiß ich, dass sowohl Jörg als auch Serena recht haben. Es kann nur funktionieren, wenn wir alle drei an einem Strang ziehen. Keine Extrawürste, es sei denn, die beiden anderen stimmen dem zu. So lautete der Deal, und die Einzige, die sich nicht strikt daran hält, bin ich selbst. Ich, die überhaupt erst der Schnapsidee verfallen war, gleichzeitig zwei Menschen lieben zu wollen. Anstatt vor lauter Glück zu platzen, tatsächlich auf zwei solche gestoßen zu sein, die sich wiedererwarten sogar zu einem Experiment bereit erklärten, riskiere ich mit meiner Sturheit, dass alles ohne Not kaputt geht.

«Ich wollte dich nicht von der Arbeit abhalten, meine Hübsche. Die Unterbrechung ist sowieso gleich zu Ende.»

«Das tust du nicht. Ich freue mich immer, wenn du dich meldest. Das weißt du. Wie lange bist du noch fort?»

«Eigentlich bis übermorgen. So verkündete es der Richter heute», seufzt sie.

«Eigentlich? Das klingt so, als käme da etwas nach.»

«Gut erkannt, meine Meisterdetektivin. Der leidige Prozess dauert höchstwahrscheinlich zwei Tage länger, es sei denn, die neu angeforderten Beweise werden früher vorgelegt. Schlimmer ist, dass ich anschließend lediglich einen Tag Pause hätte und erneut wegen eines Gerichtstermins hier hochfahren müsste. Jetzt überlege ich mir, ob es sich überhaupt rentiert, nach Hause zu fahren.»

Deutlich höre ich die Enttäuschung in ihrer Stimme und kann sie so gut nachvollziehen. Was soll ich ihr raten? Bestünde ich darauf, sie zu sehen, würde sie, ohne zu zögern, nach Hause fahren. Doch dann wären wir wieder bei der Sache mit dem Egoismus. Zwei Tage länger? Oh Gott, ich habe total übersehen, wie rasch die Zeit vergangen ist. Wegen eines zusätzlichen Tages muss ich mir nun auch nicht mehr den Kopf zerbrechen, wie ich sie besuchen könnte. Warum habe ich nur so lange gezögert?

«Du, meine Hübsche, ich sehe den Staatsanwalt kommen. Ich muss Schluss machen. Ich kann dich später noch einmal anrufen, wenn du nicht gerade beschäftigt bist.»

In diesem Moment läutet es Sturm an meiner Tür, dass ich fürchterlich erschrecke.

«Ist bei dir Feueralarm?», höre ich Serena undeutlich an meinem rechten Ohr, während erneut jemand die Klingel missbraucht.

«Tut mir leid. Ich muss nachsehen, Serena.» Nur bruchstückhaft höre ich sie antworten und trenne das Gespräch.

 

Mit wenigen Schritten husche ich zur Bürotür und reiße sie mit Schwung auf. Mit allem habe ich gerechnet, nur nicht mit einer total aufgelösten Lucy, die mir heulend und zeternd in die Arme fliegt.

Ich weiche ein paar Schritte zurück und drücke sie fest an mich. Nur selten zuvor habe ich sie in solch einem desolaten Zustand erlebt. Die wildesten Gedanken schießen mir durch den Kopf. Ob Rebecca etwas zugestoßen ist? Oder meinem Schwager Holger? Oder am Ende beiden? Ein Verkehrsunfall? Ich wage es nicht, sie danach zu fragen, und streiche ihr beruhigend über die hüftlangen schwarzen Haare, die dringend einen Kamm benötigen. Meine Eigenen sind höchstens halb so lang.

«Das ist so gemein», höre ich sie undeutlich murmeln, eine Äußerung, die mich ängstlich aufhorchen lässt, jedoch auch ein bisschen beruhigt. Ist tatsächlich etwas Schlimmes passiert? Doch dazu will ihr Tonfall nicht so recht passen. Ich kenne sie zu gut, so als wäre sie meine Tochter und nicht meine Nichte.

Es kostet mir trotzdem eine gewisse Überwindung, sie zu fragen: «Was ist denn so gemein, Lucy?»

Sie löst sich vehement aus der Umarmung, geht einen Schritt zurück und stemmt herausfordernd die Fäuste in die Hüfte.

«Na, dass mich der Scheißkerl betrügt, was denn sonst?», schnappt sie aufgebracht, bekommt Schluckauf und angelt ein Taschentuch aus der Hosentasche der Hotpants. Nachdem sie sich ausführlich laut schnaubend geschnäuzt hat, wettert sie sofort weiter. «War ja eigentlich klar, dass ich ihm zu jung bin und er lieber mit älteren und erfahrenen Tussen herummacht. Ich dumme Pute.»

«Jetzt mal langsam. Was ist denn überhaupt passiert? Und bitte von Anfang an. Wer betrügt dich? Frederic?»

«Na wer denn sonst?», verdreht sie die Augen und gibt zumindest die aggressive Haltung auf. Mit einem Mal erinnert sie mich an ein Häuflein Elend, sodass ich sie am Liebsten gleich wieder in die Arme nehmen würde.

Lucy steuert einen der Sessel im Vorzimmer an und lässt sich ächzend fallen, während ich rasch die Tür schließe.

«Gestern hatte ich nur Vormittag Vorlesung. Da dachte ich, wenn es so schön draußen ist, dann könnten wir abends noch einen draufmachen. Ein Eis essen bei dem neuen Italiener, der auch exotische Sorten anbietet oder Spazierengehen unten am Fluss. Frederic war wegen eines Auftrags unterwegs. Er hat mich früh schon vorgewarnt, dass er nicht weiß, was auf ihn zukommt und wie spät es wird. Pah, der Mistkerl. Wers glaubt», stößt sie verächtlich aus, schaut zum Fenster und verstummt eine Weile.

Ich setze mich in den anderen Sessel ihr gegenüber, betrachte aufmerksam ihr Mienenspiel und warte geduldig, obwohl mir einige brennende Fragen auf der Zunge liegen. Sie knetet die Hände zwischen den nackten Schenkeln und entledigt sich der blauen Peep Toes, die als Pumps auch in meinem Schuhregal stehen. Wie sehr sie mir doch ähnelt, wenn sie verzweifelt ist.

«Stell dir nur vor», knurrt sie und schaut mir in die Augen. «Ich schwitze mir im Fiesta einen ab, hab mich extra in das neue kurze Kleid gezwängt. Du weißt schon, das Dunkelblaue, das wir zusammen gekauft haben und dann kommt er quietschvergnügt mit der aufgedonnerten Püppi aus der Firma gestiefelt. Hätte nur noch gefehlt, dass sie Händchen gehalten hätten. Madam hat ihn dann zu einem BMW Cabrio dirigiert und ihm sogar gönnerhaft den Autoschlüssel hingehalten. Ich war so was von stinksauer. Hätte nicht viel gefehlt und ich wäre aus dem Auto gesprungen und hätte ihn rund gemacht. Vermutlich hätte ich es getan, wenn er sich tatsächlich hinters Steuer gesetzt hätte. Sein Glück, dass er abgelehnt hat. Na ja, ich hab dann mal kurz den Verstand eingeschaltet und mir gedacht, es könnte ja auch harmlos sein.»

Sie sieht mein Grinsen und runzelt die Augenbrauen.

«Was denn? Sag bloß, du wärst nicht genauso sauer gewesen, wenn dein Jörg so eine Show abgezogen hätte?» Ihre blauen Augen funkeln mich herausfordernd an. Selbst wenn sie wütend ist, ähnelt sie mir wie ein Spiegelbild.

«Nein, nein, alles gut», antworte ich und hebe die Hände. Nur mühevoll kann ich das aufsteigende Lachen unterdrücken.

«Jedenfalls hätte es ja sein können, dass sie ihn nur nach Hause fährt. Ich wäre voll die blamierte Pute gewesen. Aber warum nimmt er verdammt noch mal nicht sein eigenes Auto? Hat er das Fahren verlernt? Eine Panne? Keinen Sprit? Oder zu viel getrunken? Am helllichten Tag? Egal, es war zu spät nachzudenken, weil sie losfuhren und ich unbedingt hinterher wollte.»

Sie fuchtelt mit den Händen, macht aber nicht den Eindruck, dass sie einen Kommentar von mir erwartet. So übe ich mich in Geduld, was nicht gerade zu meinen Stärken gehört.

«Aber Pustekuchen. Von wegen nach Hause bringen», stößt sie verächtlich aus und rudert mit den Armen herum. «Die sind doch ohne Scheiß schnurstracks zu diesem Schicki-Micki-Japaner gefahren. Der sündhaft teure Schuppen, der kürzlich nahe der Fußgängerzone eröffnet hat. Stell dir nur vor, Fleisch und Fisch bis zum Abwinken. Dabei dachte ich, er will keines mehr essen, der Heuchler.»

Ich kann mich nicht länger beherrschen und hebe die Hand. «Okay Lucy, stopp! Abgesehen, dass es auch vegetarisches Sushi gibt, lass mich bitte zusammenfassen.» Ich sehe deutlich, wie sehr es ihr missfällt, dass ich ihre Schimpftiraden unterbreche, wo sie sich gerade doch so in Fahrt befindet. «Die beiden sind nach der Arbeit noch in ein Restaurant gefahren und haben etwas gegessen, möglicherweise sogar Fisch und Fleisch. Ich sehe da erst einmal keinen Betrug. Hat er sich denn nicht gemeldet?»

Lucy starrt mich trotzig an und brummt: «Doch, eine popelige Sprachnachricht, es kann später werden. Ich soll mit dem Essen nicht auf ihn warten. Ist doch auch vollkommen klar, wenn er sich mit dieser Schnepfe japanisches Edelfutter reinzieht.»

«He, mal langsam. Das ist noch immer keinen Grund, dass du so reagierst. Oder ist er hinterher mit ihr in einem Hotelzimmer verschwunden?»

«Das nicht», antwortet sie gedehnt. «Ich wartete allerdings über zwei Stunden, bis sie endlich fertig waren. Doch anstatt dass sie ihn nach Hause gefahren hat, haben sie das Cabrio stehen lassen und ein Taxi genommen.»

Ich hebe erstaunt die Brauen und hole hörbar Luft. Für einen Augenblick kämpfe ich mit mir, ob ich weiter fragen soll. Schließlich siegt meine Neugierde. «Sie sind also mit dem Taxi gefahren, weil sie vermutlich beide etwas zu viel getrunken haben. Das finde ich recht löblich und umsichtig.»

«Ja genau löblich. Am Arsch!», schnappt Lucy mit zusammengekniffenen Augen. «In so eine doofe Bar in der Südstadt sind sie kutschiert, wo es nur so von voll geparkten Einbahnstraßen wimmelt. Die saßen dann noch mal geschlagene zwei Stunden in dem Schuppen. Schlürften bestimmt haufenweise Cocktails und amüsieren sich prächtig. Während ich fix und alle in der Karre vor mich hin schmorte, und nichts zu trinken oder zu beißen dabei hatte.»

«Zwei Stunden also. In einer öffentlichen Bar», stoße ich das Gespräch wieder an. «Und danach?»

«Na ja, sie hat ihn auf die Wange geküsst, glaube ich. Dann sind sie in zwei Taxis abgerauscht. Ich bin eine Abkürzung gefahren und war kurz vor ihm an der Wohnung.»

«Eine Abkürzung? Also ich kenne mich dort recht gut aus. Wo bitteschön gibt es dort eine Abkürzung?»

«Wenn du zweimal gegen die Einbahnstraße fährst, sparst du dir die ganze Runde um den Block», entgegnet sie lässig, bemerkt jedoch meinen strengen Blick und senkt den Kopf.

«Das ist jetzt aber nicht dein Ernst?», will ich sie zurechtweisen, als sie mich maulend unterbricht.

«Du fährst mit dem Fahrrad doch auch ständig ...»

«Ja, ja schon gut», winke ich ab, weil ich weiß, dass solche Diskussionen nichts bringen. Sie ist mir einfach zu ähnlich, nicht nur im Aussehen, sodass uns manche fälschlich für Mutter und Tochter halten.

«Und was war dann in der Wohnung? Hast du ihn gleich darauf angesprochen?»

«Nö, hab mich schlafend gestellt. Als er unter der Dusche verschwand, hab ich mich rasch ausgezogen.»

«Und morgens danach? Verdammt, lass dir doch nicht alle Wörter aus der Nase ziehen», brause ich auf.

«Nix. Er brach schon auf, als ich noch schlief.»

Für Sekunden herrscht Schweigen.

«Okay, für mich als Doofe fasse ich zusammen. Frederic ging mit der Auftraggeberin zum Essen und trank mit ihr anschließend in einer Bar ein paar Cocktails. Beide hatten Spaß. Die einzige Zuwendung, die du gesehen hast, war vermutlich ein Kuss auf die Wange. Hab ich was vergessen?»

Lucy zeigt mit einen Schmollmund und schüttelt trotzig den Kopf.

«Also ich glaube, du hast da einfach zu viel hinein interpretiert, junge Dame. Klar, ich wäre auch angepisst, wenn ich mit Jörg einen netten Abend verbringen möchte und er mir die Überraschung verdirbt, weil er lieber mit jemand anderen abhängt.» Es fällt mir jedes Mal schwer, ihre Sprache zu benutzen, auch wenn sie mich längst nicht mehr so intensiv wie früher mit ihrem Jugendjargon foltert.

«Du hast ja wenigstens Serena in Reserve», erwidert sie patzig und senkt den Blick.

Ich erspare mir einen bissigen Kommentar und übergehe ihre Bemerkung geflissentlich. Scheinbar ist das Thema nicht wirklich für sie abgehakt. Aber jetzt ist weder der richtige Ort noch die Zeit, dies in aller Ruhe auszudiskutieren.

«Ich kann dir nur so viel sagen, dass ich Frederic inzwischen recht gut kenne, und weiß, dass er jedes Mal ziemlich aufgekratzt war, wenn eines seiner Shootings gut lief. Da brauchte er hinterher jemanden zum Reden. Ich denke, das war dort nicht anders. Sie haben geredet. Oder hast du irgendetwas Verdächtiges beobachtet? Haben sie Händchen gehalten? Sich länger umarmt? Womöglich zum Abschied auf den Mund geküsst? Flüchtig auf die Wange zählt nicht.»

Lucy schüttelt erneut wortlos den Kopf.

«Dann rede mit ihm. Frage ihn einfach unverfänglich, wie das Shooting gelaufen ist. Ich garantiere dir, er wird dir ganz freiwillig von dem Abend erzählen. Vielleicht hat es ihm beim Japaner geschmeckt und bietet dir an, dass ihr dort auch mal zum Essen geht. Das ist der Frederic, den ich kenne. Genau so würde er sich verhalten, wenn du ihm nur eine Chance gibst.»

Sie schaut trotzig zu Boden.

Seufzend setze ich nach. «Weißt du denn überhaupt, was er dort in der Firma fotografieren soll?»

«Nein», brummt sie. «Nur dass es auch eine Woche dauern kann oder länger.»

«Aber nicht was oder wen?», bohre ich nach.

Lucys Kopf zuckt hoch. «Na bestimmt diese Tussi», schnappt sie. «Du hättest sehen sollen, wie sie rum lief. So schwarze nuttige Overknees mit mörderischen Absätzen und einen Rock, der nicht breiter wie ein Gürtel war. Ständig hat er ihr auf den Allerwertesten gestarrt.»

«He, he, junge Dame, mäßige dich. Ich trage auch gerne Overknees und kurze Röcke und bin ...», entgegne ich streng mit erhobenem Finger, doch Lucy unterbricht mich aufgebracht.

«Das ist etwas ganz anderes», schüttelt sie den Kopf. «Du kannst das auch tragen und zwischen nuttig und cool liegen Welten. Aber die? Die hat es doch nur angelegt, dass ....»

«... man ihr auf den Arsch glotzt?», lasse ich sie diesmal nicht ausreden, schüttle den Kopf und kann mir ein Grinsen nicht verbeißen.

Lucy zögert. Sie kann jedoch nicht länger böse sein und grinst ebenfalls. «Wenn sie denn wenigstens ’nen hübschen Arsch gehabt hätte, aber außer Bein war da nichts», stößt sie verächtlich aus.

«Das heißt, du hast einen Hübscheren?»

«Na aber hallo. Das will ich wohl meinen, Tante. Einen perfekten Apfel. So wie du eben», zeigt sie mir ein breites Grinsen und hebt die Augenbrauen.

Für einen Moment überlege ich, ob ich noch einmal nachfassen soll, fühle aber, dass noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen ist, mit ihr wirklich in aller Ruhe das Thema zu vertiefen. Stattdessen versuche ich, sie zu beruhigen.

«Na also, dann ist doch alles prima. Warum sollte sich Frederic freiwillig mit einer Älteren und Hässlicheren abgeben? Außer er muss beruflich? Und bedenke bitte, wen du als Freund hast. Einen Fotografen. Er wird immer andere Menschen genauer in Augenschein nehmen und sich vorstellen, wie derjenige oder diejenige in dieser oder jener Pose aussehen würde. Das ist eine Berufskrankheit, so wie bei mir, die sich ständig vorstellt, was meine Zielperson als Nächstes unternehmen könnte.»

«Das bei dir ist doch was total anderes», winkt sie ab.

«So? Ist es das?», hake ich nach und bringe sie einen Moment zum Verstummen. Sie glotzt mich mit offenem Mund an, schließt ihn langsam, lehnt sich in den Sessel zurück und senkt den Blick.

«Na ja, vielleicht habe ich wirklich ein bisschen ...», murmelt sie leise.

«... überreagiert?», beende ich den Satz.

Ich sehe, es kostet ihr eine große Überwindung, zu nicken. Deshalb versuche ich, sie zu beschwichtigen, und spiele den mächtigsten Trumpf aus.

«Bedenke bitte, du bist Frederics erste richtige Freundin. Du bestimmst in gewisser Weise die Spielregeln, darfst ihn aber nicht unnötig einschränken. Lass die Zügel etwas lockerer. Er war bisher Single und niemandem ständig Rechenschaft schuldig. Fotografieren ist alles, was er hatte. Es ist sein Beruf, vermutlich eher seine Berufung. Der ist ihm unglaublich wichtig, genauso wie du es bist, glaube mir. Außerdem bin ich froh, dass du dich darüber geärgert hast, denn es zeigt mir, dass dir etwas an ihm liegt. Das war bisher selten so deutlich erkennbar, wenn ich das sagen darf. Aber bitte, bringe das mit deiner Eifersucht auf die Reihe. Das ist weder für dich noch für ihn gut. Ich weiß, wovon ich spreche.»

«Okay, okay, hab verstanden. Was bin ich ihnen dafür schuldig, Frau Doktor?», neckt sie mich.

«Ich nehme 250 € die Stunde», entgegne ich schlagfertig und schaue auf eine imaginäre Uhr an meinem Handgelenk. «Das waren jetzt 20 Minuten und mit dem Familienrabatt, sagen wir 80 €? Zahlst du bar oder mit Karte?»

Lucy starrt mich wortlos mit großen Augen an. «Das war jetzt aber echt fies, Tantchen.»

«Ich hätte auch alternativ die unbeliebte Schmerztherapie mit disziplinierenden Komponenten im Angebot und könnte dich einfach übers Knie legen. Wäre dir das lieber?», frage ich mit gespieltem Ernst, hebe die Augenbrauen und mustere sie streng.

«Nein danke, heute nicht», lacht sie kopfschüttelnd. «Aber wenn du es mir noch öfter anbietest, komme ich bestimmt darauf zurück. Ich bin doch schon so gespannt, ob meine Tante nicht nur gut küssen, sondern auch züchtigen kann.»

Für einen Augenblick herrscht Stille. Da hat sie es doch tatsächlich geschafft, sich innerhalb einer Minute zu fangen und wieder die Alte zu sein. Die flinkzüngige Lucy mit einem Hang zum Frivolen, die ich kenne und die mir so sehr am Herzen liegt. Hoffentlich ist sie nun um eine Erfahrung reicher, seufze ich innerlich und bemühe mich um einen neutralen Blick. Ich sehe, wie es in ihrem Gesicht arbeitet, so als hätte sie noch ein oder zwei Fragen auf der Zunge, die sie sich nicht traut, mir zu stellen. Ich tue so, als würde ich nichts bemerken. Ist es ihr wichtig genug, wird sie mich fragen. Wenn nicht, dann ...? Ich komme nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu führen.

«Wie ist das eigentlich bei dir?», nuschelt sie undeutlich und rutscht unruhig auf dem Sessel hin und her, so als wäre ihr die Angelegenheit ziemlich peinlich. Ich stelle mich dumm und neige nur den Kopf fragend zur Seite. «Na du weißt schon», stöhnt sie und verdreht die Augen.

«Was soll ich wissen?», frage ich und bemühe mich um einen freundlichen Tonfall, obwohl ich mir denken kann, auf was sie anspielt. Und ich liege richtig mit meiner Vermutung.

«Ach Tante, bitte. Das ist ..., du weißt doch ..., na ja, ich hab es dir eigentlich versprochen ..., dass .... Ich wollte nicht nachfragen, weil du .... Jetzt mach es mir nicht so schwer», mault sie und errötet.

«Stimmt. Du wolltest es nicht mehr ansprechen», antworte ich gereizter als beabsichtigt. «Aber jetzt ist es sowieso geschehen. Leider muss ich dich enttäuschen. Ich weiß selbst noch nicht, wie ich mit der aktuellen Situation umgehen soll.» Ich beuge mich nach vorne und stütze mich mit den Armen auf den Knien ab. «Ich bin einerseits überglücklich, weil sich alles so reibungslos ergeben hat und sich beide prima verstehen. Andererseits weiß ich nicht, ob sie das alles nur mir zuliebe auf sich nehmen, weil sie mich nicht verletzen möchten oder denken, dass es mir sehr wichtig ist.»

Lucy hängt förmlich an meinen Lippen. Mit großen Augen und offenem Mund, hat sie sogar die Luft angehalten und stößt sie jetzt geräuschvoll aus.

«Echt megakrass. Und ihr pennt da quasi alle in einem Bett und jeder darf mit jedem knispeln? Das ist ja galaktisch, so wie auf einem Reiterhof? Ich glaube, ich wäre ständig gamsig und könnte an nichts anderes denken», sprudelt es aus ihr heraus. Erschrocken schlägt sie sie die Hände vor den Mund und errötet erneut bis zu den Haarspitzen. «Entschuldige, das ist mir nur so ..., weil die, na ja, du kannst dir denken, dass die Erzeugerfraktion, sich total taub stellt, wenn ich mal etwas fragen will.»

Ich starre sie sprachlos an, bemühe mich, nicht allzu doof auszusehen, und reime mir erst einmal rasch zusammen, was sie gerade von sich gegeben hat. Immer wenn sie besonders aufgeregt ist, fällt sie in ihre gewöhnungsbedürftige Jugendsprache zurück. Dabei habe ich mich vor ein paar Minuten gefreut, dass sie sie kaum mehr benutzt. Was soll ich ihr antworten? Ich erinnere mich nur zu gut an den Deal, uns alles zu erzählen. Doch wo liegt die Grenze? Seufzend lehne ich mich wieder zurück und verschränke die Arme vor dem Bauch. Nein, alles kann und werde ich ihr nicht erzählen.

«Okay, Lucy, also um eines klarzustellen. Wir sind kein Dauer-Swinger-Klub, wo sich die ganze Zeit alles nur um Sex dreht und wir nur in Dessous oder nackt durch die Wohnung rennen und dauernd übereinander herfallen.» Ich mustere sie streng und sehe ihr hektisches Nicken. Mein Blick wandert zum Fenster. Der Baum gegenüber zeigt bereits die ersten gelben Blätter. Wir nähern uns in großen Schritten dem Herbst. Oh Gott, wie soll ich ihr das nur erklären, wenn ich es selbst kaum verstehe? Ich hole tief Luft und fahre fort. «Also klar, Sex haben wir natürlich ab und an, wenn sich eine günstige Gelegenheit ergibt. Das wäre auch etwas unnatürlich, wenn nicht. Und wir haben uns geeinigt, dass jeder so darf, wie er es möchte. Also ja, es gibt keine No-Gos, was nicht automatisch heißt, dass wir alle ständig unsere Grenzen ausloten. Im Gegenteil, jeder darf Nein sagen, wenn ihm einmal nicht danach ist.» Was bisher jedoch nicht vorkam, ergänze ich in Gedanken. «Aber das ist nur ein kleiner Teil des gemeinsamen Lebens, wenn auch vermutlich für dich der spannendste», grinse ich und bringe Lucy erneut zum Erröten. «Noch mal, eine echte Beziehung ist mehr. Man teilt nicht nur das Bett, sondern ein Stück weit das Leben mit den anderen. Du erzählst, was dich erfreut, bewegt oder bedrückt. Das ist der viel wichtigere Aspekt. Ich habe das Glück, gleich zwei Menschen getroffen zu haben, die bereit sind, mit mir so etwas Kostbares zu teilen. Das ist ein ziemlich großes Geschenk, verstehst du? Dass die beiden dabei auch noch gut miteinander klar kommen, ist nicht selbstverständlich, sondern ein absoluter Glücksfall.»

Lucy nickt, bleibt jedoch stumm.

«Okay», seufze ich, aber mehr, um mich selbst zu bestätigen. «Stell dir das nicht so einfach vor. Es ist ein ständiger Prozess. Wir arbeiten jeden Tag hart daran. Und dabei ist es besonders wichtig, dass wir uns austauschen, viel mehr, als wenn wir nur zu zweit wären, vermute ich. Wir sind schließlich alle in einer Phase des Ausprobierens. Keiner von uns hat ein Universalrezept parat, wie und ob es überhaupt auf Dauer funktioniert. Trotzdem haben wir das Gefühl, dass es momentan .... Wie soll ich es sagen?», seufze ich und hebe den Blick. «Na ja, es tut uns einfach gut. Wir brauchen uns einander. Zumindest brauche ich beide. Und ich denke, Jörg und Serena können mittlerweile recht gut miteinander.» Mir schießt das Telefonat von eben durch den Kopf. Ich zucke die Schultern und werfe ihr einen hilflosen Blick zu. Denn genauso fühle ich mich, wenn ich recht nachdenke.

«Und haben Jörg und Serena schon, na ja, ...?», reißt mich Lucy aus den Gedanken. Diesmal sehe ich nur ernsthaftes Interesse, vermutlich weil sie sich einfach nicht vorstellen kann, dass ich dabei nicht vor lauter Eifersucht und Neid zerplatze. Doch was soll ich ihr sagen? Die Wahrheit? Dass ich es eben noch nicht gänzlich geschafft habe, meine Zweifel zu überwinden? Dass es beiden vielleicht zu sehr gefallen könnte, es miteinander zu tun? Dass am Ende ich es bin, die überflüssig ...? Nein. Schluss. Aus. Ich darf mich nicht in das heikle Thema hineinsteigern. Vor allem nicht jetzt, wenn ich nicht klar denken kann.

«Du willst es also wirklich wissen? Genügt dir ein schlichtes Ja?»

Lucy nickt. Ich sehe plötzlich Tränen in ihren Augen, als sie aufspringt und mir in die Arme fliegt. Ich spüre ihr heftiges Zucken und, die Feuchte an meiner Schulter, während sie mich ungestüm umarmt und drückt.

«Tut mir leid», schluchzt sie undeutlich. «Ich bin einfach nur eine blöde Ziege. Ich wollte dich ... nicht kränken.» Sie bekommt Schluckauf und löst sich von mir. Nervös wischt sie sich mit dem Handrücken über die Wangen und verwischt die schwarzen Kajal-Spuren quer übers ganze Gesicht.

«Wenn du willst, darfst du mir jetzt auch so richtig gründlich den Hintern versohlen. Ich hab es echt verdient», presst sie, unterbrochen von Schluckauf, hervor, und dreht mir ihre Kehrseite entgegen. Spontan gebe ich ihr ein paar Klapse, jedoch weit entfernt von einer Züchtigung.

«Komm her du Dummerchen.»

Lucy dreht sich zu mir und wirkt total verunsichert. Ohne zu überlegen, spitze ich die Lippen schließe die Augen und deute mit dem Finger auf den Mund. Lucy versteht sofort. Ich spüre ihren aufgeregten Atem, bevor ihre Lippen vorsichtig die meinen berühren. Zärtlich streicht ihre Zungenspitze über meine Oberlippe, bis ich bereitwillig den Mund weiter öffne. Sie verzichtet auf den üblichen tiefen Kontakt, belässt es bei einer sanften Annäherung, was mich insgeheim erstaunt. Nahezu zaghaft und schüchtern erkundet ihre Zunge die Gegenspielerin.

Ich höre ihr angestrengtes Keuchen, als sie mich abrupt freigibt, und öffne die Augen. Sie schielt auf meine Lippen, so als würde sie mich am Liebsten noch einmal küssen. Doch sie erhebt sich, steht kerzengerade vor mir und knetet die Hände hinter ihrem Rücken.

«Danke Elli.»

Ich nicke wortlos lächelnd und warte, was noch kommt. In ihrem Gesicht arbeitet es. Sie senkt den Kopf und starrt auf den Boden vor ihr.

«Du bist bestimmt die geilste und coolste Tante, die es auf der Welt gibt», murmelt sie undeutlich, hebt den Kopf und verdreht die Augen. «Aber ich glaube, ich brauche jetzt erst einmal dringend deinen Spiegel.»

«Könnte nichts schaden», antworte ich amüsiert und schaue ihr hinterher, wie sie mit hochroten Wangen an mir vorbei huscht und in Richtung Toilette entschwindet.

So ist Lucy. In vielen Dingen mir so ähnlich. Nein, das Diplomatie-Gen fehlt uns beiden definitiv. Ich muss schmunzeln und erhebe mich aus dem Sessel.

Welche Überraschungen mich wohl heute noch erwarten werden? Eigentlich ist mein Kontingent bereits jetzt erschöpft. Dabei es ist nicht einmal Mittag.

 

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Er erkennt die Nummer im Display auch ohne Namensanzeige, wie jene Kollegen, die bereits auf die neue Telefonanlage umgestellt worden sind. Mit gemischten Gefühlen nimmt er ab und holt noch einmal tief Luft.

«Hallo Renate. Das ging aber fix oder hast du noch ein paar Fragen an mich?», meldet er sich freundlich.

«Hallo lieber Kollege. Zur Abwechslung könnte ich mit ein paar Antworten dienen. Deal?»

«Aber immer doch. Deal», lacht er und kann sich Renates spitzbübisches Grinsen lebhaft vorstellen. Auch etwas, das sie mit ihrer Kollegin Miriam gemeinsam hat.

«Na gut, dann fange ich mal von vorne an. Unser Opfer ist ein gewisser Arthur Holstein, Arthur mit ‹H› geschrieben. Er stammt nicht aus der Stadt, ist 39 Jahre alt, seit drei Jahren geschieden, kinderlos und seines Zeichens Wirtschaftsgeograf mit Schwerpunkt auf den Tertiärsektor, also den Handel. Er arbeitet in einer befristeten Anstellung für eine Investmentgruppe hier in der Stadt. Hat sich jedoch ein paar Tage freigenommen und wurde deshalb nicht vermisst. Sein Vertrag läuft noch knapp zehn Wochen. Aktuell suchen wir Verwandte, haben erfahren, dass er eine Schwester hat, die allerdings vor zwölf Jahren nach Kanada ausgewandert ist. Die Eltern sind beide seit ein paar Jahren tot. Die Mutter verstarb an Brustkrebs und der Vater hat es wohl nicht verkraftet. Er kassierte eine Anzeige vom Arbeitgeber wegen tätlichen Angriffs und wurde fristlos gekündigt. Danach verlor er noch wegen Trunkenheit am Steuer den Führerschein. Ein Jahr später verstarb er bei einem Treppensturz mit mehr als 2,6 Promille Alkohol im Blut. Holsteins geschiedene Frau hat wohl wieder geheiratet und ist fortgezogen, was die Suche momentan erschwert.»

«Ich bin beeindruckt», bemerkt er.

«Ich sagte dir doch schon vor Kurzem, unser Küken, die Judith Hofmann ist eine wahre Pracht. Manchmal bin ich mir jedoch nicht sicher, welche Quellen sie anzapft», kichert sie.

«Das will ich gar nicht wissen», stöhnt er. «Solange es niemand an die große Glocke hängt.»

«Ich werde mich hüten, Klaus. Aber nun zu den eigentlich spannenden Themen. Unser Herr Holstein war Vegetarier und das schon seit einigen Jahren, wie mir die Blutanalyse und die Organe verraten haben. Zumindest das, was uns die netten Flussbewohner noch übrig ließen. Er war in einem sehr guten körperlichen Zustand und befand sich wohl an diesem Morgen auf seiner üblichen Joggingrunde. Das haben inzwischen auch einige Zeugenaussagen bestätigen können. Das Projektil ist tatsächlich etwas exotisch, wenn wir von unseren hiesigen Verhältnissen ausgehen.»

«Wie darf ich das verstehen?», fragt er dazwischen.

«Nun, wir haben es mit einem echten Fossil zu tun, wenn du mir die Bemerkung erlaubst. Die Projektile stammen aus einer 7,62 x 38 mm R, einer Munition für den 7-schüssigen Nagant M1895 Trommelrevolver, der schon über 120 Jahre auf dem Buckel hat.»

«Ein Revolver? Und das im Freien? Warum hat da niemand wenigstens einen der Schüsse gehört?», meint er erstaunt.

«Tja, ich sehe, es ist dein erster Fall mit einem Nagant», kichert sie erneut.

«Ähem, ja?»

«Das erstaunt mich nicht, Klaus. Der belgische Konstrukteur Henry-Léon Nagant entwarf den gasdichten Revolver und die dazu passende Munition, die in ihrer Form einzigartig war. Produziert wurde alles in seiner Waffenfabrik in Lüttich. Das Modell war in der Zeit von Zar Nikolaus II. ziemlich beliebt, kam jedoch bis in die 1980er-Jahre in Russland vor allem als Ordonnanzwaffe und später bei Wach- und Sicherheitspersonal zum Einsatz.»

«Ein gasdichter Revolver? Was soll das nun wieder?», murrt er leicht genervt. Seine Kollegin liebt es, sich die wesentlichen Details aus der Nase ziehen zu lassen. Eigentlich hatte er gedacht, sich längst daran gewöhnt zu haben. Doch aus unerfindlichen Gründen reagiert er heute recht empfindlich.

Renate lässt sich zum Glück nichts anmerken und fährt seelenruhig fort. «Das heißt, man kann einen Schalldämpfer benutzen. Außerdem wurde die Treibladung der Patrone zusätzlich so gewählt, dass bei der relativ niedrigen Mündungsgeschwindigkeit von 280 m/s kein Überschallknall entsteht. Es wurde tatsächlich von dem Brüderpaar Mitin ein solcher Schalldämpfer gebaut und hört auf den Namen BraMit, benannt nach den Entwicklern. Damals wurden die Revolver überwiegend an die Spezialkommandos des NKWD ausgegeben. Oh, entschuldige, es handelte sich dabei um das russische Volkskommissariat für innere Angelegenheiten. Eine Unterabteilung des Innenministeriums oder in deren Sprache ‹Narodnyj kommissariat wnutrennich del›, wenn dir das lieber ist.»

«Okay, ich sehe, du hast dich perfekt vorbereitet. Und dein russisch klingt übrigens recht ... nun, authentisch» fügt er anerkennend hinzu.

«Das nehme ich mal als Lob entgegen und bedanke mich artig im Namen meiner Russischlehrerin, die mich ganze vier Jahre damit quälte.»

«Aha, interessant», antwortet er anerkennend.

«Ja stimmt, und schon eine halbe Ewigkeit her. Aber nun zu den Einschüssen», wechselt sie rasch das Thema, so als wäre es ihr unangenehm, darüber zu reden. «Wie ich dir bereits am Tatort geschildert habe, waren zwei der drei Schüsse sofort tödlich. Ich habe mit Judith inzwischen versucht, den Hergang zu rekonstruieren, aber ich muss dir gleich sagen, dass vieles auf purer Spekulation beruht. Da der Täter einen Revolver benutzte, fanden wir folglich keine Patronenhülsen, lediglich einige Fußspuren und ein Häufchen Papierasche, was aber von jeder x-beliebigen Person stammen könnte.»

«Du gehst also, wie ich auch von einem Profi aus?»

«Aber 100%ig, Klaus. Den Revolver bekommst du mit Munition und Schalldämpfer auf dem Schwarzmarkt nicht ohne gewisse Beziehungen. Meine Leute bestätigten mir, dass sie sogar im Darknet ziemlich selten ist. Deshalb bin ich mit den Kollegen von der KTU die gesamte Strecke, von der Fundstelle der Leiche, auf beiden Flussseiten ein ganzes Stück bis hinter das Wehr abgelaufen. Es bleibt eigentlich nur eine Stelle, die optimal für einen Profi wäre. Man kann das Opfer relativ gut im Auge behalten. Und wichtiger, ohne Verdacht zu erregen, zuschlagen.»

«Du denkst an eine bestimmte Stelle im Park?»

«Genau, Klaus. Und präziser tippen Judith und ich auf die schmale Holzbrücke, die er bei seinen üblichen Runden benutzt hatte, um den Fluss zu überqueren. Ein Wegstück unterhalb steht eine Bank hinter einem dichten Gebüsch. Dort, wo wir auch dieses Aschehäufchen gefunden haben. Ich hätte es prompt übersehen, wäre ich nicht auf der Bank gesessen. Aber jetzt erst einmal zu unserer Vermutung. Man kann am Gebüsch vorbei den in einem weiten Bogen verlaufenden Weg einsehen. Ich wartete also ab, bis Judith heran joggte, um die Brücke zu überqueren, und startete ebenfalls. Doch jedes Mal kam ich zu spät für einen günstigen Schusswinkel. Oder ich hätte sprinten müssen und wäre sicherlich unwillkürlich entdeckt worden. Außerdem glaube ich nicht, dass jemand im vollen Lauf in der Lage ist, solch präzise Schüsse abzufeuern.»

«Also stehen wir wieder am Anfang», fragt er resigniert.

«Nicht unbedingt», antwortet sie gedehnt.

Er muss sich beherrschen, um nicht pampig zu reagieren. «Nicht unbedingt heißt, du hast eine Idee?»

«Genau erkannt. Besser gesagt sind es gleich zwei. Erstens hat die Waffe eine weitere Besonderheit. Der ursprüngliche Revolver wurde als Double-Action-Modell konzipiert und überwiegend an Offiziere und die Polizei ausgegeben. Davon sind auf dem Schwarzmarkt jedoch kaum welche zu finden. Die deutlich leichter verfügbare Single-Action-Ausführung, wenn man überhaupt von ‹verfügbar› sprechen kann, braucht für die erste Schussabgabe ein Abzugsgewicht von ca. zehn Kilogramm.»

«Was sagst du? Das ist ja mörderisch viel», unterbricht er sie ungläubig. «Bei unserer Dienstwaffe sind das gerade einmal zwei Kilogramm.»

«Genau, Klaus. Das bringt mich zu der Vermutung, dass es ein Vollprofi sein muss, der bereits genügend Erfahrung gesammelt hat. Und dann wäre da noch zweitens. Eine Zeugenaussage könnte uns im Bezug auf die Frage zum Timing das fehlende Puzzleteil geliefert haben. Unser Opfer nutzte die Brücke, um sich wie auf einem Trimm-dich-Pfad zu dehnen.»

«Er unterbrach also seinen Lauf?»

«Richtig erkannt. Und sobald ich Judith mit ein paar Dehnungsübungen auf die Strecke schickte, klappte das Timing perfekt. Der Schütze hatte zeitlich sogar ein bisschen Spielraum und konnte das Lauftempo variieren.»

«Aber schaute das Opfer dann nicht direkt in die Richtung des Täters?»

«Doch, das tat er, wenn er bezogen auf die Laufrichtung nicht das rechte Geländer benutzt hat. Allerdings habe ich die Tatzeit mit den Zeugenaussagen abgleichen können. Es würde grob in das Zeitfenster passen und es wäre noch ziemlich dunkel gewesen. Genauer kann ich es bei einer Wasserleiche sowieso nicht bestimmen. Außerdem was hatte der Schütze zu befürchten? Selbst wenn er die Tat hätte abbrechen müssen, weil jemand Fremdes ihn gestört hätte, sehe ich da kein Problem, im Gegenteil.»

«Stimmt. Wenn sie sich nicht nur einmal, sondern mehrmals begegnet wären, dann hätte das Opfer womöglich überhaupt keinen Verdacht geschöpft. Zwei Jogger, die sich morgens zur gleichen Zeit begegnen, sind sicherlich nicht so selten und ungewöhnlich.»

«Du hast es erkannt. Fehlt also nur der eigentliche Tathergang. Ich gehe davon aus, dass die Schüsse nicht zufällig erfolgt sind. Genügt hätten schließlich Kopf und Herz, um zu töten. Aber ich denke unser Täter beherrscht sein Handwerk und legt großen Wert auf Details. Mit dem kleinen Kaliber provozierst du kaum eine Bewegung beim Opfer. Das heißt, wenn er ihn lediglich hätte umbringen wollen, wären die beiden tödlichen Schüsse völlig ausreichend gewesen. Das Opfer wäre jedoch nur mit großem Zufall von alleine ins Wasser gefallen. Es wäre einfach auf der Holzbrücke zusammengebrochen. Jemand hätte es extra anheben und in den Fluss werfen müssen. Dazu fanden wir absolut keine Blut- oder Faserspuren auf der Brücke, mit Ausnahme von einzelnen Fasern am Holmende, wo er vermutlich seine täglichen Dehnübungen absolvierte. Deshalb gehe ich davon aus, dass der erste Schuss die Schulter traf und das Opfer dadurch aus dem Stand oder im beginnenden Lauf in eine Drehbewegung versetzt wurde. So als würde dir jemand einen heftigen Schlag versetzen. Danach folgten die tödlichen Schüsse. Vermutlich wäre er von alleine über die Brüstung in den Fluss gekippt. Wenn der Täter auf Nummer sicher gehen wollte, half er jedoch nach. Die Distanz zum letzten Schuss betrug nicht mehr als fünf Meter. Es wäre kinderleicht gewesen, binnen weniger Schritte nach der Schussabgabe dem Opfer einen leichten Stoß zu versetzen. Und schwups wäre es geschehen. Wohlgemerkt, ein kleiner Rempler und kein mühevolles Anheben und Hochwuchten.»

Für einen kurzen Augenblick ist er sprachlos. Alles klingt völlig plausibel. Einmal mehr scheint Renate auf der richtigen Spur zu sein.

«Meine Hochachtung, Frau Kollegin. Wenn du weiterhin so gründlich arbeitest, fühle ich mich allmählich überflüssig», entgegnet er.

«Danke für die Blumen, aber ich muss dich enttäuschen. Erstens ist es nur eine vage Idee und zweitens darfst du gerne weiterhin das mit der Tätersuche, dem Verhaften und dem Verhören übernehmen.»

«Oh wie gnädig», witzelt er. «Allerdings bleibt noch die wichtigste Frage, die nach dem Motiv.»

«Da muss ich dir zustimmen. Ich habe bisher absolut keine Ahnung, was unser Herr Holstein, ein geschiedener Wirtschaftsgeograf, verbrochen hat, dass ihn jemand nicht nur umbringen, sondern völlig von der Bildfläche verschwinden lassen möchte», antwortet sie hörbar ratlos.

«Ich vermute, eine Beziehungstat können wir vorerst ausschließen.»

«Du denkst an seine geschiedene Frau? Kaum vorstellbar, selbst wenn er ihr Alimente schuldig wäre. Deshalb bringt man niemanden um. Tote zahlen selten», lacht sie trocken.

«Wohl wahr. Trotzdem soll sich Brunner das Umfeld genauer anschauen. Und du schickst mir alle Daten?»

«Ja klar, ein paar Dateien habe ich dir schon ins Verzeichnis gestellt. Der Rest folgt, wenn ich den Herren komplett gesichtet habe. Einige Stellen fehlen noch, da sie teilweise zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurden. Das verzögert die Analyse der Hautverletzungen ungemein. Ebenso verhält es sich im Unterbauchbereich, wo die Aale besonders gründlich gewütet haben», seufzt sie und erspart ihm zum Glück weitere Einzelheiten.

«Okay, vielen Dank erst mal. Wir hören uns wieder.»

«Gerne geschehen. Das hoffe ich auch, denn wenn wir uns sehen würden ...»

«... gäbe es eine weitere Leiche», beendet der den Satz seufzend. «Tschüss Renate.»

«Tschüss Klaus.»

 

Er trennt das Gespräch. Trotz Renates üppiger Informationen hat er keine Tatverdächtigen, keine Zeugen und vor allem kein sinnvolles Motiv anzubieten. Eine Beziehungstat wäre momentan die einzige plausible Erklärung. Aber welche Frau schickt gleich einen Auftragsmörder für ihren Ex auf den Weg? Dafür müssten schon sehr schwerwiegende Gründe existieren. Todesangst? Oder sehr viel Geld, denn Killer sind teuer. Beides erscheint ziemlich weit hergeholt, denn würde jemand nicht zuerst die Polizei aufsuchen, wenn er sein Leben bedroht sieht? Und Geld? Herrn Holsteins Vermögen ist sehr übersichtlich, bewegt sich im niederen sechsstelligen Bereich, was bei seinem Beruf nicht ungewöhnlich ist. Er lebt nach der Scheidung für seine Verhältnisse sehr sparsam. Bisher ist Holstein ein völlig unbeschriebenes Blatt und nicht einmal wegen Geschwindigkeitsüberschreitung aktenkundig. Die Scheidung verlief einvernehmlich ohne anhängende Klagen. Trotzdem kann es hilfreich sein, wenn er Holsteins Ex-Frau auf den Zahn fühlt. Vielleicht weiß sie etwas, das die Ermittlungen nicht verraten. Und mit ein bisschen Glück erfährt er sogar den Scheidungsgrund. Ein wichtiges Puzzleteil, wenn es darum geht, sich ein schlüssiges Gesamtbild des Opfers zusammenzubasteln. Brunner soll die Frau ausfindig machen und einbestellen.

Sein Blick fällt auf die Aktenberge vor ihm, die ständig zu wachsen scheinen. Schlagartig verlässt ihn die Lust. Ein bisschen Abstand könnte nichts schaden. Er dreht sich um und schaut durch die Scheibe auf Brunners Arbeitsplatz. Sein Kollege ist fleißig am Telefonieren. Dann muss es eben noch ein bisschen Warten, bis er ihn auf Holsteins geschiedene Frau ansetzen kann. Schade, denn Außendienst und eine Befragung vor Ort wäre genau die Abwechslung gewesen, die er momentan benötigt.

 

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Ich musste Lucy versprechen, sie über sämtliche ungewöhnlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit Frederic auf dem Laufenden zu halten. Denn ich als seine Nachbarin hätte schließlich die besten Einblicke. Ich zog ihr jedoch sofort den Zahn, dass ich definitiv weder rund um die Uhr das Treppenhaus überwachen, noch Frederic observieren würde. Wenn ich zufällig etwas mitbekäme und es für relevant erachte, dann ja. Lucy verhielt sich klug genug, nicht weiter nachzubohren, denn sie hatte meine unterschwellige Kritik an ihrem übergriffigen Wunsch durchaus verstanden. Vertrauen erarbeitet man sich nicht dadurch, dass man jemanden hinter seinem Rücken bespitzelt, den man eigentlich liebt.

Ich verabschiede sie an der Tür mit einer Umarmung und schüttle wortlos den Kopf, als sie auf meinen Mund schielt. Beschämt senkt sie den Blick und hat es mit einem Mal eilig. Sie winkt mir kurz zu, während sie mit den hohen Hacken die Treppen hinunter hastet. Mir bleibt beinahe das Herz stehen und ich sehe sie schon mit Knochenbrüchen und einer Platzwunde am Kopf im Krankenhaus liegen. Beruhigt atme ich aus, als ich nur wenig später die Haustür ins Schloss fallen höre. Ich werfe einen Blick nach oben. Frederics Wohnung und Fotostudio befinden sich ein Stockwerk über meinem Büro. Nein, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass an Lucys Verdacht irgendetwas wahr sein sollte. Er ist rundherum ein feiner Kerl. Seufzend schließe ich die Tür und schiele zur Kaffeemaschine. Ob ich mir einen Kaffee gönnen sollte, auch wenn ich bestimmt keine zusätzliche Anregung brauche?

Das Telefon unterbricht die Überlegung. Ich husche zum Schreibtisch. Erstaunt schaue ich auf das Display.

«Hallo Walter, was ist los?», begrüße ich meinen Ex-Freund etwas barscher als beabsichtigt.

«Oh, hallo Baby. Entschuldige, störe ich dich? Ich kann es auch später noch ....»

«Nein, nein, tut mir leid. Alles gut», versichere ich rasch, doch es gelingt mir nicht, ihn zu täuschen.

«Was tut dir denn leid, Baby? Ich will dir wirklich nicht auf den Wecker gehen.»

«Das tust du auch nicht», versichere ich ihm, so versöhnlich ich kann. «Ich hatte nur gerade Besuch von Lucy. Sie war total durch den Wind, verstehst du?»

«Lass mich raten, Zoff mit deiner Schwester oder Liebeskummer?»

«Letzteres», lache ich und wundere mich zugleich. Walter glänzte in der Vergangenheit kaum durch sein Feingefühl, geschweige denn dadurch, sich in andere Leute hinein zu versetzen. Wobei ich zugeben muss, dass er sich deutlich gebessert hat, nachdem er endlich jemanden gefunden hat. Silke Scherer, eine Ex-BKA-Beamtin, scheint ihm genau das zu geben, was er braucht. Sie hat geschafft, was ich nie vermochte. Anfangs versetzte es mir einen Stich, wenn ich erkennen musste, dass eine andere Frau besser mit ihm umgehen konnte als ich. Mittlerweile habe ich jedoch verstanden, dass es nicht alleine an mir gelegen hat. Es war einfach nicht die Zeit für uns beide. Genauso wie ich musste Walter sich nach unserer Trennung mit sich selbst beschäftigen und für sich erkennen, was er will und was nicht. Ich mag nicht behaupten, dass ich es besser geschafft habe, wie er. Doch ich denke, dass wir beide nach ein paar Fehlversuchen nun endlich Partner gefunden haben, die mit unseren Macken einigermaßen klar kommen.

«Oha, ich befürchte, du hast dein Kontingent an Tränen, Wut, Leidenschaft und heißen Küssen für heute bereits ausgeschöpft?», kichert er.

Mir verschlägt es die Sprache. Woher weiß er, dass Lucy und ich uns küssen? Ich erröte wie eine Tomate und kann nichts dagegen tun. Walter scheint sein Kommentar wohl peinlich, als ich ihn dezent räuspern höre.

«Na ja, Baby, ich bin überzeugt, du hast ihr die richtigen Tipps geben können. Und schließlich heilt die Zeit alle Wunden. Schau uns an», bemerkt er sanft.

Dankbar, dass er das peinliche Thema nicht länger verfolgt, was ich insgeheim befürchtet habe, denn das wäre der Walter, den ich nur allzu gut kenne. Ich antworte so neutral wie möglich: «Das kann ich nur hoffen. Aber ich denke, dass die eine oder andere Narbe bleiben wird.»

«Hey Baby, Narben sind die neuen Tattoos und Piercings. Wer es ernst meint mit einer Sache, der kassiert auch mal die eine oder andere Narbe. Sie machen uns interessanter, obwohl da bei dir nie Mangel herrschte», gluckst er leise.

Mir fehlen erneut die Worte. Walter als Philosoph? Was hat Silke nur mit ihm angestellt? Diesmal fange ich mich rascher. «Ich fasse das mal als Kompliment auf, Herr Hartmann, und bedanke mich artig.»

«Gerne geschehen Baby. Ich will dir jedoch nicht die Zeit stehlen und rufe eigentlich nur an, weil ich endlich die Bremsscheiben und passenden Bremsschläuche bekommen habe. Das stand noch aus, sonst können wir die nächste Hauptuntersuchung für deinen Liebling gleich vergessen.»

«Toll danke», antworte ich verwirrt, weil ich mit allem gerechnet habe, nur nicht damit.

«Du kannst ihn jederzeit vorbeibringen und ein paar Stunden später wieder abholen. Ich habe seit Kurzem jemanden für den Fuhrpark gefunden. Gregor ist gelernter KFZ-Meister und Kampfsportler zugleich. Eine Kombi, nach der ich schon ewig gesucht habe», seufzt er.

«Oh, das freut mich. Und danke für deine Bemühungen.»

«Aber immer gerne, Baby. Ich weiß doch, wie sehr du an deinem betagten Briten hängst.»

Für Sekunden herrscht Schweigen. Walter, der Helfer in der Not. Irgendwie haben wir es tatsächlich geschafft, uns zu trennen und doch Freunde zu bleiben. Ein Umstand, den ich sehr schätze. Auch wenn es immer noch ab und an schmerzt, weil es mich an das eigene Versagen und die unzähligen Fehler erinnert, die ich begangen habe.

«Wie geht es Silke?», unterbreche ich die peinliche Stille und höre ihn erneut räuspern.

«Ach ganz gut, danke der Nachfrage. Sie hat sich prima ins Team integriert und sich echt bemüht, nicht wie die Freundin des Chefs rüberzukommen.»

«Eine echte Diplomatin also, und das trotz BKA-Vergangenheit, Respekt», kichere ich. «Die perfekte Ergänzung für dich, so wie Yin und Yan oder noch besser, The Body and the Brain», necke ich ihn und er springt sofort darauf an.

«He, was soll das heißen? Willst du mir unterstellen, ich wäre dumm und undiplomatisch, Baby?», braust er auf, doch ich weiß, dass es nicht ernst gemeint ist.

«Das würde ich niemals tun. Du bist in jedem Fall genauso diplomatisch wie ich», entgegne ich knochentrocken.

Für einen Augenblick herrscht Stille, bevor wir beide herzhaft lachen, bis mir die Tränen kommen.

«Oh Baby, du bist unverbesserlich. Jetzt weiß ich, was mir manchmal fehlt.»

«Du hast ja meine Nummer. Ruf mich einfach an. Und richte Silke schöne Grüße von mir aus.»

Walter räuspert sich. «Werde ich machen. Sie will mich sowieso heute Mittag im Büro besuchen. Bisher haben wir es vermieden, dass sie mich alleine – na ja, du weißt schon, wegen des Geredes.»

«Seit wann stört dich das Geschwätz anderer?», frage ich amüsiert und höre erneut Verlegenheit in seiner Stimme.

«Das ist nicht nur auf meinem Mist gewachsen. Aber ich muss zugeben, wir sind bisher ganz gut damit gefahren.»

«Hört, hört, Hengst Hartmann wird bieder und solide, aber hoffentlich nicht langweilig.»

«Hey Baby, das ist unfair. Ich, na ja ....»

«Ja okay, sorry. Euer Sexleben geht mich eigentlich ...», lenke ich ein, aber er lässt mich nicht ausreden.

«Das ist es doch», schnappt er aufgebracht. «Denkst du, ich habe es vergessen, was damals auf dem Schreibtisch passiert ist? Jedes Mal wenn ich die Kratzer sehe, dann ....»

Diesmal unterbreche ich ihn. «Die Kratzer? Von den Absätzen? Du meinst, du hast das alte Ding nicht längst in den Sperrmüll gegeben, auf dem wir damals ...?» Mir wird schlagartig schwindelig, sodass ich den Satz nicht beende. Ich kann mich noch ziemlich lebhaft an den Tag erinnern, als ich ihn mit einem spontanen Picknick überraschen wollte. Fast Food von unserem Lieblingschinesen. Ihm war jedoch wieder einmal nach einer schnellen Nummer gleich an Ort und Stelle und brauchte mich nicht lange überreden. Er verschloss die Tür und nahm mich auf dem Schreibtisch nach allen Regeln der Kunst. Ich revanchierte mich und ritt ihn wie eine Furie, bis er endlich aufgab. Hinterher war ich nicht nur fix und alle, sondern hatte auch ein gutes Dutzend blauer Flecken und mit den Absätzen lange Kratzer im Furnier hinterlassen. Er sah es gelassen und meinte nur, manche würden ihre Initialen in die Baumrinde ritzen. Da wäre es so effizienter. Typisch Walter. Ich spüre, wie die Hitze in mir aufsteigt. Den Sex mit ihm werde ich wohl nie vergessen, obwohl ich mich aktuell nicht beschweren darf. Im Gegenteil. Trotzdem war es mit ihm anders. Irgendwie verruchter, spontaner und immer mit dem Hauch des Verbotenen. Das Einzige das wir wirklich gut hinbekommen hatten. Aber auch das Einzige, das uns letztendlich verband. Zu wenig für eine echte Beziehung.

«Ich hänge an meinem Mobiliar», entgegnet er trotzig.

«Du meinst an deinen Antiquitäten.»

«Hey, damit sind jede Menge Erinnerungen verbunden. Mein erster Auftrag, die erste Stichwunde, der erste Gehaltsscheck, den ich ausbezahlt habe ... und der großartige F....»

«Lass stecken. Bitte!», unterbreche ich ihn stockend und kämpfe mit den unterschiedlichsten Emotionen.

«Sorry Baby. Ich hab mich treiben lassen», sagt er zerknirscht.

«Kein Thema. Dann hoffe ich nur für Silke, dass du diesmal wenigstens ein paar Kissen zur Hand hast.»

«Elli, Baby, was denkst du nur von mir?», posaunt er entrüstet, doch ich kenne ihn besser. Manches ändert sich eben nicht so leicht.

«Nur das Beste, mein Freund. Eine Decke tuts auch. Also viel Spaß und ich melde mich wegen des Minis.»

«Okay, prima. Dann bis demnächst. Ich muss jetzt fix ein paar Kissen besorgen. Oder wo lag die Steppdecke immer?»

Sein Lachen hallt noch in meinem Ohr, als ich das Gespräch trenne und das Mobilteil behutsam in die Station stelle. Da dachte ich doch allen Ernstes, dass ich das Kapitel Walter längst ad acta gelegt habe. Doch irgendwie gelingt es ihm immer wieder, das Schloss des Safes in meinem Kopf zu knacken und die Tür ein kleines bisschen zu öffnen. Vielleicht sollte ich über einen Strategiewechsel nachdenken und es endlich als das akzeptieren, was es war. Ein sehr erlebnisreiches Kapitel meines Lebens mit allerlei Höhen und Tiefen. Ein Experiment, das jedoch scheiterte. Ich habe schmerzhaft daraus gelernt und er offensichtlich auch. Und was will ich mehr, als einen Freund, auf den ich mich 100%ig verlassen kann und der mich aus jeder noch so ausweglosen Situation befreien würde, selbst wenn er dabei sein Leben riskiert. Da gibt es nicht viele Menschen, die das für mich tun würden. Jörg in jedem Fall und Klaus ebenso. Doch beiden fehlt die Erfahrung, sich in Notsituationen dabei nicht selbst in Gefahr zu bringen. Daran ändern weder die Ausbildung noch die Dienstwaffe von Klaus etwas.

Mit gerunzelter Stirn starre ich auf das Mobilteil. Warum habe ich mich wieder auf seine kleinen Spielchen eingelassen? Wo ich doch genau weiß, dass es mir nicht guttut? Oder wäre es endlich an der Zeit, ihm und auch mir selbst zu vergeben? Es sind Erinnerungen, die uns verbinden, zugegeben recht spezielle. Aber was damals geschehen ist, kann ich nicht mehr ändern und will es auch nicht. Es war eine verrückte Zeit und noch heute habe ich das Gefühl, es zu spüren, die ständige Bereitschaft und Geilheit, die uns beide gefangen hielt. Es geschah oft. Täglich. Manchmal auch mehrmals. Keine Ahnung, woher wir die Kraft nahmen und trotzdem unsere Jobs erledigen konnten. Dafür müssen wir uns weder schämen, noch etwas bereuen. Den größten Fehler, den ich beging, war es zuzulassen, diese Erlebnisse mit gewaltigeren und intensiveren Momenten zu überdecken. Das war egoistisch und darüber hinaus völlig unfair. Jörg hat es nicht verdient, dass ich ihn mit meinem Ex vergleiche. Er gibt mir so viel mehr auf allen möglichen Ebenen, als Walter es jemals getan hat und es niemals könnte. Beide haben ihre Stärken und Schwächen. Nicht der Vergleich ist allerdings wesentlich, sondern wie ich mich letztlich entschieden habe. Dabei haben sich nicht nur mein Bauch und mein Herz eindeutig für Jörg ausgesprochen. Das ist alles, was zählt. Und damit sollte ich es endlich bewenden lassen.

Ich angle mir die Notizzettel mit Franka Herrlers Angaben und starte den PC. Meist hilft es mir in einem Fall klarer zu sehen, wenn ich alles in die Klientendatenbank eingebe. Noch während ich warte, dass das System hochfährt, krampft es in meinem Bauch. Binnen Sekunden sind auch die letzten erotischen Bilder von meiner Episode mit Walter verschwunden. Mist, ich habe die Regel total vergessen. Genervt stehe ich auf und eile zur Toilette. Dort müsste ich auch noch ein paar Tampons für Notfälle deponiert haben. Wenigstens ist der Spuk bald vorbei, wenn es so heftig beginnt – hoffe ich. Zumindest war es bisher immer so.

 

Ich habe die Jeans noch nicht nach oben gezogen, da höre ich das Telefon. Verdammt, wer will denn schon wieder etwas von mir? Im Laufen fummle ich am Knopf und schließe den Reißverschluss. Gehetzt greife ich nach dem Mobilteil.

«Elli Klinger, private Ermittlungen, wie kann ich Ihnen helfen?», melde ich mich etwas atemlos, ohne auf das Display zu achten.

«Hallo Elli, hier ist Rebecca, deine Schwester. Störe ich?»

«Hallo Becca, nein, du störst nicht.»

«Ich dachte nur, weil du so klingst, als hätte ich dich bei etwas Wichtigem ....» Sie beendet den Satz nicht.

«Das hat du auch getan, aber nicht so, wie du denkst. Ich bekam heute meine Tage und saß gerade auf dem Topf.»

«Oh, das kenne ich. Am ersten Tag ist es bei mir meistens die Hölle. Da würde ich mich am liebsten im Bett verkriechen und warten, bis der Tag um ist», seufzt sie mitfühlend.

«Zum Glück ist das bei mir nur selten so», antworte ich und wundere mich, dass ich mich zum allerersten Mal im Leben mit meiner Schwester über Regelblutungen austausche. Es liegt wohl daran, dass in den vergangenen Jahren – oder waren es gar Jahrzehnte – unser Verhältnis alles andere als gut war. Mit Rebecca verband mich außer Lucy absolut nichts. Und das war auch eine von vielen Ursachen, dass wir uns ständig stritten. Je ähnlicher meine Nichte mir wurde, und das nicht nur äußerlich, desto tiefer wurde die schwesterliche Kluft. Lucy entglitt Rebeccas Obhut beinahe völlig, obwohl es niemals in meiner Absicht lag. Aber was konnte ich schon dagegen tun, dass jeder dachte, Lucy sei meine Tochter? Zugegeben, es schmeichelte mir und zugleich benutzte ich es auch als Waffe gegen meine Schwester, besonders dann, wenn sie mich mit ihren ständigen Sticheleien auf die Palme brachte. Aber das alles gehört seit einiger Zeit der Vergangenheit an. Wir haben uns gründlich ausgesprochen und das Kriegsbeil endgültig begraben. Seitdem habe ich endlich die Schwester, die ich mir schon immer gewünscht hatte, und Becca empfindet es ebenso. Trotzdem wird es noch eine Weile dauern, bis ich die Habachtstellung und das flaue Gefühl im Bauch völlig ablegen kann, wenn ich ungeplant mit ihr reden muss. Dazu lagen wir einfach zu lange im Clinch.

«Aber du wolltest dich doch sicherlich nicht nur nach meinem Befinden erkundigen, obwohl ich mich freue, wenn du dich bei mir meldest.»

«Nein, das stimmt», entgegnet sie stockend. «Du hältst mich vielleicht jetzt für eine Glucke, weil ich nicht mehr weiter weiß. Lucy benimmt sich seit gestern total daneben. Und ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Sie hat sogar Holger so übel beschimpft, dass ihm schlichtweg die Sprache wegblieb. Und jetzt dachte ich, ob nicht du ....»

«Mach dir keine Sorgen, Becca. Ich glaube, die Sache ist erst einmal geklärt. Sie ist vorhin bei mir aufgeschlagen.»

«Oh, na gut. Freut mich. Wenigstens ist es dann nichts Schlimmes. Oder ist es wegen ...?»

Meine Schwester beendet den Satz nicht. Ich höre ein Schluchzen und kann mir gut vorstellen, wie sie sich fühlt. Ein heftiges Déjà-vu zu erleben, ist nicht lustig. Und wenn Lucy auf 180 ist, kann sie kaum jemand beruhigen.

«Nein Becca. Mach dir bitte keine Sorgen. Es hat absolut nichts mit dir zu tun. Und in diesem Fall hätten weder Holger noch du ihr helfen können», versichere ich ihr so sanft wie möglich.

«Oh ... das ist ... gut, dann bin ich beruhigt», stottert sie verunsichert.

«Ob du es glaubst oder nicht, Schwesterchen, aber ich bin überzeugt, dass es diesmal etwas Gutes ist.»

«Das ... ich ... oh ...? Wie meinst du das?»

Ich sehe förmlich die Fragezeichen in ihren Augen und will sie nicht weiter auf die Folter spannen. Zumindest werde ich ihr das Nötigste erzählen, damit sie und Holger sich keine Sorgen mehr machen.

«Lucy hat momentan Liebeskummer wegen Frederic. Und da er bei mir im Haus wohnt, kam sie eben zu mir ins Büro.»

«Oh, verstehe. Wenn du meinst, dass das etwas Gutes ist?», höre ich sie zweifelnd antworten.

«Ja doch. Ich glaube, ihr liegt wirklich viel an Frederic. Das war bisher nicht so häufig der Fall. Na ja, du weißt schon», verdrehe ich die Augen, obwohl sie mich nicht sehen kann.

«Echt? Dann ist das mit Frederic nicht wieder bloß eine ihrer experimentellen Phasen?»

«Offenbar nicht. Aber du kennst doch deine Tochter.»

«Ja schon. Aber du kennst sie hundert Mal besser und das beruhigt mich. Wenigstens eine von uns, der sie ihr Herz ausschüttet, wenn sie nicht mehr weiter weiß.»

Ich spüre, wie es mir einen Stich versetzt, sie so reden zu hören. Wie würde ich reagieren, wenn meine eigene Tochter sich lieber ihrer Tante anvertrauen würde? Bevor ich antworten kann, redet Rebecca weiter.

«Ich bin so unglaublich froh Elli, dass wir endlich offen darüber sprechen können. Und mach dir bitte keinen Kopf. Ich bin weder neidisch noch eifersüchtig oder gar gekränkt. Das gehört der Vergangenheit an. Das bin nicht mehr ich, das schwöre ich dir. Versprich mir nur, dass du mir Bescheid gibst, wenn es etwas wirklich Ernstes ist. Ansonsten vertraue ich dir. Du hattest schon immer einen ganz besonderen Draht zu ihr und das bedeutet mir sehr viel. Wäre nett, wenn wir uns mal wieder treffen würden. Natürlich bringst du Jörg und Serena mit. Am Wochenende vielleicht. Ich könnte für uns alle kochen und endlich ein paar neue Rezepte ausprobieren. Holger würde sich bestimmt freuen, euch zu sehen. Und ich mich auch.»

Mühevoll schlucke ich den Kloß hinunter, der sich nachdrücklich nach oben gearbeitet hat. Noch vor einiger Zeit hätte ich jedem den Vogel gezeigt, der mir prophezeit hätte, dass ich bald solche Gespräche mit meiner Schwester führen würde.

«Ja gerne. Mal sehen, wie sich das mit dem aktuellen Auftrag entwickelt. Darf ich dir auch kurzfristig Bescheid geben?», entgegne ich und wische mir rasch die Träne von der Wange. Da ist es nun doch geschehen.

«Null Problem. Ich werde ein bisschen auf Vorrat einkaufen. Dann spielen ein paar Tage hin oder her keine Rolle.»

«Klingt gut. Ich tue mein bestes Becca.»

«Das weiß ich doch Elli. Das tust du schließlich immer. Aber versprich mir, aufzupassen.»

«Das tue ich doch immer», kichere ich.

«Von wegen. Pass nur auf kleine Schwester, dass ich dich nicht übers Knie lege.»

«Wäre sicherlich interessant», lache ich und stecke sie an.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144956
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Auftragsmord Industriespionage Whistleblower Entführung Schmuggel Erotik Erotischer Liebesroman Liebesroman

Autor

  • Laura B. Reich (Autor:in)

Laura B. Reich, Autorin der Krimiserie rund um die private Ermittlerin Elli Klinger, 1964 geboren, schrieb schon immer gerne Kurzgeschichten. Doch wie das Leben so spielt, musste sie nach Schule, Studium und Familie im Beruf jahrelang über anderer Leute Arbeit schreiben. Jetzt will sie endlich eigene Dinge kreieren und in ihrer Freizeit spannendes tun: Krimis schreiben, weil sie selbst ein Fan davon ist.