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We Never Called It Love

von Kim Valentine (Autor:in)
290 Seiten

Zusammenfassung

Das Leben der beinahe 16-jährigen Eden wird bestimmt von ihrer herzlosen Großmutter, ihrer kleinen, erschreckend perfekten Schwester, die jede Miss-Wahl gewinnt und dem heimlichen Anhimmeln von Nate. Er ist der große Bruder ihrer besten Freundin und obwohl die beiden Mädchen jedes Geheimnis teilen, muss Eden ihre Gefühle verbergen, um die kostbare Freundschaft nicht zu gefährden. Ungeachtet dessen, dass ihr Schwarm sie wie Luft behandelt, schlägt Edens Herz jedes Mal einen Salto, sobald er in ihre Nähe kommt. Alles, was sie sich wünscht, ist ein kleines Stück vom Glück, doch ihre große Liebe scheint unerreichbar. Bis zu einem Abend im September, als Nate Edens Gefühle endlich zu erwidern scheint und ein Spiel mit dem Feuer beginnt. Aber hat etwas, das mit Lügen geschützt werden muss, wirklich eine Chance? Und können zwei junge Menschen, die gerade an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen, überhaupt eine solch tiefe Liebe empfinden, die in der Lage ist, allen Widrigkeiten zu trotzen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Meine Beine lagen auf der Rückenlehne des Sessels. Die Federn, die sich normalerweise in Po und Oberschenkel pressten, bohrten sich mir nun in den Rücken und meine blonden Haare ergossen sich wie ein erstarrter Wasserfall über den grauen Teppichboden meines Kinderzimmers.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon so da lag. Jedenfalls war es lange genug, damit mir das Blut in den Kopf stieg, wo es kontinuierlich stärker hinter meinen Schläfen pochte. Doch ich war noch nicht bereit, die unbequeme Pose aufzugeben, in die mich die Langeweile gezwungen hatte, und ließ den Blick im Zimmer umherwandern. Viele Erinnerungen steckten hier, sodass ich nahezu zu jedem Gegenstand eine Geschichte zu erzählen wusste.

Da war mein Bett, an dem Mom jeden Abend gesessen hatte, um mir vor dem Schlafengehen etwas vorzulesen. Gegenüber stand mein Kleiderschrank, dessen Front die Idole meiner verschiedenen Entwicklungsphasen zeigte. Mickey Mouse und Winnie Pooh waren bald von der Disney-Prinzessin Cinderella abgelöst worden, welche wiederum Harry Styles hatte weichen müssen. Harry hatte eine Weile meine uneingeschränkte Verehrung genießen dürfen, inzwischen leisteten ihm Shawn Mendes und Jacob Whitesides Gesellschaft. Verborgen hinter den Türen des Schrankes hing noch immer das Kleid, das ich exakt zweimal angehabt hatte. Entgegen dieser Tatsache klebten daran mehr Erinnerungen als an den abgewetzten Jeansshorts, die ich trug. Es war türkisfarben, mit unzähligen Strasssteinen und Pailletten bestickt, sodass es Lichtpunkte auf alles warf, was sich in der Nähe befand, sobald ein Sonnenstrahl darauf fiel. Es war wie eine Diskokugel. Funkelnd und wunderschön. Trotz seiner Schönheit brachte ich es seit Jahren nicht übers Herz, es anzusehen.

Allein der Gedanke an dieses Kleid trieb mir die Tränen in die Augen. Wie sollte ich es dann ansehen können? Rasch blickte ich zu der Lampe mit dem hellblauen Schirm auf dem Nachttisch. Ihr Licht hatte mich in so vielen Nächten vor den Monstern gerettet, die sich in den Schatten versteckten.

Jetzt wohnte das Monster in einem Anbau unseres Hauses.

Nach Moms Tod vor drei Jahren hatte Dad jemanden gebraucht, der sich um meine kleine Schwester Mae und mich kümmerte.

Das Ergebnis: Cruella passte auf uns auf, wenn mein Dad arbeiten war und das war er irgendwie immer. Er wähnte uns in guten Händen. Ich hingegen war mir sicher, dass selbst der Satan persönlich einen besseren Aufpasser abgeben würde. Cruella war meine Granny, aber meine beste Freundin Nell und ich verpassten ihr den Spitznamen des weiblichen Bösewichts aus dem Disney-Film ‚101 Dalmatiner‘. Die Gemeinsamkeiten der beiden waren verblüffend. Aussehen, der hochmütige Blick, ein Herz aus Eis oder möglicherweise auch gar keines. Nell war überzeugt, dass in Grandmas Anbau, den ich noch nie hatte betreten dürfen, wirklich ein Mantel aus dem Fell hunderter Hundewelpen existierte. Wenn ich ehrlich war, würde ich nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass sie im Unrecht war.

Inzwischen fühlte sich mein Kopf an wie ein Luftballon, den man zu fest aufgepustet hatte. Ehe mir die Augen herausfielen, ließ ich die Beine zur Seite kippen und zog mich an den Armlehnen des Sessels nach oben, bis ich in einer normalen, sitzenden Position war.

Sofort breiteten sich Sterne hinter meinen Lidern aus und das Zimmer begann, sich zu drehen. Schnell schloss ich die Augen wieder und zusammen mit dem Druck verschwanden die Sterne. Ich gönnte mir einige Sekunden, ehe ich einen zweiten Versuch wagte. Dieses Mal blieb die Lichtshow aus und mein Blick fiel auf die Flasche Mineralwasser, die sich neben meinem Bett befand. Meine Kehle war so trocken, dass mir ein Schluck Wasser wie das Paradies erschien.

Hastig stand ich auf, doch ich hatte meine Kreislaufstabilität unterschätzt. Die Sterne kehrten in Lichtgeschwindigkeit zurück und verwandelten alles um mich herum in ein Karussell. Meine Knie knickten ein und das Zimmer hörte erst auf um, mich zu kreisen, als ich bäuchlings auf dem Teppichboden lag. Dem Himmel sei Dank für Reflexe, denn so waren es meine Handballen, die anstelle meines Gesichts über das raue Material des Teppichs schabten. Stöhnend ballte ich die Fäuste, woraufhin ein brennender Schmerz von den Handflächen ausgehend über meine Nervenbahnen jagte. Gestürzt, weil ich zu tollpatschig gewesen war, aus einem Sessel aufzustehen. Wie demütigend. Gut, dass mich niemand gesehen hatte. Ich blieb mit geschlossenen Augen liegen und seufzte langsam und tief.

Ich hatte gewusst, dass es nicht einfach sein würde, vier Wochen der Sommerferien ohne meine beste Freundin zu überstehen. Jedoch hatte ich nicht geahnt, dass es so ätzend werden würde. Nell fuhr zwar jedes Jahr zu ihrer Granny, aber sie war nie zuvor so lange weg gewesen.

Dabei war heute erst der fünfte Tag. Dreiundzwanzig lagen noch vor mir. Mir war vollkommen bewusst, dass ich mich momentan in Selbstmitleid suhlte, doch es war keine Menschenseele da, um mich daran zu hindern. Also ignorierte ich meine trockene Kehle und genoss das Bad im Stimmungstief. Ich hörte Atemgeräusche, das Klopfen meines Herzens und das Ticken des Weckers. Ansonsten war es still um mich herum. Dad war wie so oft nicht zuhause und Grandma brachte Mae zu irgendeiner Verschönerungsmaßnahme, die bei meiner perfekten Schwester total unnötig war.

Und Mom war tot.

Als sie gelebt hatte, war es in diesem Haus niemals so ruhig gewesen. Nun wirkte es jedoch, als hätte Grandmas Ankunft sämtliches Leben aus unserem sonst so fröhlichen Heim vertrieben. Ich stellte mir vor, wie das Leben seine sieben Sachen gepackt hatte und wäre am liebsten hinterhergerannt, um danach zu suchen. Es musste schließlich mehr geben als Trauer, Verachtung und unerwiderte Liebe.

Ich seufzte. Bleierne Schwermut drohte, mich bis zum Ende der Sommerferien an den Teppich zu ketten, weil die Idee, hier liegenzubleiben, plötzlich sehr verlockend erschien. Meine anderen beiden Freundinnen Hope und Arlene befanden sich ebenfalls im Urlaub, sodass mich sobald niemand vermissen würde. Bei Harry Styles‘ Lockenpracht … war ich etwa depressiv?!

Erschrocken von meinen eigenen Gedanken, riss ich die Lider auf. Dabei traf mein Blick auf einen Gegenstand. Ich blinzelte, denn ich dachte zuerst, dass mir mein Gehirn einen Streich spielte. Aber als der Gegenstand auch Sekunden später nicht verschwunden war, begann mein Herz, schneller zu schlagen. Ich hatte es schon einhundert Mal erfolglos gesucht und nun fiel es mir, beziehungsweise ich ihm, einfach so vor die Nase? Da ich sowieso bereits lag, robbte ich nach vorn, schenkte dem Staub, der in den Teppichfasern unter dem Bett hing, keinerlei Beachtung und griff nach dem Buch. Es musste hinter dem Kopfteil hinabgerutscht sein und die Fußbodenleiste hatte verhindert, dass es auf dem Boden aufgekommen war. Kein Wunder, dass ich es nie gefunden hatte. Ungeschickt krabbelte ich rückwärts unter dem Bett hervor. Erst als ich mir sicher war, dass ich mir den Kopf nicht mehr anschlagen konnte, setzte ich mich auf.

Ich zitterte, als ich über den Einband strich. Himmel, wie oft hatte ich nach diesem Buch gesucht! Ich hatte sogar gebetet, dass ich es wiederfinden würde, obwohl ich nach Moms Tod den Glauben an Gott verloren hatte.

Meine Kehle schnürte sich zu, als ich durch die Seiten blätterte, auf denen ich die Schrift meines neunjährigen Ichs erkannte.

Liebes Tagebuch,

heute hat Caroline Hawk wieder mit einem Pokal angegeben, den sie bei einer Misswahl am Wochenende gewonnen hat. Ich hätte auch gerne mal einen Pokal, aber beim Buchstabierwettbewerb gab es dieses Jahr nur Schleifen. Eine Schleife ist niemals so schön wie ein glänzender Pokal und ein Buchstabierwettbewerb kann nie so toll sein wie eine Misswahl. Alle bewunderten Caroline und sie war den ganzen Tag der Star der Schule. Als ob sie das nicht ohnehin ständig wäre. Nate und Nell rollten nur genervt mit den Augen. Ich machte das auch, weil mir Carolines Gerede auf den Keks ging! Jetzt fühle ich mich irgendwie komisch. Nate und Nell sind meine besten Freunde, doch ich brachte es nicht übers Herz, ihnen zu verraten, wie gern ich zu einer Misswahl statt zu einem Buchstabierwettbewerb gehen würde. Vielleicht sollte ich es Mom sagen. Sie versteht meine Wünsche. Mom versteht mich.

Mein Körper war offenbar nicht in der Lage, zu entscheiden, ob er lachen oder weinen wollte, nachdem ich diese Zeilen gelesen hatte. So kam es, dass mir die Tränen in die Augen stiegen, während mein Mund sich im Gegensatz dazu zu einem Lächeln verzog. Zweifellos war mein Gesicht eine hässliche Grimasse, aber es war ohnehin niemand hier, der mich sah.

Die kurze Reise in die Vergangenheit bohrte sich wie ein glühendes Schwert in mein Herz und machte mir deutlich bewusst, was ich verloren hatte. Ich hatte etwas verloren, das ich nie wieder finden konnte, selbst wenn ich den Rest meines Lebens in jedem Winkel des Universums danach suchte.

Meine Mutter.

Meine Mutter, die natürlich zugestimmt hatte, als ich ihr erzählte, wie gern ich an einer Misswahl teilnehmen würde. Sie ermutigte mich, schmiedete mit mir Pläne, war sofort Feuer und Flamme. Schließlich waren ich und Mae für sie die schönsten Kinder der Welt.

Das funkelnde Ballkleid, das in meinem Schrank hing, war das Mahnmal, das Mom mit ihrer Meinung allein gewesen war. Zumindest, was mich betraf. Ich belegte den letzten Platz und die wenigen Punkte, die die Richter mir gaben, erhielt ich bestimmt nur, weil sie Mitleid hatten. Mit mir, dem Kind mit dem braunen und dem blauen Auge.

Ich presste das Buch an meine Brust, das wertvolle Kindheitserinnerungen in sich trug, schloss die Lider und wünschte mich in die Zeit zurück, als wir noch eine Familie gewesen waren.

Zurück in die Zeit, als es nur Mom, Dad, Mae und mich gab.

Zurück in die Zeit, bevor sich der Krebs zwischen uns drängte, uns jegliche Energie und Euphorie raubte und die Metastasen sämtliche Hoffnung auf ein Wunder vernichteten.

Wie immer kamen die Tränen prompt. Sie liefen mir heiß über die Wangen und ich hieß sie willkommen. Der brennende Schmerz in meiner Seele wirkte wie ein reinigendes Feuer. Als die Tränenflut versiegte, fühlte ich mich schlapp, aber auch besser. Ich putzte mir die Nase, holte tief Luft und blätterte zum nächsten Eintrag.

Liebes Tagebuch,

ich bin so nervös! Meine erste Misswahl! Auf dem Weg hierher bewunderte ich nonstop mein Kleid! Es ist so wunderschön! Grandma hat behauptet, dass wir mit dem ‚Fummel‘ keine Chance gegen die Konkurrenz haben werden. Sie ist eine alte Hexe. Ich freue mich darauf, es endlich anziehen zu dürfen. Es ist das schönste Kleid, das es in Hayswood und Umgebung zu kaufen gab! Mom gibt es nicht zu, doch für sie ist die Reise furchtbar anstrengend. Das liegt an Mae, die mal wieder Zähne bekommt. Wir teilen uns zu viert ein Hotelzimmer und ich höre sie im Schlaf wimmern.

In den letzten Tagen konnte ich nicht gut schlafen. Aber das hat nichts mit irgendwelchen Zähnen zu tun. Ich bin einfach nur schrecklich aufgeregt! Schließlich ist morgen mein großer Tag.

Die Erinnerung erfasste mich wie eine Tsunami-Welle. Obwohl Mae manche Nächte nur geschrien hatte, sahen Mom und Dad meine Schwester ebenso liebevoll an wie mich. Auch ich hatte Mae auf den ersten Blick ins Herz geschlossen. Doch mit jedem Tag wuchs meine Neugier, ob sie ebenfalls zwei verschiedenfarbige Augen bekommen würde. Irgendwie wünschte ich mir, dass es so sein würde, denn dann wäre ich nicht mehr die Einzige, die andere Leute komisch ansahen. Es kam nämlich äußerst selten vor, dass jemand den Mut aufbrachte, sich danach zu erkundigen.

Heterochromie.

Es war ganz leicht und nicht einmal ansteckend!

Mom tröstete mich und sagte immer, dass Gott keine Entscheidung hatte treffen können, ob er mir blaue oder braune Augen geben sollte. Deswegen hatte er mir von jeder Farbe eines gegeben.

Ich erinnerte mich daran, dass ich darauf antwortete, dass Gott mich hätte fragen können, woraufhin meine Mom gelacht hatte. Damals verstand ich ihn nicht und nun tat ich es erst recht nicht. Dazu lief in meinem Leben im Augenblick zu viel schief.

Wieso nahm er zwei Mädchen die Mutter? Aus welchem Grund hasste mich Grandma so sehr? Warum arbeitete Dad mehr als tausend Meilen entfernt? Weshalb gab es auf der Welt Menschen, die so böse waren, dass mein Vater Angst um uns hatte, weil er dabei half, sie hinter Gitter zu bringen? Wieso musste meine beste Freundin am anderen Ende des Landes sein, wo sie keinen Zugang zu WiFi hatte?

Beim Gedanken an Nell dachte ich automatisch an Nate. Allein seinen Namen zu denken, sorgte dafür, dass mein Herz flatterte.

Er war Nells älterer Bruder. Früher spielten wir zusammen, doch im Sommer vor zwei Jahren hörte er plötzlich auf, uns zum See zu begleiten oder mit zu ‚Griffins‘ zu fahren, wo wir unser gesamtes Taschengeld für Süßigkeiten ausgaben. Irgendwann hing er auch nicht mehr mit uns vor dem Fernseher ab, wie es sonst an Regentagen üblich gewesen war. Bald sah ich ihn nur noch, wenn Mrs. Newman mich bat, zum Essen zu bleiben.

Es gab kaum Regeln bei den Newmans, aber gemeinsam zu Abend zu essen war eine davon. Ich liebte es, mit Nells Familie am Tisch zu sitzen und das nicht nur, weil ich meinem Schwarm dann nahe sein konnte. Mrs. Newman war eine der besten Köchinnen, die ich kannte. Nate über einer Schüssel dampfender Kürbissuppe betrachten zu können, war nur das Tüpfelchen auf dem I.

Die Zimmertür öffnete sich. Erschrocken fuhr ich herum und blickte in Maes perfektes Puppengesicht. Ihre großen blauen Augen musterten mich neugierig und erneut fiel mir auf, wie symmetrisch ihr Gesicht war. Umrahmt wurde diese Perfektion von blonden Korkenzieherlocken, die heute zu zwei Zöpfen zusammengebunden waren, welche links und rechts über ihren Ohren auf und ab wippten.

„Grandma sagt, du sollst zum Essen runterkommen. Es ist gleich sechs Uhr“, informierte mich Mae.

Es war kaum zu fassen, aber selbst ihre Stimme war niedlich.

„Schon kurz vor sechs?“, wiederholte ich überrascht. Wenn ich etwas in den Magen bekommen wollte, musste ich mich wirklich beeilen, denn nach sechs Uhr gab es bei uns nichts mehr zu futtern. Nicht einmal eine Stange Sellerie durfte man dann noch knabbern.

Mae nickte. „Es gibt Quinoa-Salat mit roter Beete.“

Ich verzog das Gesicht. Urghs.

„Wo seid ihr gewesen?“, fragte ich meine kleine Schwester, die mein Zimmer bereits fast verlassen hatte.

„Bei der Pediküre und im Tan-Studio. Ich habe ein Ganzkörper-Tanning bekommen.“

Ganz die professionelle Little-Miss-Schönheitskönigin des Staates Kansas, wo wir lebten, warf sie sich in einer perfekt einstudierten Geste einen ihrer Lockenzöpfe über die Schulter. Ich seufzte. Einmal hatte ich auch versucht, das zu tun, weil ich Nate beeindrucken wollte. Leider war mein Versuch damit geendet, dass ich mich mit dem Ring, den ich am Mittelfinger trug, in meinem Ohrstecker verfangen hatte. Der Schmerzlaut, der mir dabei entwichen war, jagte Nate jegliche Farbe aus dem Gesicht. Er hatte kehrtgemacht, laut nach Nell gerufen und mich mit meinem Elend allein gelassen. Traurig, dass selbst meine kleine Schwester das besser beherrschte als ich.

„Sieht man gar nicht“, merkte ich tonlos an, nachdem ich sie kurz gemustert hatte. Das war die Wahrheit! Ich konnte tatsächlich keinen Unterschied zu vorher erkennen.

„Das Tanning schlägt erst in ein paar Tagen an. Deshalb soll ich nun viel Karottensaft trinken“, erklärte Mae. „Am Wochenende, zur Little Miss Sunshine Wahl, werde ich den perfekten Teint haben, wenn ich mich an die Vorgaben halte. Brittany Hawk wird kein zweites Mal bei den Bademoden mehr Punkte bekommen als ich!“

Brittany war die jüngere Schwester von Caroline Hawk, dem Mädchen, auf das ich früher wegen der Misswahlen so neidisch gewesen war. Mae und sie waren Erzfeindinnen. Bisher hatte Mae immer die Nase vorn behalten und Brittany auf die hinteren Plätze verwiesen. Zweifellos würde Grandma dafür sorgen, dass dies so blieb. Schließlich investierte sie einen ordentlichen Teil des Geldes, das sie mit einer Boutiquen-Kette und geschickten Aktiengeschäften verdient hatte, in Maes Schönheit. Es begann bei den besten Haarpflegeprodukten, ging über Maniküre und Gesichtsbehandlungen bis hin zu den aufwändigen, maßgeschneiderten Outfits, von denen Mae nie eines zweimal trug. Meine Schwester hatte sogar schon einen Personal-Trainer und einen Catwalk-Coach.

Obwohl ich mit den Misswahlen nichts zu tun hatte, außer gegen meinen Willen den Wettbewerben beiwohnen zu müssen, bis ich sechzehn Jahre alt war, war Caroline nicht gut auf mich zu sprechen. Ich konnte es ihr kaum übelnehmen. Familien sollten zusammenhalten und Caroline hielt eben zu ihrer.

„Lass Grandma nicht zu lange warten“, tadelte mich Mae, nachdem ich nicht auf ihre Fehde mit Brittany einging.

Anschließend zog sie eine hochmütige Grimasse, die sie unserer Großmutter erschreckend ähnlich machte, und trippelte aus dem Zimmer. Wenn sie nur wüsste, dass sie all diese Zuwendungen mit ihrer Seele erkaufte, hätte sie möglicherweise weitaus weniger Spaß daran. Gäbe es das Geburtsvideo nicht, in das ich unbeabsichtigt mal hineingesehen hatte, würde ich vermutlich bis heute abstreiten, dass wir wirklich Geschwister waren.

Seufzend rappelte ich mich auf und versteckte den wiederentdeckten Schatz in Form des Tagebuchs unter meinem Kopfkissen. Obwohl ich nicht besonders erpicht darauf war, Grandma über den Weg zu laufen, musste ich in die Küche, falls ich noch etwas zu essen wollte. Die Cheerios in meinem Regal gingen langsam zur Neige und da Cruella vor regelmäßigen Zimmerkontrollen nicht zurückschreckte, war es ohnehin schwer genug gewesen, ein Versteck für sie zu finden. Nell hatte die Idee gehabt, die Notfallnahrung in einem Karton zu verbergen, auf dem wir vorgaben, dass er Selbstgebasteltes aus der Vorschule enthielt. Grandma scherte sich nicht um ‚sentimentalen Kram‘. Für sie zählten nur Fakten. Selbstverständlich bevorzugt Erfolge.

So gut es möglich war, wappnete ich mich für die unumgängliche Begegnung. Ich strich mein Shirt glatt und kämmte mir die Haare, die ich anschließend wieder zu einem hohen Pferdeschwanz zusammenfasste. Mir war klar, dass alle Bemühungen umsonst waren, denn Grandma würde so oder so etwas entdecken, an dem sie herummeckern konnte. Mit einem Seufzen verließ ich das Zimmer und ging nach unten, um mich ihr zu stellen.

„Wo hast du nur dieses Shirt ausgegraben? Etwa in der Altkleidersammlung?“, ätzte sie fünf Minuten später, während ich lustlos in dem Quinoa-Salat herumstocherte.

Ich war ihre Seitenhiebe gewohnt, doch diese Anmerkung traf mich dennoch.

„Das ist von Mom“, antwortete ich, ohne aufzusehen und schob mir eine Gabel des Salats in den Mund. Wenn er schon nicht schmeckte, so lieferte er mir zumindest einen Grund, nicht mit ihr sprechen zu müssen.

„Du solltest dich langsam mal von dem alten Zeug trennen“, stichelte Cruella nach einer Weile weiter.

Ich schloss die Lider, um zu verbergen, dass ich genervt mit den Augen rollte. „‚Das alte Zeug‘ gehörte deiner verstorbenen Tochter, Grandma“, entgegnete ich und sah ihr dabei fest in die Augen.

Ich konnte förmlich zusehen, wie die Temperatur zwischen uns abkühlte. In Physik hatten wir gelernt, dass der absolute Nullpunkt bei -459,67 Fahrenheit lag. Der Blick, mit dem mich Grandma jedoch bedachte, stellte im Moment vermutlich eine neue Bestmarke auf. Es würde ihr bestimmt gefallen, der Auslöser dafür zu sein, dass Millionen Bücher umgeschrieben werden mussten.

„Es ist also mindestens drei Jahre alt“, sprach sie beherrscht und überdeutlich aus.

„Es ist rosafarben und hat winzige Kirschen aufgedruckt“, erwiderte ich, ohne mich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Kirschen und Rosa können unmöglich out sein.“

„Ms. Taylor sagt, dass diese Saison niemand auf die Farbe Taupe verzichten kann. Und die war im Sommer in Frankreich“, fiel mir Mae in den Rücken.

Auf Grandmas vom Botox gelähmten Gesichtszügen tauchte so etwas wie ein Lächeln auf. „Siehst du, Eden. Selbst deine jüngere Schwester verfügt über mehr Modegeschmack als du“, hielt sie mir vor.

Ich sah wieder auf den Salat, denn ich wusste, wann weitere Argumente sinnlos waren.

Cruella gönnte sich den Augenblick der Genugtuung, ehe sie meinte: „Ach, Eden, Mae muss am Freitag um fünf in Dodge City sein, wenn sie am Laufstegtraining teilnehmen möchte.“

Ich ahnte, was sie mir damit sagen wollte. Nämlich, dass wir früher losmussten. Das wiederum bedeutete, dass ich mehr Zeit mit den beiden verbringen musste, als ursprünglich geplant. Besonders Grandma stellte eine echte Herausforderung für meinen Geduldsfaden dar.

„In ein paar Wochen werde ich sechzehn“, erinnerte ich sie. „Ich könnte zuhause bleiben.“

Ein abschätziges Geräusch war ihre Antwort.

„Das würde dir wohl so passen“, tadelte sie mich, als hätte ich ihr soeben eröffnet, dass ich plante, allein mit dem Rucksack durch die Welt zu trampen, um als Leihmutter zu arbeiten. „Du kommst mit und basta.“

Obwohl ich wusste, dass Cruella keinen Widerspruch duldete, sagte ich: „Denkst du, die paar Wochen machen einen Unterschied? Ich kann gut auf mich selbst aufpassen und verspreche hoch und heilig, dass ich hier keine Party steigen lasse.“

Grandmas Augenbraue hob sich um einen Millimeter. Alles Weitere verhinderte das Botox. „Eden“, begann sie und ließ meinem Namen ein genervtes Schnauben folgen. „Wie oft wollen wir diese leidige Diskussion führen? Soll ich es dir aufschreiben?“, stichelte sie und bedachte mich mit einem noch hochmütigeren Blick als dem, der ohnehin bereits fest zu ihrer Mimik gehörte. Beinahe hätte ich ihr Schnauben erwidert. Glaubte sie wirklich, mir wäre unsere Vereinbarung entfallen?

Ich hatte, mit Schützenhilfe meines Dads durchgeboxt, dass ich Mae nicht mehr auf die Misswahlen begleiten musste, sobald ich sechzehn Jahre alt war. Mein Geburtstag war in zehn Wochen, doch je näher ich dem Ziel rückte, umso langsamer schienen die Tage zu vergehen.

Ich seufzte.

„Nein, ich dachte nur …“

„Hör auf zu denken, wenn nur Unsinn dabei herauskommt“, fiel Grandma mir ins Wort.

Zorn brodelte in mir hoch. Ich schrieb nur gute Noten und gehörte in vielen Kursen zu den Besten, obwohl ich bereits eine Klasse übersprungen hatte! Aber bei meiner Großmutter hatte das Äußere einen unmittelbaren Einfluss auf die Intelligenz und jemand mit zwei verschiedenen Augenfarben konnte ihrer Meinung nach kein schlauer Mensch sein. Ich wusste, dass es sinnlos war, ihr weitere Argumente meiner Verlässlichkeit aufzuzählen. Getreu dem Sprichwort ‚Der Klügere gibt nach‘ ließ ich die angehaltene Luft aus meiner Lunge entweichen, ohne sie für all die Gegenargumente zu nutzen, die mir im Kopf herumschwirrten, und nickte widerwillig.

Ein Lieferwagen, der in unserer Auffahrt hielt, zog Cruellas Aufmerksamkeit auf sich, womit ich ihrem Laserblick entkam. Sie murmelte etwas von Pünktlichkeit, ehe sie den Rock glattstrich und aus dem Haus eilte.

Ich stand auf, kratzte die letzten Reste des Quinoa-Salats in den Müll und stellte den Teller in die Spülmaschine, wie Grandma es erwartete. Als ich zurück auf mein Zimmer ging, hörte ich Mae aufsagen, welche Konkurrentinnen sich für das Wochenende angemeldet hatten und wie man sie ausstechen konnte. Ich schüttelte nur den Kopf über so viel Berechnung. Mom würde sich höchstwahrscheinlich im Grab umdrehen!

Grandma hatte während ihrer Geschäftskarriere gute Kontakte knüpfen können. Einige davon saßen oftmals in den Jurys der Misswahlen, weshalb es kaum verwunderlich war, warum Mae andauernd gewann. Niemand wollte sich mit Cruella anlegen.

Eine leise Stimme verriet mir jedoch, dass Mae auch ohne diesen Vorteil gewinnen würde. Sie war einfach bezaubernd! Spätestens mit ihrer herzerweichenden Version von ‚Auld Lang Syne‘ steckte sie die anderen Teilnehmerinnen in die Tasche.

Hätte meine Grandma mir nicht ständig die Perfektion – die ich nie erreichen würde – unter die Nase gerieben, hätte ich Mae vermutlich ein bisschen mehr gemocht.

Kapitel 2

Liebes Tagebuch,

die Misswahl war schrecklich! Die anderen Mädchen waren total fies zu mir und ich habe alles gehört, als sie über mich lästerten. Hätten sie etwas über meine Augen gesagt, wäre ich damit klargekommen, aber sie sprachen schlecht über mein Kleid! Dabei ist es so schön und unter den vielen Scheinwerfern, mit denen die Bühne beleuchtet wurde, hat es gefunkelt wie ein Sternenhimmel! Eine Teilnehmerin hat sogar behauptet, ich sähe darin fett aus! Mommy sagte, das sei Blödsinn. Aber aufhören zu weinen konnte ich nicht. Sie kannten mich gar nicht und waren gemein zu mir.

Am schlimmsten ist, dass auch Caroline Hawk da war. Sie hat zwar nicht gewonnen, doch als Dritte hat sie trotzdem einen Pokal bekommen, den ich gern gehabt hätte. Ich gehe nie wieder auf eine Misswahl! Nie wieder!

Nie wieder, hatte ich mir geschworen, aber es dauerte lediglich fünf Jahre, bis ich erneut bei einer Misswahl gewesen war. Als große Schwester, die brav im Publikum steht und der Jüngeren zujubelt. Kaum zu glauben, dass das bereits zwei Jahre her war, als Mae kurz nach ihrem sechsten Geburtstag über den Laufsteg gegangen war!

Nun saß ich im Umkleidebereich in der Town Hall von Dodge City. Die Luft war stickig. Geschwängert von Haarspray und den hohen Erwartungen der Eltern, die auf ihre kleinen Schönheitsköniginnen in spe einredeten. Es gab letzte Tipps, Erinnerungen, die Hand in die Taille anstatt die Hüften zu stemmen und ganz wichtig: niemals das Lächeln zu vergessen.

Ich hatte mich mit meinem Tagebuch hinter einer mit Show-Kostümen voll bepackten Kleiderstange verkrochen, wo ich auf dem Boden saß und versuchte, mit bloßer Willenskraft die Uhr vorzudrehen.

Ich konnte nur schwer glauben, dass ich mich im zarten Alter von neun Jahren freiwillig für so etwas gemeldet hatte. Kopfschüttelnd dachte ich daran, welche Illusionen ich gehabt hatte, als ich meine Mom bat, mit mir zu einer Little-Miss-Wahl zu fahren.

Viel hatte sich seitdem nicht verändert. Noch immer herrschte hinter den Kulissen bei Weitem nicht die Idylle, die man auf der Bühne vorspielte.

„Nein, Mom. Das tut weh!“, vernahm ich eines der Mädchen und sah auf.

Die Kleine saß schniefend in einem Schäferinnenkostüm vor einem beleuchteten Spiegel und schlug nach der Hand ihrer Mutter, die versuchte, ihr die falschen Zähne, die das Milchgebiss verstecken sollten, einzusetzen.

Ein scharfer Schmerz durchfuhr mich, als ich sah, wie das Kind am Oberarm gepackt wurde. Das wutverzerrte Gesicht der Mutter war nun ganz nah an dem des Mädchens und ich erkannte, dass man ihr etwas zuzischte.

Ich hörte nicht, was die Frau sagte. Was ich jedoch hörte, war, wie die Kleine noch ein leises „Ach, Mommy“, schluchzte, bevor sie sich ihrem Schicksal ergab. Ich spürte ein Brennen hinter dem Brustbein. Szenen wie diese erlebte ich nahezu jedes Wochenende. Trotzdem zerriss es mir immer wieder aufs Neue das Herz, das mit anzusehen. Meine Eltern hätten meine Einwände ernst genommen und mich nicht zu schmerzhaften Verschönerungsmaßnahmen gezwungen. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie sich diese Kinder fühlten, wenn ihre Mütter sie zu Dingen zwangen, die sie nicht wollten. Dabei waren ihre Töchter doch genau die Personen, die sie beschützen sollten!

Das Kribbeln in meiner Nase kündigte die ersten Tränen an, daher sah ich rasch auf mein Tagebuch hinab. Sekunden später verschwammen die Buchstaben vor meinen Augen. Weil ich nicht scharf darauf war, inmitten der Wettbewerbsteilnehmer loszuschluchzen, blinzelte ich dagegen an. Ich wusste, dass Mae das alles freiwillig tat, aber ich wusste auch, dass es Kinder gab, die lieber mit ihren Freunden spielen würden. Das hieß, falls sie welche hatten. Wer in dem Universum der kleinen Schönheitsköniginnen bestehen wollte, musste sehr viel Energie und Zeit aufbringen. Laufstegtraining, Sport, Friseurbesuche, Pediküre, Maniküre, Tanning, Gesichtsbehandlungen, das Anmessen der Kleider, das Einüben der Beiträge zum Talentwettbewerb. Freizeit blieb dabei oftmals auf der Strecke. Mae erzählte ab und zu von einer Alicia, die mit ihr in die Klasse ging. Gesehen hatte ich das Mädchen jedoch noch nie.

„Na, Lancaster. Heulst du deinen geplatzten Träumen hinterher?“, erklang Caroline Hawks Stimme plötzlich neben mir und ich blickte erschrocken auf.

Sie hatte selbst oft genug hier gesessen, bis sie vor vier Jahren von einem Tag auf den anderen das Handtuch warf. Die Gründe kannte niemand. Eine Weile gab es Tratsch, dass sie ihre Halbfinal-Niederlage gegen Sue Hunter nicht verkraftet hatte. Bestätigt hatte Caroline das allerdings nie.

Ihr Blick triefte vor Verachtung und Arroganz, deswegen war ich versucht, sie zu ignorieren, aber etwas veranlasste mich, zu sagen: „Dieser Irrsinn macht mich einfach traurig. Sieh dir diese Kinder mal genauer an. Die meisten sind doch froh, wenn sie es hinter sich haben.“

Ich deutete in den Raum hinein. Da war eine unglückliche Marilyn Monroe, ein bekümmert wirkendes Cowgirl und eine Freiheitsstatue, die sich weigerte, ihre Haut mintgrün anmalen zu lassen, da die Farbe juckte. Die Krönung bildete jedoch Carlee Clayton, laut meiner Grandma eine weitere ernstzunehmende Konkurrentin von Mae, die das Kostüm einer brasilianischen Sambatänzerin trug. Ihre persönliche Make-up-Artistin war gerade dabei, den Schaden, den die Tränen angerichtet hatten, zu beheben. Dem Anschein nach war der Kopfschmuck, der zu dem Kostüm gehörte, so schwer, dass er schmerzhaft an der Kopfhaut zerrte. Carlees Mutter redete auf das Kind ein. Wieder verstand ich nicht, was gesprochen wurde, aber die Worte bewirkten offenbar, dass das Mädchen über den Schmerz hinwegsah und die Tränen herunterschluckte. Contenance zu bewahren war eines der ersten Dinge, die man in diesem Zirkus beigebracht bekam. Die Schuhe drücken oder du musst zur Toilette? Komm damit klar. Die Show muss weitergehen.

Caroline folgte meinem Fingerzeig. Einige Sekunden lang beobachtete sie, wie an Carlee gearbeitet wurde. Dann wanderte ihr Blick zu ihrer Schwester Brittany. Deren Stylistin war gerade dabei, das Haar des Kindes mit einem feinzinkigen Kamm zu toupieren. Brittanys Kopf wurde ständig hart zurückgerissen, und jedes Mal, wenn sich der Kamm in ihr brünettes Haar senkte, kniff sie die Lider zu. Selbst aus meiner Position sah ich, wie sich ihre Kiefer währenddessen aufeinanderpressten. Das Motto ‚Wer schön sein will, muss leiden‘, zelebrierte man hier wie das Amen in der Kirche.

Caroline gab sich ungerührt. Als Brittany jedoch auf einen besonders groben Angriff mit einem nicht zu übersehenden Zucken reagierte, begannen die Augen ihrer großen Schwester feucht zu werden. Offenbar sickerte langsam die Erkenntnis in sie.

„Macht Britt das wirklich Spaß?“, setzte ich mit gesenkter Stimme nach.

Anstatt zu antworten, verfolgte Caroline aufmerksam das Vorgehen an den Tischen. Ich glaubte bereits, sie würde mich einfach links liegen lassen und davongehen, aber dann sah sie doch auf mich herab.

„Was kümmert es dich? Und überhaupt, was weißt du schon?“, schnappte sie und rauschte mit vor der Brust verschränkten Armen davon.

Ihr Pokerface war gut, aber ich erkannte, dass sie meine Worte zum Nachdenken gebracht hatten. Ich verbrachte die Wochenenden seit Jahren inmitten von falscher Freude, aufgezwungenen Lächeln und geheucheltem Mitleid, sodass ich sozusagen ein Profi geworden war, Unaufrichtigkeit zu erkennen.

Ich seufzte und konzentrierte mich wieder auf mein Buch. Sah ich weiterhin dem Treiben zu, wurde ich zuletzt noch handgreiflich. Mae lebte für diese Wettbewerbe. Ihr Lächeln war nicht erzwungen, was vermutlich Grandmas jahrelangem Einfluss zuzuschreiben war. Wenn jemand Gehirnwäsche perfekt beherrschte, dann Cruella, soviel war sicher. Wie auf ein Stichwort ging meine Schwester in ihrem Pfadfinderinnenkostüm vor mir in die Hocke. Einen Finger als Lesezeichen benutzend, schlug ich das Tagebuch zu und sah auf.

„Hallo Eden. Ich bin gleich dran. Wünschst du mir Glück?“

„Äh“, war alles, was ich zustande brachte. Ich war zu verdutzt, dass sie Wert auf meinen Beistand legte. Für gewöhnlich stand sie unter dem bösen Zauber von Grandma, doch von der war weit und breit keine Spur. Möglicherweise war sie im Moment damit beschäftigt, die Schiedsrichter zu bestechen. Ich lächelte und schob meine kurzzeitige Verwirrung beiseite.

„Das tue ich immer, Mae. Du wirst sie umhauen“, prophezeite ich und hielt ihr meine geschlossene Faust hin.

„Ich werde sie umhauen“, wiederholte sie und boxte mit ihrer Faust gegen meine.

Dann sprang sie auf, zupfte die Kniestrümpfe des Outfits zurecht und lief zur Bühne. Der Talentteil der Wahl war in vollem Gange. Die Mädchen, die bereits an der Reihe gewesen waren, wurden von ihrer Entourage zwischenzeitlich eifrig auf den bevorstehenden Höhepunkt der Show vorbereitet: der Auftritt im Abendkleid.

Die Veranstalter betonten jedes Mal, dass man eine altersentsprechende Garderobe aussuchen sollte, aber ich sah tiefe Rückenausschnitte, ebenso wie nahezu bis zur Hüfte geschlitzte Kleider und ultrakurze Röcke.

Maes Abendkleid bestand diesmal aus rosafarbenem Satin und hatte einen asymmetrisch geschnittenen Rock. Es brachte die Bräune, die ihr das Tanning beschert hatte, gut zur Geltung und stand ihr hervorragend. Würde Mae das Kleid außerhalb dieses kranken Zirkus hier tragen, hätte es mir wirklich gefallen. So war es nur ein weiteres Symbol, dass Aussehen eben doch viel mehr zählte. Ich konzentrierte mich wieder auf mein Tagebuch, das mein Fenster in eine Welt darstellte, in der alles noch in Ordnung gewesen war. In dieser waren kleine Probleme groß erschienen, weil es schlichtweg keine größeren gegeben hatte.

Liebes Tagebuch,

Caroline Hawk hat heute in der Schule einmal mehr mit einem Pokal angegeben. Ich hatte gehofft, dass sie nicht erwähnen würde, dass ich auch teilgenommen hatte, aber den Gefallen tat Caroline mir natürlich nicht. Sie erzählte jedem, dass ich auf dem letzten Platz gelandet bin. Ich wollte mich den Rest des Schultags auf der Toilette einsperren, doch Nell hat das nicht zugelassen. Auch Nate meinte, dass ich ihr gegenüber keine Schwäche zeigen darf, also nahmen die beiden mich in die Mitte und ließen mich den ganzen Tag kaum aus den Augen. Es hat gut getan, als Nate einen Arm um meine Schultern legte. Ich glaube, ich bin ein klein bisschen in ihn verliebt.

In einer Woche wird Caroline mit einem neuen Pokal angeben, und falls ich Glück habe, bin ich bis dahin schon vergessen.

Selbst, wenn es anders gelaufen wäre, hätte ich sowieso bald keine Zeit für Misswahlen. Mom möchte wieder mehr arbeiten und dazu braucht sie meine Hilfe als große Schwester!

Ich hörte den Applaus des Publikums und wusste daher, dass nun die nächste Kandidatin dran war. Nach ihr kam Maes Auftritt. Sie würde wieder ‚Auld Lang Syne‘ singen und die Traurigkeit, die sie in den Song legte, trieb verlässlich mindestens einem der Juroren die Tränen in die Augen. Diesem blieb somit gar keine Wahl, als ihr zehn Punkte dafür zu geben und seine Kollegen zogen dabei meist mit.

Grandma erwartete, dass ich in der ersten Reihe stand und begeistert applaudierte, sobald Mae ihre Darbietung beendet hatte. Cruella reagierte allergisch auf Ungehorsam, also steckte ich mein Tagebuch in den Rucksack und machte mich auf den Weg.

Mit etwas Glück befanden wir uns in drei oder vier Stunden auf dem Heimweg. Was war ich froh, dass ich diesen Mist bald nicht mehr mitmachen musste und die Wochenenden mit Nell, Hope und Arlene verbringen durfte. Oder vor dem Fernseher, wo ich jede Menge ungesunder Kohlehydrate in Form von Kartoffelchips, Salzstangen und Minibrezeln in mich hineinschaufeln würde. Einen Teil meines Taschengeldes hatte ich für derartige Fress-Eskapaden zur Seite gelegt.

Ich konnte es kaum erwarten, endlich sechzehn zu werden, obwohl ich Geburtstage schon lange nicht mehr feierte.

Kapitel 3

Liebes Tagebuch,

gestern war mein elfter Geburtstag, aber gefeiert haben wir nicht. Ich bekam auch noch keine Geschenke, doch das ist mir im Moment total egal.

Mom hatte in letzter Zeit sehr oft Kopfschmerzen und gestern war es so schlimm, dass sie kurz nach dem Frühstück bewusstlos geworden ist. Zum Glück war Daddy da und konnte einen Arzt rufen, denn ich war so erschrocken, dass ich nur dastand und weinte. Mom zuckte ganz komisch und in Daddys Stimme erkannte ich, dass er ebenfalls Angst hatte. Sogar Mae hatte Angst, obwohl sie erst drei Jahre alt ist.

Als der Arzt kam, hat er Mom mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus geschickt. Mrs. Newman passte auf uns auf, während Dad bei Mom war. Ich hatte gehofft, dass er bald mit ihr heimkommen würde, um uns zu sagen, dass alles in Ordnung ist. Doch selbst als es schon dunkel wurde, war Dad immer noch weg. Mrs. Newman brachte mich ins Bett. Sie blieb bei mir und las mir die längste Gute-Nacht-Geschichte aller Zeiten vor, aber ich konnte einfach nicht einschlafen! Schließlich habe ich so getan als ob. Dad kam irgendwann doch nach Hause. Ich hörte, wie er etwas von ‚weiteren Tests‘ und einer ‚unklaren Raumforderung‘ sagte. Er klang komisch dabei. Trotzdem hatte es mich beruhigt, dass er jetzt zuhause war, sodass ich eingeschlafen bin.

Morgen gehen wir Mommy besuchen. Hoffentlich geht es ihr gut. Oder besser: Ich wache auf und stelle fest, dass alles nur ein Traum gewesen ist!

Es war kein Traum gewesen. Die folgenden Wochen und Monate entpuppten sich als Albtraum, der aus Ärzten, Kliniken, Untersuchungen und Tränen bestand. Vor diesen Kopfschmerzen war alles so perfekt gewesen!

Mom hatte ihre eigene Rechtsanwaltskanzlei in Hayswood gehabt. Dad arbeitete in einer Abteilung beim FBI, wo er noch jedes Wochenende nach Hause kommen konnte. Die Wochenenden waren immer toll gewesen. Wir aßen gemeinsam und erzählten Dad, was wir erlebt hatten. Dazu schmiedeten wir Pläne für die Ferien, lachten viel. Die Samstage bildeten dabei mein Highlight, denn dann kuschelten wir uns abends auf dem Sofa zusammen, knabberten Popcorn und sahen Trickfilme, bis Mae und mir die Augen zufielen. Ich stellte mich schlafend, damit Mom mich in mein Bett trug. Hätte ich ihr gezeigt, dass ich wach war, hätte sie mich nicht getragen und genau das liebte ich so sehr. Auch nach all den Jahren spürte ich kurz vor dem Einschlafen hin und wieder ihre Lippen auf der Stirn.

Ich wusste, dass das nur Einbildung war, doch ich wusste ebenfalls, dass ich daran festhalten würde, so lange ich dazu in der Lage war. Die schönste Zeit meines bisherigen Lebens wollte ich nicht vergessen.

Ab und zu kam es mir so vor, als blickte ich in eine Schneekugel zu einer Bilderbuchfamilie, wenn ich an die Jahre mit Mom dachte. Manchmal glaubte ich mir selbst nicht, weil ich mich wie eine Außenstehende fühlte. Dabei waren das zweifellos meine Erlebnisse.

Die Bilderbuchfamilie, die wir gewesen waren, bevor Mom krank wurde und starb, wirkte surreal. Zu gut, zu perfekt, obwohl ich das Glück hatte, sie über zwölf Jahre erleben zu dürfen. Am liebsten hätte ich all meine wertvollen Erinnerungen in eine Schneekugel gesperrt, um sie durch einfaches Schütteln zum Leben zu erwecken. Doch da ich das nicht konnte, war ich froh, das Tagebuch wiedergefunden zu haben, das ich in den Händen hielt. In ihm steckten unglaublich viele Erinnerungen.

Nicht immer waren sie gut.

Liebes Tagebuch,

weil Mom eine Chemotherapie bekommt, die dafür sorgt, dass es ihr sehr schlecht geht, wohne ich die ganze Woche bei den Newmans. Um Mae kümmert sich Grandma. Sie hat jedoch gleich gesagt, dass sie sich nicht auch noch um mich kümmern könne. Glücklicherweise gibt es Mrs. Newman. Vorhin hat sie uns Popcorn und Sprite in den Keller gebracht, wo wir mit Nate einen Film ansehen wollten. Er kannte ihn aber schon und hat alles verraten, sodass uns die Lust darauf vergangen ist. Also nahmen wir das Popcorn mit in den Garten und fingen an, es uns gegenseitig zuzuwerfen, um es mit dem Mund zu fangen. Das meiste, das Nell in meine Richtung schmiss, landete daneben. Nate warf kein einziges Mal zu mir. Dabei wünschte ich mir immer, wenn er an der Reihe war, dass er es endlich tat! In letzter Zeit denke ich oft an ihn. Vielleicht tue ich das, um mich von Moms Krankheit abzulenken. Die Ärzte rasierten ihr doch tatsächlich die Haare ab, weil sie ihr ein Loch in den Kopf bohren müssen! Ist das zu fassen?! Natürlich denke ich da lieber an Nates weiche, braune Haare.

Als wir das Popcorn aufgegessen hatten, stand Nate auf und ging ins Haus. Ich blieb bei Nell. Gemeinsam blickten wir zum Himmel und versuchten, herauszufinden, was die verschiedenen Wolken darstellten. In dem Moment, als ich erklärte, warum die Wolke über uns wie ein heulender Wolf aussah, traf mich eine Wasserbombe. Ich prustete und wusste zuerst gar nicht, was passiert war, bis ich Nates Lachen hörte.

Ich glaube, ich lachte auch. Es war das erste Mal, seit Mom ins Krankenhaus gekommen war und ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen.

Ich habe solche Angst um sie.

Ich will sie nicht verlieren.

Sie ist doch meine Mom!

Meine Stirn legte sich in Falten, als ich probierte, mir Moms Lachen ins Gedächtnis zu rufen. Aber je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto weniger bekam ich es zu fassen. Die Erinnerung entschlüpfte mir wie ein glitschiger Fisch. Je fester ich sie umschließen wollte, umso leichter glitt sie davon.

Der Gedanke an meine Mutter und das Unvermögen, mich an ihr Lachen zu erinnern, das ich so sehr vermisste, trieben mir die Tränen in die Augen. Ehe ich jedoch begann loszuheulen, nahm ich mein Smartphone zur Hand.

Dad hatte es mir vergangenes Weihnachten geschenkt. Grandma war darüber gar nicht begeistert gewesen, denn sie war der Meinung, dass ich auch mit einem Tastenhandy telefonieren und alberne unwichtige Textnachrichten schreiben konnte. Mein Vater sah das glücklicherweise anders. Vielleicht war es seine Art, sich für seine häufige Abwesenheit zu entschuldigen. Ich tippte auf das Display, um nachzusehen, ob eine Antwort von Nell eingetroffen war.

Fehlanzeige.

Es waren nun schon zehn Tage, seit meine beste Freundin bei ihrer Granny in Georgia war. Ihre Granny war eine der Großmütter, die Apfelkuchen buken, Patchworkdecken nähten und Marmelade einkochten. WiFi, Smartphones, Bluetooth, Skype, Touchscreens und diese Dinge waren ihr fremd. Deswegen befand sich Nell buchstäblich in der technologischen Steinzeit. Die gelegentlichen Anrufe und Nachrichten genügten nicht, um mich vor einem Nell-Entzug zu bewahren.

Mindestens ebenso schwerwiegend war jedoch der Nate-Entzug.

Nate wurde in zwei Wochen achtzehn. Nach den Ferien war er ein Senior und würde bald aufs College gehen. Ehe er dadurch keine Zeit mehr hatte, verdonnerten ihn seine Eltern dazu, noch einmal mit der ganzen Familie seine Grandma zu besuchen.

Ich war fast süchtig danach, ihn zu sehen.

Die Wasserbombenschlachten von Moms letztem Sommer bildeten eine weitere Schneekugelerinnerung, die irgendwann zu surreal werden würde, um sie zu glauben. Kurz darauf fingen Nate und Nell an, sich zu hassen, sodass er uns inzwischen komplett aus dem Weg ging. Möglicherweise lag das an der Pubertät, die unser Biologielehrer Mr. Suarez als völlige Neuordnung des Gehirns bezeichnete. Offenbar waren die Gehirne der beiden Geschwister nun so gepolt, dass sie sich gegenseitig abstießen. Oftmals ertrugen sie es nicht einmal, gemeinsam an einem Tisch zu sitzen.

Aber während ich hier auf meinem Bett lag und an die Decke starrte, konnte ich mich an die Wasserbombenschlacht erinnern. Nates Lachen, sobald er einen Volltreffer gelandet hatte, hallte klar durch meine Gedanken und ich sah ihn deutlich vor mir.

Wie er eine Hand auf seinen Bauch presste, an dem sein nasses T-Shirt klebte und den Kopf in den Nacken warf. Wie seine Schultern bebten und sein Adamsapfel hervortrat. Wie das Wasser sich an den Spitzen seiner dunklen Haare sammelte, ehe es einen Tropfen bildete, der dann auf seinen Körper fiel.

Auch jetzt dachte ich noch manchmal daran, wie gerne ich einer dieser Tropfen gewesen wäre. Selbst, wenn die Sonne meine Existenz rasch zunichtegemacht hätte, war ich mir sicher, dass es das wert gewesen wäre. Ihm einmal so nahe zu sein. Seinen Körper zu berühren, zu erfahren, wie er sich anfühlte – ein Traum, der sich vermutlich nie erfüllte.

Aber viel faszinierter war ich von den Grübchen. Sie zeigten sich auf seinen Wangen, sobald er lachte und ich hoffte nach wie vor, sie irgendwann anfassen zu dürfen. In meiner Fantasie legte ich die Daumenkuppen darauf, bis sie zusammen mit seinem Lächeln verschwanden, weil er sich zu mir beugte und mich küsste. Sein Atem würde meine Lippen streifen und in meinen Wunschträumen nahm er dabei mein Gesicht zärtlich in seine Hände. Ich malte mir aus, wie er mir den liebevollsten Kuss gab, den man sich als Ungeküsste vorstellen konnte. Manchmal gestand er mir im Anschluss daran, wie sehr er mich liebte. Dieser Wunsch beflügelte mich jedes Mal und brachte mich zum Lächeln.

Seit Moms Tod lachte ich wenig und auch, wenn mir klar war, wie absurd diese Träumerei war, sah ich nicht ein, sie aufzugeben. Daher schloss ich die Lider und stellte mir vor, wie Nate Newman wohl küsste. Das war tausendmal besser als die Realität, allein mit Cruella und meiner erschreckend perfekten Schwester zu sein.

Eine meiner liebsten Erinnerungen an Nate, war eine der jüngsten.

In den letzten Tagen vor den Sommerferien hielt ich besonders oft Ausschau nach meinem Schwarm. Ich wollte einen Vorrat anlegen, obwohl ich wusste, dass das unmöglich war. Während ich ihm hinterhergesehen hatte, wie er zum Parkplatz lief, schmerzte mein Herz, weil mir klar war, dass ich ihn wochenlang nicht sehen würde. Als er sich plötzlich umgedreht hatte, war ich erstarrt. Wie gebannt beobachtete ich, wie Nates Blick über die Menge der Schüler hinwegflog. Er schien nach jemandem zu suchen und mein Puls beschleunigte sich, als er mich direkt ansah. Erst dachte ich, dass ich dem Gesuchten im Weg stand, aber sein Blick brannte sich förmlich in meinen. Mehrere Meter trennten uns, doch sein zaghaftes Lächeln raubte mir den Atem. Nate Newman hatte mich tatsächlich angelächelt. Daran bestand kein Zweifel. Von diesem Moment zehrte ich seit knapp zwei Wochen. Ich spulte ihn immer wieder aufs Neue in meinem Kopf ab, erfand etwas hinzu, verlor mich.

Ein Brummen riss mich aus dem Tagtraum. Ich wusste sofort, dass es von meinem Handy kam und drehte mich schnell herum, um abzuheben. Ein Bild von der überglücklich lächelnden Nell erstrahlte auf dem Display, woraufhin ich ebenfalls lächelte. Ihr Anruf befreite mich aus meiner Lethargie und wirkte wie ein Sonnenstrahl.

„Hey!“, grüßte ich sie.

„Na du, was läuft in Hayswood?“, legte sie unvermittelt los.

„Nichts“, erwiderte ich, worüber wir beide lachten. Niemand, der hier wohnte, hielt unsere verschlafene Kleinstadt für einen Ort, an dem das Leben tobte. „Wie ist es bei deiner Granny?“

„Hier wäre es genauso langweilig, wären da nicht die neuen Nachbarn meiner Gran“, begann sie. „Sie haben einen Sohn, Joseph, wie ich inzwischen herausfand, aber er ignoriert mich!“

Ich grinste in mich hinein und ließ mich nach hinten auf mein Bett fallen. Nell konnte unglaublich hartnäckig sein, daher war ich mir sicher, dass sie Josephs Aufmerksamkeit schon noch gewinnen würde.

„Gestern hat er den Rasen gemäht und trug nur Shorts“, fuhr sie fort.

Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie Nate wohl mit freiem Oberkörper aussah. Seit dieser Wasserbombenschlacht ging er seiner Schwester und mir aus dem Weg. Nachdem ein Farmer sein Güllefass im See versenkt hatte, wollte niemand mehr dort schwimmen, was mir die Chance raubte, Nate in Badekleidung zu sehen.

„Sonst nichts?“, bohrte ich nach und wickelte mir eine meiner blonden Strähnen um den Zeigefinger.

„Na ja, er hatte welche dieser ausgetretenen Vans-Sneaker an. Zählt das?“

Nate besaß auch solche Schuhe und meiner Meinung nach sahen sie an ihm tausendmal besser aus als Nike Airs, die die Hälfte der männlichen Schüler der Hayswood High trug. Die andere Hälfte lief in Chucks herum, die ab einer gewissen Schuhgröße einfach fürchterlich aussahen, wie ich fand.

„Nein“, entgegnete ich nach einem Moment. „Wenn er einen tollen Oberkörper hat … wer glotzt da bitte auf die Schuhe?“, witzelte ich.

„Den hat er definitiv. Sollte ich ihn morgen sehen, werde ich ihn fragen, ob er Sport macht. Das muss er, sonst hätte er nicht so einen Body!“, redete Nell begeistert weiter.

Allerdings kannte ich meine Freundin. Nell verlor ihr Herz schnell, holte es sich jedoch mit derselben Geschwindigkeit wieder.

„Kannst du heimlich ein Foto von ihm schießen?“, bat ich sie und hoffte dabei im Stillen, dass der Zufall dafür sorgte, Nate möge sich irgendwie auf dieses Bild mogeln.

„Ich versuche es“, versprach sie.

Anschließend lauschte ich knapp zwei Stunden ihren Schilderungen.

Bald war sie zurück und ich freute mich darauf, sie dann endlich in die Arme schließen zu dürfen. Die Zeit bis dahin würde ich bestimmt überstehen.

Schließlich hatte ich schon Schlimmeres hinter mich gebracht.

Kapitel 4

Maes Stimme, die ‚Shake it off‘ von Taylor Swift zum Besten gab, drang durch meine Zimmertür. Ich presste mir das Kissen auf das Gesicht und wünschte, nie aufgewacht zu sein. Doch wirklich böse konnte ich ihr nicht einmal sein, wenn sie mich aus dem Schlaf riss.

Hübsch war Mae schon immer gewesen, aber mit drei Jahren stellte sich heraus, dass sie zudem auch eine natürliche Grazilität und eine bezaubernde Stimme besaß. Ich war mir sicher, dass Grandma sofort den Entschluss fasste, aus meiner Schwester die künftige Miss America zu machen, als sie das erkannte. Sie hatte sich so sehr in dieses Ziel verbissen, dass jeder Terrier unter seinem Fell vor Neid erblasste. Nachdem Mom von uns gegangen war, fragte Dad Grandma, ob sie sich einem Umzug nach Hayswood vorstellen konnte. Kein Wunder, dass sie zustimmte, denn hier ließ sich ihr Mini-Me heranziehen. Cruella vergötterte meine Schwester und leider beruhte diese Wertschätzung auf Gegenseitigkeit.

Mae gefiel die Aufmerksamkeit und um diese nicht zu verlieren, scheute sie sich nicht einmal vor einer Kohlsuppendiät. Inzwischen glaubte sie sogar, roher Fisch wäre gut für die Haut. Seitdem gab es bei uns regelmäßig Sushi, was ich mittlerweile hasste wie die Pest. Ansonsten bestand Grandma auf ‚Healthy Food‘. Kohlehydrate – für sie seit jeher die Ausgeburt der Hölle – waren absolut tabu.

Aus Protest ging ich zu meinem Geheimversteck, fischte eine Handvoll Cheerios heraus und schob sie mir in den Mund. Anschließend legte ich mich wieder ins Bett. Ich war noch nicht bereit, mich der Welt vor der Zimmertür zu stellen, also holte ich mein altes Tagebuch unter dem Kopfkissen hervor und las einen weiteren Eintrag.

Liebes Tagebuch,

Glioblastom. So heißt der Tumor, der in Moms Kopf ist. Wenn wir sie besuchen, fragt sie uns nach unseren Erlebnissen und lächelt. Mae springt dann sofort auf ihren Schoß und plappert darauf los. Ich versuche zu lächeln, doch ich erkenne die Schatten unter Moms Augen. Jeden Tag scheinen sie dunkler zu werden. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich noch in der Lage bin, zu lächeln. Am liebsten würde ich den ganzen Tag heulen.

Heute war ich bei Nell. Nate war auch da, aber außer einem ‚Hey‘ hat er nichts gesagt. Ich denke, er weiß nicht, wie er sich mir gegenüber verhalten soll. Schließlich weine ich ständig. Dabei hatte ich mir so sehr gewünscht, dass er Zeit mit uns verbringt. So wie früher. Früher war alles besser. Früher, als Mom diesen blöden Tumor nicht hatte.

Obwohl sie und Dad immer lächeln, habe ich ein komisches Gefühl. Ich glaube, es ist Angst. Entsetzliche Angst.

Schlimmer als die Angst ist die Ohnmacht, nicht helfen zu können. Am liebsten würde ich in ihren Körper kriechen und jede Krebszelle eigenhändig vernichten. Aber das kann ich nicht. Ich kann so vieles nicht.

Vielleicht sollte ich Ärztin werden. Dann wäre ich möglicherweise in der Lage, kranken Menschen zu helfen.

Kranken Menschen wie Mom.

Sie darf nicht sterben!

Tränen liefen über mein Gesicht und landeten schließlich in meinem Haar. Meiner Mutter waren nach diesem Eintrag nur noch wenige Wochen geblieben. Die Ärzte benutzten das Wort ‚austherapiert‘, bevor man Mom auf eine Palliativstation verlegte.

Spätestens ab da war mir bewusst geworden, dass der Krebs nicht allein in unser Haus gekommen war. Er hatte auch den Tod mitgebracht.

Neue Tränen folgten denen, die bereits im Begriff waren, auf meinen Wangen zu trocknen. Ein Loch, so groß, dass es mich zu verschlingen drohte, schien sich in meinem Brustkorb gebildet zu haben. In mir war nichts als Leere. Entsetzliche Leere.

Allmählich erkannte ich, dass ich mich mit dem Lesen der Tagebucheinträge, mit denen ich mir den Kummer über Moms Schicksal von der Seele geschrieben hatte, erneut an den Rand eines gigantischen Abwärtsstrudels getrieben hatte. Ich vermisste sie, aber ich mochte nicht mehr in den Zustand zurück, in dem ich mich nach ihrem Tod befunden hatte. Es war mir wie ein nie enden wollender Albtraum vorgekommen. Vergebens hoffte ich, einfach aufzuwachen, hinabzugehen und Mom in der Küche vorzufinden, wo die wichtigste Frage war, ob sie mir Rührei oder Pfannkuchen zum Frühstück machen sollte und nicht, ob wir den weißen oder den rosafarbenen Sarg wollten.

Särge, Grabsteine, Traueranzeigen.

Nicht einmal in Anbetracht dieser Todesbegleiterscheinungen war es meinem Kopf damals gelungen, die unabänderliche Realität zu akzeptieren. Meine Mutter war tot und nichts und niemand konnte sie mir zurückgeben. Ich – wir – hatten sie verloren. Der Sog ins Dunkle wurde stärker, als plötzlich die Tür aufging und ich vor Schreck zusammenzuckte. Eilig klappte ich das Tagebuch zu, denn für Grandma wäre es nur sentimentaler Kram. Ballast, mit dem man sich nicht aufhalten sollte, weshalb sie es mir bestimmt wegnehmen würde. Was geschehen war, war schließlich nicht mehr zu ändern. Doch es war Mae, die im Wechselschritt herein hopste und sich bäuchlings auf mein Bett warf. Sie trug ein hellblaues Baumwollkleid mit Rüschen am unteren Saum und sah mal wieder bezaubernd aus.

„Hallo Mae“, begrüßte ich sie und wischte die Tränen ab.

„Hast du geweint, Eden?“, fragte sie mich unverwandt, während sie das Kinn in die Handflächen stützte und mich mit ihren großen blauen Augen musterte.

Ich zwang mir ein Lächeln aufs Gesicht und die Verneinung des Offensichtlichen lag bereits auf meinen Lippen, als mir bewusst wurde, dass ich keinen Grund hatte, sie anzulügen. Sie war das argloseste und liebenswerteste Geschöpf, das ich kannte. Selbst wenn sie etwas zu sehr unter dem Einfluss von Cruella stand, so war sie doch meine Schwester.

„Ja. Ich musste an Mom denken“, gestand ich ehrlich.

In Maes offenherzigem Blick war für den Bruchteil einer Sekunde ein Schatten zu sehen. „Machst du das oft?“

Vorsichtig strich ich über den Einband des Tagebuchs und nickte. „Ich vermisse sie“, gab ich offen zu und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

Damit war ich nicht die Einzige. Mae sah auf die Bettdecke hinab und blinzelte einige Male. „Ich auch. Manchmal bin ich neidisch auf dich, Eden.“

Überrascht zog ich die Brauen in die Höhe. Mae, die jeder auf den ersten Blick ins Herz schloss und die einen Little-Miss-Sunshine-Pokal nach dem anderen gewann, beneidete mich?

Mich, ihre fünfzehn Jahre alte Schwester mit den aschblonden Haaren, einem braunen und einem blauen Auge, die nicht einmal einen Blumentopf gewonnen hatte? Schwer vorstellbar. Ich besaß nichts, um das Mae mich meiner Ansicht nach beneiden konnte.

„Wieso das denn?“

Sie zuckte mit ihren schmalen Schultern. „Na ja. Weil du Mom viel länger hattest als ich.“

„Oh.“

So hatte ich das nie zuvor gesehen. Mae beugte sich zu mir und sagte in einem verschwörerischen Tonfall: „Ich will dir ein Geheimnis verraten, Eden. Ich habe immer ein Bild von Mommy dabei, wenn ich auf die Bühne gehe. Es steckt in einem meiner Schuhe.“

Erneut lief eine Träne über mein Gesicht. „Wirklich?“, krächzte ich.

Das schlechte Gewissen erschlug mich fast. Ich war so sehr mit meiner eigenen Misere beschäftigt gewesen, dass ich keinen Gedanken daran verschwendet hatte, was Moms Verlust für sie bedeutete. Sie wirkte stets so glücklich, sobald es um ihre Misswahlen ging. Und um die ging es in diesem Haus ständig. War das möglicherweise nur Fassade?

Mae nickte und als sie aufblickte, erkannte ich, dass sich auch in ihren Augen Tränen sammelten.

„Liest du mir was vor?“, bat sie mich und deutete mit dem Kinn auf das Tagebuch.

„Klar“, erwiderte ich mit tränenerstickter Stimme.

Ich rutschte ein wenig zur Seite, damit Mae sich an mich kuscheln konnte. Sie zögerte kurz, ehe sie sich neben mich setzte und sich bei mir anlehnte. Schweigend suchte ich nach einer der schönsten Erinnerungen, die ich an Mom und Dad hatte und las dann vor.

Liebes Tagebuch,

Mom bekommt seit einer Woche ein neues Medikament, das dafür sorgt, dass es ihr besser geht. Die Ärzte haben ihr sogar erlaubt, einen Ausflug mit uns zu machen. Wir fuhren in den ‚Elephant Rocks State Park‘. Dad sang während der Fahrt jeden Song aus dem Radio mit und Mom lachte immer, sobald er den Text nicht konnte und sich irgendwas ausdachte. Das Auto roch wunderbar nach Moms Parfüm. Es heißt ‚Indian Summer‘. Meiner Meinung nach hätte man es auch einfach ‚Mom‘ nennen können. Als wir ankamen, hat Mae eine Ewigkeit geheult.

Wegen des Namens dachte sie, im Park gäbe es richtige Elefanten. Sie hörte erst auf, als Dad ihr erzählte, dass die riesigen Granitfelsen, die hier überall zu sehen waren, versteinerte Elefanten seien, die sich manchmal bewegten, wenn man gut aufpasste.

Je länger wir im Park waren, umso mehr Pausen brauchte Mom. Auf dem Rückweg hat sie die ganze Zeit geschlafen. Vielleicht hat sie von echten Elefanten geträumt.

Tränen schimmerten in Maes Augen, als ich von den Zeilen des Tagebucheintrages aufblickte, den ich kurz nachdem uns die Diagnose mitgeteilt worden war, geschrieben hatte.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich vorsichtig. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor sie mich ansah.

„Wir sind in einen Elefantenpark gefahren?“

Meine Mundwinkel schoben sich in die Höhe und ich hatte das Gefühl, dass mein Herz sich ausdehnte, weil es sich mit Zuneigung für sie füllte.

„Nein. Der Park heißt nur wegen der großen Steine so“, erklärte ich und klappte das Buch zu.

„Oh.“

Mae wirkte seltsam niedergeschlagen.

„Keine Sorge. Als ich den Namen das erste Mal gehört habe, dachte ich ebenfalls, dass dort Elefanten leben“, tröstete ich sie.

„Wirklich? Dabei bist du so schlau, Eden. Aber das musst du sein. Schließlich willst du Ärztin werden. Ärzte müssen klug sein.“

Mae hatte im vergangenen Jahr im Rahmen eines Schulprojektes ein Interview mit mir geführt. Eine der Fragen war, was ich später einmal werden wollte. Seit Moms Tod war es mein Traum, Medizin zu studieren, daher war das auch die Antwort gewesen.

Inzwischen war ich unsicher, ob es tatsächlich das Richtige war. Vielleicht konnte ich Menschen retten, doch es würde genügend Leute geben, denen nicht mehr zu helfen war. Fraglich, ob ich das verkraftete.

„Alle Ärzte, die ich kenne, sind klug. Ich werde bestimmt nie Ärztin, denn ich wusste ja noch nicht mal, dass es in diesem Elefanten-Park um Steine geht“, fügte Mae hinzu und ihr darauffolgendes Seufzen war so schwer, dass sich ihr schmaler Brustkorb dabei um einige Zentimeter hob.

„Nur weil man gewisse Dinge nicht weiß, ist man nicht automatisch dumm, Mae. Manches lernt man eben später. Es gibt sicher viel mehr, was ich nicht weiß, als umgekehrt.“

Sie brummte etwas Unverständliches, während sie aufstand und zur Tür ging. Offenbar hatte sie keine Lust, weiter über Klugheit und Dummheit zu sprechen.

„Grandma ist bei der Kosmetikerin und kommt erst in einer Stunde zurück. Wollen wir gemeinsam Cheerios essen?“, erkundigte sich Mae und linste zu meinem Versteck.

„Du weißt von meinem Notvorrat?“

Röte überzog ihre Wangen, was sie nur noch anbetungswürdiger erscheinen ließ.

„Ich wollte nicht herumschnüffeln. Aber ich entdeckte die Cheerios, als ich mir die selbstgebastelten Sachen ansehen wollte. An dem Tag habe ich Mom mal wieder ganz doll vermisst.“

Mae biss sich verlegen auf die Unterlippe. Wenn sie aus dem Grund in meinem Zimmer herumgestöbert hatte, konnte ich ihr unmöglich böse sein.

„Schon okay, Mae“, versicherte ich ihr und musste mir das aufmunternde Lächeln diesmal nicht aufzwingen, wie ich es sonst so oft getan hatte. „Doch du musst mir versprechen, dass du mein Tagebuch in Ruhe lässt“, ermahnte ich sie, während ich aufstand. Sie nickte eifrig und beobachtete mich, wie ich zu meinem Geheimvorrat ging, der nun nicht mehr so geheim war.

„Sie sind lecker“, flüsterte sie.

„Am besten sind sie, wenn man sie mit Milch isst. Lass uns schnell welche futtern, bevor Cru… Grandma nach Hause kommt“, schlug ich vor und begab mich mit meiner Schwester an der Hand hinab in die Küche.

Das erste Mal seit langem fühlte ich mich in meinem Zuhause nicht wie ein unerwünschter Gast.

Kapitel 5

Liebes Tagebuch,

ich glaube, heute war der schrecklichste Tag in meinem Leben. Ja, ich weiß, dass ich dasselbe schrieb, als Mom gestorben ist. Doch erst heute, auf der Beerdigung, realisierte ich so richtig, dass sie tot ist. Tot. Weg. Für immer!

Auf dem Friedhof roch es nach Blumen und frisch gemähtem Gras. Obwohl es erst April ist, hatte die Sonne ungewöhnlich viel Kraft. Die schwarzen Klamotten, die ich hatte anziehen müssen, saugten die Wärme auf, wie ein ausgetrockneter Schwamm das mit Wasser tun würde. Schweiß lief mir über das Gesicht, aber mir fehlte die Energie, ihn abzuwischen.

Um Moms Grab befand sich ein Meer aus Blumen. Sie waren schön. Ihr Duft war allerdings so intensiv, dass ich ihn sogar auf der Zunge schmeckte. Mir wurde übel davon, doch ich musste am Grab stehen bleiben, bis alle Trauergäste an uns vorbeigegangen waren. Dad meinte, es seien über vierhundert Leute gekommen, um Mom ‚die letzte Ehre zu erweisen‘. Mir kam es vor wie viertausend, denn die Reihe der Wartenden wollte einfach nicht enden. Einer nach dem anderen warf eine Schaufel Erde auf Moms weißen Sarg, bis das Gelb des Blumengebindes auf dem Deckel langsam von dunklem Braun überlagert wurde.

Es wurde immer heißer. Mit der langärmeligen schwarzen Bluse und der schwarzen Hose war ich viel zu warm angezogen. Ich wagte kaum zu atmen, aus Angst, noch mehr von dieser unerträglichen Hitze aufzunehmen. Mae fing irgendwann zu jammern an und Grandma ging mit ihr zum Auto. Am liebsten wäre ich den beiden hinterhergerannt, aber dann wäre Dad allein gewesen. Ich wusste, dass er mich brauchte, denn er drückte unablässig meine Hand, bis schließlich wir an der Reihe waren, uns von Mom zu verabschieden.

Selbst, als ich direkt vor dem Grab stand, konnte ich es nicht fassen, dass meine Mom tot sein sollte! Ich brauche sie! Mae braucht sie! Und auch Dad braucht sie. Sonst hätte er auf dem Heimweg nicht so geweint. Ich sah Daddy noch nie weinen. Vielleicht war das der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass das kein Traum mehr ist. Kein Traum dauert so lange.

Sie war weg. Für immer. Ich würde nie mehr ihr Lachen hören, nie wieder in ihre schönen Augen sehen. Ich werde mich nachts nie wieder an sie kuscheln können, wenn ich einen Albtraum gehabt habe.

Ich will das nicht glauben!

Die Tage und Wochen danach fühlten sich komisch an. Dad schlief auf dem Sofa, weil er es nicht über das Herz brachte, ins Schlafzimmer zu gehen.

Ich hingegen war oft dort, legte mich in Moms Bett und vergrub die Nase in ihrem Kissen. Es roch nach ihr, was es nur unwirklicher machte, dass sie nie mehr hier schlafen sollte.

Als ich am letzten Schultag vor den Sommerferien nach Hause kam, war plötzlich etwas anders. Der Truck einer Baufirma stand in der Einfahrt und die schönen Rosenbüsche, die Mom gepflanzt hatte, lagen entwurzelt in einer Ecke des Vorgartens. Arbeiter waren dabei, einen Bagger abzuladen, während mein Vater mit einem Mann sprach, der einen gelben Schutzhelm trug.

Ich erinnere mich noch, wie sich alles in mir sträubte, als Dad mir eröffnete, dass Grandma zu uns ziehen würde. Sie sollte auf Mae und mich aufpassen, damit er wieder arbeiten gehen konnte.

Die Handwerker waren da, um einen Anbau für Grandma zu errichten. Ich hatte schon von klein auf kein enges Verhältnis zu ihr gehabt, dementsprechend gering fiel auch die Freude darüber aus, dass sie künftig bei uns lebte.

Mein Bauchgefühl hatte mich nicht betrogen und im Endeffekt war es sogar schlimmer gekommen, als ich es mir damals ausgemalt hatte. Grandma interessierte sich ausschließlich für Mae. Ich war nur das lästige Anhängsel, das sie so schnell nicht loswurde. Obwohl meine Gesellschaft für sie nicht besonders erstrebenswert zu sein schien, bestand sie darauf, dass ich sie und meine jüngere Schwester auf die Misswahlen begleitete. Sie wusste, dass ich es hasste, aber der Zug, ihr vorzuspielen, ich würde gern mitfahren, war längst abgefahren. Außerdem fand das in acht Wochen ohnehin ein Ende. Niemals zuvor war der ‚Sweet Sixteen‘ sehnsüchtiger erwartet worden, dessen war ich mir gewiss.

Wie so oft in den vergangenen Tagen zog ich mein Tagebuch hervor, das inzwischen einen festen Platz unter meinem Kopfkissen gefunden hatte. Viele der Einträge hatte ich in der Zwischenzeit so oft gelesen, um sie auswendig zu kennen. Doch vor einem – dem Letzten – hatte ich mich bisher immer gedrückt.

Ich hasse sie! Warum hat Mom sterben müssen?! Etwa, damit SIE nun ihren Platz einnimmt? NIEMAND wird jemals ihren Platz einnehmen können! Niemand! Ich hasse Grandma! Ich wünschte, sie wäre anstelle meiner Mom gestorben! Ich hasse hasse hasse hasse sie!

Kein ‚Liebes Tagebuch‘, kein Blatt vor dem Mund. Nur pure, reine Gefühle, die mich in dem Moment, als ich das geschrieben hatte, zu überwältigen drohten. Es war Moms erster Geburtstag gewesen, den wir ohne sie verbringen mussten. Bereits Tage davor war ich niedergeschlagen und traurig gewesen, aber als ich am Morgen in die Küche gekommen und mein Blick auf das Datum gefallen war, das der Wandkalender zeigte, war ich zusammengebrochen. Ich hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen, geschluchzt, geheult und das Schicksal verflucht. Dad war längst bei der Arbeit gewesen und Mae war mit ihren vier Jahren zu klein, um zu verstehen, was mit mir los war.

Die einzige anwesende Person, die mir Trost hätte spenden können, war Grandma. Doch die schnauzte mich nach wenigen Minuten nur an, ich solle mich zusammennehmen. Es würde sich nicht ‚schicken‘, mit tränenverquollenen Augen, rotfleckigen Wangen und einer Rotznase das Haus zu verlassen. Zuerst hielt ich es für einen Scherz. Als ich jedoch aufgesehen hatte, erkannte ich die Ernsthaftigkeit in Grandmas Miene.

Sie, die nun dafür zuständig sein sollte, auf Mae und mich achtzugeben, zeigte keinen Funken Verständnis für meine Reaktion. Mit verkniffenem Mund musterte sie mich, wie ich auf dem Küchenboden kauerte, während meine unbändige Trauer von Unglauben abgelöst wurde.

„Wie bitte?“, hatte ich nachgehakt, weil ich geglaubt hatte, mich verhört zu haben. Aber ich hatte mich nicht verhört. Grandma wiederholte ihre Zurechtweisung so langsam, als wäre ich schwer von Begriff und setzte sogar noch einen drauf.

„Man sieht, dass du keine Fairchild bist. Fairchild-Frauen brechen nicht zusammen. Fairchild-Frauen heulen nicht. Fairchild-Frauen bewahren die Contenance“, hatte sie mir eingeschärft.

Jede Silbe wirkte wie ein Peitschenhieb. Moms Mädchenname war Fairchild gewesen. Dass mir die eigene Großmutter die Ähnlichkeit, ja möglicherweise die Verwandtschaft zu ihr absprach, war eine heftige Ohrfeige.

Ich vermisste meine Mutter mit jedem Schlag meines Herzens, mit jedem Atemzug, den ich tat! Ich war ihre Tochter und Fairchild-Gene hin oder her: Mom hatte mich ebenso geliebt, wie ich sie. Dass ich sie so kurz nach ihrem Tod nicht mehr betrauern sollte, war in meinen Augen der größte Verrat, den man ihr antun konnte.

„Wie kannst du so herzlos sein?“, hatte ich bebend vor Wut hervorgepresst, woraufhin Grandma nur herablassend lachte.

„Oh, du dummes Kind! Irgendwann wirst du mir danken, dass ich dir diese unsinnige Gefühlsduselei ausgetrieben habe!“

Ich sollte dankbar sein, dass sie meine Trauer verachtete? Niemals! Schockiert war ich zurückgewichen. Die unzähligen Worte, die ich ihr entgegenschleudern wollte, sammelten sich in meinem Mund. Doch die Fassungslosigkeit über das vollkommene Ausbleiben von Empathie seitens meiner Großmutter verhinderte, dass ich auch nur einen Laut hervorbrachte.

Ich war in mein Zimmer gerannt und weinte so lange, bis keine Tränen mehr kamen. Mein Vorrat an Tränenflüssigkeit war ohnehin nicht besonders groß, weil ich in den letzten Wochen ständig geweint hatte. Als der Tränenstrom versiegte, überlagerte die Wut wegen Grandmas Worten für einen Moment den Schmerz. Aber ich wollte nichts anderes fühlen! Das war ich Mom schuldig. Sie war es wert, dass man sie vermisste! Um die Wut loszuwerden, hatte ich mir das Tagebuch geschnappt, um die Gefühle auf Papier zu bannen. Ich hatte vor Zorn so sehr gezittert, dass ich kaum in der Lage gewesen war, den Stift zu halten.

Danach war es mir besser gegangen. Das Verhältnis zwischen mir und Grandma war ab diesem Vorfall allerdings endgültig kaputt.

Mein Handy, das auf meinem Nachttisch lag, brummte. Ich drehte mich so hastig auf meinem Bett herum, dass das Tagebuch zu Boden fiel.

Nell: Hey Eden. Ich hoffe, du vergehst fast vor Sehnsucht nach mir!

Froh, dass sich meine beste Freundin meldete, textete ich rasch zurück.

Eden: Sehnsucht ist gar kein Ausdruck! Ich vermisse dich so furchtbar, dass ich schon überlegt habe, mir eine Nell-Puppe zu basteln.

Lächelnd sah ich auf die drei tanzenden Punkte auf meinem Display, die mir verrieten, dass Nell dabei war, zurückzuschreiben.

Nell: Uuuhhh … das ist irgendwie unheimlich. So weit muss es jedoch nicht kommen, denn … ich bin wieder zuhause!

Als ich den letzten Satz las, sprang ich aus dem Bett. Ich wollte ihn erneut lesen, da ich mir selbst nicht traute, aber ich zitterte vor Aufregung und Freude so sehr, dass es schlichtweg unmöglich war. Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich sie anrufen oder ihr zurücktexten sollte. Doch meine beste Freundin nahm mir die Entscheidung ab, indem sie mir eine dritte Mitteilung schickte.

Nell: Da ich davon ausgehe, dass du dich sofort auf dein Rad schwingst und zu mir fährst, gehe ich rasch duschen. Bis gleich! XO

Sie hatte absolut recht. Nichts und niemand konnte mich abhalten, zu ihr zu fahren.

Kapitel 6

Der Sommer neigte sich dem Ende, aber die Hitze reichte aus, damit mein Shirt an meinem Rücken klebte. Ich atmete schwer, weil ich so schnell gefahren war. Endlich war sie zurück und ich konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen.

Trotzdem nahm ich mir die Zeit für drei weitere tiefe Atemzüge, ehe ich auf die Klingel drückte. Wenige Sekunden, nachdem das Signal erklungen war, hörte ich Schritte im Inneren des Hauses. Der Anflug von Erleichterung, dass tatsächlich jemand zuhause war und somit die Nachricht von Nell nicht nur meinem Wunschdenken entsprang, wandelte sich sofort in Aufregung, als ich eine Silhouette hinter der Milchglasscheibe ausmachte. Denn die Person, die dabei war, mir die Tür zu öffnen, war nicht meine beste Freundin – es war Nate.

Mein Herz blieb stehen, als er sich plötzlich ohne die schützende Scheibe vor mir befand und mich mit seinen karamellfarbenen Augen ansah. Seine bloße Anwesenheit reichte, damit ich total nervös wurde und nun stand er mir zu allem Überfluss nur in Surfshorts gegenüber! Das war zu viel. Mein Mund öffnete sich und ich ließ den Blick ziemlich unverhohlen an ihm hinabgleiten. Unterhalb seines Bauchnabels kräuselte sich eine Linie dunkler Haare, bis sie im Bund der tiefsitzenden Shorts verschwand. Mein Gehirn weigerte sich, zu realisieren, was hier geschah.

Ganz langsam, Eden, versuchte ich, mich selbst zu beruhigen.

Dein Schwarm hat dir eben die Tür geöffnet.

Er trägt nur Surfshorts, wodurch du freie Sicht auf eine zehn Zentimeter lange Spur seiner Schambehaarung hast.

Mit diesen Dingen wäre ich geradeso klargekommen. Was mich völlig aus der Fassung brachte, war, dass er ein Sixpack besaß!

Bevor ich ohnmächtig werden konnte, atmete ich tief ein und glotzte dabei definitiv zu auffällig auf die falschen Stellen. Eine männliche Stimme, die Nates Namen rief, zerrte mich glücklicherweise zurück in die Realität. Endlich gelang es mir, den Blick wieder auf sein Gesicht zu richten.

„Ich komme gleich!“, antwortete mein Schwarm, während er mich musterte.

Schneekugelerinnerungen mit Wasserbombenschlachten blitzten vor meinem geistigen Auge auf und mein Puls raste, als Nate sich zu mir beugte. Der Anflug eines Lächelns lag auf seinen Lippen, doch was vermutlich aufmunternd wirken sollte, raubte mir vollkommen den Verstand.

„Hallo, Eden. Willst du auch mal was sagen?“, setzte er so leise hinzu, dass es nur für mich zu hören war.

Das befreite mich glücklicherweise aus der Starre. Ich stieß die angehaltene Luft aus und war endlich in der Lage, Nate in die Augen zu sehen.

Himmel, diese Augen! Die dunklen Wimpern und sein gebräunter Teint ließen sie leuchten wie zwei Bernsteine, die von Sonnenstrahlen getroffen wurden. Nun funkelten sie mich herausfordernd an, was mich daran erinnerte, dass ich immer noch keinen Ton von mir gegeben hatte.

„Hey, Nate“, rang ich hervor. Meine Stimme hatte sich furchtbar überschlagen, deswegen räusperte ich mich, ehe ich weitersprach. „Alles Gute nachträglich zum Geburtstag.“

Das Lächeln wurde breiter und jagte meinen Puls weiter in die Höhe. Noch ein paar Millimeter und die Grübchen kamen zum Vorschein.

„Danke. Nell hat mir deine Glückwünsche ausgerichtet“, meinte er und ich geriet ins Grübeln, wann er zuletzt so viel mit mir gesprochen hatte. Es musste eine Ewigkeit her sein. Ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, dass ich ihm gern selbst gratuliert hätte, wenn ich seine Handynummer besessen hätte, aber ich fürchtete, dass ich damit den Bogen überspannte.

„Ist deine Schwester da?“, wollte ich daher stattdessen wissen.

Im Prinzip war die Frage überflüssig. Schließlich hatte ich vor fünfzehn Minuten eine Nachricht von ihr bekommen, in der sie mir mitgeteilt hatte, dass sie wieder zuhause war.

„Klar“, brummte er und wandte sich ab. Er machte ein paar Schritte in den Flur, brüllte den Namen seiner Schwester, winkte mir kurz zu und ging davon.

Ich schnappte nach Luft. Nate hatte mir zugewunken! Und das, nachdem er mich in letzter Zeit – abgesehen vom Blickkontakt am letzten Schultag – vollkommen ignoriert hatte!

Verträumt sah ich ihm hinterher, als er zur Hintertür lief, die zum Garten der Newmans führte. Bestimmt waren Harris und Duncan hier. Die drei Freunde verbrachten viel Zeit zusammen und mussten sich nach Nates wochenlanger Abwesenheit garantiert einiges erzählen.

Hinter der sich entfernenden Gestalt meines Schwarms tauchte Nells schmale Silhouette auf. Im Vorbeigehen rempelte er seine Schwester mit der Schulter an, womit er sie zum Straucheln brachte. Sie fing sich jedoch rasch, denn derartige Rangeleien standen bei den beiden auf der Tagesordnung. Trotzdem bedachte sie ihren Bruder noch mit einem Schimpfwort und einem mordlustigen Blick, ehe sie sich in meine Arme warf.

„Eden! Gott, was habe ich dich vermisst!“, rief sie und drückte mich fest.

„Und ich dich erst!“

Mir kamen fast die Tränen, so glücklich war ich, meine beste Freundin endlich wiederzusehen.

Nell löste sich von mir und zog mich die Stufen hinauf in Richtung ihres Zimmers.

Es war modern, mit einem großen Kleiderschrank, einem Himmelbett und einem total mädchenhaften Schminkspiegel. Meines war eher funktional. Die Möbel waren inzwischen in die Jahre gekommen, aber ich konnte mich nicht von ihnen trennen. Im ganzen Haus verschwanden Moms Spuren immer mehr, deshalb setzte ich alles daran, dass dieser Schwund vor meiner Zimmertür Halt machte. Wozu ein neues Bett? Ich hatte, was ich brauchte und die Erinnerungen, die mit meiner Einrichtung verbunden waren, waren ohnehin unersetzlich.

Nell schloss die Tür hinter uns und führte mich zum Bett. Sie kletterte auf die schwarz-weiße Tagesdecke, die Mrs. Newman selbst genäht hatte, begab sich in den Schneidersitz und klopfte auffordernd auf den Platz neben sich.

„Wie geht es dir?“, erkundigte sie sich.

Ich sprach ungern über mich, deswegen senkte ich den Blick und suchte nach einem Weg, um meine Finger zu beschäftigen. Mrs. Newman war jedoch eine hervorragende Handarbeiterin, sodass ich keinen losen Faden oder etwas Ähnliches fand, an dem ich herumzupfen konnte.

„Wie immer“, murmelte ich und begegnete Nells bedauernder Miene, als ich aufsah.

Als beste Freundin wusste sie natürlich, was für eine Tyrannin Grandma war. Eigentlich wusste es ihre ganze Familie und sie verstanden sehr gut, dass ich so oft wie möglich versuchte, nicht daheim zu sein. Das hier war meine Zuflucht und die vier Wochen, die die Newmans auf Familienbesuch gewesen waren, hatten mich viel Kraft gekostet. Die einzigen Rettungsinseln waren die beiden Wochenenden gewesen, an denen Dad heimgekommen war. Ich hatte ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, mich an seine Beine zu ketten, als er wieder nach Quantico aufbrechen musste! Aber in Hayswood war Nate zuhause und lieber ertrug ich Grandma, als ihn und seine Schwester hinter mir zu lassen.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie.

„Es ist alles in Ordnung. Nur weil mein Leben beschissen ist, musst du nicht auf den Besuch bei deiner Lieblingsgranny verzichten“, versicherte ich ihr.

Nell nickte, drehte sich eine ihrer braunen Haarsträhnen um den Zeigefinger und schwieg, doch mit jeder Sekunde spürte ich deutlicher, dass ihr was unter den Nägeln brannte.

„Los, erzähl schon!“, forderte ich, zwang mich zu einem Lächeln und stieß mit dem Knie gegen ihren braungebrannten Oberschenkel, der unter den kanariengelben Jeansshorts hervorblickte.

„Joseph! O mein Gott! Noch nie habe ich hinreißendere Augen oder ein süßeres Lächeln gesehen!“

Sofort trat eine zarte Röte auf die Wangen meiner besten Freundin, und je länger sie Joseph beschrieb, umso mehr strahlte sie. Ich ließ mich auf den Rücken sinken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lauschte Nells Schilderung. Es lenkte mich von meinem eigenen, todlangweiligen und beschissenen Sommer ab und ich wusste wirklich jede Silbe, die ihren Mund verließ, zu würdigen.

Was hätte ich gegeben, um mit ihr tauschen zu können? Nells Leben war bis auf kleine Dramen, wie eine schiefgelaufene Arbeit oder eine verunglückte Haartönung, perfekt. Ihr Dad war immer gut gelaunt und nahm sich Zeit, falls Nate oder Nell Hilfe bei den Hausaufgaben brauchten. Er feuerte seinen Sohn bei einem Videospiel mit dem gleichen Enthusiasmus an, wie seine Tochter bei ihren Schwimmwettbewerben. Mrs. Newman war leidenschaftliche Köchin, die mit Herzblut dafür sorgte, dass es täglich eine richtige Mahlzeit gab.

Bei uns zuhause gab es nur das, was von Grandma gebilligt wurde. Meist war es seltsames Zeug, das nur der Feinkostladen in Kansas City führte, auf den sie so große Stücke hielt. Hierzu nahm sie sogar zweimal wöchentlich die einstündige Fahrt dorthin auf sich. Aber da sämtliche Läden in Hayswood nur billigen Schrott verkauften, hatte sie schließlich keine Wahl.

Für mich war es jedes Mal ein Highlight, sobald Mrs. Newman mich zum Essen einlud – selbst, wenn Nate nicht mit am Tisch saß.

Nate.

Seine Existenz war der alleinige Grund, der mich von einem Tausch mit Nells perfektem Leben abhielt. Wäre ich sie, wäre er mein Bruder und ich dürfte ihn erst recht nicht lieben. Das war auch jetzt ein absolutes Tabu, denn die beiden stritten ständig. Es gab kein Schimpfwort, mit dem der eine den anderen nicht schon bezeichnet hatte und ich wusste, dass Nell ausflippen würde, sollte ich ihr je gestehen, in ihren Bruder verliebt zu sein.

Sie war meine beste Freundin, die einzige Zuflucht. Ich konnte sie nicht verlieren. So blieb mir nur, auf das Wunder zu hoffen, dass irgendwann der Zeitpunkt kam, an dem die Geschwister sich ein bisschen weniger hassten. Es musste nicht viel sein. Nur so viel, dass sie mich nicht einem Exorzismus unterziehen wollte, wenn ich ihr gestand, dass ich mein Herz an Nate verloren hatte. In meinen Augen war er einfach perfekt!

Nate, der mich nun plötzlich nicht mehr ignorierte. Er hatte mich soeben sogar angelächelt! Mein Herz war im Begriff, sich in einen Tagtraum zu stürzen, doch mein Kopf schritt entschlossen ein. Zusammen mit dem Blickwechsel am letzten Schultag waren es nur zwei Momente gewesen, die ihm möglicherweise gar nichts bedeuteten. Vielleicht wollte er nur nett sein. Ich sollte mich nicht in etwas hineinsteigern, das gar nicht existierte. Sonst riskierte ich nur eine riesige Enttäuschung.

„Habt ihr euch geküsst?“, unterbrach ich Nells Schwärmerei.

„Na endlich! Ich dachte schon, du fragst gar nicht danach!“

Ich drehte mich auf die Seite, schnappte mir eines der unzähligen Kissen und drückte es mir gegen die Brust.

„Das ist ein Ja“, stellte ich fest.

„Ja!“, quiekte Nell und strahlte überglücklich. „Er hat mich zum See gebracht, wo er dutzende Teelichter angezündet hat! Das war so romantisch! Irgendwann beugte er sich zu mir und hat mich gefragt, ob er mich küssen darf. Natürlich habe ich nicht Nein gesagt!“

Nell ließ sich auf den Rücken fallen und seufzte verträumt. Ich knabberte an meinem Daumennagel, um mich von dem dumpfen Gefühl abzulenken, das ihre lebhafte Beschreibung von Josephs Kuss verursachte.

Ich wartete noch immer auf den ersten Kuss. Vermutlich hätte ich diese Erfahrung längst gemacht, wenn ich auf Partys hätte gehen dürfen. Doch damit musste ich bis zu meinem sechzehnten Geburtstag warten.

Also schloss ich die Augen, lauschte Nells Schilderung und hoffte, dass ich das alles selbst erleben durfte. Vorzugsweise mit Nate, so wie ich das jeden Tag vor dem Einschlafen und in meinen Träumen bereits unzählige Male getan hatte.

Kapitel 7

Einige Wochen später ging ich neben Nell über den Flur unserer Highschool, auf dem es summte wie in einem Bienenstock. Es war der erste Tag nach den Sommerferien und überall standen Leute in kleinen Gruppen zusammen, um über die Erlebnisse der Ferien zu sprechen. Hin und wieder drang das Schlagen einer Spindtür oder ein schrilles Lachen in meine Ohren. Hauptsächlich galt meine Aufmerksamkeit aber Nell, die sich bei mir untergehakt hatte und mir in Sachen Schulklatsch ein Update verpasste. Seit sie von ihrer Granny zurückgekommen war, hatte sie den Informationsrückstand spielend aufgeholt, der durch das fehlende Internet verursacht worden war. Meine beste Freundin liebte Gossip, wohingegen ich mich nur bedingt für die Dramen, die sich auf dem Gelände der Hayswood High abspielten, begeistern konnte. Wer seine Mutter an den Krebs verloren hatte, dem erschien die Tatsache, dass die Erzfeindin mit demselben Top zur Schule kam, einfach nicht wichtig genug, um eine Tragödie darin zu sehen. Trotzdem hörte ich ihren Schilderungen gerne zu, denn sie gaben mir das Gefühl, dazuzugehören.

„O mein Gott! Da ist Vicky. Sie und Patrick haben sich in den Ferien getrennt!“, flüsterte mir Nell mehr oder weniger leise zu.

„Ach wirklich?“

„Angeblich hat sie sich im Urlaub auf eine Affäre mit einem Animateur eingelassen“, führte sie die Trennungsgründe weiter aus.

„Willst du mir nicht lieber erzählen, ob du etwas von Joseph gehört hast?“, lenkte ich sie ab.

Sie rollte mit den Augen und stöhnte. „Eden, du weißt doch, dass das nur ein Urlaubsflirt war.“

Ich lächelte. Nell verliebte sich schnell und dementsprechend rasch entliebte sie sich auch. Nur Hope, Arlene und mir hielt sie bedingungslos die Treue.

„Dafür hast du allerdings sehr ausführlich von ihm geschwärmt“, warf ich ein.

Nell umklammerte meinen Arm fester und lehnte ihren Kopf an meine Schulter, während wir uns durch die Massen an Schülern in Richtung Cafeteria bewegten.

„Joseph ist wirklich irre süß! Aber eine Fernbeziehung mit sechzehn? Das funktioniert niemals. Vielleicht war er einfach nur eine nette Ablenkung, weil ich sonst dort versauert wäre. Urlaub mit meinen Eltern und meinem dämlichen Bruder auf einer Farm mitten im Nirgendwo. Wie aufregend“, meinte sie mit einem ironischen Unterton.

Ich schätzte es, dass sie mir meinen Sommer schönreden wollte. In Wahrheit wäre ich kurz vor Nells Abreise beinahe zu ihr gefahren, um sie anzuflehen, mich in ihren Koffer zu stecken. Mae zuliebe hatte ich es nicht getan, obwohl mein Verhältnis zu meiner Schwester nicht unbedingt das Beste war. Ich seufzte, was meine Freundin jedoch falsch interpretierte.

„Du konntest immerhin zuhause versauern. Wir hätten hier zusammen versauern sollen. Wobei wir beide zusammen gar nicht versauern könnten, nicht wahr?“

Nell hatte recht. Uns würde nie langweilig werden! Sie konnte nämlich nicht nur reden wie ein Wasserfall, sie war auch eine Meisterin im Erfinden von Zeitvertreib. Sie liebte es zum Beispiel, in Modekatalogen zu blättern. Eines ihrer liebsten Spiele bestand daraus, dass sie sich von jeder Doppelseite ein Kleidungsstück aussuchte, das dann wie von Zauberhand in der passenden Größe in ihren Schrank wanderte.

„Weißt du eigentlich, dass Will bei einer Party auf dem Stoppelfeld hinter der Farm der Belmonts in Mavericks Pick-up gekotzt hat?“

Ich grinste, während mich das Bedürfnis überkam, sie in meine Arme zu ziehen. Nell wusste, dass es mir verboten war, auf Partys zu gehen, und versorgte mich deshalb mit allem, was man wissen musste, um mitreden zu können. Dafür war ich ihr wirklich dankbar. Ohne sie wäre ich schon längst in der sozialen Isolation gelandet.

„Nein, das wusste ich bisher nicht. Doch ich bin froh, dass du es mir erzählt hast“, antwortete ich mit einem Zwinkern und stieß die Tür zur Cafeteria auf. Hier gesellte sich zu dem Stimmengewirr noch das Klappern von Besteck und Geschirr, was den Lautstärkepegel weiter in die Höhe schraubte.

„Na ja, es war nur die Ladefläche, aber Maverick war stinksauer.“ Nell kicherte und wir reihten uns in die Warteschlange vor der Essensausgabe ein. Meine Freundin stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, über die Köpfe hinweg auf die Menütafel zu sehen.

„Makkaroni mit Käse“, unkte sie und zog eine Grimasse. „Für den ersten Schultag hätten die sich ruhig mal was anderes einfallen lassen können.“

Schulterzuckend holte ich mein Portemonnaie hervor und zählte das Geld ab, das mich die normale Mittagsportion und die übliche Flasche Wasser kosten würden.

„Hauptsache, etwas zu essen, das nicht aus Algen, rohem Fisch oder irgendwelchen Samen besteht“, gab ich zurück, was mir einen mitfühlenden Blick von Nell einbrachte.

„Sorry …“, begann sie, aber ich unterbrach sie.

„Mach dir keinen Kopf, Nell“, beschwichtigte ich sie und lächelte ihr zu.

Als meine beste Freundin wusste sie natürlich, dass Essen bei mir zuhause ein heikles Thema war. Für gewöhnlich nahm sie Rücksicht darauf, deshalb war ich ihr wegen des Ausrutschers nicht böse. Ich hatte mehrfach versucht, Dad von Grandmas seltsamem Speiseplan zu erzählen, doch ich wollte die wenige Zeit, die wir zusammen verbrachten, nicht mit sowas belasten. Ich wurde satt, selbst wenn ich den Kram einfach furchtbar fand. War mein Dad da, gab es normales Essen. Noch ein Grund mehr, warum ich mich immer freute, sobald er heimkommen konnte.

Fünf Monate nach Moms Tod war ihm eine Beförderung zum stellvertretenden Leiter einer anderen Abteilung angeboten worden, was nicht nur finanziell eine Verbesserung darstellte. Da er zwei Töchter ernähren musste und diese bestenfalls mal aufs College gehen sollten, nutzte er die Chance und ließ sich nach Quantico versetzen. Wir blieben in Hayswood, damit wir nicht ins Visier der Kriminellen gerieten, gegen die mein Dad ermittelte. Er wähnte uns in Grans Händen gut versorgt, dabei tat sie den ganzen Tag kaum etwas anderes, als an mir herumzunörgeln. Grandma vergötterte nur ihre Person und ein kleines bisschen Mae. Doch weil ich verstand, wie wichtig meinem Dad sein Job war, ertrug ich alles, denn schließlich war es nur widerliches Essen und Geringschätzung. Es hätte auch schlimmer sein können.

Nell beugte sich näher zu mir, und flüsterte: „Welche Achtjährige knabbert bitte lieber an rohem Fisch herum, statt sich einen Burger und Fritten zwischen die Backen zu schieben?“

„Ach, das ist wahrscheinlich nur eine Phase“, verteidigte ich meine Schwester. Dabei war mir in den letzten Wochen mehr als einmal in den Sinn gekommen, sie an den Schultern zu packen und so lange zu schütteln, bis sie mir verriet, was zu Hölle mit ihr nicht stimmte. Sie war diejenige, die Grandma in ihrem Wahn noch bestärkte, indem sie sagte, dass sie sich besser fühlte, seit sie regelmäßig Chia-Samen aß.

Warum also nahm ich sie in Schutz? Zudem war Nell meine beste Freundin!

„Na ja, vermutlich hat Großmutters Wahnsinn bereits auf sie abgefärbt“, ruderte ich zurück.

„Das wundert mich nicht! Deine Gran kann sehr …“, begann sie und schnippte mir mit den Fingern vor der Nase herum, als ob sich dadurch das richtige Wort, um meine Großmutter treffend zu beschreiben, hervorzaubern ließ.

„Sehr?“, stichelte ich mit einem Grinsen auf den Lippen, gespannt, welches Adjektiv Nell wählen würde.

„Sie kann sehr vereinnahmend sein“, meinte sie schließlich und nickte zufrieden über ihre Wortwahl.

Nun, da musste ich ihr zustimmen, wobei ‚vereinnahmend‘ eine äußerst freundliche Bezeichnung war. Kein Wunder, dass ich so viel Zeit bei ihr zuhause verbrachte. Bei den Newmans ging es immer laut und lebhaft zu. Dort wurde kein roher Fisch aufgetischt. Es gab weder Missbilligungen noch Misswahlen, bei denen es die Contenance zu bewahren galt.

Bei den Newmans gab es Hausmannskost, Pepsi aus Dosen, echtes Lachen. Der Begriff Nestwärme bekam bei ihnen eine völlig neue Definition. Ehe mir schwer ums Herz werden konnte, erreichten wir die Essensausgabe, wo wir Teller in Empfang nahmen, auf denen eine seltsame gelbe Masse klebte. Es mochte zwar nicht gut aussehen, doch mir lief beim Anblick einer dampfenden Ladung Kohlehydrate das Wasser im Mund zusammen. Unter Grandmas Regiment wurden Kohlehydrate nicht geduldet. Wenn sie die Packung Cheerios in meinem Zimmer finden würde, rief sie vermutlich die Seuchenschutzbehörde und schleppte mich ins Krankenhaus, um mir dort den Magen auspumpen zu lassen.

Zielstrebig peilten Nell und ich den dritten Tisch in der Fensterreihe an, an dem wir saßen, seit wir die Highschool besuchten. Hope und Arlene waren nicht zu sehen, würden aber bestimmt in den nächsten Minuten zu uns stoßen.

Nell piekte eine Makkaroni an und hielt sie sich vor die Nase. Selbst als sie die Gabel noch höher hob, riss der Käsefaden nicht ab.

„Nun iss einfach, Nell“, forderte ich sie auf und schob mir die erste Portion voll herrlich ungesunder Kohlehydrate und fettigem Käse in den Mund. Die meisten hassten das Schulessen – ich liebte es. Der Geschmack war dabei völlig nebensächlich. Wichtig war, dass ich hier essen konnte, ohne, Angst zu haben, dass Grandma jeden Moment hereinplatzte und ich mir einen Vortrag über Cholesterin und Fettleibigkeit bei Teenagern anhören musste. Als ob bei ihrem Speiseplan jemand dick werden könnte! Es war ein kleines Gefühl von Freiheit, das mir in den vergangenen Wochen sehr gefehlt hatte.

Was hatte ich nur für ein jämmerliches Leben.

Niemand, absolut niemand, den ich kannte, vermisste das Schulkantinenessen!

„Na ja, beim Schwimmtraining bekomme ich das schon wieder runter“, meinte sie und tat es mir gleich.

Während wir schweigend das Mittagessen zu uns nahmen, ließ ich den Blick im Speisesaal umherwandern. Ich erkannte, dass sich bei den meisten Cliquen über den Sommer nichts verändert hatte. Da waren die Nerds, die Emos, die Gamer, die wandelnden Modemagazine, die Rocker, die Streber, die Mitglieder der diversen Sportmannschaften. Fußball, Volleyball, Basketball, Lacrosse. Den größten Teil stellte das Footballteam und unweit von ihnen befand sich die typische Co-Existenzgruppe: die Cheerleader.

Die Cheerleader bestanden aus einem erlesenen Kreis der heißesten und beliebtesten Mädchen der Schule. Wer nicht Mitglied des Teams war, blieb außen vor. Schließlich war man lieber unter sich. Es gab nur eine Ausnahme: Caroline Hawk.

Niemand wusste, warum sie vor vier Jahren plötzlich aufgehört hatte, aber keine der Cheerleaderinnen hatte es gewagt, sie aus dem elitären Kreis zu verstoßen. Caroline hatte zwar ihre Uniform abgegeben, gehörte jedoch trotzdem nach wie vor dazu. An ihrem Einfluss schien sich kaum etwas verändert zu haben, denn wer zu Carolines Freunden zählte, hatte gute Chancen, aufgenommen zu werden. Ich war weit davon entfernt, mit ihr befreundet zu sein. Vermutlich hasste sie mich aus tiefstem Herzen.

Meine Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Aber es war nicht einzig das, sondern auch die dazugehörige musikalische Untermalung, die mein Interesse und die des gesamten Speisesaals in Richtung Eingang lenkte. Selbst Nell hörte auf, ihre Makkaroni zu malträtieren, und sah auf.

Eine wichtige Clique hatte ich vergessen: die Aufreißer. Nell und ich nannten sie insgeheim so, denn natürlich war das kein offizieller Titel.

Genau jene betraten soeben die Cafeteria. Allen voran schritt Cole White. Aufrechter Gang, gewinnendes Lächeln, hier und da ein Zwinkern an eine mögliche Bettkandidatin, Arme etwas abgespreizt, damit jeder sah, dass er Krafttraining betrieb. Ihm folgten die üblichen Verdächtigen: Tom Fraser, Chris Morgan und Robbie Weller. Um jemanden aufzureißen, brauchte man dessen Aufmerksamkeit und die Aufreißer wussten, wie sie die bekamen. Fraser hatte einen tragbaren Bluetooth-Lautsprecher dabei, aus dem der neueste Song von Jay Z dröhnte.

„Kann denn irgendjemand endlich mal Hirn vom Himmel werfen?“, knurrte ich genervt und wandte mich wieder meinen Makkaroni zu.

Plötzlich verstummte die Musik und ich hob den Kopf, um zu sehen, was passiert war. Ich grinste schadenfroh, als ich wahrnahm, dass Mr. Friedmann, der heute als Aufsicht in der Cafeteria eingeteilt war, sich die Box geschnappt und den Aus-Knopf betätigt hatte. Der Blick, mit dem er Tom Fraser bedachte, während er ihn zurechtwies, war stechend. Tom nickte und sah auf seine Schuhspitzen. Ich erkannte, wie sich seine Lippen bewegten, bevor Mr. Friedman ihm den Lautsprecher zurückgab.

Mr. Friedmann war einer der Lehrer, die man vom ersten Moment an respektierte, und das nicht nur wegen seiner zwei Meter Körpergröße oder militärischen Vergangenheit. Es war seine Ausstrahlung. Dieser Mann war verkörperter, freiwilliger Gehorsam. Er hatte uns in der siebten Klasse Selbstverteidigungsunterricht gegeben und nicht einmal Valerie, die bis dahin immer einen Grund gefunden hatte, sich um den Schulsport zu drücken, wagte es, eine ihrer fadenscheinigen Ausreden hervorzubringen. Ein Blick von Mr. Friedmann genügte, sodass man sich automatisch fragte, was man falsch gemacht haben könnte, selbst wenn man nur in der Ecke gestanden und geatmet hatte.

Da es offenbar nichts Interessantes mehr zu sehen gab, widmeten sich die meisten wieder dem Essen und den Gesprächen, die sie vor dem Auftritt der Aufreißer geführt hatten. Ich musterte Cole, den Kopf der Aufreißer-Clique, einen Moment. Er klopfte Tom grinsend auf die Schulter, ehe er sich mitsamt seinem Gefolge an die Spitze der Warteschlange vor der Essensausgabe drängelte. Cole sah wirklich gut aus, und obwohl er ein riesiger Angeber war, schwärmte die Hälfte der Mädchen, die ich kannte, für ihn oder seinen älteren Bruder Corey, der ihm sehr ähnlich sah. Mich würden die beiden nicht einmal interessieren, falls sie auf weißen Schimmeln mit einem Strauß roter Rosen in der Hand auf mich zugeritten kämen und die letzten Männer auf dem Planeten wären. Schließlich war mein Herz seit einer kleinen Ewigkeit vergeben.

Bevor ich mich auf meine Makkaroni konzentrieren konnte, erregte ein mir bestens bekannter dunkler Schopf, der sich zielstrebig durch die Menge bewegte, meine Aufmerksamkeit. Ich brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass es Nate war. Seine Haare waren an den Seiten kurz, oben etwas länger und je länger sie wurden, umso wilder standen sie von seinem Kopf ab. Eine Zeitlang versuchte er, sie mit Gel zu einer Frisur zu bändigen, sah aber glücklicherweise schnell wieder davon ab. Ich liebte Nates Haare, so wie sie waren! Es war ein verwuscheltes Chaos, das aussah, als wäre er eben erst aus dem Bett gestiegen.

Er grüßte, gab ab und an jemandem einen Handschlag, wobei er dieses hinreißende Lächeln zeigte. Das genügte, um mir das Gefühl zu geben, als wäre in meinem Magen eine Flasche Sekt entkorkt worden, die man zuvor heftig geschüttelt hatte.

Wie konnte man sich nicht in dieses Lächeln verlieben? Wenn ich es sah, beschleunigte sich mein Puls und ich spürte dieses kribbelnde Flattern hinter meinen Rippen. Ich musste mir jedes Mal, sobald ich ihn lächeln sah, ein verträumtes Seufzen verkneifen.

Nate war allerdings nicht der typische Schönling, wie Cole und sein Gefolge. Er besaß Ecken und Kanten. Im Vergleich zu Chris, der vergangenes Jahr die Schulmeisterschaft im Ringen gewonnen hatte, war er nicht so groß und breit gebaut. Er besaß auch kein Modellgesicht wie Tom, denn das verhinderte die waagrechte Narbe, die die äußere Hälfte seiner rechten Augenbraue in zwei Teile spaltete und die kleine Erhebung auf seinem Nasenrücken. Nein, er war unauffällig attraktiv, worum ich weiß Gott wie froh war. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er ununterbrochen in der Schule angeflirtet werden würde.

Mein Herz geriet ins Stolpern, als ich sah, dass er das ausgewaschene Ramones-T-Shirt trug, das so unfassbar gut an ihm aussah. Es war ursprünglich schwarz gewesen, aber da Nate es quasi ständig anhatte, war es inzwischen eher grau. Zudem war durch das häufige Tragen der Kragen ausgeleiert, sodass man die Ansätze seiner Schlüsselbeine sehen konnte. Himmel! Fing ich wirklich schon zu sabbern an, weil ich Nate Newmans Schlüsselbeinansätze sah? Das musste der wochenlange Entzug sein!

Ich rechnete damit, dass er zu seinen Freunden Harris und Duncan gehen würde, mit denen er vor den Sommerferien jede freie Minute verbracht hatte. Doch Nate ließ die beiden links liegen und mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als ich sah, zu wem er sich gesellte.

Über den Tisch gebeugt zischte ich Nell zu: „Seit wann hängt dein Bruder mit den Aufreißern ab?“

Nell zuckte mit den Schultern, aber an dem verkrampften Zug um ihre Mundwinkel herum erkannte ich, dass auch sie ganz und gar nicht einverstanden damit war.

„Irgendwann, nachdem wir von meiner Grandma zurück waren, standen plötzlich Cole und Robbie auf unserer Veranda. Nate begrüßte sie mit einem Handschlag und führte sie in sein Zockerzimmer im Keller. Danach kamen sie fast jeden Tag“, meinte meine Freundin gelangweilt.

„Na, das nenne ich mal Neuigkeiten“, brummte ich. „Warum hast du mir nichts davon gesagt?“

Über alles Mögliche hatte sie mich informiert, wieso nicht über die neuen Freunde ihres Bruders?

„Keine Ahnung. Ich hoffte vermutlich, dass sich diese Freundschaft ebenso schnell in Luft auflösen würde, wie sie zustande gekommen ist.“

„Was ist mit Duncan und Harris geschehen? Gab es Streit?“, hakte ich nach.

Nell runzelte die Stirn, überlegte einen Augenblick und schüttelte anschließend den Kopf. „Zumindest keinen, den ich mitbekommen habe. Nate war ja schon immer ein Idiot. Seit er mit den Aufreißern abhängt, übertrifft er sich jedoch selbst“, grummelte sie und widmete sich wieder den Makkaroni.

Bevor ich weiter nachdenken konnte, welchen Grund es für den Zwist zwischen Nate und seinen offenbar ehemals besten Freunden gab, kamen Arlene und Hope an den Tisch.

„Hey!“, riefen die beiden und stellten ihre Tabletts ab.

„Na, wie war es bei deiner Granny?“, erkundigte sich Hope bei Nell, während Arlene, die wir auch Lene nannten, sich bereits über ihr Mittagessen hermachte.

„Schrecklich und schön zugleich“, hielt Nell sich vage.

„Sie hat jemanden kennengelernt“, informierte ich unsere Freundinnen, die den gesamten Sommer in den Hamptons gewesen waren, wo eine Tante von Hopes Mutter ein Ferienhaus besaß. Nell erzählte sofort mit leuchtenden Augen von Joseph und ich dachte an die vergangenen Wochen.

Die meiste Zeit hatte ich meine Ruhe, weil Grandma darum bemüht war, Mae für die Wettbewerbe fit zu halten. Dazu gehörte ebenfalls, dass sie möglichst gleichmäßig bräunte und sich auf gar keinen Fall einen Sonnenbrand zuzog. Der sorgsam auf Urlaub getrimmte Teint musste schließlich bei den Misswahlen gewinnbringend in Szene gesetzt werden!

Wenn ich an die Ferien dachte, musste ich auch an Dads letzten Besuch denken, der schon wieder eine gefühlte Ewigkeit her war. Aber gestern rief er an, um mir zu verraten, dass er einige Überstunden gesammelt hatte, damit er zu meinem Geburtstag nach Hause kommen konnte.

Das war ein echter Lichtblick. Insgeheim vermutete ich, dass er möglicherweise Ablenkung in der Arbeit suchte und deswegen so selten heimkam. Dad sagte mir kurz nach Moms Tod, dass er mit ihr seine große Liebe verloren hatte. Wenn er sie nur annähernd so schrecklich vermisste wie ich, konnte ich ihn verstehen. Es verging nicht ein Tag, an dem mir ihr Lachen, ihr Geruch oder einfach nur ihre Anwesenheit fehlte. Oft hörte ich meine Klassenkameraden genervt seufzen, weil ihre Mutter anrief, um sie an etwas zu erinnern oder sich zu erkundigen, wo sie steckten. Was gäbe ich darum, so einen Anruf zu erhalten? Meine Mom konnte mich nicht anrufen, ich würde nie wieder mit ihr sprechen! Zumindest nicht in diesem Leben. Der Gedanke an den Verlust verursachte einen schmerzhaften Stich, aber ehe ich in Traurigkeit versank, holte mich Hopes lautes Gekicher in die Gegenwart.

Meine beste Freundin war gerade dabei, Lene und Hope auf den neuesten Stand zu bringen, was den Highschool-Klatsch betraf. Da ich das meiste bereits erfahren hatte, schweifte mein Blick zu Nate, der nun tatsächlich mit den Aufreißern am Tisch saß, als hätte er das seit eh und je getan. Vereinzelt drangen Wortfetzen von Nells gut ausgeschmückter Story, wie Will in Mavericks Pick-up gekotzt hatte, in mein Ohr.

Der Großteil meiner Aufmerksamkeit ruhte jedoch auf meinem heimlichen Schwarm. Sogar während er aß, war er hinreißend! Robbie schien etwas Lustiges gesagt zu haben, denn Nate, Cole und Tom ließen ihr Besteck fallen und lachten auf. Nur Chris blickte finster drein. Nells Bruder saß zu weit entfernt, als dass ich es hätte erkennen können, aber ich wusste, dass er beim Lachen die Nase ein klein wenig in die Höhe zog. Jedes Mal, wenn er das tat, schmolz ich förmlich dahin.

„Eden!“, rief Nell, woraufhin ich den Blick vom Objekt meiner unerfüllten Träume losriss und sie ansah. „Na, endlich“, brummte sie und rollte mit den Augen, entschärfte diese genervt wirkende Geste jedoch, indem sie mich nur den Bruchteil einer Sekunde später mit einem Zweihundert-Watt-Lächeln bedachte. Sie hörte das ungern, doch sobald sie lächelte oder gar lachte, war sie ihrem Bruder verdammt ähnlich.

„Was war denn? Habe ich etwas verpasst?“, fragte ich meine drei Freundinnen, die mich gespannt anstarrten.

„Hast du nicht zugehört? Wir wollten wissen, ob du am Wochenende mit auf Pollys Party kommst“, klärte mich Arlene auf.

Lene war die Kleinste von uns Vieren, obwohl sie mit ihren sechzehnzweifünftel Jahren, wie sie immer wieder betonte, die Älteste war. Ihrer Mom gehörte der Friseursalon in der Stadt und sie benutzte ihre Tochter gern als Versuchskaninchen. Zurzeit trug Arlene ihre schulterlangen Haare in einem pastellfarbenen Blau. Meist tauchte sie mindestens zweimal im Monat mit einer neuen Farbe auf und viele Mädchen beneideten sie deswegen. Der Großteil der Hayswood-Mütter rümpfte nämlich bereits die Nase, wenn ihre Tochter um die Erlaubnis bat, ihre natürliche Haarfarbe mit einer auswaschbaren Tönung aufzupeppen. Manche zogen mit Sicherheit auch einen Aufenthalt in einem Bootcamp für schwererziehbare Jugendliche in Betracht,

„Dieses Wochenende?“, hakte ich nach, obgleich ich schon wusste, dass ich bis zu meinem Geburtstag in fünf Wochen keine Zeit haben würde. Schließlich galt es, Mae bei ihren Wettbewerben zu unterstützen, und da musste ich als Schwester daumendrückend in der ersten Reihe stehen!

Hope nickte so heftig, dass ihr brünetter Pferdeschwanz wie eine Peitsche auf und abschwang. „Claire aus meinem Geometriekurs hat erzählt, dass Pollys Eltern unterwegs sind und es sogar zwei große Fässer Bier geben wird!“

Was hätte ich darum gegeben, diese Party zu besuchen! Nicht wegen der Bierfässer, sondern einfach nur, um dabei zu sein. Ich würde mich den ganzen Abend mit Mineralwasser begnügen und mit niemandem reden, nur damit ich ein einziges Mal sagen konnte, dass ich auf einer Party gewesen war. Aber was das betraf, biss ich bei Cruella auf Granit. Ehe ich nicht sechzehn Jahre alt war, musste ich mit zu den Misswahlen fahren. Diskussion zwecklos.

„Ihr wisst, dass ich bis zu meinem Geburtstag meine Schwester und Grandma begleiten muss“, murmelte ich, senkte den Kopf und starrte auf die Makkaroni, auf die mir der Appetit vergangen war.

Obwohl ich wusste, dass es nicht die Absicht meiner Freundinnen war, dass ich mich wie eine Außenseiterin fühlte, war genau das jedes Mal der Fall, sobald sie über ihre Pläne für das Wochenende sprachen. Wie immer war ich nur Zaungast, als sie Outfits diskutierten. Sie alle waren nur wenige Monate älter als ich, doch manchmal glaubte ich, dass Welten zwischen fünfzehn und sechzehn lagen.

„Sie soll eine Ausnahme machen! Dein Geburtstag ist bald und schließlich werden wir dabei sein und aufeinander aufpassen. Ich spiele den Chauffeur und trinke keinen Tropfen Alkohol. Ich sehe nicht einmal in die Richtung des Bierfasses“, versprach Hope.

Ich seufzte und legte die Gabel aus der Hand. „Hope, ich weiß, du meinst es gut. Es war jedoch anstrengend genug, Grandma das Zugeständnis abzuringen, dass ich zuhause bleiben darf, sobald ich sechzehn bin. Ich stehe das bereits so lange durch, da kommt es auf diese paar Wochen wirklich nicht mehr an.“ Meine Freundinnen setzten bedauernde Mienen auf. Ich wusste, dass sie mich gern dabeihaben würden, aber mir war auch klar, dass sie sich wie verrückt auf diese Party freuten. „Macht euch keinen Kopf! In siebenunddreißig Tagen feiern wir zusammen und holen alles nach.“

Da ich ihnen die Stimmung nicht verderben wollte, zwang ich mir ein Lächeln aufs Gesicht, obwohl ich am liebsten geheult hätte.

Kapitel 8

Zum hoffentlich letzten Mal saß ich auf einem Ledersofa, dessen rissiger und überstrapazierter Bezug förmlich unter meinem Hintern wegbröselte. In dem Teil der Sporthalle, der mittels einer Trennwand für die heutige Misswahl als Umkleide umfunktioniert worden war, war es stickig und das durch die Oberlichter einfallende Licht offenbarte Unmengen Staubpartikel, die in der Luft herumschwebten.

Die Mütter oder speziell angeheuerten Stylisten kümmerte das wenig. Mit Lockenwicklern, Glätteisen, Haarspray, Wimperntusche, Puderquasten, Liplinern, Bürsten und Haarnadeln bewaffnet, zupften und zerrten sie an den Mädchen herum, als wären es Puppen, die eigens für diese Behandlung vorgesehen waren. Bei manchen war das womöglich die traurige Realität. Geboren, um die verlorenen Träume der Mütter zu erfüllen. Getrimmt, die Schönste der Schönen zu werden. Kindheit, ade.

Ich linste zu meiner Schwester, die etwa fünf Meter von mir entfernt saß. Ihre Stylistin Francine war soeben dabei, die Lockenpracht so zu arrangieren, damit sie Maes Gesicht bei der bevorstehenden Sportmodenpräsentation optimal zur Geltung brachte. Francine ging alles andere als zimperlich vor, Mae allerdings verzog keine Miene. Nein, stattdessen plapperte sie munter vor sich hin. Das Surren eines Föhns verhinderte, dass ich hören konnte, was sie sagte, aber es sah so aus, als unterhielt sie sich mit der Teilnehmerin, die neben ihr saß. Ich hatte die Kleine bereits einige Male gesehen, doch sie zählte nicht zu den Kandidatinnen, in denen Grandma eine ernstzunehmende Gefahr erkannte. Vielleicht war exakt das der Grund, weshalb Mae mit dem Mädchen redete. Sie schienen sich sogar ziemlich gut zu verstehen, denn ein strahlendes Grinsen tauchte auf den Zügen meiner Schwester auf.

Ein seltsames Ziehen breitete sich in meinem Bauch aus, als mir klar wurde, dass Mae mit diesem Mädchen heute mehr Worte gewechselt hatte, als mit mir in den vergangenen Wochen.

Als sie neulich in mein Zimmer gekommen war und ich ihr einen Eintrag aus dem Tagebuch vorgelesen hatte, glaubte ich, dass sich das bislang eher frostige Verhältnis zwischen uns endlich bessern würde. Ich hatte mich geirrt. Nachdem Mae mit dem Mund voller Cheerios aus der Küche marschiert war, war sie wieder ganz die alte gewesen. Unserer Großmutter hörig und mich weitestgehend ignorierend.

Ich hatte keine Ahnung, warum ich unbedingt hier sitzen musste, wenn ich den beiden ohnehin egal war. Doch das war das letzte Mal. In drei Tagen war mein Geburtstag und dann griff der Freiheitspakt, wie ich die Vereinbarung inzwischen nannte. Vermutlich hatte Dad dabei einen Vertrag mit dem Teufel geschlossen, denn ohne irgendeine Gegenleistung hatte Grandma gewiss nicht zugestimmt. Hoffentlich war Dad nicht gezwungen worden, ihr seine Seele zu überschreiben! Wer wusste schon, was Cruella damit trieb.

Haare, die schimmerten wie pures Gold, tauchten am Rand meines Blickfeldes auf, während zeitgleich das Sofapolster zu meiner Rechten ein wenig einsank. Ich schnappte überrascht nach Luft, als ich sah, dass sich Caroline neben mich gesetzt hatte. Natürlich nicht, ohne ihre Mähne in dieser perfekten Geste über die Schulter zu werfen.

Ich rechnete fest mit einem bissigen Kommentar, doch sie meinte: „Hey, Lancaster. Ist dir auch so heiß? Ich habe das Gefühl, als könnte man hier kaum atmen. Bestimmt hat das ganze Haarspray meine Lunge bereits verklebt.“

Um ihre Atemnot zu unterstreichen, griff Caroline sich an ihren schlanken Hals, um den eine zarte Goldkette hing. Mir lag als Antwort auf der Zunge, dass die winzigen Haarspraypartikel nicht in der Lage waren, eine komplette Lunge zu verkleben, allerhöchstens die Lungenbläschen, aber ich schluckte die Worte unausgesprochen hinunter. Niemand mochte Klugscheißer, und da ich bei Caroline ohnehin nicht besonders hoch im Kurs stand, hielt ich besser den Mund.

„Ja, echt ätzend“, stimmte ich ihr stattdessen zu. Neugierig linste ich zu ihr hinüber und erkannte, dass sie den Blick über die zahlreichen Tische schweifen ließ, an denen eifrig gearbeitet wurde. Krampfhaft suchte ich nach einem Small-Talk-Thema, doch da wir die Temperaturen in der Halle bereits angesprochen hatten, fiel mir nichts ein.

„Britt präsentiert heute ein Field Hockey Dress“, brach Caroline schließlich das Schweigen.

„Mae eins für Tennis“, murmelte ich, weil ich mich ein wenig schämte.

Es war einfach zu offensichtlich, was Grandma mit diesem kurzen Röckchen bezwecken wollte. Zwar trug Mae Hotpants darunter, aber kein acht Jahre altes Mädchen sollte mit einem derart knappen Outfit in die Öffentlichkeit geschickt werden. Ich merkte, wie meine Schultern zu schmerzen begannen, da ich mich neben Caroline total verkrampfte. Tief in mir rechnete ich damit, dass sie jeden Moment wieder eine spitze Bemerkung von sich geben würde.

„Ich kann diesen Mist nicht mehr sehen“, hörte ich sie plötzlich flüstern und wandte mich ihr zu. Tränen schimmerten in ihren Augen. Mein Mund öffnete sich, doch bevor ich einen Ton sagen konnte, sprach Caroline weiter. „Ich muss hier raus. Kommst du mit?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf und rannte förmlich in Richtung Ausgang. Da ich mich auf dem Sofa sowieso zu Tode langweilte und mich nach frischer Luft sehnte, folgte ich ihr. Zudem war ich neugierig, was es mit ihrem überraschenden Stimmungsumschwung auf sich hatte. Die klare Herbstluft, die nach kürzlich gemähtem Gras und Laub roch, war eine echte Wohltat für meine Lungen. Vor der Halle befanden sich einige Bänke, aber Caroline steuerte zielstrebig die Ecke mit den Müllcontainern an.

Dort angekommen sank sie in die Hocke und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Holzzaun, an dem die Farbe abblätterte. Ich hatte Caroline immer für jemanden gehalten, der Schmutz aus dem Weg ging, doch offenbar lag ich damit falsch.

Ohne mich anzusehen, fischte sie ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und steckte sich eine davon zwischen die Lippen. Das tat sie so lässig, als ob sie das schon hunderte Male getan hatte. Ebenso geübt schirmte sie die Flamme des Feuerzeuges mit einer Hand ab, während sie am Filter saugte, bis die Spitze der Zigarette zu glühen begann. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie einen tiefen Lungenzug nahm und den Qualm durch die Nase hindurch wieder ausstieß.

Mein Bild von der ehemaligen Little Miss Kansas, der Anführerin der Cheerleader, dem beliebtesten Mädchen der Schule, stürzte in sich zusammen und rieselte gemeinsam mit der Zigarettenasche zu Boden.

„Du rauchst?“, presste ich nach ihrem dritten oder vierten Lungenzug endlich hervor.

Sie gab ein Geräusch von sich, das nach einem trockenen Lachen klang. Es konnte allerdings ebenso ein Husten sein. „Habe ich jetzt dein Weltbild zerstört?“ Ein ironisches Lächeln umspielte ihre vollen Lippen.

Ich schlang mir die Arme um den Oberkörper. Hier im Schatten war es kühl, ich hätte mir eine Jacke mitnehmen sollen. „Ja, ein bisschen“, gab ich zu und bedachte Caroline mit einem schiefen Grinsen. „Ich dachte immer, du wärst perfekt.“

Sie sah mich an, aber ich wich ihrem Blick aus. Erneut lachte sie. „Perfekt? Ich? Falls jemand perfekt ist, dann höchstens unsere Schwestern“, meinte sie und deutete mit den beiden Fingern, zwischen denen die qualmende Zigarette klemmte, in Richtung Sporthalle.

„Na ja, du hast bei den Little Miss Wahlen ziemlich abgeräumt, wenn ich mich recht erinnere.“

Etwas Dunkles huschte über Carolines Miene. „Was hat mir das gebracht? Ein Haufen wertloses Blech, das jetzt in einem Karton in der Garage steht und einstaubt, weil ich es nicht ertrage, den Mist zu sehen.“

Schmerz schwang unverkennbar in ihren Worten mit, allerdings war ich zu feige, um direkt nach dem Grund dafür zu fragen.

„Diesen Mist? Ich war immer total neidisch auf dich“, gestand ich.

Nach wie vor hatte ich keine Ahnung, was der Auslöser war, dass sie sich mir gegenüber so verändert verhielt. Aber es war schön, jemanden zum Reden zu haben. Vielleicht war ich deswegen so ehrlich.

„Neidisch? Auf mich?“, versicherte sich Caroline und zog so heftig an der Zigarette, dass ich Angst bekam, sie würde außer dem Rauch die gesamte Kippe inhalieren. „Auf mich braucht niemand neidisch zu sein, Eden. Das kann ich dir versprechen.“

Ihre Stimme klang hart und für einen kurzen Moment lief ein Schauder über ihren Körper. Sie schnippte den Kippenstummel hinter den Müllcontainer und zündete sich sofort eine neue an. Mein Bauchgefühl verriet mir, dass wir nicht so schnell zurück in die Halle kehren würden, also setzte ich mich neben sie. Ich zog die Knie an die Brust und schlang die Arme um die Beine.

Bis die zweite Zigarette als Stummel hinter den Container flog, wechselten wir kein Wort, doch eine Frage brannte mir immer mehr unter den Nägeln. Ich atmete tief ein und nahm allen Mut zusammen. „Warum hast du aufgehört, an den Wahlen teilzunehmen? Du warst wahnsinnig erfolgreich.“

Caroline belegte bei jedem Wettbewerb einen Platz auf dem Treppchen. Es gab nicht nur Misswahlen für Mädchen in Maes Alter. Es gab den Miss Teen America Contest und unzählige andere. Caroline hätte gewiss riesige Chancen gehabt. Sie war groß, wunderschön, besaß Charisma und eine unvergleichliche natürliche Eleganz. Dass ihr das ständige Unterwegssein zu viel war, schloss ich als Grund aus. Schließlich würde sie dann nicht jede Woche ihre kleine Schwester begleiten. Statt zu antworten, fischte sie ein Pfefferminzbonbon aus der Hosentasche, wickelte es aus und steckte es sich in den Mund. Ihren nach Tabak riechenden Atem mochte das Bonbon überdecken, aber gegen den Geruch, der an ihren Haaren und Kleidern haftete, war es wirkungslos. Noch immer konnte ich kaum glauben, dass sie rauchte.

„Diese knappen Outfits, wie auch Britt und Mae sie tragen. Ich … ich brachte es irgendwann nicht mehr über mich, das Zeug anzuziehen“, kam es leise über ihre Lippen.

Ich verstand das, allerdings hatte ich nie den Eindruck gehabt, sie fühle sich in ihrem Körper unwohl. Um sie nicht anzustarren, schielte ich aus den Augenwinkeln heraus zu ihr hinüber. Genau in dem Moment lief eine Träne über ihre Wange. Carolines brüchige Stimme, das Zittern ihrer Hände und diese Träne ließen sämtliche Alarmglocken in mir schrillen.

„Was zur Hölle ist passiert, Caroline?“, wisperte ich, bevor sich meine Kehle vor Angst vollkommen zuschnürte.

Sie schüttelte den Kopf, wischte sich eilig über die Wange, spuckte das Bonbon aus und zündete sich eine weitere Zigarette an.

„Was denkst du, was passiert ist, Eden? Die Welt ist nicht so rosarot, wie du glaubst.“

Ich begriff rasch, dass die alte Caroline, die lediglich einen verachtenden Blick für mich übrig hatte, soeben durchbrach. Mein erster Impuls war, sie scharf an den Tod meiner Mutter zu erinnern, aber ich bekam die Kurve, ehe ich mit wenigen Worten den Fortschritt der vergangenen Minuten zunichtemachen konnte.

„Meinst du wirklich, ich wüsste das nicht, Caroline? Ich sah meiner Mom beim Sterben zu. Spätestens als ich an ihrem Grab stand und auf den Sarg hinabblickte, verstand ich, dass das Leben nicht aus Zuckerwatte, Lollipops und Bächen aus geschmolzener Schokolade besteht. Damals war ich dreizehn“, entgegnete ich ruhig.

Caroline, die dabei gewesen war, einen erneuten Zug zu nehmen, hielt inne.

„Genauso alt war ich, als …“

Sie brach ab, schüttelte den Kopf und sprang auf. Rasch warf sie die Zigarette weg und klopfte sich den Schmutz von der Kleidung, ohne mich anzusehen.

„Du warst genauso alt, als was?“, hakte ich nach, während ich mich ebenfalls erhob. Ich versuchte, ihr in die Augen zu sehen, aber diesmal war sie es, die den Blick senkte und überall hinsah, außer in meine Richtung. Und dieses Mal hatte es nichts mit einer Abneigung zu tun, nein, sie tat es, um etwas zu verbergen.

„Ist doch egal“, winkte sie ab und anhand ihres Tonfalles erkannte ich, dass weitere Fragen sinnlos waren. „Lass uns reingehen“, meinte sie und lief in die Halle, ohne auf eine Antwort zu warten.

Ich sah ihr einen Moment hinterher, ehe ich ihr folgte. Sie schlang die Arme um den Oberkörper, so wie ich es vor wenigen Augenblicken aufgrund der Kälte getan hatte. Ihr blondes Haar fiel ihr ins Gesicht und ihre gesamte Körperhaltung war darauf ausgelegt, unauffällig zu bleiben. Nichts an ihr erinnerte an die ehemalige Anführerin der Cheerleader, deren Markenzeichen der hoch angesetzte Pferdeschwanz war und die mit gestrafften Schultern und hervorgestrecktem Kinn durch die Flure der Highschool schwebte. Kein Funke der sonst so selbstbewussten, polarisierenden Siebzehnjährigen war hier zu erkennen. Sie wirkte wie ein anderer Mensch.

Nichts von dem, was ich in den letzten Minuten von ihr gesehen hatte, passte zu der Caroline Hawk, die ich bisher gekannt hatte.

Was verbarg sie nur?

An diesem Tag bekam ich keine Antwort auf die Frage. Caroline ging mir auch tunlichst aus dem Weg, doch ich plante ohnehin nicht, sie ein weiteres Mal auf ihre Andeutung anzusprechen. Da war zu viel Schmerz gewesen und ihre Abweisung war deutlich genug, damit ich verstand, dass ich es mit meinem Fragen nur noch schlimmer machen würde.

Mae belegte den zweiten Platz hinter Carlee Clayton. Dritte wurde Brittany. Die Zirkoniasteine auf den Diademen funkelten im Licht der Scheinwerfer, als die Mädchen sich am Ende des Laufstegs für das Siegerfoto aufstellten. Carlee winkte begeistert ins Publikum, während sie den Pokal und den Blumenstrauß für die Erstplatzierte mit einer Hand umklammert hielt. Mae und Britt hatten ihre Trophäen vor sich abgestellt und klatschten, mit einem ebenso breiten Lächeln im Gesicht, artig Beifall.

Bei keiner der Drei erreichte das Lächeln die Augen.

Kapitel 9

Sechzehn zu werden hatte ich mir spektakulär vorgestellt, aber als ich die Lider aufschlug, fühlte ich mich wie immer. Auch der Glitter, der in so manchem Tagtraum auf mich herabgeregnet war, blieb aus. Nicht einmal die Sonne schien heller, als sie es für gewöhnlich tat. Um genau zu sein, war die Sonne überhaupt nicht zu sehen, denn anstelle von Sonnenstrahlen klopften Regentropfen an mein Fenster. Trotzdem schwang ich die Beine mit etwas mehr Elan über die Bettkante, als ich es üblicherweise tat.

Nachdem ich mich angezogen hatte, ging ich hinunter in die Küche, wo Grandma am Tresen saß und einen ihrer schrecklichen Kräutertees trank, die für irgendetwas gut waren. Falls mal eine Teemischung erfunden wurde, die statt einer gesunden Darmflora Mitgefühl verlieh, würde ich ihr das Zeug fässerweise einflößen.

„Guten Morgen“, sagte ich betont gut gelaunt, während ich den Kühlschrank öffnete, um den Frühstückssmoothie herauszuholen, auf den Großmutter bestand.

„Guten Morgen“, entgegnete sie im gewohnt gleichgültigen Tonfall über die Tasse hinweg, ohne von der Tageszeitung aufzusehen.

Ich stutzte kurz. Selbst wenn Grandma kein Herz zu besitzen schien, so hatte ich dennoch eine Gratulation erwartet. Mit einem Geschenk rechnete ich gewiss nicht. Schließlich war ich nicht masochistisch genug, um so hoch zu spekulieren – aber ein Glückwunsch wäre durchaus nett gewesen. Als ich den Smoothie, der eine seltsame grau-grüne Färbung aufwies, in ein Glas goss, schluckte ich gegen den Kloß an, den die Enttäuschung in meiner Kehle festsetzen wollte. Mit aller Willenskraft kämpfte ich dagegen an, denn ich durfte Cruella keine Angriffsfläche bieten. Emotionen oder gar Tränen befanden sich auf ihrer Liste der verachtenswertesten Dinge mit Kohlehydraten gleichauf.

Manchmal fragte ich mich, wann der Zeitpunkt kommen würde, in dem sich Grandma ihre menschliche Maske herunterriss, um ihr Roboterantlitz zu offenbaren. Vielleicht sah sie mich dann aus roten Augen heraus an und gestand mir, dass sie aus der Zukunft geschickt worden war, um mich zu beschützen, weil ich eine wichtige Rolle in John Connors Kampf gegen die Maschinen spielte.

Aber sogar das setzte eine gewisse Empathie voraus. Kopfschüttelnd stellte ich den Rest des Smoothies zurück in den Kühlschrank. Bei der Vorstellung, dass mir selbst ein Killerroboter oder Cyborg mehr Fürsorge entgegenbringen würde als meine eigene Großmutter, stieg ein Kichern in mir auf. Doch genauer betrachtet war dieser Umstand alles andere als lustig. Vielmehr war er niederschmetternd.

Der Smoothie roch nach etwas, das ich eher im Abfluss eines Spülbeckens, als auf einem Speiseplan vermuten würde. Dennoch würgte ich ihn entgegen des sofort aufsteigenden Brechreizes hinunter. Mein Magen rebellierte wegen des bitteren Nachgeschmacks. Inzwischen war ich geübt, was diese Getränke betraf, sodass ich nach einigen tiefen Atemzügen zuversichtlich war, dass sich mein Frühstück nicht als Bumerang entpuppte. Als ich das Glas in der Spüle auswusch, wuchs der Drang, meinen Mund ebenfalls mit Wasser auszuspülen mit jeder Sekunde. Was war das nur für ein Zeug gewesen, das ich eben hinuntergestürzt hatte?

Ein galliger Geschmack sammelte sich in meiner Mundhöhle, was gemeinsam mit dem unheilvollen Rumoren meines Magens ein untrügliches Zeichen darstellte, dass der Smoothie doch zu der Entscheidung gekommen war, eine Einlage als Bumerang zu geben. Ich legte mir eine Hand auf den Bauch, die andere presste ich gegen meine Lippen. Um zu verhindern, dass ich mich auf den Küchenboden erbrach, musste ich schleunigst ins Badezimmer! Ich war schon fast auf dem Flur, als mich Grandmas Stimme zum Innehalten zwang.

„Eden! Auf ein Wort“, begann sie und ließ eine dramatische Pause folgen. Mein Magen zog sich zusammen, rebellierte und ich ahnte, dass mir der kurze Moment bereits jetzt zum Verhängnis geworden war.

„Dein Vater hat angerufen und mitgeteilt, dass er es entgegen seines Versprechens nicht schafft, am Wochenende hier zu sein“, informierte sie mich.

Diese Neuigkeit wirkte wie ein Faustschlag auf meinen ohnehin stark strapazierten Magen und ich fühlte den Druck in der Kehle ansteigen. Bevor ich den seltsamen Smoothie auf Großmutter erbrach – was ich in Gedanken schon Hunderte Male getan hatte – rannte ich zum Spülbecken und übergab mich. Dad kam nicht und ich hatte mich so auf ihn gefreut!

Nachdem ich meinen Mageninhalt wieder von mir gegeben hatte, und gerade dabei war, mir den Mund mit einem Glas Leitungswasser auszuspülen, erklang Grandmas näselnde Stimme in unmittelbarer Nähe.

„Zudem wirst du am Wochenende nicht allein Zuhause sein.“

Ich sah so rasch auf, dass mich ein leichter Schwindel erfasste.

„Was?“, rief ich entsetzt und wandte mich ihr zu.

Ich hätte den Smoothie doch auf ihr graues Kostüm erbrechen sollen! Blendender Zorn bahnte sich einen Weg an die Oberfläche und ich ahnte, dass gleich der jahrelang aufgestaute Frust über ihre Behandlung aus mir herausbrechen würde. Kurz flackerte das Bild von mir als Stephen Kings Carrie, nachdem man sie auf der Bühne mit Blut übergossen hatte, vor meinem geistigen Auge auf. Es musste ja nicht in einer vergleichbaren Tragödie und unzähligen Toten enden, aber gegen zerberstende Gläser oder klappernde Schranktüren hätte ich nun wirklich keine Einwände.

„Ich werde da sein, Liebes“, hörte ich eine vertraute Stimme, die in diesem Haus leider viel zu selten zu hören war.

„Dad!“, flüsterte ich heiser, weil mir erneut die Tränen in die Augen stiegen.

Ich drehte mich um und rannte auf meinen Vater zu, der in der Tür zum Wohnzimmer aufgetaucht war. Er streckte die Arme aus und ich warf mich in seine Umarmung. Ich krallte die Finger in sein Baumwollhemd und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr er mir tatsächlich gefehlt hatte. Ein Schluchzen drang aus meiner Kehle. Es war mir egal, dass ich nun sechzehn war. Er war mein Vater und ich brauchte und liebte ihn!

Dad lachte leise und gab mir einen Kuss auf den Scheitel. „Sweet Sixteen, mein Herz“, murmelte er und ich glaubte, dass seine Stimme dabei ebenfalls ein wenig belegt klang. „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich deine Grandma dazu überredet habe, dich anzuschwindeln.“

Ich schüttelte den Kopf. „Schon okay, Dad. Sonst wäre die Überraschung nicht geglückt“, versicherte ich ihm und schmiegte mich fester an ihn. „Danke“, flüsterte ich.

„Danke für was? Du hast doch dein Geschenk noch gar nicht bekommen“, wandte er nach einem Moment ein und ich sah überrascht auf.

„Du musst mir nichts schenken“, versicherte ich. Ihn hier zu haben, war Geschenk genug!

„Man wird nur einmal sechzehn, Eden“, erinnerte mein Vater mich, woraufhin ich kicherte.

„Man wird auch nur einmal zwölf, oder zwanzig, oder fünfundzwanzig“, belehrte ich ihn mit einem Augenzwinkern.

Dad warf über die Schulter hinweg einen Blick zu Großmutter, die in der Tageszeitung las, ehe er sich zu mir beugte.

„Das ist nicht ganz richtig, mein Herz“, flüsterte er mir in einem verschwörerischen Tonfall zu. „Ich schwöre, dass deine Grandma mindestens sieben Mal ihren neunundvierzigsten Geburtstag gefeiert hat.“

Ich erwiderte sein breites, echtes, glückliches Lächeln. Es tat unglaublich gut, jemanden um mich zu haben, der nicht gegen mich war. Jemanden, der mich liebte, den interessierte, wie mein Tag war. Jemand, der mich wahrnahm und dem ich etwas bedeutete. Dass Dad heute nach Hause gekommen war, war das beste Geschenk, das er mir hatte machen können.

„Es ist schön, dass du da bist, Daddy. Ich vermisse dich immer schrecklich“, gestand ich aufrichtig.

Mein Vater drückte mir die Schulter und sah mich mit so viel Liebe im Blick an, dass ich eine Gänsehaut bekam. Dieses Haus war inzwischen mit einigen negativen Erinnerungen verbunden, doch seine Anwesenheit reichte aus, damit es sich wieder wie ein Zuhause anfühlte.

„Geht es dir gut?“, erkundigte er sich und deutete in Richtung Spülbecken.

Ich nickte. „Es war nur die Aufregung“, redete ich mich heraus, woraufhin er mich einen Moment prüfend ansah. Erst nach einem aufmunternden Lächeln schien er überzeugt zu sein.

„Warte kurz“, bat er mich, verschwand im Flur und kehrte mit einer kleinen Papiertüte zurück. Sie war silberfarben und die riesige Tüllschleife verhinderte, dass ich sehen konnte, was sich darin befand.

„Danke, Dad“, flüsterte ich, nahm die Tüte entgegen und zog meinen Vater in eine einarmige Umarmung.

Als ich hinein fasste, stießen meine Fingerspitzen gegen Stoff und ich zog mein Geschenk neugierig hervor. Es war ein weißes Top, dessen unterer Saum mit einer breiten Spitzenbordüre besetzt war. Ich faltete es auf und hielt es mir vor den Oberkörper.

Dad rieb sich mit einer Hand den Nacken und musterte sein Präsent.

„Es ist bauchfrei. Die Verkäuferin versprach mir, es sei perfekt für ein sechzehnjähriges Mädchen.“

Vorsichtig strich ich über das Oberteil, das in Höhe meines Nabels endete.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783962042882
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Teenager Bester Freund Erste Liebe Highschool

Autor

  • Kim Valentine (Autor:in)

Kim Valentine wurde 1982 geboren und wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von Augsburg. Nach der Schule absolvierte sie eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten und verpflichtete sich im Anschluss daran vier Jahre als Zeitsoldatin. Sie war im Sanitätsdienst eingesetzt, was ihr sehr viel Spaß bereitet hat. Nach ihrem Debütroman, der 2011 erschien, erfolgte eine fünfjährige Pause, bis sie der Leidenschaft, zu schreiben endgültig verfiel.
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Titel: We Never Called It Love