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Jan Krömer - Ermittler in Ostfriesland - Die Fälle 9 - 11

von Moa Graven (Autor:in)
500 Seiten
Reihe: Ermittler Jan Krömer, Band 4

Zusammenfassung

Jan Krömer ist Ermittler in Ostfriesland und jagt mit seiner Kollegin Lisa Berthold immer Serienkiller. In diesem Sammelband finden Sie: H.E.A.T.H.E.R Jan Krömer und Lisa Berthold ermitteln in einem Fall, der mit einem illegalen Autorennen in Aurich startet. Und eigentlich ist es noch gar kein Fall für sie. Bis zu dem Tag, als man unter den vielen Opfern eine Leiche findet, die gar nichts mit dem Autorennen zu tun hatte. Und bald gibt es weitere Ungereimtheiten und es keimt der Verdacht, dass sie nicht die einzige Leiche bleiben wird, die unter mysteriösen Umständen entsorgt wurde. LAUTLOS Eine Tote, die sich mit einem Mann aus dem Internet über eine Flirtline verabredete, wird mit durchgeschnittener Kehle im Ihlower Forst aufgefunden. Jan Krömer und Lisa Berthold versuchen, den Mann, der sich Klaus Wenger nennt, aufzuspüren. Doch das ist unmöglich, weil das Netz nicht alles preisgibt, wenn der Täter es nicht will. Makaber an dem Fall: In dem Mantel der Toten ist ein menschlicher Knochen eingenäht. Er gehört zu einer jungen Frau, die vor über zwanzig Jahren ermordet wurde. Wer hat ein Interesse daran, dass so weit in die Vergangenheit geblickt wird? Immer dichter zieht sich der Kreis um eine Handvoll Verdächtige, als auch noch Emily ins Spiel kommt. STILLE NACHT - TOTENSTILL Das KRIMI Highlight zu Weihnachten! Crossover Ostfrieslandkrimi mit Jan Krömer und Lisa Berthold, Kommissar Guntram und Katrin Birgner, Eva Sturm, Joachim Stein, Mona Lu und Hauke! Lisa ist sich unsicher, ob sie wirklich das richtige getan hat. Doch nun ist es zu spät. Die Kollegen aus Leer, Langeoog und Friesland hat sie hinter Jans Rücken zu einer Anti-Weihnachtsparty eingeladen. Und dann passiert ausgerechnet am Heiligen Abend ein grausamer Mord.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

OSTFRIESLANDKRIMIS

 

Jan Krömer

Ermittler in Aurich

 

Drei Bände in einem Bundle - IV -
 
»H.E.A.T.H.E.R« Band 9
»Lautlos« Band 10
»Stille Nacht - Totenstill« Band 11

 

 

Zum Inhalt

 

Eine Nacht wie jede andere in Aurich. Bis zu dem Augenblick, wo sich eine Gruppe von Freaks auf die Tour zu einem illegalen Autorennen durch die Innenstadt macht. Es kommt zu einer Massenkarambolage, bei der viele Menschen sterben.

Kein Fall für Jan Krömer und Lisa Berthold. Bis zu dem Tag, an dem klar wird, dass unter den Todesopfern die Leiche einer jungen Frau ist, die nichts mit dem Unfall zu tun hatte. Die beiden finden die Identität des Opfers heraus und im Laufe der Ermittlungen steht bald fest, dass Regina nicht das einzige Opfer war, dass an Unglücksstellen gefunden wurde, mit denen sie nicht das Geringste zu tun hatten.

Nur eine Nacht wie jede andere

 

In seinen Adern pulsierte es. Er steckte sich die vierte oder fünfte Zigarette an diesem Abend an und inhalierte tief.

Die Motoren der anderen Wagen um ihn herum heulten immer wieder auf. Alle waren genauso aufgeregt wie er.

Nur einmal im Jahr trafen sie sich hier in Aurich oder anderswo. Der Treffpunkt wurde immer kurzfristig entschieden. Nur einmal im Jahr gab es diesen verdammten Kick, der sie alle anderen Tage vergessen ließ.

Dieses Mal war Gina nicht dabei. Vielleicht rauchte er deshalb eine nach der anderen. Sie hatte vor ein paar Wochen mit ihm Schluss gemacht. Er kam nicht drüber weg. Er vermutete, dass ein anderer dahinter steckte, dass sie plötzlich zickte, wenn er sie in den Arm nahm und dann schließlich ihre Sachen packte und verschwand. Vielleicht würde er es nie erfahren. Gina war so eine. Aus den Augen, aus dem Sinn. Doch das stimmte nicht so ganz, auch wenn alle von ihr sagten, dass sie unberechenbar sei. Dass sie auf keinen Fall etwas auf ewig wäre. Und am Anfang sah er es genauso, als er sie auf einer dieser Partys, bei denen alles passieren konnte, traf. Zunächst hatte er sie für einen Junkie gehalten. Doch dann stellte sich heraus, dass sie einfach nur müde war und sie sich deshalb in die hinterste dunkle Ecke verkrochen hatte und mit nur halb geöffneten Augen dem bunten Treiben auf der Tanzfläche zusah.

Er flippte seine halb gerauchte Zigarette nach draußen. Er wollte jetzt nicht an Gina denken.

 

Es standen mittlerweile so viele Wagen auf dem Gelände im Gewerbegebiet, dass der ganze Platz erhellt schien. Bestimmt waren es über vierzig aufgemotzte Wagen. Viele lebten nur für diesen einen Tag. Gingen nur deswegen jeden Morgen zur Arbeit, um sich die vielen Besuche in der Werkstatt für das Tuning leisten zu können.

Ihm ging es auch so. Er hatte sich den schon über zehn Jahre alten Audi GT von seinem Gesellenlohn als Maler im ersten Jahr zusammengespart. Der Vorbesitzer würde ihn jetzt bestimmt nicht wiedererkennen. Tiefergelegt, breite Schluffen und Felgen, in denen sich die Mädchen im Sommer spiegelten, wenn er sie sanft gegen den Wagen drückte, um sie zu küssen.

Seitdem er diesen Wagen hatte, liefen sie ihm praktisch nach. Nur Gina nicht. Als er ihr das erste Mal stolz seine aufgemotzte Karre zeigte, hatte sie die Augenbrauen hochgezogen und gefragt, ob man damit auch bis nach Kalifornien käme. Das war das Einzige, was sie interessierte. Gina liebte die Sonne und den Strand. Mehr brauchte sie nicht zum Leben. Er hatte sie gleich gefragt, was zum Teufel sie dann in Aurich wollte. Sie hatte ihn merkwürdig angesehen und nur »irgendwann bin ich auch da« gesagt. Und vielleicht hatte sie jetzt ihren Traum wahrgemacht und lag in der Sonne. Doch er wollte jetzt verdammt nochmal endlich nicht mehr an Gina denken. Er trat das Gaspedal durch und ließ den Motor aufheulen. Das war besser als Sex. Jedenfalls in diesem Moment.

 

Dann sah er den Wagen von Memphis. Niemand wusste, wann Marco sich diesen Spitznamen zugelegt hatte. Und er fuhr auch keinen Amischlitten, sondern einen alten aufgemotzten Opel. Vielleicht träumte er genauso wie ... nein, er wollte ihren Namen nicht schon wieder denken. Und komischerweise tauchte er immer öfter auf, desto mehr er versuchte, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen.

Memphis drehte eine Runde um die Wagen, die bei seiner Ankunft aufgeheult hatten. Jetzt waren sie komplett. Gleich würde es endlich losgehen.

Der schlimmste Tag

 

Keine zwei Stunden später erlebte Alfred Janssen seinen schwärzesten Tag in seinem bisherigen Leben.

 

Eigentlich war er mit seiner Frau Mathilde ruhig ins Wochenende gestartet. Sie hatten sich einen Krimi im ZDF angesehen und wollten früh schlafen gehen, weil sie am nächsten Tag nach Groningen fahren würden.

Gegen kurz vor sechs am Samstagmorgen klingelte dann das Handy, mit dem Alfred immer für den Notfall erreichbar war. Er selber hörte es gar nicht, weil er sich vor dem Zubettgehen noch ein Pils gegönnt hatte, weil er zu fortgeschrittener Stunde hoffte, dass an diesem Wochenende alles ruhig bleiben würde.

»Alfred ...«.

Mathilde rüttelte an dem Arm ihres Mannes.

»Was is denn«, kam es schlaftrunken von seiner Seite.

»Dein Handy klingelt. Hörst du das denn nicht?«

Augenblicklich schreckte er im Bett hoch und griff auf seinen Nachttisch.

»Gott, das gibt es doch nicht«, sagte er dann. »Ich mache mich sofort auf den Weg. Dauert keine zehn Minuten.«

Er legte das Handy zurück auf den Nachttisch und sprang aus dem Bett.

»Was ist denn los?«, fragte Mathilde erschrocken.

»Massenkarambolage in der Auricher Innenstadt. Viele Verletzte, vielleicht auch Tote.«

»Oh mein Gott.«

Jetzt war auch Mathilde hellwach.

»Ich mach dir schnell einen Kaffee.«

Alfred nickte und verschwand im Bad. Er wusste ja, dass sie es nur gut meinte. Doch für einen Kaffee hatte er jetzt wirklich keine Zeit mehr.

Zwei Minuten später drückte er seiner Frau einen Kuss auf die Stirn und ging zu seinem Wagen.

 

Er hatte sich ja alles Mögliche vorgestellt auf dem Weg zu seiner Leitstelle in Aurich. Doch was ihn dann erwartete, war schlimmer als sein größter Albtraum.

Die ganze Auricher Innenstadt war von der Polizei abgesperrt worden. Das erste, was er von seinen Kollegen hörte, war, dass mindestens dreißig Wagen in den größten Unfall, den Aurich je erlebt hatte, involviert seien. Wie es überhaupt zu dieser Katastrophe gekommen war, war noch unklar.

Die ersten Toten waren bereits geborgen worden.

Und dann sah Alfred das junge Mädchen. Blutüberströmt lag sie mitten auf der Straße und rührte sich nicht mehr.

Das Blaulicht, die Sirenen und die vielen weinenden Menschen um ihn herum machten Alfred fassungslos.

In der Morgendämmerung bekam das ganze Szenario etwas Unwirkliches.

Er beugte sich zu dem Mädchen herunter und suchte nach ihrem Puls. Er schob den Ärmel ihrer weißen Bluse hoch, der bereits von Blut getränkt war.

Da war nichts mehr zu holen. Oder doch? Denn plötzlich bewegte sich ihr Brustkorb und sie gab röchelnde Laute von sich. Das waren wohl nur die letzten Atemzüge aus ihrer Lunge, die das Blut ausspuckten. Sie bäumte sich kurz auf und sackte wieder in sich zusammen.

Jetzt war wirklich kein Puls mehr zu spüren. Alfred drückte ihre großen dunklen Augen, die in den Himmel starrten, mechanisch zu.

 

»Das ist wie ein Schlachtfeld«, sagte sein Kollege, der eine graue Decke über die Tote legte.

»Weiß man schon, was genau passiert ist?«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Aber ich vermute, dass es eins von diesen illegalen Autorennen war, du weißt schon ...«.

Alfred nickte. In diesem Moment war er froh, dass sein Sohn Hannes sich nicht für schnelle Wagen interessierte, sondern weit weg von Ostfriesland an einer Uni Chemie studierte.

»Was machst du eigentlich hier? Du hast doch gar keine Bereitschaft dieses Wochenende?«

»Hm ... irgendwie muss ich wohl trotzdem in die Kette mit reingekommen sein. Macht aber nichts, ich helfe gern.«

Und es stimmte, selbst unter diesen Umständen. Er war schon als kleiner Junge bei der Feuerwehr eingetreten. Schon sein Vater und Großvater hatten es ihm vorgelebt, dass man etwas Sinnvolles in seiner Freizeit tun sollte. Und bestimmt war es sinnvoll, sich jetzt um die Überlebenden zu kümmern.

Die beiden nickten sich zu und folgten jetzt zwei Sanitätern, die einen Verletzten jungen Mann davontrugen.

Es gab gar nicht mehr viel anderes zu tun, als das. Denn eingeklemmt in seinen Wagen war niemand. Und auch keiner der Wagen brannte. Sie waren da. Und schon das war für die anderen Helfer ein gutes Gefühl.

 

»Gina«, murmelte ein blutüberströmter junger Mann immer wieder, während das Blaulicht sich in seinen Augen spiegelte.

»Ist da doch noch jemand im Wagen?«, fragte Alfred, um sich nützlich zu machen.

»Ne«, antwortete der Sanitäter, der sich bereits um den Verletzten kümmerte, knapp. »Der war alleine im Wagen. Keine Ahnung, wen der meint.«

 

Die Rettungsarbeiten dauerten bis zum Läuten der Kirchenglocken. Alfred und Mathilde hatten keine Lust mehr, nach Groningen zu fahren. Zu schlimm war das, was geschehen war.

»Willst du Hannes nicht anrufen?«, fragte Mathilde, als Alfred sich alles von der Seele geredet hatte. Jedenfalls das, was sie nicht noch mehr erschüttern würde als ohnehin schon.

»Hannes?«, fragte Alfred zurück, der nicht ganz verstand.

»Na ja, ich will einfach hören, dass es ihm gut geht ...«, flüsterte Mathilde und Alfred verstand.

 

Es würde lange dauern, bis man wusste, wer überhaupt alles in den schrecklichen Unfall verwickelt war.

Vier Wochen später

 

Jan hatte sich in eine dicke Decke eingemummelt auf die blaue Bank draußen vor dem Haus gesetzt. Chief lag zu seinen Füßen und starrte gemeinsam mit ihm ins Nichts.

Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Nachtfröste kämen. Wieder ging ein Sommer zu Ende, ohne dass er auch nur einen Tag die Lust verspürt hätte, sich in die Sonne zu legen, zum Schwimmen zu gehen oder ein Eis zu essen. Im selben Augenblick fragte er sich, wieso er überhaupt so trivial dachte. Seit wann interessierten ihn derart Unternehmungen überhaupt?

Vielleicht lag es an Helif, ging es ihm durch den Kopf. Der junge Afrikaner, der hier bei ihm und Lisa im Haus gewohnt hatte für kurze Zeit, er hatte auf absurde Art dafür gesorgt, dass Jan sich plötzlich für das normale Leben interessierte. Obwohl man Helif auf brutalste Weise zusammengeschlagen hatte, ging er doch mit einem Lächeln zurück in seine Heimat. Oder vielleicht gerade deshalb. Denn noch immer gab es keine Spur von den rechts motivierten Tätern, von denen man ausging. Wer sonst sollte sich animiert fühlen, einen Menschen halb zu Tode zu prügeln, nur weil er eine andere Hautfarbe hatte? Es hatte noch weitere Zwischenfälle mit Asylanten gegeben und die Wahl im September würde sicher zeigen, dass es mehr kranke Hirne in Deutschland gab, als man bisher angenommen hatte. Sie marschierten dann sicher in den Bundestag und zeigten ihre böse Fratze.

 

»Jan?«

Lisa war nach draußen gekommen und sprach ihn offensichtlich nicht zum ersten Mal an, denn sie stemmte die Hände in die Seiten und sah ihn stirnrunzelnd an.

»Ja?«

Er zog die Decke noch fester um sich und sah sie teilnahmslos an.

»Ist es nicht zu kalt hier draußen?«

»Deshalb habe ich ja eine Decke dabei«, antwortete er und schob seine Füße unter Chiefs Rücken.

»Na, dann ist ja gut. Aber ich muss dich trotzdem in eurer Gemütlichkeit stören. Ein Kollege von der Streife hat angerufen.«

»Und warum?«

»Na ja, es geht nochmal um den spektakulären Unfall von vor ein paar Wochen.«

Jetzt wurde Jan hellhörig. Es klang nach Arbeit, mit der er sich ablenken konnte.

»Was ist denn damit?«

»Er meinte, wir sollten mal besser ins Leichenschauhaus kommen.«

»Ich verstehe nur Bahnhof ...«.

»Das ging mir auch so. Aber er wollte nichts weiter sagen, sondern meinte, es wäre besser, wenn uns der Gerichtsmediziner alles erklärt, bevor er was Falsches sagt.«

»Hm ... klingt merkwürdig.«

Jan wickelte sich aus der Decke und Chief erhob und streckte sich.

»Dann sollten wir nach Oldenburg fahren«, sagte Jan und ließ die Decke achtlos auf der Bank liegen.

 

Der Gerichtsmediziner machte ein bedrücktes Gesicht, als er die beiden wortlos in den Kühlraum führte.

Er zog eine Lade heraus.

»Es handelt sich um ein junges Mädchen«, sagte er dann und zog das Laken von ihrem Körper.

Jan und Lisa sahen sich die Tote an. Ihr Körper war bis auf ein paar blaue Flecke praktisch unversehrt.

»Sie hatte also mit der Massenkarambolage vor ein paar Wochen zu tun?«, fragte Jan und rieb sich übers Kinn.

»Ja, vielleicht«, antwortete der Gerichtsmediziner und legte seine Hand auf seinen ausladenden Bauch.

»Was heißt vielleicht?«, mischte sich Lisa ein. »Der Kollege aus Aurich hat schon in Rätseln gesprochen, als er mich anrief. Ich finde, so langsam sollten wir mal erfahren, warum wir eigentlich hier sind.«

Der Mann nickte. Dann legte er seine rechte Hand auf die Stirn der Toten und zog an ihrem Augenlid.

»Deshalb«, sagte er und zeigte auf die Stelle, wo für gewöhnlich ein Auge zum Vorschein kam.

Jan beugte sich tief herunter.

»Das Auge fehlt«, stellte er emotionslos fest. »Hat sie es bei dem Unfall verloren?«

»Das könnte sein«, meinte der Gerichtsmediziner, »ist aber unter den gegebenen Umständen eher unwahrscheinlich ...«.

»Also glaubst du nicht daran, stimmt’s?«, schlussfolgerte Jan durch seine zögerliche Antwort.

»Ich habe da so meine Zweifel«, meinte er. »Denn ihr seht ja selbst, dass ihr praktisch nichts zugestoßen ist. Es fehlen nur die Augen.«

»Beide?«, fragte Lisa. »Wie kann das denn bei einem Unfall passieren? Da müsste schon ihr ganzes Gesicht in Mitleidenschaft gezogen worden sein, wenn ihr mich fragt.«

»Das sehe ich auch so«, meinte der Gerichtsmediziner. »Und deshalb glaube ich auch nicht, dass es bei dem Unfall passiert ist.«

»Ich verstehe jetzt eigentlich gar nichts mehr«, meinte Jan nachdenklich. »Wieso wird sie nicht verletzt, so wie alle anderen? Und warum fehlen ihre Augen? Ich schätze, da ist noch etwas, das dir komisch erscheint, hab ich recht?«

Der Gerichtsmediziner ließ endlich das Augenlid los und das Loch im Gesicht der Toten schloss sich wieder.

»Ja, da ist noch was«, begann er. »Ich glaube nicht, dass sie in den Autounfall involviert gewesen ist, denn sie muss bereits vor dem besagten Tag gestorben sein.«

»Aber man hat sie unter den übrigen Opfern gefunden, oder etwa nicht?«, fragte Lisa.

»Ja, das hat man«, bestätigte der Gerichtsmediziner. »Aber meine Untersuchungen sagen etwas anderes.«

»Und deshalb sind wir also hier«, meinte Jan, »ich verstehe langsam, warum der Kollege am Telefon nicht mehr gesagt hat.«

»Man hat die Tote doch wohl nicht unter die anderen Opfer geschmuggelt?«, fragte Lisa mehr sich selbst und sah von einem zum anderen.

»Irgendwie sieht es aber ganz danach aus«, antwortete der Gerichtsmediziner. »Und deshalb hat sie auch keine weiteren Verletzungen.«

»Ihr fehlen nur die Augen«, murmelte Jan, »und irgendjemand hat die Gelegenheit genutzt, sie bei dem Unfall loszuwerden.«

»Und vorher hat er sie hoffentlich umgebracht«, sagte Lisa, »ich meine, bevor er ihr die Augen entfernt hat.«

»Doch, das hat er«, bestätigte der Gerichtsmediziner.

»Wie lange ist sie schon tot?«, fragte Jan.

»Hm ... ich würde sagen, vielleicht zwei bis höchstens drei Monate.«

»Also hat der Täter die Tote so lange aufbewahrt, bis sich eine Gelegenheit für ihn ergab, sie loszuwerden.«

»Aber er konnte doch nicht wissen, dass dieser grausame Unfall passieren würde«, gab Lisa zu bedenken. »Wieso hat er die Tote denn nicht einfach auf andere Art verschwinden lassen?«

»Das ist eine interessante Frage«, meinte Jan, »wieso gerade bei dem Unfall? Er hätte sie irgendwo vergraben können oder einfach in einen Fluss werfen.«

»Und was hat er mit ihren Augen gemacht? Ich finde, das ist die viel spannendere Frage«, meinte Lisa trocken.

»Ja, was hat er mit ihren Augen gemacht«, wiederholte Jan.

»Falls es euch noch interessiert, wie sie gestorben ist …«, mischte sich der Gerichtsmediziner in ihre Unterhaltung ein.

»Klar«, sagte Lisa.

»Gut. Also, soweit ich es feststellen kann, ist sie langsam verblutet. Es gibt da auf dem Rücken einen großen Einstich, in dem offenbar eine Art Kanüle gesteckt hat.«

»Verblutet?«

»Ja, und zwar wirklich langsam ...«.

»Damit hat der Täter vielleicht Zeit gewonnen, bis er endlich die Augen entnommen hat. So blieb sie am Leben und die Augen funktionstüchtig.«

»Du bist ekelhaft«, sagte Lisa und warf Jan einen entsprechenden Blick zu.

»Aber er hat recht«, pflichtete der Gerichtsmediziner Jan bei. »Dem Täter ging es bestimmt nur um die Augen.«

»Also gar nicht ums Töten an sich«, stellte Jan pragmatisch fest. »Er wollte sie nicht in erster Linie umbringen, sondern er brauchte nur ihre Augen.«

»Wer macht so etwas?«, fragte Lisa wieder. »Und was hat er mit den Augen gemacht?«

»Das wird unsere Kernfrage werden«, antwortete Jan, »wo sind die Augen der Toten geblieben? Wissen wir, wer sie ist?«

Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern, was so viel hieß, wie, dass man die Identität der Toten bisher nicht hatte in Erfahrung bringen können.

Sie standen ganz am Anfang einer bizarren Mordermittlung.

In Sorge

 

Karin Schneider hängte gerade die Wäsche an die Leine im Garten und war mit ihren Gedanken doch ganz woanders.

Sicher, Regina war erwachsen und konnte tun und lassen, was sie wollte. Und langsam hatte sich Karin mit dem Gedanken abgefunden, dass ihre Tochter nicht war wie alle anderen. Nach der Schule hatte sie keine Lehre angefangen, wie die anderen Nachbarstöchter, sondern sie war erst einmal ans Meer getrampt. Damals war sie gerade siebzehn geworden und Karin hatte nicht eine der Nächte, in denen ihre Tochter unterwegs war, durchgeschlafen.

Und sie hatte auch keine starke Schulter, an die sie sich lehnen konnte, denn sie zog das Mädchen seit ihrem zehnten Lebensjahr alleine groß. Gina, wie sie sich selber lieber nannte, war schon früh zur Halbwaise geworden, als ihr Vater bei einem Arbeitsunfall bei einem Sturz aus zehn Meter Höhe auf einer Baustelle starb.

Es war eine schlimme Zeit gewesen.

Und Karin hatte keine Lust, sich daran zu erinnern, als sie die letzte Klammer über die Jeans ihrer Tochter schob.

Sie wischte sich eine lange Strähne ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht und sah zum Nachbarhaus.

Bei den Schmidts lief alles normal. Die Tochter machte eine Ausbildung zur Friseurin und ab und zu war Karin ihr Versuchsobjekt, wenn die Spitzen geschnitten werden mussten. Einmal hatte Lydia ihr sogar angeboten, die Haare kunstvoll hochzustecken und es hatte ziemlich gut ausgesehen.

Doch für gewöhnlich schnappte Karin sich morgens nur ein Haargummi, um ihre vielen Haare zu bändigen. Für wen sollte sie sich schon schön machen? Sie ging nie aus. Wenn sie im Supermarkt frei hatte, dann fuhr sie nach Hause und kümmerte sich lieber um den Haushalt und den Garten.

Ja, ihr Leben war bestimmt langweilig für eine Frau von gerade mal sechsunddreißig Jahren. Und Gina sagte immer, dass sie sich doch wieder einen Mann suchen sollte, um nicht mehr so viel alleine zu sein.

Das sagte sich so leicht. Nach dem Tod von Rüdiger war sie innerlich zusammengebrochen und hatte nur noch für ihre Tochter durchgehalten. Rüdiger war ihr Leben gewesen. Sie kannten sich schon von der Schule und Karin war schon mit fünfzehn schwanger geworden. Das hätte das Ende für ein junges Mädchen bedeuten können, doch Rüdiger, zwei Jahre älter als sie, hatte sofort gefragt, ob sie nicht für immer zusammenbleiben wollten, jetzt, wo sie ein Kind bekamen.

Und als der Anruf der Baustelle kam, dass er vom Gerüst gefallen sei, da hatte ihr Herz für einen Moment stillgestanden. Da wusste sie noch nicht, dass sie bereits eine Stunde später den schlimmsten Tag ihres Lebens ertragen musste. Rüdiger war an den schweren inneren Verletzungen noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.

Nein, für einen neuen Mann in ihrem Leben war sie noch nicht so weit.

 

Sie spürte einen Blick in ihrem Nacken und drehte sich um. Sie stand noch immer an der Wäscheleine, obwohl längst alles aufgehängt war.

Erst, als sie ihre Augen gegen die Sonne schützend zusammenkniff, erkannte sie ihren Nachbarn, der sie wohl schon eine Weile durch die dichte Buchsbaumhecke beobachtet hatte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er jetzt, wo sich ihre Blicke trafen.

Warum fragte er das? Was ging es ihn überhaupt an? Karin hatte keinen Kontakt zu dem Mann. Sie wusste kaum seinen Namen. Er war erst vor gut zwei Jahren hierhergezogen. Offensichtlich war er alleinstehend, denn bisher hatte Karin dort keine Frau oder sonst jemanden gesehen.

»Ja, alles gut«, antwortete sie knapp, damit er keine weiteren Fragen stellte. Dann griff sie nach ihrem leeren Wäschekorb und ging damit ins Haus zurück.

 

Es war still.

 

Karin ging in Reginas Zimmer. Vielleicht war es schon das fünfte Mal an diesem Tag. Sie wusste es nicht. Doch es lag eine düstere Ahnung über allem, dass etwas ganz Furchtbares passiert sein könnte.

Vermisst

 

Jan hatte seine Füße auf den Schreibtisch gelegt und nippte an seinem Kaffee herum, den Lisa für ihn geholt hatte.

Im Grunde hatten sie nichts, wenn man es einmal nüchtern betrachtete. Nur eine Leiche, von der niemand wusste, wer sie war.

Eine junge Frau, noch keine zwanzig.

Lisa ging bereits die Vermisstenkartei durch, hatte bisher aber noch nicht wieder von ihrem PC aufgesehen, seitdem sie hier im Büro waren.

 

Dann ging die Tür auf.

 

»Da ist jemand, mit dem ihr vielleicht sprechen solltet«, sagte der Kollege, der heute am Empfang saß.

»Ach ja?«, fragte Lisa und zog die Stirn kraus. Sicher war sie froh über die Unterbrechung, sich durch Namen zu scrollen.

»Ich glaub schon«, fuhr der Kollege fort. »Sie sagt, sie macht sich Sorgen um ihre Tochter.«

Jetzt hob auch Jan den Kopf.

»Dann schick sie doch mal rein«, sagte er und zog die Füße vom Tisch.

Unsicher steckte kurz darauf eine Frau ihren Kopf durch die Tür.

»Kommen Sie nur herein«, forderte Lisa sie auf und zeigte auf den Besuchertisch. »Was können wir denn für Sie tun?«

»Ach, ich weiß gar nicht, ob ich mir wirklich Sorgen machen sollte«, begann die Frau und fuhr unsicher mit ihrer Hand durch die Strähne, die sich schon wieder aus ihrem Zopf am Hinterkopf gelöst hatte. Jan bemerkte, dass sie sehr schmale Hände hatte.

»Fangen wir doch einfach mal an«, schlug Lisa vor und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Wie heißen Sie und worum geht es genau?«

»Karin Schneider. Und es geht um meine Tochter Regina. Ich mache mir Sorgen um sie.«

»Und warum? Ist sie nicht nach Hause gekommen gestern?«

Die Frau sah sich unsicher um, so, als überlegte sie, im nächsten Moment aufzuspringen und einfach davonzulaufen.

»Sie müssen schon mit uns reden, wenn wir Ihnen helfen sollen«, meinte Lisa und klang ein wenig verärgert, dachte Jan.

»Es ist bestimmt unnötig, dass ich überhaupt hier bin«, fuhr Karin Schneider fort. »Aber ich ... ich mache mir Sorgen.«

»Das sagten Sie schon.«

Jetzt stand Jan auf.

»Frau Schneider, wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte er.

»Neunzehn«, antwortete sie sofort. Offenbar erleichtert, dass sie nicht mehr mit Lisa sprechen musste.

Jan kam an den Tisch und warf Lisa einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Und seit wann genau vermissen Sie Ihre Tochter?«

Sie kramte ein Taschentusch aus ihrem Umhängebeutel und wischte damit über ihr Gesicht.

»Vermissen ist sicher gar nicht das richtige Wort«, sagte sie dann. »Sie ist ja schließlich erwachsen. Und ich weiß ja, dass sie manchmal wochenlang unterwegs ist, das kenn ich schon.«

»Aber jetzt ist etwas anders?«

Sie zog die Schultern hoch. »Es ist so ein Gefühl, ich weiß nicht, ob Sie Kinder haben, aber als Mutter, da spürt man so etwas.«

»Wie heißt Ihre Tochter denn?«

»Regina Schneider, doch sie mag es lieber, wenn man Gina sagt.«

»Okay. Was macht Gina denn für gewöhnlich, wenn sie unterwegs ist?«

»Ach«, jetzt lächelte Karin Schneider das erste Mal. »Sie ist wie ein Schmetterling ... immer unterwegs, immer der Sonne entgegen.«

»Also arbeitet sie nicht?«

Karin Schneider schmunzelte. »Sie möchte Kunst studieren, doch sie sagt immer, dass ihr das Talent dazu fehlt. Außerdem hat sie kein Abi, das müsste sie dann auch noch nachholen. Ich glaube, dazu fehlt ihr die Geduld.«

»Man kann auch so seine künstlerische Freiheit finden«, meinte Jan und nickte ihr aufmunternd zu.

Lisa sah aus dem Augenwinkel heraus, wie Jan das Gesicht mit den hohen Wangenknochen seines Gegenübers studierte. Bestimmt gefielen ihm auch die großen dunklen Augen. Es war doch immer das Gleiche mit den Männern. Wäre sie klein, dick und hässlich, dann dürfte sie jetzt das Gespräch führen.

»Da haben Sie bestimmt recht, Herr Kommissar.«

»Und seit wann genau vermissen ... oder besser gesagt, seit wann ist Gina denn unterwegs?«, fragte Jan.

»Ach, Sie halten mich bestimmt für eine Rabenmutter, wenn ich das jetzt sage, aber wie gesagt, Regina ist eher selten zuhause.« Sie ließ ihren Blick durchs Büro wandern. »Vielleicht seit zwei bis drei Monaten ungefähr«, sagte sie dann und Lisa musste schlucken.

Ob das alleine schon Grund genug für die Bitte um eine mögliche Identifizierung reichte?

Jan sah es offensichtlich so, denn er sprang sofort darauf an.

»Hören Sie, Frau Schneider«, sagte er mit seinem weichsten Tonfall. »Ich möchte Ihnen keine Angst machen, aber wir haben ein junges Mädchen gefunden, bei dem wir noch nicht wissen, wer sie ist.«

 

Mit einem Schlag wurde das Gesicht von Karin Schneider totenblass. Sie schlug ihre rechte Hand dann vors Gesicht und begann zu zittern.

»Sie glauben doch nicht ...«, mehr konnte sie nicht sagen.

»Wir wissen es nicht«, beruhigte Jan sie.

Doch aus irgendeinem Grund war er sich sicher, dass sie die Identität der jungen Toten in den nächsten Stunden erfahren würden.

»Wären Sie denn bereit, sich die junge Frau anzusehen?«, fragte er.

Sie nickte mechanisch.

»Ich muss doch wissen, ob es mein Baby ist«, antwortete sie leise und Tränen liefen über ihr Gesicht.

 

Zwei Stunden später brach sie dann im Leichenschauhaus in Oldenburg zusammen.

Es beginnt

 

Lisa hatte als Erstes den Ofen angemacht, als sie am Abend wieder auf den Hof gekommen waren.

Es hatte sie beide ziemlich mitgenommen, zu sehen, wie sehr Karin Schneider gelitten hatte, als sie den leblosen Körper ihrer einzigen Tochter so kalt und nackt auf dem Tisch hatte liegen sehen.

Natürlich war es nie leicht. Doch bei dieser Frau kam noch hinzu, dass sie jetzt völlig alleine war. Man hatte sie in das nächste Krankenhaus gebracht, als sie nicht mehr hatte aufhören können zu weinen.

 

»Wir werden noch einmal mit ihr reden müssen«, brach Jan jetzt das Schweigen. Er hatte sich zu Chief aufs Sofa gesetzt und die Hände auf dem Tisch gefaltet zusammengelegt.

»Sicher müssen wir das«, erwiderte Lisa und rieb ihre Hände aneinander. »Es ist so merkwürdig kalt heute hier, findest du nicht?«

»Das kommt von innen. Aber du hast recht. Heute ist es kälter als sonst.«

»Ich mach uns mal einen Tee.«

Lisa machte sich am Wasserkocher zu schaffen und hängte anschließend zwei Teebeutel in Becher.

Im Ofen knisterte es bereits.

»Es wird verdammt schwer werden, ihre letzten Stunden zu rekonstruieren«, meinte Jan. »Dafür ist ihr Verschwinden einfach zu lange her. Wer erinnert sich denn schon noch daran, was er vor drei oder vier Monaten gemacht hat?«

»Hm ... ich ganz sicher. Ich mache ja immer dasselbe«, sagte Lisa und Jan grinste. »He, das war nicht komisch gemeint«, wehrte sie ab.

»Eigentlich machen doch alle immer dasselbe«, meinte er jetzt ernster. »Sie merken es nur nicht.«

»Kann sein. Aber bei so einem bunten Schmetterling, wie Gina es wohl war, da kann eine Menge Arbeit auf uns zukommen.«

»Das stimmt. Übrigens, das Wasser hat schon gekocht.«

Lisa verdrehte die Augen und goss etwas davon in die Becher.

 

Dann saßen beide auf dem Sofa und Chief hatte sich unter den Tisch verkrochen.

 

»Es werden so viele junge Menschen vermisst.«

Lisa war die Erste, die die Stille durchbrach.

»Du meinst, weil du vorhin die Kartei durchgegangen bist?«

»Ja. Alleine über hundert in Ostfriesland. Das ist doch schrecklich, oder?«

»Es gibt auch Menschen, die nicht gefunden werden wollen. Nicht jeder mag es, wenn man sich den ganzen Tag um ihn Sorgen macht.«

»Du meinst, Gina hat es in ihrem Zuhause nicht mehr ausgehalten?«

»Könnte doch sein. Ihre Mutter machte auf mich nicht gerade einen gefestigten Eindruck.«

»Du hast Nerven. Sie hatte gerade ihre tote Tochter identifiziert. Da wäre wohl jede Mutter zusammengebrochen.«

»Klar. Aber da war noch etwas anderes, als wir sie in der Dienststelle gesprochen haben. Sie wirkte auf mich irgendwie abwesend.«

»Abwesend? Was soll das jetzt wieder heißen?«

»Es ist nur so ein Gefühl. Ach, vergiss es einfach. Aber die Sache mit ihrem Mann und dann jetzt die Tochter, das haut einen natürlich um, da gebe ich dir recht.«

»Und sie hat wohl ziemlich zurückgezogen gelebt. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann legte sie wenig Wert auf Kontakte zu den Nachbarn oder Kollegen.«

»Wer will ihr das verübeln?«

»Wir sicher nicht ...«.

»Nein, wir nicht.«

»Und trotzdem war da jemand nur an ihren Augen interessiert. Das ist doch komisch.«

»Wenn nicht sogar makaber. Wer braucht Augen? Vielleicht sollten wir uns diese Frage stellen.«

»Wer braucht Augen? Was ist das denn für ein Quatsch?«

»Ich meine es durchaus ernst«, beharrte Jan und nippte an seinem Tee.

»Wahrscheinlich hatte Gina genauso schöne braune Augen wie ihre Mutter«, sagte Lisa schnippisch.

Jan sah sie irritiert an.

»Du meinst, dem Täter kam es auch auf die Farbe an? Ein interessanter Gedanke.«

»Tja, mit dem wir herzlich wenig anfangen können. Wahrscheinlich war es ihm ziemlich wurscht, ob sie braun, blau oder grün gewesen sind.«

»Vielleicht. Aber wir haben vergessen, nach der Farbe zu fragen«, sagte Jan ärgerlich.

»Das können wir nachholen, sobald sie sich wieder erholt hat.«

»Kannst du mal im Krankenhaus anrufen?«

»Echt? Jetzt?«

»Ja, mir wäre es wichtig ...«.

Jan stand vom Sofa auf und ging nach draußen.

 

Als Lisa nach ihrem Handy griff und damit zum Fenster ging, während sie die Nummer in ihrer Liste suchte, sah sie, dass er sich wieder auf die Bank setzte und die Decke um sich schlang.

 

»Sie waren braun«, sagte Lisa, als sie auch nach draußen ging und sich neben Jan auf die Bank setzte.

»Danke«, erwiderte er und legte das eine Ende der Decke um ihre Schultern, damit sie nicht fror.

»Sie wird morgen wieder entlassen und wir können sie zuhause aufsuchen.«

 

Als es dunkler und noch kälter wurde, gingen sie ins Haus zurück.

 

Jan hatte sich angeboten, Spaghetti zu kochen, während Lisa sich im Netz nach Gina Schneider umsah. Über so ein Mädchen musste doch etwas zu finden sein.

Doch auch nach einer halben Stunde, als Jan bereits den Tisch deckte, war sie immer noch nicht fündig geworden.

 

»Nichts«, sagte Lisa frustriert. »Absolut gar nichts.«

Sie schaufelte sich Nudeln auf einen Teller.

»Wonach hast du denn gesucht?«, fragte Jan und tat sich auch etwas auf.

»Wonach? Na, nach unserer Toten natürlich.«

»Schon klar. Aber ich meine, mit welchen Suchbegriffen?«

»Gina ... Gina Schneider. Womit denn sonst?«

»Hm ... ich denke, bei so einem Paradiesvogel, da muss man schon ein wenig um die Ecke denken. Sie würde doch nicht mit ihrem bürgerlichen Namen auftreten.«

»Du hast recht«, gab sich Lisa geschlagen. »Vielleicht finden wir etwas in ihrem Elternhaus, wenn wir morgen ihre Mutter aufsuchen.«

»Ganz bestimmt. Junge Mädchen spielen gerne verstecken, gerade wenn sie so fantasievoll sind. Aber in ihrem Zimmer wird es etwas geben, das uns Hinweise gibt.«

»Sie wird einen Laptop haben. Und vielleicht ist der nicht einmal geschützt.«

»Das denke ich eher weniger. Wenn sie sich doch von ihrer Mutter bedrängt gefühlt hat, dann wird sie sich ihren Freiraum geschaffen haben.«

»Hm ... bestimmt. Aber selbst, wenn du mit allem Recht hast, wissen wir immer noch nicht, wer jetzt was mit ihren Augen macht.«

»Ich weiß ...«.

Sie aßen schweigend, während Chief unter dem Tisch schnarchte.

 

»War Gina eigentlich die Einzige, die man nicht mit dem Autocrash in Verbindung bringen konnte?«, fragte Jan, als sie den Tisch abräumte.

Lisa blieb abrupt stehen.

»Soweit ich weiß ja«, antwortete Lisa. »Worauf willst du hinaus?«

»Ach, war nur so ein Gedanke.«

»Der Kollege hat nur von Gina gesprochen, die nicht ins Bild passte.«

»Vielleicht sollten wir morgen trotzdem nochmal nachhaken.«

»Sicher. Ich werde ihn gleich morgen früh anrufen.«

Das Elternhaus

 

Jan hatte nicht in den Schlaf finden können, und war schließlich wieder nach draußen gegangen. Vollmond. Es war nicht das erste Mal, dass ihn dieser in die Kälte trieb.

Chief, dem es wohl ähnlich ergangen war, hatte sich von irgendwoher zu ihm gesellt.

Manchmal möchte ich mit dem Tier tauschen, dachte Jan, als er dem Hund über den Kopf kraulte. Es fühlte sich so weich an und der warme Atem traf auf sein Gesicht.

Man sollte nur noch mit Tieren zusammenleben, dachte Jan, dann wäre die Welt bestimmt eine Bessere.

Er legte sich die Decke um und lockte Chief mit auf die Bank. So würde er es bestimmt eine Weile aushalten können.

 

Während er so dasaß und grübelte, beschlich ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Sicher, es waren viele Tiere bei Vollmond in der Nacht unterwegs. Und bestimmt saß hier und da ein Hase, der neugierig zu ihm herüber sah. Und doch war da noch etwas anderes, das sich nicht erklären ließ.

Vielleicht durch dieses Gefühl zur Vorsicht gemahnt und auch, weil es einfach zu kalt war, um hier draußen zu sitzen, wurde Jan immer wacher, anstatt in den herbeigesehnten Schlaf zu fallen, und stand schließlich auf und ging ins Haus.

Dort legte er sich nicht ins Bett, nachdem er sich ein Glas Rotwein eingeschenkt hatte, sondern aufs Sofa. Nicht, ohne dass auch Chief zu ihm heraufkletterte und mit unter die Decke kroch.

Tausend Gedanken fuhren in Jans Kopf Achterbahn. Er stellte sich ein junges Mädchen vor, das ohne Augen durch die Straßen irrte und nach seiner Mutter rief.

Als er endlich eingeschlafen war, dämmerte der Morgen bereits heran und die wirren Gedanken hörten auf.

 

Es war nicht anders zu erwarten gewesen, dass er sich wie gerädert fühlte, als Lisa ihn sanft an der Schulter fasste und seinen Namen sagte.

»Jan? Hast du etwa hier geschlafen?«

Er blinzelte gegen die Lampe, die erbarmungslos von der Decke strahlte.

»Kannst du die bitte ausmachen?«, fragte er schlaftrunken.

»Sicher.«

Sie eilte zum Lichtschalter.

»Besser so?«, fragte sie, als sie wieder bei ihm war.

»Ja, danke. Es war Vollmond, da fällt es mir immer schwer, im Bett zu bleiben.«

»Es war aber auch besonders hell heute Nacht«, bestätigte Lisa. »Ich war auch öfter wach, als mir lieb war. Und einmal hatte ich sogar das Gefühl, dass mich jemand durch das Fenster beobachtet.«

Jetzt wurde Jan hellhörig.

»Wirklich? Mir ging es ähnlich. Ich wurde draußen das Gefühl nicht los, dass da irgendjemand ist.«

»Draußen?«

»Ja, ich war zeitweise auch draußen auf der Bank ...«.

»Unfassbar bei der Kälte, also wirklich.«

»Chief war ja bei mir und hat mich gewärmt. Aber das nur am Rande. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass da jemand ist. Und wenn du auch denkst, dass du jemanden gesehen hast ...«.

»Und warum hat Chief dann nicht gebellt?«

»Hat er das jemals getan? Er ist doch nicht da, um auf uns aufzupassen.«

»Nicht?«

»Nein, er ist da, damit es uns besser geht. Schon vergessen?«

Er lachte, als er ihren ungläubigen Blick sah.

»Schon klar«, ging sie auf seine Ironie ein. »Was würden wir ohne Chief nur machen. Aber mal im Ernst. Wir sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen, dass hier nachts jemand herumschleicht. Vielleicht sollten wir doch nachts die Türen abschließen.«

»Und damit unsere Freiheit aufs Spiel setzen? Niemals.«

»Freiheit heißt doch nicht, dass man jedem Tür und Tor öffnet.«

»Freiheit heißt für mich, dass ich mich nicht einschließen muss. Hast du es schon mal von der Warte aus gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich geb’s auf, jedenfalls für heute. Denn wir haben noch einiges vor. Ich mach uns mal einen Kaffee und du gehst unter die Dusche.«

»Bitte?«

»Ich meinte eigentlich Chief«, sagte Lisa lachend, »er stinkt wie ein Otter.«

»Hab ich gar nicht gemerkt«, sagte Jan und ging ins Bad.

 

Es ging bereits auf zehn Uhr zu, als sie schließlich bei dem Haus von Karin Schneider eintrafen.

Es war klein und aus rotem Klinker gemauert.

 

»Schön, dass es Ihnen offensichtlich wieder besser geht«, sagte Lisa zur Begrüßung und folgte Karin mit Jan ins Haus.

»Man hat mir irgendwelche Tabletten gegeben, damit ich nicht aus dem dritten Stock springe«, sagte Karin und lachte kurz auf.

Eindeutig ein Zeichen von Überreaktion, dachte Jan. Es war nicht gut, dass diese Frau hier alleine in dem Haus war.

 

»Sie wollen sich bestimmt Reginas Zimmer ansehen«, sagte sie und blieb im Flur vor einer hellen Tür mit rosa Buchstaben stehen. GINA stand da in großen Lettern und die Mutter weigerte sich noch immer, ihre Tochter so zu nennen, registrierte Jan. Konnte das etwas bedeuten?

»Danke, das wäre sehr nett«, antwortete Lisa.

Sie standen zu dritt vor der Tür, als verberge sich dahinter ein großes unheimliches Monster.

Und vielleicht war es auch so. Denn die Wunde, die die Leere in dem Raum dahinter schlug, sie war für Karin Schneiders Herz niemals mehr zu heilen.

»Vielleicht machen Sie uns in der Zwischenzeit einen Tee«, schlug Lisa vor.

Karin Schneider verstand und schlich davon.

Jan drückte auf die Klinke. Das Erste, was er wahrnahm, war der Geruch nach Bergamotte und Sandelholz.

Dann gingen sie hinein.

Überall an den Wänden hingen Bilder in den leuchtendsten Farben.

»Ob Gina die alle selber gemalt hat?«, fragte Lisa und wagte kaum, sie anzufassen.

»Vielleicht, wenn sie doch Künstlerin werden wollte«, meinte Jan und glaubte, die Seele von Gina in dem Raum spazieren gehen zu spüren.

Lisa begann, in den Schubladen des Schreibtischs zu kramen.

Jan besah sich eine Menge von Fotos, die allesamt junge Menschen zeigten, die glücklich schienen.

Gina war eine Schönheit gewesen, dachte er. Sagte es aber nicht laut.

»Ich hab da was gefunden, das uns weiterhelfen könnte«, hörte er Lisas Stimme von irgendwoher.

»Ach ja? Was denn?«

Er drehte sich zu ihr um.

Sie hielt etwas in die Höhe.

»Das scheint eine Art Notizbuch zu sein, wo sie alle möglichen Kennwörter notiert hat. Sicher konnte sie sich nicht alle merken. Heutzutage sind die jungen Menschen auf so vielen Plattformen unterwegs, wo man sich registrieren muss, dass man schon einen extra Ordner dafür braucht.«

»Es soll Leute geben, die für alles das gleiche Passwort verwenden«, meinte Jan.

»Dann sind die aber schon älter. Machst du das auch?«

»Ja«, gab er zu und kam sich in dem Moment wie Ginas Großvater vor, obwohl er höchstens ihr Vater hätte sein können. »Der Vater«, sagte er.

»Wie? Was ist mit dem Vater?«

»Ich sehe hier gar keine Bilder von ihm.«

»Das ist doch auch kein Wunder, er ist ja tot.«

»Aber gerade dann könnte sie doch welche von ihm hier aufgehängt haben. Findest du nicht?«

»Hm ... schon. Aber sie war ja noch ziemlich klein, als er starb. Und vielleicht hat die Mutter entschieden, dass es keine Bilder mehr vom Vater geben darf in diesem Haus, weil es sie zu sehr geschmerzt hat.«

»Wir sollten sie danach fragen ...«.

»Ja, machen wir. Und hier war auch ein Foto von einem Jungen.«

Sie hielt es in die Höhe.

Es zeigte einen jungen Mann, höchstens ein oder zwei Jahre älter als Gina.

»Ob das ihr Freund war?«, fragte Lisa.

»War es in der Schublade versteckt oder lag es offen da?«

»Es war in einem Buch. Ein altes Mathebuch, um genau zu sein.«

»Dann war es ihr Ex, an den sie immer noch denken muss.«

»Aha? Wie kommst du denn darauf?«

»Na, wenn sie noch mit ihm zusammen wäre, dann würde sie es nicht in ein Buch legen, sie ist ja keine Zwölf mehr. Und wenn er ihr egal wäre, dann hätte sie es weggeworfen oder es läge achtlos irgendwo herum. Nein, dieser Junge, er bedeutete ihr noch was. Aber sie wollte es sich nicht eingestehen. Deshalb hat sie ihn in das Mathebuch getan, wo sie ihn zwar nicht mehr sieht, weil sie im Leben nicht mehr hineinsieht, er aber immer trotzdem da sein wird.«

»Okay«, sagte Lisa und atmete schwer aus. »Eine schöne Exkursion in die Psychologie junger Mädchen. Ich werde Ginas Mutter mal fragen, wer das ist.«

Sie ging mit dem Foto in der Hand aus dem Zimmer.

 

Endlich allein, dachte Jan. Alleine mit Gina.

Er stellte sich mitten in den Raum, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Jetzt kam noch Patchouli hinzu. Natürlich. Es hätte ihn auch gewundert, wenn ein Mädchen wie Gina nicht nach diesem Duft, der die Schwermut schlechthin verströmte, süchtig gewesen wäre.

Er stellte sich vor, wie sie hier mit einem leichten langen Kleid herumgeschwebt war. Sie hatte sich nicht um das geschert, was andere sagten. Es war ihr egal, wenn ihre Mutter traurig war. Sie war es nicht gewesen, auch wenn sie ihren Vater bestimmt nicht weniger geliebt hatte. Doch das Leben ging weiter. Man musste sich andere Wege suchen, wenn man Erfüllung finden wollte. Ja, genauso hatte Gina gedacht. Sie hatte das Beste aus allem gemacht. Und die Schwermut ihrer Mutter, sie hatte sie einfach nicht ertragen. Darum war sie schon als Siebzehnjährige flügge geworden und hatte sich nach der Schule ins Ausland abgesetzt. Einen Freigeist wie Gina, den sperrte man nicht in eine Flasche. Und irgendjemand musste sein böses Netz ausgeworfen haben, um diesen bunten lebensfrohen Schmetterling einzufangen. War das überhaupt der Grund gewesen? Das Leichte und Unbeschwerte in Ginas Augen? Waren sie deshalb zum Ziel des bösartigen Schlächters geworden? Hatte er das Glück einfangen wollen, um es mit Ginas Augen zu sehen?

 

Jan schlug die Augen wieder auf. Vor ihm stand Lisa und starrte ihn neugierig an.

»Die Mutter sagt, es war der letzte Freund, den Gina gehabt hat. Jedenfalls, soweit sie weiß.«

»Wer?«

»Na, dieser junge Mann. Wir erinnern uns, Herr Krömer?«

Sie hielt ihm das Bild vor die Nase.

»Ach so, der. Na ja, er hat aber nichts mit dem Tod von Gina zu tun.«

»Nicht? Hast du das eben in deinem Kurzschlaf ermittelt?«

»Könnte man so sagen. Aber sprechen sollten wir trotzdem mit ihm.«

»Na, Gott sei Dank haben die überholten Ermittlungsmethoden noch nicht ganz ausgedient«, sagte Lisa gedehnt. »Willst du auch noch mit der Mutter sprechen oder hat sie dir eben schon ihre Antworten übermittelt?«

Er lachte und ging an ihr vorbei in die Küche, wo Karin mit einem Kaffee am Tisch saß.

Er setzte sich wortlos zu ihr und griff nach ihrer Hand.

Damit hatte Karin Schneider nicht gerechnet und sie begann augenblicklich, zu weinen.

»Es ist gut, dass Sie den Schmerz rauslassen«, sagte er. »Wir alle müssen damit leben, dass geliebte Menschen nicht ewig bei uns sind.«

Lisa stand in der Tür. Tränen schwammen in ihren Augen. Sie mochte nicht daran denken, jemals ohne Jan zurechtkommen zu müssen.

Mark

 

Er ging immer noch an Krücken. Und sein Ausbildungsbetrieb hatte ihm nahegelegt, sich doch erst einmal richtig zu erholen. Und gegebenenfalls auch noch einmal zu schauen, ob Maler wirklich das Richtige für ihn sei, nach allem, was geschehen war.

Klar, er konnte ja verstehen, dass der kleine Familienbetrieb nicht monatelang in der Lage war, auf seine Arbeitskraft zu verzichten, ihn aber trotzdem weiter bezahlen sollte. Er nahm es dem Chef nicht krumm.

Er saß an seinem alten Kinderschreibtisch und klickte sich durch Tuningseiten. Noch immer hatte er die Lust an schnellen Autos nicht verloren. Doch sein Wagen war nach der Massenkarambolage nicht mehr zu retten gewesen. Ja, er trauerte seinem GT nach. Doch noch viel schlimmer war das Gefühl, zahlreiche Freunde bei dem Unfall verloren zu haben. Auch Memphis hatte es erwischt. Er war drei Tage nach dem Drama im Krankenhaus gestorben. Und die Ärzte hatten gesagt, dass es sowieso fraglich gewesen war, wie es um ihn, auch wenn er aus dem Koma erwacht wäre, gestanden hätte. Das bedeutete wohl so viel, wie, wahrscheinlich wäre er für immer geistig behindert gewesen. Er war nie sonderlich dicke mit Memphis gewesen, doch auch sein Tod riss eine Wunde.

Würde es jemals wieder so sein wie vor dieser Nacht?

 

Es klopfte an seine Zimmertür. Dann ging sie vorsichtig auf und seine Mutter steckte ihren Kopf herein. Ihr Blick sagte ihm jedes Mal, das sie Tag und Nacht betete, weil sie dankbar war, dass ihr Sohn noch lebte.

»Mark, da ist jemand von der Polizei, der dich sprechen möchte«, sagte sie und blieb in dem Türspalt stehen.

»Warum das denn?«

»Ich weiß es nicht. Aber sie warten unten im Wohnzimmer. Ich habe gesagt, dass ich dir Bescheid gebe.«

Sie wirkte so unsicher. Eigentlich in allem, was sie tat. Doch das war Mark erst so richtig aufgefallen, seitdem er wieder stärker auf ihre Hilfe angewiesen war.

»Ich komme«, sagte er und klappte seinen Rechner zu.

 

Es dauerte einen Moment, bis Mark es mit seinen Krücken bis runter ins Wohnzimmer geschafft hatte. Dann sah er, wie seine Mutter gerade Kaffee einschenkte und etwas verkleckerte.

»Oh, das tut mir leid«, sagte sie schnell.

»Mama, ich mach das schon«, sagte Mark. »Geh du nur in die Küche.«

Sie verschwand dankbar.

»Sie hat nicht gerne mit der Polizei zu tun«, erklärte Mark und wischte mit seinem Papiertaschentuch den Kaffeefleck vom Tisch. »Besonders seit der Sache mit dem Unfall. Als der Anruf hier kam, dass mir etwas passiert war, da ... na ja, Sie können es sich sicher vorstellen.«

»Sicher«, erwiderte Lisa und stellte sie beide vor.

»Sie sind noch ganz schön jung, ich meine, dafür, dass Sie die Sache hier leiten.«

Jan runzelte die Stirn und Lisa ging darüber hinweg.

»Wir möchten Sie noch einmal zu dem Unfall befragen«, sagte sie.

Mark setzte sich auf einen freien Stuhl und lehnte die Krücken gegen den Tisch. Er sagte nichts und sah sie nur neugierig an.

»Es geht um Ihre Freundin«, fuhr Lisa fort. »Regina Schneider.«

»Gina?«, fragte Mark erschrocken. »Was hat Gina denn mit der Sache zu tun, sie war doch gar nicht dabei.«

»Ja, das wissen wir«, mischte Jan sich ein. »Es ist aber doch so, dass Sie mit Ihr befreundet waren, oder? Ich meine, Sie waren ein Paar?«

»Wer sagt das? Mit wem haben Sie überhaupt über Gina und mich gesprochen? Und warum?«

In Marks Stimme schwang Panik mit. Vielleicht fühlte er instinktiv, dass Gina etwas passiert sein musste.

»Wir haben mit Ginas Mutter gesprochen.«

»Mit ihrer Mutter? Sie ist doch nicht ... ist Gina etwas passiert?«

Seine Stimme versagte fast.

»Leider ja«, nahm Lisa den Faden auf. »Gina war auch unter den Opfern bei dem Unfall.«

Mark machte große Augen. Opfer?, kreiste es in seinem Kopf. Wieso Opfer? Und wieso erfuhr er erst jetzt davon?

»Wie meinen Sie das, Gina war unter den Opfern? Sie war doch gar nicht da. Sie war doch verreist, verdammte Scheiße.«

Er wirkte verzweifelt und erste Tränen liefen über sein Gesicht.

Er liebt sie noch, dachte Jan, auch wenn sie nicht mehr zusammen waren.

»Gina ist auch unter den Opfern der vielen jungen Menschen nach dem Unfall gefunden worden«, erklärte Lisa. »Und wir wissen, dass sie nichts mit dem eigentlich Unfall zu tun hatte. Man hat sie offensichtlich nachträglich in der Menge der Opfer abgelegt.«

»Was reden Sie denn da für einen Scheiß ... Gina ist nicht tot. Sie kann gar nicht tot sein, weil sie überhaupt nicht dabei war, als wir in der Nacht gefahren sind.«

»Es ist besser, wenn Sie sich erst einmal beruhigen«, fuhr Lisa fort. »Ich weiß, dass das jetzt schwer für Sie ist.«

»Einen Dreck wissen Sie.«

Mark wandte sich von ihnen beiden ab und sah zum Fenster.

»Der Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass Gina bereits vor dem Unfall ermordet worden ist«, sagte Jan. »Und deshalb müssen wir wissen, wann Sie Gina das letzte Mal gesehen haben.«

Er sah, wie die Schultern von Mark zitterten. Offensichtlich weinte er. Noch immer sah er nicht wieder zu ihnen.

»Sie müssen sich für Ihre Tränen nicht schämen«, fuhr Jan fort. »Sie haben Gina geliebt, da ist es doch ganz normal, wenn Sie weinen.«

 

Lisa wunderte sich einmal mehr über den sanften Ton, den Jan anschlug. Es war genauso wie bei Karin Schneider, als er nach ihrer Hand gegriffen und sie getröstet hatte. Seine Stimme war dann so anders. Entdeckte sie jetzt eine ganz neue Seite an ihm?

 

Mark wischte sich mit seinem Hemdsärmel übers Gesicht und drehte sich wieder zu ihnen.

»Und es ist ganz sicher, dass es Gina ist?«, fragte er.

»Ja, ihre Mutter hat sie identifiziert.«

»Man ... ich verstehe das nicht. Das ergibt doch gar keinen Sinn. Warum sollte man sie denn zu dem Unfall bringen? Es konnte doch keiner wissen, dass dieser Unfall überhaupt passieren würde.«

»Das fragen wir uns natürlich auch«, sagte Lisa. »Und deshalb ist es so wichtig, dass Sie uns alles sagen, was Ihnen zu Gina einfällt. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen? Mit wem war sie danach unterwegs? Wo wollte sie überhaupt hin?«

Mark griff das erste Mal nach dem Kaffeebecher, den seine Mutter für ihn hingestellt hatte.

 

Kennengelernt hatte er Gina, als er in der Berufsschule draußen eine rauchen wollte. Das Erste, was ihm an ihr auffiel, waren ihre großen bunten Ohrringe. Es war nicht so, dass er so etwas noch nicht bei anderen Mädchen gesehen hätte vorher. Doch Gina sah damit aus, wie aus einem Märchen entsprungen. Eine Prinzessin aus Tausendundeinernacht.

Sie ging einfach die Straße entlang. Und doch war da etwas an ihrem Gang, das seine Aufmerksamkeit erregte. Sie ging nicht einfach. Eher tanzte sie über den Bürgersteig. Nicht offensichtlich. Doch ihre Schritte wurden immer wieder von einem kleinen Hüpfer nach links oder rechts unterbrochen. Einem anderen wäre das vielleicht gar nicht aufgefallen. Doch Mark wusste später, dass er sich schon in diesem ersten Moment bis über beide Ohren in Gina verliebt hatte.

Dann musste er wieder in seine Klasse und vergaß sie.

Zunächst jedenfalls, als der Lehrer sich bemühte, ihnen den Stoff für das richtige Mischen von Farben und vor allem die nötige Konsistenz, damit sie auch an der Wand haften blieb, zu erklären.

Die ersten zehn Minuten hielt Mark noch durch. Doch dann schweiften seine Gedanken wieder zu diesem zauberhaften Wesen ab.

Abends in seinem Zimmer, da stellte er sich vor, wie er sie küsste. Ihren sanften roten Mund.

Erst drei Wochen später, als er die Hoffnung schon aufgegeben hatte, sie jemals wiederzusehen, da traf er Gina wieder.

 

»Sie saß in einem Café in der Auricher Innenstadt und schien auf jemanden zu warten«, sagte Mark und sein Gesicht nahm einen verträumten Blick an. »Ich habe mich zunächst nicht getraut, sie anzusprechen. Aber dann habe ich all meinen Mut zusammengenommen, und bin an ihren Tisch gegangen.«

Und dann begann für ihn die nach seinen Worten schönste Zeit in seinem Leben. Sie lud ihn ein, sich zu ihm zu setzen und er konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Besonders die Augen, die hätten ihn fasziniert. So große und geheimnisvolle Augen habe er noch nie gesehen gehabt vorher.

 

Bei der Erwähnung von Ginas Augen merkte Jan auf. Konnte es sein, dass ausgerechnet dieser schlaksige junge Mann etwas mit Ginas Ermordung zu tun hatte? Hatte sie ihn verlassen, ausgelacht und an seinem Ego derart gekratzt, dass er es nicht ertragen konnte, wenn er sie nicht mehr haben konnte?

Als er von ihr geschwärmt hatte, da musste Jan unweigerlich an seine erste Begegnung mit Virginia denken. Er konnte Mark verstehen. Es gab Frauen, die einen um den Verstand brachten.

Aber hatte Mark Gina auch getötet?

 

Lisa schien zu ahnen, was in ihm vorging. Als Mark nicht mehr weitersprach, als er an dem Punkt angekommen war, dass Gina ihn von heute auf morgen einfach verlassen hatte, was er sich bis heute nicht erklären könne, da war eine merkwürdige Stille entstanden.

»Und wann und wo genau haben Sie Gina das letzte Mal gesehen?«, fragte Lisa.

»Das war vor ziemlich genau drei Monaten«, antwortete Mark jetzt emotionslos. »Ich hatte sie noch einmal um ein Treffen gebeten, um mit ihr zu reden. Sie kam auch, aber es dauerte nur fünf Minuten, bis sie wieder ging. Sie war eben ein bunter Schmetterling, den man nicht einfangen konnte.«

 

Und vielleicht ist genau das der Grund, warum du durchgedreht bist, dachte Jan.

In der Dienststelle

 

»Meinst du, dass er etwas mit dem Mord an Gina zu tun haben könnte?«, fragte Lisa, als sie wieder in Aurich ankamen.

»Enttäuschte Liebe hat schon zu manchem Verbrechen geführt«, antwortete Jan und lümmelte sich auf seinen Bürostuhl und legte die Füße auf den Schreibtisch.

»Aber wie hätte er es anstellen sollen, schwer verletzt nach dem Unfall unbemerkt eine weitere Leiche am Unfallort zu platzieren?«

»Das ist die entscheidende Frage. Aber er muss es ja nicht alleine gemacht haben?«

»Du denkst dabei hoffentlich nicht an seine Mutter, oder?«

»Nicht wirklich. Sie wirkte zwar fahrig und unsicher, aber ich glaube nicht, dass es daran lag, weil sie eine Mörderin oder Mittäterin ist. Nein, die Mutter schließe ich aus. Und den Vater haben wir noch nicht gesehen. Aber im Grunde glaube ich auch so nicht daran, dass Eltern ihrem liebeskranken Sohn bei einem Mord helfen würden.«

»Ich auch nicht. Also müssen wir eine andere Erklärung finden. Wer würde mit ihm gemeinsame Sache machen? Etwa noch ein junger Mann, dem Gina den Laufpass gegeben hat?«

»Hm ... also, das kann ich mir ehrlich gesagt noch weniger vorstellen. Ausgeknockte Exfreunde verbünden sich nicht, um eine Verflossene um die Ecke zu bringen. Sie gehen eher zusammen ein Bier trinken, schließlich sind sie Leidensgenossen.«

»Männer und ihr Kumpelgehabe«, sagte Lisa und lehnte sich zurück.

»Ist das unter Frauen nicht so?«

»Also, ich bin noch mit keiner anderen Frau Bier trinken gegangen, weil ein Mann uns beide abserviert hat. Was habe ich denn mit der Frau zu tun? Es ist doch eher peinlich, dass man den gleichen Mann geküsst und sonst was gemacht hat. Das macht einen doch nicht zu Freundinnen.«

»Vielleicht ist das euer Problem«, meinte Jan. »Weil ihr Frauen nicht erkennt, wie sinnvoll es ist, ein Rudel zu bilden.«

»Du hast ja eine Meise«, sagte sie und tippte sich gegen die Stirn.

»Das sowieso«, sagte er lachend.

»Und jetzt?«

»Lass uns noch einmal rekapitulieren«, schlug Jan vor. »Wir haben eine Leiche, die verwahrt wurde, bis sich eine geeignete Gelegenheit ergab, sie zu entsorgen ...«, begann Lisa

»Na, ob das so geeignet war, weiß ich nicht. Schließlich war es mitten in der Öffentlichkeit bei einem schweren Unfall. Da kann ich mir wirklich Möglichkeiten vorstellen, wie der Täter Gina hätte anonymer loswerden können. Wie du schon sagtest, er hätte sie doch einfach vergraben können.«

»Richtig, aber warum hat er es nicht getan? Warum ein Ort des Grauens?«

»Lisa, wenn wir das wissen, finden wir den Täter.«

»Okay, aber wie sollen wir es anstellen?«

»Ich habe keine Ahnung. Lass uns nach Hause fahren und dann koch ich uns was Schönes. Und bei einem Glas Wein dazu kommen mir vielleicht die richtigen Gedanken.«

 

Chief lag vor der Haustür, als Jan den Wagen abstellte.

»Wieso liegt er da?«, fragte er. »Ob jemand hier war?«

»Wer sollte hier gewesen sein?«, gab Lisa zurück. »Hier kommt doch nie jemand her.«

»Das stimmt auch wieder. Aber es ist ungewöhnlich, dass Chief vor der Tür liegt, das musst du zugeben.«

»Sicher. Vielleicht hat er etwas gehört.«

»Und vor Kurzem hatte ich das Gefühl, dass jemand ums Haus herumschleicht. Da stimmt etwas nicht.«

»Tja, und immer noch weigerst du dich, die Türen abzuschließen«, bemerkte Lisa mahnend.

»Ich werde noch einmal darüber nachdenken.«

Sie stiegen aus dem Wagen und Chief hob den Kopf.

Als Jan und Lisa um das Haus herumgingen, folgte er den beiden.

Das Erste, was Jan auffiel, war die Decke.

»Hatte ich die nicht auf dem Boden liegen lassen?«, fragte er und zeigte auf die Bank, auf der die Decke jetzt ordentlich zusammengelegt lag.

»Ja, das stimmt. Und ich habe das da nicht gemacht. Ich räum doch nicht hinter dir her«, sagte Lisa. Es sollte vielleicht humorvoll klingen, doch angesichts des offensichtlichen Eindringlings in ihre Privatsphäre misslang es ihr.

»Geh du vorne rein«, flüsterte Jan. »Ich gehe zum Hintereingang.«

Sie nickte und bog wieder um die Hausecke. Ihre Hand hielt sie dabei an der Waffe.

Jan schlich auf Zehenspitzen an der Wand entlang zum Hintereingang. Chief blieb ihm dicht auf den Fersen und Jan hatte das Gefühl, dass er das Atmen eingestellt hatte. Sie waren ein Team in diesem Moment, der große mächtige Hund und er. Was brauchte man eigentlich mehr im Leben?

Durch das Fenster in den Dielenbereich konnte er nichts erkennen. Dann legte er die Hand auf die Klinke und drückte sie geräuschlos nach unten.

Schon, als er die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte, wusste er, dass hier jemand gewesen war. Ein Eindringling, der nicht in dieses Haus gehörte. Und vielleicht war er immer noch da.

Lautlos schlich Jan weiter hinein. Chief machte er ein Zeichen, vor der Tür zu warten. Der Hund verstand und machte sich klein.

 

Es war ein fremder Geruch, der Jan jetzt in die Nase fuhr. Es roch nicht unangenehm, das nicht. Aber es roch nach Zedernholz, das es hier sonst nirgendwo im Haus gab. Bestimmt der Duft des Fremden. War es ein Landstreicher, der etwas zu essen gesucht hatte? Und wieso hatte er sich nicht von Chief vertreiben lassen?

Schließlich war Jan bis in die Küche vorgedrungen, nachdem er zunächst einen Blick in beide Schlafzimmer und ins Bad geworfen hatte.

Dort traf er auf Lisa, die die Schultern hochzog.

»Es ist keiner mehr hier«, stellte Jan fest. »Aber es war jemand hier, das ist sicher.«

»Vielleicht ein Landstreicher«, schlug Lisa vor.

»Das habe ich auch schon gedacht. Aber warum hat Chief ihn nicht in die Flucht geschlagen?«

»Vielleicht empfindet er Sympathie für einsame Einzelgänger«, sagte Lisa und wirkte erleichtert, dass sie hier drinnen im Haus niemanden erwischt hatten.

»Okay, dann schließe ich also in Zukunft ab«, sagte Jan widerwillig.

 

Kurz darauf verströmte ein Gemüseauflauf Düfte aus dem Backofen, die den Geruch nach Zedern vergessen machten. Jedenfalls für den Augenblick.

 

»Lass uns den Faden von vorhin wieder aufnehmen«, sagte Jan, als sie schließlich am Tisch saßen und aßen. »Wer könnte Mark außer seinen Eltern oder Kumpels noch geholfen haben bei der Beseitigung von Gina?«

»Glaubst du denn immer noch, dass er etwas damit zu tun haben könnte?«, fragte Lisa zweifelnd. »Also ich ehrlich gesagt nicht mehr so recht. Er wirkte so verletzt, als er von ihr erzählte. Ich meine, wirklich zutiefst verletzt und nicht nur in seiner Eitelkeit getroffen, weil sie ihn hat sitzen lassen. Vielleicht hat er ja sogar darauf gehofft, dass sie es sich bald anders überlegt und wieder zu ihm zurückkehrt.«

»Wenn er sie wirklich geliebt hat, dann hat er ganz sicher darauf gehofft«, sagte Jan.

Und Lisa konnte nur erahnen, an welche von den Frauen, die, seitdem sie ihn kannte, seine Gefühlswelt aus den Angeln gesprengt hatte, er gerade dachte, als er es aussprach.

»Wenn sie wirklich so liebenswert war, wie er gesagt hat, dann war sie keine, die Jungen unnötig quälte«, meinte Lisa. »Dann hat sie ein großes Herz gehabt.«

»Ein interessanter Gedanke.«

Jan ließ seine Gabel sinken.

»Warum hat der Täter nicht ihr Herz genommen? Warum nicht das Wichtigste Körperteil, wenn es um Gefühle geht?«

»Stimmt. Wäre Mark der Täter, dann hätte er bestimmt ihr Herz geklaut. Aber doch nicht ihre Augen.«

»Weil?«

Lisa zog ihre Mundwinkel nach unten.

»Na, ist doch ganz einfach. Was sollte er denn mit ihren Augen?«

»Er konnte damit nichts anfangen ...«.

»Richtig.«

»Aber mit einem Herzen schon?«

»Sicher genauso wenig. Aber ein Herz symbolisiert doch Gefühle, oder? Und irgendwann, da hegte sie in ihrem Herzen auch tiefe Gefühle für Mark. Und wenn er ihr das Herz gestohlen hätte, dann hätte es für ihn wie ein Wiederaufleben ihrer Liebe sein können. Natürlich nur symbolisch.«

»Natürlich. Und auch dann nur, wenn er nicht alle Tassen im Schrank hat oder ein absoluter Spinner ist. Aber ich glaube, beides trifft auf Mark nicht zu. Er ist ein Handwerker. Und in der Regel haben die noch alle Latten am Zaun.«

»Wie treffend«, lachte Lisa. »Aber bestimmt nicht gerade logisch.«

»Nein, sicher nicht. Auch Handwerker können durchdrehen, wenn ihnen die Liebste den Laufpass gibt, schon klar.«

»Aber wir kommen wohl langsam wirklich zu dem Schluss, dass Mark nichts mit Ginas Tod zu tun hat, nehme ich an.«

Jan nickte.

»Und damit wären wir wieder am Anfang.«

Lisa stand auf und holte die zweite Flasche Weißwein. Es würde bestimmt eine lange Nacht werden.

Über 20 Jahre früher

 

Er hatte alles so weit fertig und wischte sich mit einem nassen Lappen übers Gesicht. Hätte man ihn vor fünf Jahren gefragt, ob er noch einmal ein Zimmer rosa streichen würde, er hätte nur gelacht.

Und jetzt war es fertig.

Er und seine Frau hatten fest mit einem Jungen gerechnet, doch jetzt war von dem Hellblau nichts mehr zu sehen.

Sie wollten die Ärztin, die einmal im Monat den Bauch von Brunhilde untersuchte, nicht fragen, was es wird. Da waren sie altmodisch. Wie mit so vielen Dingen. Und deswegen hatte er jetzt, wo seine Frau im Krankenhaus entbunden, das Zimmer noch einmal gestrichen. Es wäre nicht gut, wenn ein kleines Mädchen in einem hellblauen Zimmer würde schlafen müssen, hatte Brunhilde zu ihm gesagt, als er sie gestern besucht hatte.

Sie hatten sich immer einen Stall voll Kinder gewünscht, wie man auf dem Land so schön sagte. Und auch Brunhilde hatte drei Geschwister.

Doch es wollte bei den beiden viele Jahre nicht so richtig klappen. Mit über vierzig schließlich hatten sie den Wunsch begraben und Brunhilde hatte sich dem Sticken zugewandt, mit dem sie die meiste Zeit verbrachte, wenn die Hausarbeit getan war.

Er unternahm viel mit den Kollegen.

Und so gingen sie bestimmt so manchem Streit aus dem Weg.

 

Doch das war jetzt alles Schnee von gestern. Wenn schon keinen Stall voll Kinder, so hatten sie jetzt doch eine Tochter. Und sie hatten sich so auf einen Jungen versteift, dass ihnen gar keine Mädchennamen einfielen, als die Hebamme sie danach fragte.

»Denken Sie in Ruhe darüber nach«, hatte diese lachend gesagt. »Schließlich muss das Kind sein Leben lang damit herumlaufen.«

Sicher hatte sie es gut gemeint. Doch es sollte sich als schlechtes Omen herausstellen, was Brunhilde und ihm natürlich erst viel später klarwerden sollte.

 

Als Brunhilde mit dem Mädchen aus dem Krankenhaus nach Hause kehrte, da lebte die Beziehung zwischen den beiden noch einmal so richtig auf.

Es gab keinen Wunsch, den er ihr nicht von den Augen ablas. Weder den Abwasch noch die Wäsche ließ er sie machen, selbst dann nicht, wenn das Mädchen schlief.

Und es war vielleicht ein weiteres dunkles Vorzeichen, dass sie sich nicht für einen Namen für das größte Glück in ihrem Leben entscheiden konnten.

Brunhilde sagte »Marie«, während er das Gesicht verzog und eine »Anne« entgegensetzte.

Es wurde auch keine Klara, Sabine oder Jennifer daraus. Immer gab es Bedenken. Mal von der einen, dann von der anderen Seite.

Dann eines Abends, das Mädchen schlief in einem Tragebett neben dem Fernseher, da plötzlich sahen sie sich an, als ein junges blondes Mädchen über den Bildschirm tanzte. Sie wussten nicht einmal, welches Programm sie da eigentlich verfolgten. Doch sie waren in gleichem Maße von dem Antlitz und der Natürlichkeit dieses Mädchens fasziniert.

Als der Tanz vorbei war, schob sich ein Moderator ins Bild und erklärte, dass es sich bei dem Mädchen um eine absolute Ausnahme handele. Niemals hätte sie Tanzunterricht genommen geschweige denn einen Ballettsaal von innen gesehen. Sie sei eben wie ein großes Wunder.

Und das war dann wohl der ausschlaggebende Funke, der auf ihn und Brunhilde übersprang. Ein Wunder. Genauso wie das kleine Mädchen, das dort unten wie ein kleiner Engel schlief.

Ihre Blicke wanderten wie auf Zuruf zu dem Wesen hinunter und plötzlich wussten es beide. Der Name für das wunderbare Wesen war gefunden, auch wenn alle Nachbarn, Verwandten, Freunde und nicht zuletzt der Pfarrer den Kopf schütteln würden, wenn sie getauft wurde.

 

Und so war es dann auch und blieb es bis zur Einschulung. Niemand konnte sich so recht an den Namen der Tochter gewöhnen. Und so manch einer traute sich nicht einmal, den Namen überhaupt auszusprechen aus Angst davor, die Gefühle der stolzen Eltern zu verletzen. Sie sagten dann einfach nur der kleine Engel.

 

Das Kind wuchs zu einem hübschen Mädchen mit dunklen Haaren und glutvollen Augen heran. Das war das Offensichtlichste, was sie von dem Mädchen aus dem Fernsehen, dem sie ihren Namen verdankte, unterschied. Und mit ihrem recht plumpen schweren Körperbau, der eher an eine Magd denn an eine Ballerina erinnerte, würde sie auch nie den Tanzboden erobern. Doch das alles spielte für Brunhilde und ihn keine Rolle. Sie sahen etwas ganz anderes in ihr. Dieses Mädchen hatte ihr Leben gerettet. Und sie würden alles für sie tun.

Auf dem Hof

 

Jan und Lisa saßen beim Frühstück, als Lisas Handy klingelte.

»Ja?«

Sie hörte eine Weile zu und zog die Augenbrauen hoch.

»Das klingt sehr interessant. Aber wieso erfahren wir erst jetzt davon?«

Sie machte Jan Zeichen, die er nicht interpretieren konnte, weil er noch nicht wusste, worum es ging. Deshalb fing er schon mal an, den Tisch abzuräumen.

»Unglaublich«, sagte Lisa als sie aufgelegt hatte und klang gereizt. »Es gab schon mal einen ähnlichen Fall, wo eine Leiche nicht zum Tatort gehörte.«

»Ach ja?«

Jan legte das Besteck auf die Spüle und drehte sich zu ihr um.

»Und wieso erfahren wir das erst jetzt?«

»Das habe ich eben auch gefragt. Es liegt wohl daran, dass es schon über zehn Jahre her ist.«

»Wow, zehn Jahre sind eine lange Zeit. Da gelten solche Sachen doch eigentlich schon als ungelöst abgeschlossen.«

»Ja, das war auch die Entschuldigung, die ich eben am Telefon gehört habe. Wahrscheinlich sollten wir froh sein, dass wir es überhaupt noch erfahren haben.«

»Und was genau ist da damals passiert?«

Jan setzte sich wieder zu ihr an den Küchentisch.

»Soweit ich es verstanden habe, wurde damals in der Ruine eines abgebrannten Einfamilienhauses ein junges Mädchen entdeckt, das dort nicht hingehörte. Sie war schon ziemlich verkohlt, deshalb hat es lange gedauert, bis man überhaupt ihre Identität herausfand.«

»Wo war das?«

»In Esens. Und das Krasseste kommt noch ...«.

Lisa machte eine Pause und Jan glaubte, sie wolle ihn auf die Folter spannen. Doch in Wirklichkeit war ihr einfach nur übel.

»Es fehlte ihr Kopf«, sagte sie schließlich.

Jan sah sie fassungslos an.

»Du meinst, der Kopf ist verbrannt oder verkohlt ...«.

»Nein. Der Gerichtsmediziner hat damals herausgefunden, dass der Kopf abgetrennt worden war.«

Jan rieb sich übers Kinn.

»Das klingt nicht gut.«

»Denke ich auch. Ein Kopf, Augen. Passt irgendwie zusammen.«

»Hm ... schon. Aber die Augen kommen ein bisschen spät nach über zehn Jahren, wenn du mich fragst. Wozu sollte es gut sein, überhaupt Augen zu entfernen, wenn man schon einen ganzen Kopf hat?«

»Weil die anderen Augen vielleicht nicht perfekt waren«, sagte Lisa und spürte in dem Moment, dass sie genau ins Schwarze getroffen hatte.

»Das könnte eine Erklärung sein«, stimmte Jan zu. »Aber der Kopf muss dann verdammt gut aufbewahrt worden sein.«

»Bei den heutigen Möglichkeiten doch überhaupt kein Problem mehr«, entgegnete Lisa. »Jeder Idiot kann Leichenteile Zuhause bei sich einfrieren und nach Belieben wieder auftauen.«

»Schon. Aber warum sollte er das tun?«

»Vielleicht führt er Experimente durch«, schlug Lisa vor.

»Und wenn es jemand ist, der mit Organen und Körperteilen handelt?«

»Dann müssten die Augen von Gina gar nichts mit dem Kopf des anderen Mädchens zu tun haben. Und vielleicht betreibt da einer sogar einen regen Handel mit Augen.«

»Das hieße dann aber, dass noch mehr Leichen geplündert worden sein müssten.«

»Exakt. Und das heißt jetzt für uns, dass wir auch die Kollegen der umliegenden Polizeistationen über den Landkreis Aurich hinaus mit ins Boot holen sollten. Denn so ein Handel lässt sich bestimmt nicht auf so einen kleinen Radius beschränkt durchführen.«

»Na ja, man muss ja nicht gleich alle Pferde scheu machen, schließlich wissen wir ja noch gar nichts Konkretes«, meinte Jan und sah nach Lisas Empfinden ein wenig zu melancholisch dabei aus.

»Es geht um Katrin und Jochen, hab ich recht?«, frage sie leise.

»Du weißt davon?«

»Sicher. Irgendwie habe ich am Rande aufgeschnappt, dass die beiden jetzt zusammen sind. Macht es dir etwas aus? So wirklich gekümmert hast du dich um sie ja nicht wirklich, wenn man ehrlich ist.«

»Du hast recht«, gab Jan zu. »Und sicher ist sie mit Jochen viel besser dran.« Er ahnte, dass Lisa Kontakt zu Katrin hatte, doch Näheres wollte er jetzt gar nicht wissen.

Noch immer hatte er diesen Dackelblick und Lisa musste ihre Augen ein paar Mal zukneifen, um nicht zu sentimental zu reagieren.

»Wir müssen ja noch nicht alle Kollegen informieren«, lenkte sie ein. »Wir werden es wie immer machen und einfach gucken, wie weit wir hier in unserem Bereich kommen.«

Er sah sie dankbar an, sagte aber nichts.

Lisa hoffte insgeheim, sich nie mehr in einen Mann zu verlieben. Das machte das ganze Leben doch nur unnötig schwer und kompliziert.

 

Eine halbe Stunde später kamen sie in der Dienststelle an. Durch den neuen Hinweis hatten sie völlig vergessen, dass jemand am gestrigen Tag bei ihnen im Haus gewesen war.

Der Eindringling

 

Erst, als er den Wagen nicht mehr hören konnte, wagte er sich aus dem sicheren Versteck und hielt nach Chief Ausschau.

Schon als kleiner Junge hatte er guten Kontakt zu Tieren gefunden, das hatte sich bis heute nicht geändert.

Der große Hund legte den Kopf schief und sah ihn wie einen alten Bekannten an, als er vor die Tür trat.

»Du bist ein guter Freund von Jan«, sagte er zu dem Tier, »das habe ich sofort gemerkt. Ich finde, wir sollten auch Freunde werden.«

Chief versuchte, so gut es ging, seine Schlappohren zu spitzen und lief auf den jungen Mann zu, ließ sich von ihm über den Kopf streicheln und drehte wieder ab, um sich unter einen Busch zu legen.

 

Jetzt ging der Eindringling auf den Hof zu, um hineinzugehen.

Verwundert stellte er fest, dass die Klinke zwar wie auch gestern nachgab, doch jetzt blieb die Tür verschlossen. Sie hatten ihn also entdeckt und erste Vorkehrungen getroffen.

Ob sie vielleicht gar nicht wirklich weggefahren waren und jetzt irgendwo auf der Lauer lagen? Ein kurzer Moment des Ertapptseins, des Schreckens fuhr durch seine Glieder. Er sah sich um. Weder hörte er etwas Verdächtiges, noch konnte er jemanden entdecken. Sicher machte er sich unnötig verrückt. Natürlich schlossen sie ab, wenn jemand einfach so in den Hof ging. Wahrscheinlich hatte ihn irgendetwas verraten. Er konnte sich jetzt nur noch vorstellen, was es gewesen sein könnte. Er hatte zwar hier und da eine Schublade aufgezogen, doch immer alles wieder genauso an seinen Platz gelegt, wie er es vorgefunden hatte. Und er war sich auch ganz sicher, dass er nichts von sich im Haus hatte liegen lassen. Ob der Hund ihn verraten hatte? Und wenn ja, womit denn eigentlich? Er konnte nicht sprechen.

 

Er beruhigte sich wieder und schlich um den restlichen Hof herum. Alle Fenster und Türen waren verschlossen. Wie langweilig.

Unentschlossen sah zur Vordertür und fragte sich, ob er diese oder doch besser die Hintertür würde öffnen können, ohne, dass es jemand merkte.

Er entschied, dass beides keine gute Idee wäre. Er wollte hier ja nichts zerstören, sondern eher zusammenflicken.

Also ging er wieder auf den angrenzenden Wald zu, suchte nach Chief und legte sich schließlich zu dem Hund, wo er vor fremden Blicken durch das herabhängende Gebüsch geschützt war, falls er einschliefe, genauso wie das Tier.

Einzelteile

 

Jan und Lisa hatten sich auf das Thema Organhandel fokussiert und saßen Stunden schweigend an ihren PCs in der Dienststelle.

»Ich weiß nicht, ob uns das wirklich weiterbringt«, sagte Lisa frustriert. »Ich hol uns mal einen Kaffee.«

Erschrocken sah Jan auf. Er hatte sich durch ein paar Seiten geklickt und war dann in seinen Gedanken versunken.

Sicher, irgendwo verkaufte jemand wichtige Organe. Aber mal ehrlich, ein reger Handel damit ausgerechnet in Ostfriesland? Er konnte nicht so recht daran glauben und war dann irgendwann wieder zu seinem Hof zurückgekehrt und fragte sich, wer sich da herumtrieb. Und vor allem, warum?

Es war jemand in seine Privatsphäre eingedrungen. Schon zum wiederholten Male. Erst der Steinwurf vor ein paar Monaten und jetzt das. Ob es immer noch mit dem Aufenthalt von Helif zusammenhing? Er war doch schon längst wieder in seinem Heimatland, weil Deutschland ihm die kalte Schulter gezeigt hatte.

Nein, eigentlich konnte es nichts mit der Sache zu tun haben, wenn jetzt jemand in seinem Haus herumschnüffelte. Aber womit dann?

Lisa stellte einen Kaffeebecher auf seinem Schreibtisch ab.

»Sag mal, so ganz rund läufst du heute aber auch nicht, oder?«

»Wie?«

Er sah zu ihr auf und doch durch sie hindurch.

»Wo bist du mit deinen Gedanken? Doch ganz offensichtlich nicht bei unserem Fall.«

»Stimmt. Ich habe darüber nachgedacht, wer in unser Haus eingebrochen ist.«

Für dieses »unser« hätte sie ihn in diesem Moment zu Tode knuddeln mögen. Es zauberte ein warmes Gefühl in ihren Nacken, das langsam bis zur Lendenwirbelsäule hinunterkroch.

»Tja ...«, sagte sie. »Eine Sache, die auch noch auf unserer Agenda steht. Aber bestimmt hat es nichts mit unserem Fall zu tun. Oder denkst du etwa doch?«

Er nahm seinen Kaffee und schüttelte mit dem Kopf.

»Nein, das glaube ich nicht. Aber es geht zu weit, wenn man uns bis in unser Privatleben verfolgt.«

»Also doch der Scheißjob«, sagte Lisa und ging wieder zu ihrem Schreibtisch herüber. »Die Sache mit dem Organhandel erscheint mir übrigens ein wenig überzogen.«

»Hab ich auch schon gedacht. Da gibt es bestimmt bessere Orte, zum Beispiel in Großstädten und Ballungsgebieten, wo so etwas weniger auffällt. Und vor allem weniger aufwendig wäre.«

»Hm ... Ostfriesen schrecken ja vor nichts zurück, wie wir mittlerweile festgestellt haben. Aber im Prinzip sehe ich es wie du. Es sei denn, man nutzt hier die Nähe zur Küste, um sie zu verschiffen.«

»Wäre eine Möglichkeit. Also bleiben wir doch noch dran?«

»Hast du eine Alternative?«

»Im Moment nicht.«

 

Sie wandten sich wieder ihren Rechnern zu und Lisa fragte sich, was er gerade dachte.

»Meinst du, es macht Sinn, noch einmal Kontakt zu der Familie des anderen Opfers aufzunehmen?«, fragte sie, als sie nicht mehr die geringste Lust verspürte, auf ihrem PC rumzuhacken.

»Was sollte uns das bringen?«

»Tja, was eigentlich? Ach Mensch, uns fehlt der zündende Gedanke. Kannst du nicht mal was machen?«

Er sah sie stirnrunzelnd an.

»Wir übersehen etwas«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht versteifen wir uns zu sehr darauf, dass die beiden jungen Frauen überhaupt etwas miteinander zu tun haben.«

»Darauf haben uns im Prinzip ja auch nur die Kollegen gebracht«, meinte Lisa. »Aber sie könnten recht haben. Auf jeden Fall geht es um Leichen, die nicht zum Tatort passen.«

»Genau. Das ist der eigentliche Knackpunkt.«

»Aber was soll uns das jetzt sagen? Warum macht jemand so etwas? Will er etwas damit aussagen? Entfernt er die Körperteile nur zum Spaß?«

»Zum Spaß? Nein, das glaube ich nicht.«

Plötzlich brach Lisa in Lachen aus.

»Was ist?«, fragte Jan, »habe ich tatsächlich mal etwas Komisches gesagt?«

»Nein«, schmunzelte sie, »aber ich stelle mir gerade vor, wie unser Chef uns aus der Ferne über eine Kamera beobachtet, wie wir hier lustlos herumhängen. Er würde uns sofort die Hälfte des Gehalts streichen.«

»Der Arsch kann mir gestohlen bleiben«, sagte Jan, »lass uns nach Hause fahren. Ich habe da so ein komisches Gefühl.«

 

Und auch, als sie den schmalen Sandweg zum Hof hinauffuhren, verdichtete sich Jans Vorahnung, dass an diesem Abend noch etwas geschehen würde.

Bevor sie ins Haus gingen, lief er noch einmal um das Gebäude herum.

»Nichts«, sagte er, als er wieder vor dem Haus bei Lisa ankam. »Aber auch Chief ist nirgends zu sehen.«

»Vielleicht haben wir ihn eingesperrt, als wir weggingen«, meinte Lisa und der Hund tat ihr im gleichen Moment leid.

»Nein, ich habe ihn rausgelassen, da bin ich ganz sicher.«

Sie gingen gemeinsam hinters Haus und sahen zum Wald.

»Chief«, rief Lisa mit unsicherer Stimme. »Komme her, alter Freund.«

Es tat sich nichts.

Jan lief weiter auf den Wald zu. Sie wusste, wie es in ihm aussah. Dieser Hund hatte es geschafft, sein Herz zu erobern. Gar nicht so leicht.

»Hier ist er.«

Jan drehte sich um und zeigte auf einen völlig mit Blättern und anderem Gestrüpp verzierten Hund, der verschlafen unter einem Busch hervorkroch.

»Na Gott sei Dank«, sagte Lisa erleichtert. »Dann können wir ja ins Haus gehen.«

»Warte, wir sollten trotzdem vorsichtig sein.«

Jan bückte sich zu Chief herunter und nahm den leicht verwirrten Hund in den Arm. Als er sein Gesicht in das Nackenfell drückte, irritierte ihn etwas.

»Sein Fell riecht nach Zedernholz«, sagte er zu Lisa. »Er war wieder hier.«

»Komm«, flüsterte sie und drehte sich nach allen Seiten um, »vielleicht ist er noch hier. Wir sollten reingehen.«

Jan kam aus der Hocke und machte Chief ein Zeichen, mitzukommen.

 

Im Haus gingen sie von einem Zimmer zum anderen. Es war niemand da.

»Es war gut, dass wir abgeschlossen hatten«, sagte Lisa, als sie in der Küche standen.

»Ja, aber auf Dauer ist das keine Lösung. Vor allem nicht für Chief. Der arme Hund kann ja nicht den ganzen Tag im Haus bleiben. Und draußen auch nicht, wenn es kälter wird.«

»Du hast recht. Eine Lösung ist das nicht. Und offensichtlich will dieser Typ auch gar nichts stehlen oder kaputtmachen. Warum also kommt er überhaupt hier herein?«

»Es muss etwas Persönliches sein«, raunte Jan.

»Persönliches?«, wiederholte Lisa ungläubig. »Für dich oder für mich? Oder sogar für uns beide? Was sollte das sein?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber alles deutet darauf hin, dass sich jemand gerne hier aufhält. Und er riecht nach Zedernholz.«

»Also, ich habe da nichts gerochen, aber sicher hast du recht.«

Er sagte nichts darauf.

»Wir sollten heute Nacht wachbleiben«, schlug Lisa vor. »Ich meine, wir wechseln uns ab, falls er noch mal wiederkommt.«

»Das wird er nicht«, erwiderte Jan.

»Und wieso glaubst du das?«

»Weil er jederzeit hier sein kann, wenn er will. Warum also sollte er sich nachts heranschleichen?«

»Ich finde das Ganze unheimlich«, sagte Lisa. »Vielleicht wäre es doch besser, wenn wir einen Wachplan machen.«

»Ich schlafe sowieso wenig, wenn mich Dinge derart beschäftigen«, sagte Jan. »Ein Plan ist da nicht nötig.«

Sie spürte, dass er irgendwie verärgert schien. Doch sie war nicht bereit, sich selber dafür die Schuld zu geben.

Der vergangene Tod und der nie endende Schmerz

 

Das Schlimmste war, dass sie nicht mehr hatten mit ihr sprechen können. Das Band war für immer zerrissen, als es spät in der Nacht an ihrer Tür klingelte.

Sie war die Erste, die von einem Geräusch von ganz weit weg aus einem tiefen Schlaf gerissen wurde.

Noch benebelt von wirren Gedankenfetzen und dem Geruch nach schlechtem Atem, der ihr ins Gesicht blies, als sie sich auf die Seite legte, realisierte sie dann, dass es die Klingel der Haustür war, die unerbittlich gedrückt wurde. Jetzt schon durchgehend. Das laute schrille Geräusch machte sie böse. War denn da jemand verrückt geworden?

Das nächste war dann ihr Mädchen. Ja, eigentlich konnte es nur sie sein. Plötzlich war sie hellwach. Was war, wenn etwas geschehen war und sie hier in aller Seelenruhe erst einmal zur Besinnung kommen musste. Vielleicht brauchte sie ja ihre Hilfe.

Rüde stieß sie gegen den Arm ihres Mannes, der jetzt neben einem sauren Geruch auch noch ein leises Schnarren aus seinem Mund stieß. Angeekelt rüttelte sie jetzt auch an seiner Schulter, als er einfach nicht wach wurde.

 

Zwei Wochen später standen sie an ihrem offenen Grab.

 

Die ganze Schule war gekommen, um von dem beliebten Mädchen Abschied zu nehmen. Sie war Schülersprecherin und half jedem, der sich an sie wandte. In der Nachbarschaft kannte man sie als hilfsbereit und immer besorgt um die Älteren in der Bevölkerung. Für manche ältere Dame, die nicht mehr so rege und alleine war, erledigte sie die Besorgungen und trank hinterher noch Tee mit ihr, damit die Einsamkeit wenigstens für ein paar Stunden verflog.

Nein, es gab niemanden, der fassen konnte, dass ausgerechnet sie tot war.

Ihrer Mutter brach es das Herz. Sie starb nur wenige Monate später an einem Schlaganfall.

 

Die ganze Grabstelle war ein Blumenmeer. Stiefmütterchen in allen Farben, die sie so geliebt hatte, säumten das Grab und die Mutter wäre gerne mit hineingesprungen, wenn ihr Mann sie nicht zurückgehalten hätte. Vielleicht wusste sie schon da, dass sie ihrer Tochter bald folgen würde. Sie trug so schwer an dem Verlust, dass sie bis zu ihrem Tod nicht mehr auch nur ein Wort gesprochen hatte.

Der graue Morgen

 

Es war tatsächlich so gewesen, dass auch der Abend von einer derart schlechten Stimmung geprägt war, dass Lisa gegen zweiundzwanzig Uhr beschloss, ins Bett zu gehen.

»So früh schon?«, hatte Jan gefragt.

Sie hatte Kopfschmerzen vorgeschoben. Und wenn er doch noch schlafen wolle, dann sollte er sie einfach wecken.

Nichts dergleichen war passiert. Und als sie aus dem Bad kam, da stand Jan bereits fertig angezogen am Fenster. Vielleicht hatte er sich in der Nacht auch gar nicht ausgezogen. Es waren dieselben Sachen wie gestern.

 

»Morgen«, sagte sie und klang unsicher.

»Morgen Lisa.«

Er drehte sich zu ihr um.

»Es tut mir leid, dass ich gestern so mies drauf war«, sagte er, »eigentlich wollte ich das gar nicht. Ich weiß auch nicht so genau, was im Moment mit mir los ist. Ich fühle mich manchmal, als würde ich emotional erfrieren.«

Bitte? Hatte sie richtig gehört? Was redete er denn da? Ihm musste es wirklich dreckig gehen. Schnell stand sie neben ihm.

»He, es war doch eigentlich gar nichts. Jeder ist mal mies drauf, deshalb muss doch nicht gleich die Welt untergehen.«

»Das ist sie doch schon längst, wir haben es nur noch nicht gemerkt.«

Eindeutig eine Depression. Aber wie sollte sie ihm helfen? Das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel, war, Viola. Sie musste sie verständigen.

»Weißt du was, ich hole uns mal frische Brötchen«, sagte sie und schnappte sich auch schon ihre Jacke. »Bin gleich wieder zurück.«

 

Als sie im Wagen saß und losfuhr zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte Violas Nummer. Während es klingelte, betete sie, dass die Psychologin abnahm.

»Hallo«, sagte sie dann und stoppte den Wagen. »Hier ist Lisa ...«.

»Lisa?«

»Ja, die Lisa von Jan ... oder besser gesagt, seine Kollegin.«

»Ach so, der Hof. Jetzt weiß ich wieder. Was kann ich denn für dich tun?«

Viola klang fahrig, dachte Lisa. Sicher war sie im Stress. Ein Patient nach dem anderen. Sie gaben sich die Klinke in die Hand, weil sie, genau wie Jan, mit der Kälte nicht mehr klarkamen. Und jetzt, wo sie Viola am Telefon hatte, da kam es ihr plötzlich wie Verrat vor, wenn sie ihn vor ihr bloßstellte.

»Weißt du Viola, ich hab irgendwie die falsche Nummer gedrückt, sorry.«

Sie wusste, dass das albern klang.

»Falsche Nummer. Hm ...«.

»Ja, muss irgendwie beim Autofahren passiert sein. Deshalb wunderte ich mich auch, dass du nicht sofort wusstest, wer dran ist.«

»Kein Problem«, sagte Viola, »dann legen wir jetzt auf. Ich hab sowieso schon den nächsten Patienten vor der Tür sitzen. Bis bald.«

Sie legten auf.

Lisa starrte noch eine Weile auf ihr Handy. Was für eine Welt, in der nicht einmal eine doch eigentlich befreundete Psychologin sich nach Jans Befinden erkundigte. Wie gut, dass sie nichts gesagt hatte.

Sie fuhr weiter zum Kiosk, schließlich wollte sie ja Brötchen holen.

 

Jan war währenddessen mit Chief nach draußen gegangen. Er saß auf der blauen Bank und fragte sich, warum Lisa ihn anlog. Er hatte genau gehört, wie sie nur wenige Meter entfernt den Wagen wieder gehalten hatte. Brötchen holen? Sowas hatte sie doch noch nie gemacht. Meistens interessierte es sie gar nicht, was sie morgens aß. Sie benahm sich komisch. Oder war er selber komisch? Sicher. Sie konnte nichts mit seinen Anwandlungen anfangen. Und gestern war er wirklich unfair zu ihr gewesen.

Das erste Mal bedauerte er wirklich, dass sie hier bei ihm eingezogen war. Das Leben war so leicht, wenn man niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen musste und einfach mürrisch oder verwirrt sein konnte, wenn einem danach war.

Er stand auf und folgte Chief in Richtung Wald. Ein wenig Bewegung würde ihm sicher gut tun.

Der Hund lief wieder zu der Stelle, wo er gestern geschlafen hatte. Er wirkte wie ferngesteuert. Dann kroch er auch noch ins Gebüsch. Ob da etwas war?

Jan ging in die Hocke und kroch schließlich auf allen Vieren hinter dem Hund her. Dann sah er, dass Chief etwas entdeckt hatte.

Schulter an Schulter saßen sie im Geäst und starrten auf ein weißes Blatt Papier.

Jan griff danach. Als er es umdrehte, war es nicht mehr weiß. Er erkannte eine Zeichnung. Ein Gesicht. Als er es höher dem Licht entgegenhob, da sah er sich selbst.

Der Geruch von Zedernholz ... Bleistifte ... fuhr es durch seinen Kopf. Deshalb dieser Geruch. Der Eindringling war jemand, der zeichnete. Aber warum ausgerechnet ihn?

Er faltete das Papier in der Mitte, steckte es in seine hintere Jeanstasche und kroch aus dem Gebüsch rückwärts wieder hinaus. Chief folgte ihm und sich an dem Hund festhaltend kam Jan wieder hoch. Seine Knie fühlten sich taub an. Er hatte wohl lange da gesessen und auf das Bild gestarrt.

Dann hörte er, wie Lisa nach ihm rief.

»Jan! Wo bist du?«

Es klang Verzweiflung und Angst in ihrer Stimme mit.

»Hier!«, rief er zurück und ging ihr entgegen.

Sie sah so erleichtert aus, als sie ihm gegenüberstand.

»Was hast du da gemacht?«, fragte sie und ihre Stimme zitterte.

Hatte sie denn wirklich geglaubt, er würde sich etwas antun? Sie tat ihm in diesem Moment leid. Einfach nur leid. Er ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Lisa begann leise zu weinen. Dann boxte sie ihn in die Seite.

»Du Idiot ... ich hab mir Sorgen gemacht«, schluchzte sie.

»Ist ja gut«, beruhigte er sie. »Ich mach das nie wieder.«

Sie schluckte, dann löste sie sich aus seiner Umarmung und sah ihn mit in Tränen schwimmenden Augen an.

»Was hast du hier gemacht?«

Er zog das weiße Blatt Papier aus seiner Hosentasche und faltete es auseinander.

»Das bist du«, sagte Lisa ungläubig und wischte über ihre Augen, weil sie vielleicht etwas sahen, das gar nicht da war.

Er nickte.

»Ist das von ihm?«

Er nickte wieder.

»Ich glaube schon. Ich habe es dort unter dem Busch gefunden, unter dem Chief gestern geschlafen hat.«

»Was hat das zu bedeuten?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht. Aber so erklärt sich der Geruch nach Zedernholz. Das Bild ist mit einem Bleistift gezeichnet worden.«

»Verstehe«, sagte Lisa. »Aber was will er von dir? Warum macht er das alles?«

»Lass uns erst mal wieder reingehen und Kaffee trinken«, schlug Jan vor. Plötzlich fröstelte es ihn. Die Frage, was Lisa da im Wagen gemacht hatte, während sie vorgab, nur Brötchen holen zu wollen, hing immer noch zwischen ihnen. Vielleicht hatte sie auch nur geweint, dachte er dann.

 

Das Bild lag auf dem Tisch, als sie den Kaffee einschenkte.

»Es ist gut getroffen«, meinte sie. »Auf jeden Fall ist der Typ begabt.«

»Du glaubst, dass es ein Mann ist?«

»Auf jeden Fall. Sonst wären die Gesichtszüge anders gezeichnet.«

Jan sah auf das Bild und somit auf sich selbst. Konnte es wirklich sein, dass Männer und Frauen ein anderes Bild von ihm zeichnen würden? Er war doch immer derselbe.

»Sagst du mir, was du im Wagen gemacht hast, als du vorhin nicht weit von hier stehengeblieben bist?«, fragte er unvermittelt und sie fühlte sich ertappt.

Lisa räusperte sich, bevor sie antwortete.

»Ich hab mit Viola telefoniert«, gab sie zu. »Doch bevor du wieder sauer wirst, ich habe ihr nichts gesagt ...«.

»Was gesagt?«

»Ach, nicht so wichtig. Aber ich habe ihr dann gesagt, dass ich mich wohl verwählt hätte.«

Und was wolltest du ursprünglich von ihr, das hätte er jetzt fragen können, ließ es aber auf sich beruhen, weil er die Antwort schon kannte.

»Wir sollten uns auf den Eindringling konzentrieren«, sagte Jan.

»Genau. Ob er etwas mit den überzähligen Opfern zu tun hat?«

»Schwer vorstellbar. Dann müsste es ja auch einen Zusammenhang zu mir geben. Ich meine, zwischen den Opfern und mir. Und das ist doch recht unwahrscheinlich. Ich kannte keine von den beiden jungen Frauen.«

»Sicher?«

»Ganz sicher. Ich vergesse selten die Namen von Frauen ohne Kopf oder Augen.«

Sie sah ihn zunächst unsicher an, dann lächelte sie. Schließlich platzte es aus ihr heraus. Ein befreiendes Lachen, das sagte, es ist alles wieder gut zwischen uns.

 

Danach wurden sie wieder ernst.

»Wenn diese Zeichnung und der Eindringling nichts mit unserem Fall zu tun haben, dann sollten wir das Ganze aber hintenanstellen«, sagte Lisa. »Offensichtlich will er nichts Böses.«

»Du hast recht«, stimmte Jan zu. »Ich werde die Türen nicht mehr abschließen. Es kann ja auch sein, dass es ein armer fast verhungerter junger Künstler ist, der einfach nur was zu essen gesucht hat.«

So ganz richtig lag er damit nicht. Und so ganz falsch war es auch nicht. Doch das wusste er in diesem Moment ja nicht.

Gas geben

 

Es war, als wären sie durch einen Jungbrunnen gegangen. Als Jan und Lisa in der Dienststelle ankamen, da waren sie voller Tatendrang. Doch wussten sie nicht, wohin damit.

»Nochmal die Theorie mit dem Organhandel aufwärmen?«, fragte Lisa. »Ich meine, bevor wir gar nichts haben, ist das besser als nichts.«

»Sicher, du hast recht.«

Ohne weitere Widerworte ging Jan an seinen Schreibtisch, schaltete den Rechner an und begann zu recherchieren.

Lisa machte es ebenso.

Es war still im Büro. Und doch spürte man förmlich die Energie in diesem Raum, die von den beiden ausging. Irgendetwas war in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen. Eine dunkle Wolke, die sich über sie gelegt hatte, schien sich langsam zu verziehen.

 

»Ich hab da eine komische Sache«, sagte Lisa nach einer gefühlten Ewigkeit.

Jan streckte seinen Rücken durch und legte die Hände verkreuzt in den Nacken.

»Was denn?«, fragte er, froh über die Unterbrechung.

»Da war so eine Sache im letzten Sommer ... ein Autounfall, bei dem ein junges Mädchen ins Koma gefallen ist. Sie war mit ihren Eltern in Urlaub auf Mallorca. Man hat sie dort in ein Krankenhaus gebracht, wo sie praktisch über Nacht für Hirntod erklärt wurde und kurz darauf verstorben ist.«

»Harter Tobak für die Eltern.«

Jan stand auf und kam zu Lisa an den Schreibtisch.

»Ja, finde ich auch krass. Hier steht, dass die Eltern gegen die Klinik vor Gericht gezogen sind. Ein Ende des Prozesses ist wohl nicht absehbar. Du weißt ja, wie es ist, wenn man gegen Ärzte klagt.«

»Dauert ewig und am Ende hat man die Arschkarte.«

»Eben.«

»Und wie passt das jetzt zu unserem möglichen Fall?«

»Tja, die Sache wird noch komplizierter. Man hat hier in Deutschland dann eine illegale Organentnahme festgestellt, die erst nach der Überführung nach Deutschland entdeckt wurde.«

Jan runzelte ungläubig die Stirn.

»Zu Hause haben die Eltern den Leichnam noch einmal untersuchen lassen, weil sie der Sache in dem Krankenhaus nicht getraut haben. Da wussten sie noch gar nichts von der Organentnahme. Aber sie wollten einfach wissen, was los war. Warum ihre Tochter gestorben war. Einfach aus einem Bauchgefühl heraus.«

»Und dann?«

Jan setzte sich auf die Schreibtischkante und verschränkte die Arme vor der Brust. Lisa registrierte, dass er mindestens fünf Pfund abgenommen haben musste in der letzten Zeit.

»Dann haben sie in der Gerichtsmedizin festgestellt, dass man das Herz des Mädchens ausgetauscht hatte.«

»Gegen was? Haben sie etwa einen Stein an die Stelle gelegt?«

»Nein, Blödmann. Es war ein Schweineherz.«

»Ein Schweineherz«, wiederholte Jan ungläubig. »Hört sich das etwa auch nach organisiertem Organhandel an? Macht sich jemand so viel Arbeit, nur um das Herz eines jungen Mädchens zu verkaufen?«

»Anscheinend schon. Und vielleicht hat man sogar gehofft, dass das niemand mitbekommt. Nur, weil die Eltern so misstrauisch waren und das Mädchen in die Gerichtsmedizin gaben, ist die Sache aufgeflogen.«

»Hammerhart. Und du sagst, das war in Oldenburg? Wieso wissen wir nichts davon?«

»Weil es dann wohl eine Sache für das LKA war, eine Nummer zu groß für uns Trampel vom Dienst.«

»Typisch. Aber ist es denn sicher, dass das Herz auf der Insel entfernt wurde?«

Lisa beugte sich vor und überflog noch einmal den Artikel.

»Hm ... die Eltern gehen jedenfalls davon aus, deshalb klagen sie ja gegen die Klinik auf Mallorca.«

»Wenn du mich fragst, dann stinkt die Sache zum Himmel. Kannst du mal versuchen, ob man uns Akteneinsicht gewährt?«

»Klar, kann ich machen. Und du?«

»Ich gehe jetzt mal an die frische Luft, den Kopf freikriegen. Auf dem Rückweg bringe ich uns eine Pizza mit.«

 

Lisa wunderte sich, oder auch nicht. Jan war eben Jan. Sie machte sich jedenfalls an die Arbeit. Vielleicht war an der Sache was dran.

 

Draußen lief Jan Viola praktisch in die Arme. Er erinnerte sich daran, was Lisa gesagt hatte. Sie hatte mit ihr telefoniert. Und wenn sie die Wahrheit sagte, dann wusste Viola nichts von seinen letzten Aussetzern.

»Hallo Jan«, sagte Viola und wirkte gehetzt.

»Hallo Viola«, erwiderte Jan. »Dich hätte ich am wenigsten hier erwartet.«

»Kann ich mir vorstellen. Ich bin auch auf dem Sprung. Deshalb sei nicht böse, aber ich muss weiter.«

»Sicher, kein Problem. Langeweile schieben eigentlich nur wir von der Kripo.«

Sie sah ihn irritiert an, entschied sich dann, nicht auf seine Ironie einzugehen, nickte ihm zu und war im nächsten Moment durch die Tür nach draußen verschwunden.

Jan, der keine Lust hatte, sich über ihr absurdes Verhalten, Gedanken zu machen, wartete ein paar Sekunden, dann ging er ebenfalls vor die Tür.

Auf dem Parkplatz sah er nur noch, wie sie im Wageninneren verschwand. Sie musste förmlich zu ihrem BMW gerannt sein.

 

Als er die Innenstadt erreichte, hatte er Viola bereits aus seinem Gedächtnis gestrichen. Er sah sich kurz um, hatte dann keine Lust, weiterzulaufen, und ging in die nächstbeste Pizzeria und bestellte sich einen Chianti und zwei Pizzas zum Mitnehmen.

Während er an einem der hinteren Tische wartete, fiel ihm ein junger Mann auf, der alleine an einem Tisch saß und sich an einem Glas Wasser festhielt.

Er wirkte schüchtern. Oder besser gesagt fremd. Er passte irgendwie nicht nach Aurich. Aber warum, das hätte Jan in diesem Moment gar nicht sagen können. Dann servierte ihm ein Kellner einen Teller mit Spaghetti und Jan vermied es, ihn auch noch beim Essen zu beobachten.

Er hatte sein Glas Chianti bereits eine Weile geleert, als dann auch die Pizzas fertig waren.

Er zahlte und lief schnurstracks wieder zur Dienststelle.

 

»Da bist du ja endlich«, empfing ihn Lisa. »Mein Magen hängt in den Kniekehlen.«

Sie setzten sich an den Besuchertisch und aßen direkt aus den Schachteln.

»Und? Kriegen wir den Bericht?«, fragte Jan.

Lisa nickte, weil sie gerade einen großen Bissen in den Mund gesteckt hatte.

»Das ist gut.«

»Kommt gleich per Mail«, sagte Lisa, als sie das Pizzastück runtergewürgt hatte. »Eigentlich mag ich gar keine Salami, das weißt du doch.« Sie schob die Wurstscheiben beiseite.

»Stimmt, jetzt, wo du es sagst.«

»Aber egal. Auf jeden Fall bekommen wir den Bericht und entschuldigt hat sich der Kollege auch gleich. Sagte irgendwas von Überlastung im letzten Sommer wegen Urlaubszeit und so. Außerdem dachte er nicht, dass es für uns so wichtig wäre, da ja das LKA an der Sache im Zusammenhang mit Mallorca dran war.«

»Okay, kann man verstehen. Aber jetzt könnte es wichtig für uns werden.«

»Meinst du wirklich? Ich habe da immer noch so meine Zweifel. Ein Schweineherz, das ist doch echt makaber. Und außerdem ist die ganze Sache auf Mallorca passiert.«

»Sagt wer?«

»Wie bitte?«

»Na, wer sagt eigentlich, dass das Herz wirklich auf Mallorca ausgetauscht worden ist?«

»Der Gerichtsmediziner, das LKA, die Staatsanwaltschaft ... brauchst du noch mehr, die davon ausgehen, oder reicht das fürs Erste?«

»Ach, und deshalb schluckst du es auch?«

Jan sah sie herausfordernd an.

»Lisa, eigentlich kenne ich dich anders.«

»Okay. Dann behaupte ich jetzt, das Herz wurde erst in Oldenburg ausgetauscht. Zufrieden.« Sie grinste.

»Oh ja, so gefällst du mir schon besser. Wo kam die Familie eigentlich her? Ich meine, wo wohnen sie?«

»Hm ... ich glaube, sie wohnen irgendwo an der Küste. Aber genauer müsste ich es nochmal nachlesen.«

»Mach das bitte gleich. Ich möchte mit den Eltern sprechen.«

Sofort, nachdem sie fertig waren, begann Jan, den Tisch abzuräumen und den Müll zu entsorgen, während Lisa sich den Fall nochmal vornahm.

»Es ist in der Nähe von Greetsiel«, rief Lisa zu ihm herüber.

»Gut, dann ruf doch bitte mal an, ob sie Zeit für uns haben.«

»Haben Sie.«

Sie gingen zum Wagen. Teils mit dem guten Gefühl, endlich etwas Konkretes unternehmen zu können und dann auch, weil es sie von anderen Dingen ablenkte, an die sie lieber nicht denken wollten. Jedenfalls Jan nicht.

 

Das Haus, bei dem sie bald darauf ankamen, wirkte so traurig wie die Eltern, mit denen sie dann bei einem Kaffee am Küchentisch saßen.

Die Frau war verhärmt und es ließ sich erahnen, dass sie ihren Kummer viel zu oft im Alkohol ertränkte, während ihr Mann sich auf den Bau von Vogelhäuschen spezialisiert zu haben schien, denn der ganze Garten stand voll damit.

Was sie schließlich erfuhren, war nicht viel mehr als das, was Lisa bereits dem Zeitungsartikel entnommen hatte.

Neu war nur, dass das Gericht vor ein paar Tagen entschieden hatte, das die Klinik auf Mallorca nicht schuldig war. Wie auch immer das Herz von Emma abhandengekommen war, die Ärzte auf der Sonneninsel waren in jeglicher Hinsicht entlastet worden.

Die Eltern wirkten vielleicht deshalb wie gelähmt. Wer überstand es schon unbeschadet, wenn sein geliebtes Kind plötzlich ein Schweineherz trug? Sicher würde die Sache nie aufgeklärt werden, denn auch das LKA hatte laut Aussage der Eltern bereits darum gebeten, von weiteren Anrufen abzusehen. Man würde sich melden.

Jan ließ sich dann noch das Zimmer von Emma zeigen. Es war noch genauso wie im letzten Jahr.

»Wir haben nichts verändert«, sagte die Mutter und schluckte. »Es ist doch Emmas Zimmer.«

 

»Und jetzt?«, fragte Lisa, als sie wieder draußen standen.

»Wir werden die Sache nicht auf sich beruhen lassen«, sagte Jan. »Auch wenn die Kollegen vom LKA den Deckel drauf gemacht haben, heißt das ja nicht, dass die Sache geklärt ist.«

»Das ist sie offensichtlich nicht. Schließlich fehlt das richtige Herz.«

Jan kniff die Augen zusammen und starrte Lisa an.

»Was ist?«, fragte sie irritiert. »Habe ich was Falsches gesagt?«

»Im Gegenteil, fürchte ich«, sagte er und entspannte sich wieder. »Das richtige Herz ... für irgendjemanden war das Herz von Emma genau das Richtige. Aber warum?«

»Mein Gott, du hast recht ... was machen wir jetzt? Wir wissen doch gar nichts über das Mädchen.«

»Und auch noch nichts über das andere, dem man den Kopf gestohlen hat. Mensch, verdammter Mist. Wie konnten wir nur so blind sein?«

»He, wir haben doch erst jetzt den ersten plausibel wirkenden Zusammenhang erkannt.«

»Ja, aber vielleicht zu spät, um ... ach egal. Wir müssen da noch mal rein, auch wenn ich Vogelhäuschen nicht ausstehen kann.«

 

Es dauerte diesmal über eine halbe Stunde, bis sie das Haus von Emmas Eltern wieder verließen. Sie wussten jetzt viel über das junge lebensfrohe Mädchen, das Emma einmal gewesen war. Sie schien ihr Herz am rechten Fleck gehabt zu haben.

 

Dann fuhren sie nach Esens, um mit den Eltern von Hella zu sprechen.

 

»Polizei?«, fragte eine Frau mit groben Gesichtszügen und einem rotweiß karierten Tuch, das hinten am Kopf zusammengebunden war. Eindeutig eine Bäuerin, wie man sie von früher kannte.

»Ja, tut uns leid, wenn wir stören«, begann Lisa, als sie merkte, dass Jan sich aus unerfindlichen Gründen nicht von dem Anblick dieser urwüchsigen Frau lösen konnte. »Es geht um Hella ...«.

Augenblicklich machte die Frau dicht.

»Hella ist schon lange tot. Wissen Sie das nicht?«

Automatisch versperrte sie mit ihrer großen Gestalt die Tür und ließ diese nur noch einen Spaltbreit offenstehen, so dass sie wie eine Stimme ohne Gesicht zu ihnen sprach, da man sie im Dunkel des Flurs nur noch erahnen konnte.

»Wir wissen, was mit Hella passiert ist«, fuhr Lisa fort. »Und es tut uns auch sehr leid ... können wir vielleicht für einen kurzen Moment reinkommen? Es geht nur um ein paar Fragen.«

Plötzlich wurde die Tür aufgezogen und ein Bär von Mann stand im Türrahmen.

»Was ist hier los?«, fragte er und seine schwarzen Fingernägel fielen Jan als Erstes ins Auge.

»Kripo Aurich«, wiederholte Lisa. »Wir müssten Sie wegen Hella sprechen, Ihrer Tochter.«

»Hella?«, sagte er, als wüsste er nicht, um wen es überhaupt dabei ging. »Was ist denn hier los, Trude? Warum lässt du die Leute nicht rein?«

Er nickte den beiden zu und sie folgten dem Ehepaar in einen dunklen Flur, der erst erhellt wurde, als Trude die Küchentür öffnete und Licht nach außen fiel.

»Mach Tee«, sagte der Mann, der sich als Otto vorgestellt hatte. Trude machte sich darauf am Wasserkessel, der auf einem Ofen stand, zu schaffen.

Kurz darauf standen gelb angelaufene Teetassen, Kandis und Sahne auf dem Tisch.

»Ja, wie gesagt«, begann Lisa erneut, »es geht um Ihre Tochter Hella. Sie ist vor über zehn Jahren wohl bei einem Brand umgekommen, oder?«

»Jedenfalls hat die Polizei das damals so dargestellt«, brummte Otto. Er legte seine Hände auf den Tisch und scherte sich nicht darum, dass sie voller Erde waren. Und das wohl nicht zum ersten Mal. Das helle Holz war nur noch an den Kanten zu erahnen.

»Sie glauben nicht, dass es so war?«, fragte Jan und sein Blick verfing sich wieder an den schwarzen Fingernägeln.

»Was weiß man schon«, entgegnete der Vater. »Als kleiner Mann muss man alles glauben, was einem die Polizei sagt.«

»Nun, wir würden aber gerne Ihre Version hören«, entgegnete Jan und überging den Hieb gegen seinen Berufsschlag.

»Version?« Er fuhr sich mit seiner schmutzigen Hand um den Mund und wischte dabei angetrockneten Speichel aus den Winkeln.

Den Tee trinke ich hier nicht, dachte Lisa und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, alleine, damit sie mit so wenig wie möglich in diesem Haus in Berührung kam.

»Was ist damals passiert?«, fragte Jan. »Bitte sagen Sie uns, was damals passiert ist mit Hella?«

Der Vater sah ihn plötzlich klar und freundlich an. Vielleicht war es wirklich das erste Mal, dass ihn jemand nach seiner Meinung zu der Sache fragte.

Dann brachte Trude den Tee auf den Tisch und Otto begann, ganz weit zurückzublicken und erzählte.

 

Es war ein schöner warmer Herbsttag gewesen, damals im September 2006. Hella hatte einen schönen Trip nach Griechenland beendet, den ihre Eltern ihr zum guten Abschluss des Abiturs im Frühjahr geschenkt hatten.

Im Oktober würde sie ein Studium der Germanistik beginnen. Weit weg von Zuhause. Trude sah dem Auszug der Tochter mit gemischten Gefühlen entgegen, während Otto dafür plädierte, ihr alle Möglichkeiten zu eröffnen, damit sie es später besser haben würde im Leben. Was auch immer er darunter verstand, Trude teilte seine Meinung nicht. Was war falsch an ihrem Leben als Hausfrau und Mutter, die für die Familie sorgte? Sie jedenfalls war in dem Glauben erzogen worden, dass es eine gute Sache war, wenn man einen Mann, der einen versorgte, an seiner Seite wusste.

Warum auch immer Otto zu ganz anderen Ansichten gelangt war, Hella schließlich war froh über die Unterstützung.

Sie hatte sich schon immer für Literatur interessiert und war schon als kleines Mädchen eine Leseratte gewesen. Sie sog die Bücher geradezu auf. Und vielleicht war es das, was Otto an seiner Tochter bewunderte. Sie wusste etwas mit sich anzufangen. Bei seiner Frau hatte er da manchmal so seine Zweifel, wenn sie zum tausendsten Mal am Tag mit einem Lappen über den Wohnzimmerschrank wischte, in dem es nicht ein einziges Buch gab.

Otto war auch nicht gerade das, was man belesen nennen konnte, doch er hatte aus seinem Elternhaus eine gewisse Portion Freiheitsdrang mitbekommen, weil sein Vater zur See fuhr. Deshalb musste seine Mutter zuhause alles alleine regeln und ging nebenbei noch ehrenamtlich in die Gemeindebücherei, um dort auszuhelfen. Otto wurde als Kind nie gefragt, ob ihn Bücher interessierten. Aber was sollte er machen, wenn er über Stunden mit seiner Mutter zwischen den Regalen hockte. Vielleicht hatte seine Tochter den Hang zu Büchern von ihm geerbt. Und das machte ihn ein wenig stolz.

 

An diesem besagten Herbstabend wollte Hella mit ein paar Freundinnen am Strand feiern. Den ganz großen Abschied, wie sie es nannten. Es ging nach Neuharlingersiel.

Und natürlich würden auch Jungen dabei sein. Doch Hella hatte bisher noch keinen festen Freund. Sie liebte und lebte für ihre Bücher.

Sie fuhr mit dem Wagen der Eltern gegen neunzehn Uhr los. Da stand die Sonne bereits tief am Himmel, wärmte aber noch. Sie wollte zwei Freundinnen auf dem Weg abholen und der Wagen würde bei der Touristeninformation über Nacht stehenbleiben. Ein Bekannter würde bei Otto am nächsten Morgen vorbeikommen und den Wagen mit ihm abholen. Hella hatte mit ihren beiden Freundinnen ein großes Zelt eingepackt. Sie würde schon irgendwie wieder nach Hause kommen, hatte sie augenzwinkernd gesagt. Die Eltern müssten sich wirklich keine Sorgen machen.

Zunächst taten sie das auch nicht.

Gegen zwölf Uhr stand am nächsten Tag, einem Sonntag, wie gewohnt das Essen auf dem Tisch. Braten mit Soße, Kartoffeln und Gemüse, dazu einen Nachtisch. Niemals würde es bei Trude an einem Sonntag etwas anderes geben.

Als sie gegen sechzehn Uhr den Tee mit dem Rosinenstuten auf den Tisch brachte, war Otto der Erste, dem die Worte »so langsam mache ich mir Sorgen« über die Lippen kamen. Trude hatte da schon alle fünf Minuten zur Uhr gesehen, aber den Mund gehalten.

Hella tauchte nicht wieder auf.

Als die Sonne untergegangen war, rief Otto die Polizei.

Erst zwei Monate später wurde ihre Leiche bei einem Hausbrand entdeckt. Sie kannten die Leute in Wittmund nicht und konnten sich nicht erklären, warum Hella dort gewesen war, als das Unglück passierte.

 

Trude hatte sich tapfer gehalten, aber als Otto bei der Stelle angekommen war, wo man Hella in der Ruine gefunden hatte, da brach es aus ihr heraus. Sie weinte und rannte aus der Küche.

Jan und Lisa vermieden es, jetzt den Vater auch noch auf den fehlenden Kopf anzusprechen. Die Sache war so schon schwer genug für ihn, das spürten beide.

»Das Ehepaar hat den Verlust bis heute nicht überwunden«, sagte Jan, als sie wieder im Wagen saßen.

»Ich bin mir sicher, dass man als Eltern nie über so etwas hinwegkommt«, stimmte Lisa zu. »Aber es ist doch merkwürdig, dass Hella bis zu dem Tag nichts mit der Familie in Wittmund zu tun hatte. Die hatten ja nicht mal Kinder in dem Alter.«

»Und wenn ich es richtig verstanden habe, dann gab es niemanden von Hellas Freundinnen, die die Familie in Wittmund kannte. Ich finde das alles höchst sonderbar.«

»Viele junge Mädchen haben Geheimnisse. Vielleicht hatte Hella ja ein Verhältnis mit dem Hausbesitzer«, schlug Lisa vor. »Ein junger Familienvater, die Mutter ist mit zwei Kindern im Vorschulalter beschäftigt. Da wäre es nicht verwunderlich, wenn er sich eine jüngere Geliebte sucht.«

»Findest du das wirklich so normal?«, fragte Jan und sah sie nachdenklich an.

»Normal? Was ist schon normal? Aber es muss doch einen Grund dafür gegeben haben, dass man Hella in dem abgebrannten Haus bei der Familie Weber gefunden hat.«

»Und wahrscheinlich werden wir den nie erfahren«, sagte Jan und ließ den Wagen an.

Familienbande

 

Es war schon nach acht, als sie sich auf dem Hof mit einem Glas Wein und ein paar Scheiben Käsebrot auf das große Sofa in die Küche setzten.

Vorher waren sie noch in der Dienststelle vorbeigefahren, wo es aber nichts Neues für sie gab.

Nur die Mutter von Gina hatte sich nochmal gemeldet, weil sie wissen wollte, wann ihre Tochter endlich für das Begräbnis freigegeben werden würde.

 

»Wir haben jetzt drei junge Mädchen, bei denen es mysteriöse Vorkommnisse gibt«, resümierte Lisa. »Hella wurde mit größter Wahrscheinlichkeit ermordet.«

»Und Gina denke ich auch«, fügte Jan hinzu. »Es ist unwahrscheinlich, dass sie einen Unfall hatte und dann jemand ihre Augen gestohlen hat.«

»Denke ich auch. Aber dennoch wurde Gina bei einem Unfallort geborgen.«

»Richtig. Und Hella bei einem Hausbrand.«

»Nur Emma scheint an einem natürlichen Tod, wenn man bei einem Autounfall davon sprechen kann, gestorben zu sein. Allerdings hat man ihr Herz gestohlen und gegen ein Schweineherz ausgetauscht.«

Sie nippten an ihren Weingläsern und schwiegen eine Weile.

»Alles junge Mädchen«, sagte Jan mehr zu sich selbst. »Und auch, wenn Hella schon vor über zehn Jahren gestorben ist, so lässt mich das Gefühl nicht los, dass sie alle drei etwas miteinander zu tun haben.«

»Aber was?«, seufzte Lisa und nahm sich ein Stück Käsebrot.

»Wir müssen ganz kleine Brötchen backen«, sagte Jan, »dann kommen wir vielleicht dahinter.«

Er stand auf und holte einen Notizblock, der auf der Küchenanrichte lag, und legte ihn vor sich auf den Tisch. Dann nahm er sich einen Kugelschreiber und schrieb HELLA links oben in die Ecke.

Danach schrieb er etwas weiter in die Mitte EMMA und schließlich rechts GINA.

»Sie hieß Regina«, sagte Lisa, als sie auf den Zettel sah.

»Aber alle haben sie doch Gina genannt.«

»Ihre Mutter hat immer Regina gesagt. Vielleicht ist es für deine Übersicht wichtig, wenn du von dem eigentlichen Namen ausgehst.«

»Du könntest recht haben«, gab Jan nach und schrieb noch ein RE vor den Namen GINA, so dass rechts jetzt REGINA stand.

»Und wieso hast du so viel Platz zwischen den Namen gelassen?«, fragte Lisa. »Wegen des langen Zeitraumes?«

Jan nickte.

»Du denkst, dass es dazwischen noch andere Namen junger Frauen gibt, die du einfügen könntest.«

»Ich ziehe diese Möglichkeit in Betracht.«

Sie sah ihn nachdenklich an.

»Wenn man die Anfangsbuchstaben nimmt, dann steht da jetzt HER. Was könnte das bedeuten, wenn überhaupt?«

»Keine Ahnung. Vielleicht sind ja auch die Endbuchstaben der Namen ausschlaggebend. Oder vielleicht ist alles völlig gleichgültig, weil sie gar nichts miteinander zu tun haben.«

Jan wirkte frustriert.

»He, deshalb habe ich das nicht gefragt. Ich finde ja gut, dass wir jetzt immerhin anfangen, die richtigen Fragen zu stellen.«

»Du denkst also auch, dass alles zusammenhängt?«

»Irgendwie schon. Es ist nur so frustrierend, wenn man nicht weiß, was dahinter steckt.«

»Ja. Das stimmt.«

»Auf der anderen Seite haben wir jetzt drei Namen. Das ist doch schon mal was. Und Regina ist, wenn wir unsere Theorie weiterspinnen, das letzte Opfer.«

»Du meinst, der Täter hat mit den Augen sein Werk vollendet?«

Lisa zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß ja nicht, was er da treibt. Aber wir müssen auf jeden Fall im ostfriesischen Raum und ruhig auch über die Grenzen hinweg die Kollegen dafür sensibilisieren, woran wir gerade arbeiten. Auch wenn du vielleicht anders darüber denkst, aber ich finde, das könnte uns helfen.«

»He, ich bin ja nicht dagegen«, protestierte Jan.

Doch sie wusste, dass er sein Süppchen lieber für sich alleine kochte. Insofern genoss sie ein ganz besonderes Privileg, dass er sie überhaupt in seine Gedankenwelt Einblick nehmen ließ.

»Wenn wir den Gedanken weiterspinnen«, fuhr sie fort, »dann könnte Hella unser erstes Opfer sein.«

Jan nickte. Er wollte gerade etwas erwidern, als er meinte, ein Geräusch zu hören. Er legte den linken Zeigefinger auf seine Lippen und horchte. Lisa sah ihn erschrocken an.

»Wo ist Chief?«, flüsterte sie kaum hörbar.

Jan zeigte durch das Fenster nach draußen.

»Was ist los?«, fragte sie jetzt etwas lauter.

»Ich weiß nicht«, murmelte Jan. »Aber da war ein Geräusch, es knackte irgendwie. Ich glaube nicht, dass es Chief war.«

»Du denkst, es ist der Eindringling?«

Jan nickte.

Dann erhob er sich vom Sofa, ging zum Lichtschalter und machte die Lampe über dem Küchentisch aus.

Auch Lisa stand jetzt am Fenster und sah mit ihm nach draußen.

»Ich geh hinten raus und du vorne«, sagte Jan.

Sie nickte und nahm ihre Waffe aus der Tasche, die auf einem Stuhl lag.

Jan sah ihr kurz nach, als sie zur Vordertür ging. Dann schlich er an der Wand entlang zum Hinterausgang. Sachte drückte er die Tür auf und spähte nach draußen. Der Wald lag wie immer da.

Und doch war da etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Geruch. Er war wieder da. Der Geruch nach Zedernholz. Die Zeichnung schoss ihm wieder in den Sinn. Ob der, der sie angefertigt hatte, jetzt hinter einem der Bäume lauerte und sich über ihn lustig machte? Es musste ein Verrückter sein. Und er konnte sehr gut zeichnen.

Und plötzlich verspürte Jan keine Bedrohung mehr, sondern seine Neugier wuchs. Er wollte jetzt endlich wissen, was der Eindringling für ein Motiv hatte. Mit dem Bild wirkte alles mit einem Mal gar nicht mehr bedrohlich, sondern interessant.

Jan ging auf den Wald zu. Der Geruch wurde intensiver.

»Hören Sie«, sagte Jan jetzt laut. »Wer immer Sie auch sind, es wäre besser, wenn Sie jetzt herauskommen. Wenn Sie Hunger haben, kein Problem. Wir haben genug da. Sie brauchen sich nicht heimlich ins Haus zu schleichen, Sie wissen ja bereits, dass es immer offensteht.«

Er horchte. Zunächst geschah nichts. Nur ein Vogel flog irgendwo auf und gab ein Kreischen von sich.

Dann kam Chief aus dem Unterholz gekrochen. Natürlich, er hatte es sich wieder im Dickicht gemütlich gemacht und geschlafen.

»Da ist Chief«, hörte Jan jetzt Lisa hinter sich. »Vorne ist alles ruhig, da ist niemand.«

»Tja, vielleicht habe ich mich doch getäuscht«, sagte Jan. »Aber Chief hat geschlafen, von ihm kann das Geräusch nicht gekommen sein, das ich eben im Haus gehört habe.«

»Willst du jetzt den ganzen Wald absuchen?«

»Nein, das macht bestimmt keinen Sinn«, sagte Jan und drehte sich noch einmal zum Wald um. »Wie gesagt«, wiederholte er, »Sie brauchen sich nicht zu verstecken.«

»Mit wem redest du?«

»Mit dem, der so wunderbar zeichnen kann«, sagte Jan und ging wieder Richtung Hintereingang vom Hof.

Lisa folgte ihm.

Nur Chief blieb weiterhin dort stehen und wedelte mit dem Schwanz, als Jan sich nach ihm umdrehte.

»Und da ist doch jemand«, sagte Jan zu Lisa. »Chief sagt es uns ganz deutlich.«

»Aber es scheint ein netter jemand zu sein«, meinte Lisa, »sonst würde er bestimmt die Zähne fletschen.«

 

Und dann geschah etwas, das sie beide sprachlos machte.

Aus dem Unterholz, wo Chief eben herausgekrochen war, da zeigte sich noch jemand. Zunächst nur ein Gesicht. Es wurde vom Licht, das der Mond gen Erde sandte, angeschienen und wirkte wie unwirklich unter den Bäumen.

»Da ist jemand«, flüsterte Lisa.

Und Jan ging jetzt zurück zum Wald.

Dann wagte auch die Gestalt sich weiter hervor.

Es war ein junger Mann, das war Jan sofort klar. Keine achtzehn Jahre alt oder auf jeden Fall keinen Tag älter.

Der Junge kam von den Knien auf die Füße und klopfte seinen Parka ab. Er hatte ein freundliches Gesicht und war in etwa so groß wie Jan.

Dann standen sie sich gegenüber.

Der Geruch nach Zedernholz stieg Jan in die Nase, er konnte ihn schmecken.

»Du hast mich gemalt«, sagte Jan kaum hörbar. »Warum hast du das getan?«

Lisa stand jetzt neben Jan.

»Mein Gott, man könnte meinen, er ist du«, sagte sie und schlang ihre Arme um sich selber.

Jan schluckte. Natürlich war auch ihm sofort der Gedanke gekommen, in sein eigenes Spiegelbild aus vergangenen Tagen zu blicken.

»Wer bist du?«, fragte er.

»Jonar«, antwortete der Junge, »und du bist wohl mein Vater.«

Das hatte gesessen. Deshalb die Ähnlichkeit.

»Du hast einen Sohn?«, fragte Lisa fassungslos.

»Bisher wusste ich davon nichts«, sagte Jan und fing sich wieder.

»Vielleicht sollten wir erst einmal reingehen«, schlug Lisa vor. »Irgendwie stehen wir hier jetzt komisch in der Gegend rum. Drin lässt sich alles besser besprechen.«

»Sicher«, sagte Jan, drehte sich um und setzte sich in Bewegung.

Lisa, Chief und auch Jonar folgten ihm, als würde er sie der Sonne entgegenführen.

 

»Du kennst dich ja aus«, sagte Jan zu Jonar, als sie ins Haus kamen. »Geh doch bitte schon mal in die Küche.«

Der Junge tat ihm den Gefallen.

»Von hinten könnte man wirklich meinen, dass du da läufst«, sagte Lisa und sah Jonar ungläubig nach. »Wieso hast du denn nicht gewusst, dass du einen Sohn hast?«, fragte sie nochmal.

»Ich habe keine Ahnung. Würde es dir was ausmachen, wenn ich zuerst alleine mit ihm spreche?«

»Nein, natürlich nicht.«

Aus einer Eingebung heraus nahm sie ihn kurz in den Arm.

»Du machst schon das Richtige, da bin ich ganz sicher.«

Dann ging Jan in die Küche und schloss die Tür hinter sich.

 

Lisa ging kurz ins Bad, schlug sich Wasser durchs Gesicht und ging dann in ihr Schlafzimmer. Es war ein komisches Gefühl, so ausgeschlossen zu sein aus Jans Leben. Selbst Chief durfte jetzt bei den beiden in der Küche sein. Und was war mit ihr? Gehörte sie denn nicht dazu?

Nein, offenbar nicht. In dem Moment, als Jonar hier auftauchte, war plötzlich sie zu einem Eindringling geworden.

Sie legte sich aufs Bett und starrte an die Decke.

Noch nie war sie sich in diesem Haus so einsam vorgekommen wie in diesem Augenblick.

 

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Jan, als er Jonar locker auf dem Sofa sitzen sah. Neben ihm lag Chief, das hatte er schon lange nicht mehr gemacht. Anscheinend möchte er den Jungen schon sehr.

»Hm ...«, machte Jonar und kraulte Chief hinterm Ohr. »Ich trinke ganz gerne Kräutertee.«

»Kräutertee?«, fragte Jan und schüttelte sich innerlich. »Ich glaub, den hab ich gar nicht da.« Ratlos sah er zum Schrank.

»He, das war doch nur ein Witz. Ich hab schon gesehen, dass du jede Menge Rotwein trinkst. Den mag ich auch.«

Es lag Jan auf der Zunge zu fragen, ob er denn überhaupt schon alt genug dafür sei. Er kannte seinen Geburtstag ja immer noch nicht. Doch er wusste, wie empfindlich Teenager dann reagierten, also ließ er es bleiben und stellte zwei Weingläser, die auf der Spüle getrocknet waren, auf den Tisch und zog eine Flasche aus einem Regal.

Er schenkte nach dem Öffnen ein und setzte sich an den Tisch. Die Ähnlichkeit Jonars mit ihm selbst, irritierte ihn, als er den ersten Schluck trank.

»Jetzt bist du geschockt, oder?«, ergriff Jonar als Erster das Wort.

»Na ja, geschockt ist sicher das falsche Wort. Ich wusste es einfach nicht, das ist alles.«

»Ich weiß. Mama hat mir erzählt, dass sie es dir nicht gesagt hat.«

Mama. Wer war überhaupt diese Mama? Wie würde es aussehen, wenn Jan jetzt fragte? Wenn er nicht mal wusste, mit wem er vor rund sechzehn Jahren zusammen gewesen war, was musste der Junge dann von ihm denken?

»Du hast keine Ahnung, wer meine Mutter ist, oder?«, schaltete Jonar sofort. Er war clever, das gefiel Jan.

Beide mussten grinsen.

»Schon okay«, sagte Jonar, »ich bin auch schon in viele Mädchen verliebt gewesen.«

»He, das will ich nicht gehört haben«, flachste Jan, »man bricht nicht wahllos Frauenherzen.«

»Oh, so ist es nicht. Sie brechen mir immer das Herz.«

Ja, er musste eindeutig sein Sohn sein.

 

Dann erzählte Jonar von Viveca, und plötzlich kam bei Jan alles wieder hoch und lief wie ein Film vor ihm ab.

Viveca war das schönste Mädchen, das er jemals gesehen hatte. So jedenfalls empfand er es vor fast zwanzig Jahren, als er sie das erste Mal gesehen hatte, nachdem er wieder einmal mit seinen Eltern hatte umziehen müssen. Damals war er fast siebzehn gewesen. Viveca wohnte ein Stockwerk über ihnen in einem Plattenbau in Bremen. Sie war ein Jahr jünger als er und hatte die schönsten braunen Augen, die er jemals gesehen hatte. Sie sahen immer aus, als würde sie im nächsten Moment losheulen. Das war das Schönste an Viveca, ihre unendliche Traurigkeit, die sie im nächsten Moment mit einem glockenhellen Lachen davonwischte.

Warum sie eigentlich immer so traurig war, das sagte sie nicht. Doch Jan ahnte bald, als er sie näher kennen lernte und auch öfter bei ihr Zuhause war, dass es wohl an ihrem Vater liegen musste, der viel zu viel trank und dann laut wurde.

Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie endlich zuließ, dass er von ihnen beiden als einem Paar sprach.

Zwei Jahre später zogen Vivecas Eltern fort. Er hatte sie danach nie wiedergesehen.

Sie hatte ihm zum Abschied eine ihrer langen dunklen Locken geschenkt, die nach Honig duftete. Sie sprachen nicht, als sie im Park auf einer Bank saßen, weil Viveca gleich zu Anfang ihres letzten Treffens darauf bestanden hatte. Sie müsse auch so schon die ganze Zeit weinen, hatte sie gesagt.

Und so hatten sie sich bei den Händen gehalten, bis der Morgen graute.

Das Letzte, was Jan von Viveca gesehen hatte, war der schwarze Combi, den ihr Vater fuhr. Sie hatte hinten gesessen, aber nicht zurückgeschaut.

Es ließ sich schwer in Worte fassen, was Jan in dem Moment empfand. Auf jeden Fall sprach er drei Monate nicht mehr auch nur ein einziges Wort.

 

»Viveca ist deine Mutter?«, fragte Jan mit belegter Stimme.

Jonar nickte.

»Warum hat sie sich denn nie bei mir gemeldet?«

Der Junge zuckte mit den Schultern.

»Ich habe sie am Anfang auch oft nach meinem Vater gefragt, aber sie hat dann immer angefangen zu weinen, deshalb hab ich irgendwann damit aufgehört.«

»Wo ist sie damals mit ihren Eltern hingegangen?«

»Nach Norwegen.«

»Norwegen?«

»Ja, mein Opa kam doch daher. Er hat es in Deutschland nicht mehr ausgehalten ohne seine Rentiere.«

Deshalb also musste Viveca damals aus Bremen fort. Wegen ein paar Tiere. Jan brach nach so vielen Jahren nochmal das Herz.

»Du bist also in Norwegen aufgewachsen?«

»Nein, nur die ersten drei Jahre. Als Opa gestorben ist, ist Oma mit uns wieder nach Deutschland gegangen. Sie wollte lieber in einer Stadt leben. Und Mama war als Alleinerziehende auf Oma angewiesen.«

Und wo war das?, ging es Jan durch Kopf. Er wagte nicht, zu fragen. Ja, fast hatte er aufgehört zu atmen. Was war, wenn er immer in Vivecas Nähe und der von Jonar gewesen war, ohne es zu ahnen?

»Wir sind nach Trier gezogen, falls es dich interessiert ...«, kam ihm Jonar zuvor.

»Sicher interessiert es mich.«

Und warum hat sie sich nie gemeldet?, dachte er. Doch woher sollte der Junge das wissen? Und wieso kam er gerade jetzt zu ihm? War Viveca auch ganz in der Nähe und ließ ihren Sohn die Lage sondieren?

»Eigentlich sind wir dauernd umgezogen, nachdem Oma gestorben war. Mama hat nie eine richtige Ausbildung gemacht wegen mir und auch wegen Opa, und deshalb sind wir ständig umgezogen. Eigentlich habe ich gar kein Zuhause.«

Genau wie ich, dachte Jan. Einsamkeit war also vererbbar.

»Sorry, wenn ich das frage«, sagte Jan, »aber wieso kommst du jetzt ... ich meine, gerade zu diesem Zeitpunkt ... also, nicht, dass ich es nicht gut finden ...«.

»Schon okay«, lachte Jonar. »Ich weiß ja, was du sagen willst. Ich nehm es dir nicht übel. Ich würde es an deiner Stelle auch wissen wollen. Also, Mama hat da so eine Frau kennen gelernt bei einem Kellnerjob in Bad Zwischenahn.«

Bad Zwischenahn. Nur einen Katzensprung entfernt lebte seine große Liebe also mit dem gemeinsamen Kind.

Die Fragezeichen standen Jan ins Gesicht geschrieben. Was hatte eine Frau damit zu tun, ob sein Sohn sich bei ihm meldete? Noch verstand er nur Bahnhof.

»Also, diese Frau, sie ist Psychologin, und sie kennt dich.«

Frau ... Psychologin ... Viola, schrie es in Jan. Viola kannte Viveca. Alle Frauen, die ihm jemals wichtig waren, hatten gleichklingende Namen. Es war ein Fluch, der auf ihm lastete, denn alles würde tragisch enden.

»Viola?«, fragte Jan ungläubig.

»Ja, genau die. Mama und sie haben sich angefreundet und irgendwie sind sie dann auf meinen Erzeuger zu sprechen gekommen und plötzlich warst du das Thema Nummer eins von den beiden.«

Jonar lachte und es bildeten sich Grübchen in seinen Wangen. Nur ganz leicht, doch es war genauso wie bei ihm selber, dachte Jan.

Es fühlte sich so komisch an, plötzlich einen Sohn zu haben.

Und ihm wurde jetzt auch klar, warum Viola sich so lange nicht bei ihm gemeldet hatte. Sicher hatte sie genug damit zu tun, die Wunden von Viveca zu heilen, auch wenn er, Jan, gar nichts dafür konnte, dass sie so traurig gewesen war. Er wusste doch nichts von dem Kind.

 

»Ganz viel auf einmal«, lachte Jonar, der offensichtlich auch noch Gedanken lesen konnte.

Jan nickte. »Ehrlich gesagt schon, aber ich bin froh, dass du hier bist. Das meine ich ernst. Warum bist du denn eingebrochen? Du hättest mich doch auch einfach gleich ansprechen können.«

»Ich bin nicht eingebrochen Dad, deine Türen stehen doch immer offen, schon vergessen?«

Dad. Jan fühlte sich wie ein alter Mann. Vielleicht ließ einen Verantwortung vorzeitig altern.

»Stimmt. Ich halte nichts von abgeschlossenen Türen. Ich möchte mich nicht wegen meiner Umwelt einsperren müssen.«

»Hier in dieser Wildnis funktioniert das vielleicht. Aber versuch das mal in einer Großstadt.«

»Deshalb wohne ich dort ja auch nicht mehr. Städte sind was für Weicheier.«

Sie mussten wieder grinsen.

»Du zeichnest sehr gut«, sagte Jan. Die Zeichnung von Jonar lag noch immer auf dem Tisch.

»Ach das ... niemand kann etwas für seine Begabungen. Es sind die richtigen Aufgaben, an denen wir wachsen.«

Ja, vielleicht, dachte Jan. Jonar, sein Sohn, ein Philosoph wie er.

»Willst du heute Nacht hier schlafen?«, fragte er. »Du könntest mein Bett haben, ich schlafe sowieso kaum darin.«

»Ich find es hier auf dem Sofa mit Chief eigentlich ganz gemütlich«, antwortete Jonar und strich dem Hund über den Kopf, der schnarchte, als müsste er den halben Tannenhauser Wald zerlegen.

 

Sie saßen noch die halbe Nacht beisammen, schwiegen oder redeten über dies oder über das. Eigentlich war es belanglos, was sie sagten. Es war vielmehr der warme Ton, der von einem zum anderen schwang. Endlich hatte Jonar seinen Vater gefunden und Jan wusste, warum es sich zu leben lohnte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739475844
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Thriller Krimi Spannung Ostfrieslandkrimi Regionalkrimi Noir Ermittler Psychothriller Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • Moa Graven (Autor:in)

Moa Graven, Jahrgang 1962, ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Mittlerweile lebt die Autorin von acht Krimi-Reihen vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus auf dem Land in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann.
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Titel: Jan Krömer - Ermittler in Ostfriesland - Die Fälle 9 - 11