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Ängste, Depressionen, Migräne: Warum sie uns heute immer noch plagen? Und einige Dinge, die man dagegen tun kann

von Wolfgang Boese (Autor:in)
250 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch wurde geschrieben, vor allem für Patienten, aber auch für alle diejenigen, welche sich für diese Thematik interessieren. Es ist so konzipiert, dass einzelne Teile unabhängig von einander gelesen werden können. Der 1. Teil befasst sich mit den biologischen Grundlagen der Entstehung von bestimmten Krankheiten. Wer sich aber vor allem für eine bestimme Erkrankung informieren möchte, kann auch mit dem 2. Teil beginnen, am besten ist es dann den allgemeinen Teil des 2. Abschnitts zu lesen und dann das Kapitel, welches besonders interessiert (z.B. die Migräne). Der 3. Abschnitt befasst sich allgemein mit Dingen, welche wir zur Verbesserung unserer Gesundheit und unserer Lebensqualität in der heutigen Zeit (mit allen ihren Vorzügen und allen ihren Schwierigkeiten) unternehmen können. In dieses Buch eingeflossen ist nicht nur das Wissen aus Büchern, Vorträgen, Kongressbesuchen, Seminaren und der Facharztausbildung, sondern vor allem auch die Erfahrung mit über 20.000 Patientinnen und Patienten im Lauf von nun 30 Jahren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zum Autor:

Dr. Wolfgang Boese wurde geboren im Jahr 1963.

Nach Absolvierung des humanistischen Gymnasiums in Salzburg, Studium der Medizin an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck. Anschließend Praktikum am Ramathibodi Hospital in Bangkok.

Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie an der Neurologie und an der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses Rankweil in Vorarlberg, sowie im Krankenhaus Maria Rast in Schruns.

Seit August 2000 Inhaber einer Facharztpraxis für Neurologie und Psychiatrie in Feldkirch/Vorarlberg.

Einleitung

Seit 30 Jahren arbeite ich als Arzt und habe nun seit 20 Jahren eine eigene Praxis für Neurologie und Psychiatrie.

Die Idee, ein Buch zu schreiben hatte ich schon lange, aber immer vor mir hergeschoben. Der konkrete Entwurf dieses Buches hat begonnen im März 2020. Zu diesem Zeitpunkt war ich 56 Jahre alt. Und zu dieser Zeit wurden aufgrund der Covid-19-Pandemie zum ersten Mal in meinem Leben massive Einschränkungen der wirtschaftlichen Tätigkeit sowie der Bewegungsfreiheit verfügt. Es gab also, neben einem massiven Umsatzeinbruch, vor allem wenig zu tun. Und so schrieb ich an meine Assistentinnen folgenden Satz (Spruch aus dem antiken China):

„Wenn der Wind des Wandels weht, bauen einige Menschen Mauern. Andere bauen Windmühlen.“

Man kann Hindernisse als Hindernisse sehen. Oder auch als Möglichkeiten. Und so beschloss ich, die plötzlich (und unerbetene) frei gewordene Zeit zu nutzen und konkret an dem Buch zu arbeiten.

Warum habe ich ausgerechnet die drei Themenbereiche Ängste, Depressionen und Kopfschmerzen gewählt? Es handelt sich um komplexe Probleme, welche sehr häufig Thema in der Praxis des Neurologen und Psychiaters sind. Des Weiteren besteht zwischen diesen Bereichen eine durchaus erhebliche Komorbidität. Das bedeutet, dass das Vorhandensein einer dieser Gesundheitsstörungen das Auftreten einer der anderen Störungen begünstigt. Und sie können sich in wechselhafter Weise negativ beeinflussen.

Die Thematik ist komplex und ist es daher nicht möglich, eine einfache, schnelle Lösung anzubieten. Tut mir leid. Ratgeber, welche Dinge verheißen wie: „Essen und gleichzeitig schlank werden“, „Mit dieser einen Methode nie mehr Schmerzen“, „Durch zwei Übungen keine Rückenbeschwerden mehr“, und so weiter, machen lediglich falsche Versprechungen, welche in der Praxis nicht erfüllt werden können. Es ist aber durchaus möglich, mehr Verständnis zu gewinnen für verschiedene Aspekte der beschriebenen Gesundheitsstörungen. Darüber hinaus gibt es sehr wohl eine Menge Möglichkeiten zur Behandlung von chronischen Gesundheitsstörungen und Verbesserung der Lebensqualität. Wenn sie auch nicht einfach umzusetzen sind und Geduld sowie Ausdauer benötigen, können sie dennoch sehr wirksam sein, vor allem längerfristig.

Gesundheit und Lebensqualität sind nicht etwas, das man einfach hat, oder was sich - auch nicht in der modernen Medizin - mit viel Geld schnell erwerben lässt. Hinter Wohlbefinden und Gesundheit stehen Prozesse, welche immer wieder angestoßen werden müssen. Dabei benötigt es immer auch die Eigenverantwortung, um das Leben in die Hand zu nehmen und positiv zu gestalten.

In diesem Buch sollen Aspekte dargelegt werden, welche hierfür wichtig sind. Damit die Darlegung möglichst klar ist, verzichte ich ganz bewusst auf die heutzutage weit verbreitete speech correctness. Wenn zum Beispiel von Patienten die Rede ist, dürfen sich alle angesprochen fühlen, ob männlich, weiblich, transgender oder keinem Geschlecht zugehörig, ob jung oder alt und alle Leser können hoffentlich von dem einen oder anderen Teil dieses Buches profitieren.

Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte, welche auch unabhängig voneinander gelesen werden können:

Der erste Abschnitt befasst sich mit biologischen Grundlagen unseres körperlichen, sozialen und mentalen Daseins, sowie den daraus resultierenden Grundlagen für bestimmte Gesundheitsstörungen.

Der zweite Abschnittl befasst sich speziell mit Angststörungen, Depressionen und Kopfschmerzen, insbesondere Migräne sowie den Therapiemöglichkeiten.

Der dritte Abschnitt befasst sich mit Aspekten unserer Lebensführung und ihrer Bedeutung, nicht nur zur Entstehung von Krankheiten sondern auch zur Entstehung von Gesundheit. Hierfür ist die Entwicklung von Resilienz (bedeutet hier sowohl körperliche, als auch seelische Widerstandskraft) besonders wichtig.

Wer eher an bestimmten Gesundheitsstörungen interessiert ist, kann gleich mit dem zweiten Abschnitt beginnen. Zuerst mit dem allgemeinen Teil und dann mit dem Kapitel, welches besonders interessiert, z.B. der Migräne.

Wer eher an allgemeinen Aspekten der Lebensführung interessiert ist, kann auch mit dem dritten Teil beginnen. Von diesem sind zwei Dinge besonders wichtig, welche aus meiner Sicht die Basis für alles Weitere bilden, nämlich:

Die Realität so wahrnehmen, wie sie ist.

Die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und sein Glück nicht an Andere (Mitmenschen, Eltern, Vorgesetzte oder die Gesellschaft im Allgemeinen und so weiter) zu delegieren.

Wem ein grundlegenderes Verständnis der Gesundheitsstörungen wichtig ist, sollte aber auch den ersten Teil des Buches lesen. Ein Verständnis für biologische Zusammenhänge verhilft zu einem besseren Umgang mit der Thematik, sowie auch zur Erkenntnis, dass es sich bei Angststörungen, Depressionen und Kopfschmerzen nicht einfach nur um Krankheiten handelt, sondern darüber hinaus um wichtige Aspekte unserer Biologie und damit unseres Daseins.

Zuerst einige wichtige Begriffe

Evolution (Lateinisch: Entwicklung)

Die Entwicklung der Lebewesen ist andauernden Veränderungen unterworfen und es hat sich je nach Umweltbedingungen eine große Vielzahl von biologischen Merkmalen herausgebildet.

Die zahllosen Anpassungsvorgänge und die Entstehung der enormen Artenvielfalt werden von der Evolutionstheorie sehr gut beschrieben und sie erklärt, wie sich beispielsweise Körperbau und Körperfunktionen im Rahmen von Umweltanpassungen entwickelten, zum Beispiel warum Parasiten existieren und Abwehrmechanismen gegen eben diese Parasiten, warum es in der Natur zahllose Giftstoffe gibt und Pflanzenfresser dennoch prächtig gedeihen können, warum es Pfauenfedern und überhaupt Federn gibt, Stacheln für den Igel, Vögel und Fledermäuse Flügel entwickelt haben, Pinguine und Sträuße das Fliegen wieder verlernt haben und vieles mehr. Vor allem erklärt die Evolutionstheorie auch wie, warum und mit welchen Eigenschaften sich unsere Vorfahren entwickelt haben.

Voraussetzungen dafür, dass Evolution im biologischen Sinn stattfinden kann sind:

Vererbung

Mutation

Selektion

Vererbung

Das, was vererbt wird, ist durch die Gene bestimmt. Die genetische Information (sozusagen der Bauplan und die Funktionsanweisung für den Organismus) wird in Form von Desoxyribonukleinsäure (DNS bzw. englisch DNA) an die nächste Generation weitergegeben. Die Struktur der DNA bestimmt, welche Proteine zu welchem Zeitpunkt in den Zellen produziert werden und entscheidet daher darüber, welche Merkmale von der einzelnen Zelle bis zum gesamten Körperbau ausgebildet werden.

Mutation (Lateinisch: Veränderung)

Es kommt bei der Weitergabe von Genen an die Nachkommenschaft andauernd zu Änderungen der DNA-Struktur. Mutationen können neutral, günstig, ungünstig und sowohl günstig als auch ungünstig sein. Welchen Effekt Mutationen letztendlich haben, hängt von den jeweiligen Umweltbedingungen ab.

Die gesamte Genausstattung der Individuen einer Art ändert sich einerseits durch die Mutation einzelner Gene. Andererseits ändert sich die Genausstattung mittels Durchmischung der Gene im Rahmen der sexuellen Fortpflanzung. Dadurch entstehen in jeder neuen Generation zahllose neue Kombinationen von Genvarianten, welche wiederum zu veränderten Merkmalen führen können. Darüber hinaus ist es wichtig, welche Abschnitte der DNA aktiviert oder inaktiviert werden, dies nennt man epigenetische Faktoren.

Die evolutionäre Entwicklung baut dabei immer auf dem auf, was bereits vorhanden ist.

Es ist nicht so dass plötzlich ein völlig neues Merkmal von einer zur nächsten Generation auftaucht (also geschah es nicht, dass einer unserer Urahnen auf 4 Beinen lief und seine Kinder plötzlich Hände hatten). Sondern von einer zur nächsten Generation verändern sich bereits vorhandene Merkmale ein wenig und über viele Generationen können

Körperstrukturen und Funktionen eine neue Bedeutung erlangen. Zum Beispiel verwendeten unsere Vorfahren die vorderen Extremitäten zuerst zum Klettern in Bäumen. Da bereits eine gute Greiffunktion vorhanden war, konnten später auch andere Dinge mit den vorderen Extremitäten gegriffen werden, z.B. Steine oder Äste. Mit der Zeit entwickelte sich eine immer geschicktere Handfunktion. Einige Vögel wie Strauße haben sich wie die Vorfahren der Menschen einmal auf das Laufen spezialisiert. Flügel konnten aber nicht schnell mal zu solchen Extremitäten umfunktioniert werden, mit denen ein geschicktes Greifen möglich war und haben sich die Flügel einfach mangels Gebrauch zurückgebildet.

Selektion (Lateinisch: Auslese, Auswahl)

Es geht dabei um die Auswahl der Individuen, welche ihre Gene weitergeben können. Das geschieht im Zusammenspiel von durch die von den Genen (einschließlich deren Mutationen sowie durch deren Durchmischung) bedingten Eigenschaften auf der einen Seite. Und den jeweiligen Umweltbedingungen auf der anderen Seite, wobei sich die Umweltbedingungen andauernd verändern. Es werden insgesamt Merkmale, welche unter den gegebenen Bedingungen vorteilhaft sind, vermehrt an die Nachkommenschaft weiter gegeben. Weniger vorteilhafte Merkmale bilden sich zurück. Individuen mit ungünstigen Eigenschaften haben schlechtere Chancen, ihre Gene weiter zu geben. Und vielfach spielt außerdem der Zufall eine Rolle.

Selektion bedeutet auf keinen Fall, dass sich immer der Stärkere durchsetzt. Die Selektion von positiven Merkmalen bedeutet auch nicht ausschließlich einen andauernden Kampf. Kämpfe von Individuen einer Art untereinander oder zwischen verschiedenen Arten sind zwar durchaus häufig, aber es gibt eine Menge anderer Überlebensstrategien. Oft ist Kooperation erfolgreicher. Und das nicht nur mit Individuen der gleichen Art, sondern auch mit anderen Arten. Beispielsweise kommen Raubfische an Korallenriffen mit Putzerfischen hervorragend zurecht, da ihnen diese Putzerfische Parasiten entfernen. Für die Putzerfische wiederum bedeutet dies eine sichere und leicht zu erlangende Mahlzeit. Andere Beispiele wären die Kooperation von Ameisen und Blattläusen, Termiten mit Pilzen, welche sie in Gärten züchten oder Mensch und Wolf beim gemeinsamen Jagen.

Nicht immer behauptet sich somit die stärkere Art, sondern eine, welche z.B. sozialer ist oder geschickter, beweglicher, besser getarnt ist, lange Ruhepausen wie einen Winterschlaf einlegen kann, bestimmte Lebenszyklen entwickelt (Singzikaden paaren sich zum Beispiel alle 17 Jahre, daran können sich ihre Fressfeinde nicht gut anpassen) oder sich schneller vermehren kann. Auch Rückzug in extreme Regionen kann helfen, Kaiserpinguine brüten auf den Eisfeldern der Antarktis, allen Beutegreifern ist es dort einfach zu kalt, um überhaupt zum Brutplatz hin zu kommen.

Selektion gegenüber Artgenossen und sexuelle Selektion:

Selektion geschieht immer auch innerhalb einer Art. Hat sich eine Art gerade erfolgreich angepasst an die aktuellen Umweltbedingungen, dann haben alle in etwa die gleiche Chance, ihre Gene weiterzugeben, sofern alle Individuen im wesentlichen mit den gleichen Genen ausgestattet sind. Dadurch kommt es zu einem Selektionsdruck innerhalb der eigenen Art: Sind alle gleich, dann ist man dann erfolgreicher in der Weitergabe seiner Gene wenn man sich in irgendeinem Merkmal von den anderen unterscheidet. Ein sehr schönes Beispiel sind die Pfauen und die Paradiesvögel. Die bunten Federn der Männchen sind für das Überleben an sich nutzlos oder sogar hinderlich. Sie liefern keinen Beitrag zu Nahrungssuche, Widerstandskraft gegen Infektionen, Schutz vor Beutegreifern. Das Männchen mit den schöneren Federn präsentiert aber damit den Weibchen seine besondere Fitness und kommt daher bei der Paarung eher zum Zug als der biedere gut getarnte graubraune Vogel.

Oder wenn alle Rechtshänder sind, ist es ein Vorteil, der einzige Linkshänder im Stammesdorf zu sein, zumindest dann, wenn es häufig zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt (also in den allermeisten Zeiten der Menscheitsgeschichte). Die anderen sind es ja immer gewohnt gegen Rechtshänder zu kämpfen und werden schneller mal unvermutet von der linken Faust getroffen. Ein paar gewonnene Rangkämpfe verbessern die Aussichten auf Weitergabe der Gene des Linkshänders. Gibt es aber zu viele Linkshänder verschwindet dieser Vorteil wieder.

Unsere Vorfahren waren diejenigen, welche nicht nur die Selektion durch die Umwelt überstanden hatten, sondern sich auch innerhalb ihrer Gruppe ausreichend durchgesetzt haben. Für den Menschen als soziales Wesen ergab und ergibt sich einerseits die Notwendigkeit der Anpassung an die Gemeinschaft, andererseits die Notwendigkeit der Konkurrenz untereinander.

Exponentielles Wachstum

Dies bedeutet eine Verdoppelung in regelmäßigen Zeitintervallen durch ein regelmäßiges prozentuelles Wachstum. Das ist äußerst wichtig bei der Betrachtung der Ausbreitung von kleinen Populationen in ressourcenreichen Gebieten, ebenso des globalen Bevölkerungswachstums, der Ausbreitung von Epidemien in einer immunologisch nicht angepassten Bevölkerung, des Wirtschaftswachstums und vieler anderer Dinge. Für das menschliche Gehirn ist exponentielles Wachstum mit allen seinen Konsequenzen nur schwer zu begreifen.

Darum ein Beispiel: Die Bevölkerung eines großen Landes verdoppelt sich alle 30 Jahre. In diesem Land lebt ein einziges Paar, Adam und Eva. Die Beiden bekommen Kinder, von denen 4 das Erwachsenenalter erreichen, diese wiederum nach 30 Jahren 8 Kinder, nach weiteren 30 Jahren sind es 16, und so weiter. Nach 300 Jahren leben 1048 Menschen, was in einem großen Land als sehr geringe Bevölkerungsdichte erscheint. Nach 600 Jahren sind es 1 Million (noch nicht so viel), nach 900 Jahren über 1 Milliarde und in 1200 Jahren wären es über 1 Billion (Also das Millionenfache einer Million. Faktisch hat Hunger, Krieg oder anderes Übel natürlich das Wachstum längst vorher gestoppt!). Bei Betrachtung des exponentiellen Wachstums wird auch klar ersichtlich, dass in einer endlichen Welt zwar längerfristiges, aber niemals dauerhaftes prozentuelles Wirtschaftswachstum geben kann!

Für die Betrachtung der Evolutionsbiologie ergibt sich, dass kleine Populationen unter günstigen Bedingungen zuerst rasch wachsen und immer an den Punkt kommen, an dem das Wachstum durch Mangel an Ressourcen oder andere ungünstige Umstände begrenzt wird. Daraus ergibt sich wiederum, dass die meisten Lebewesen - einschließlich dem Großteil unserer Vorfahren! - regelmäßig mit Mangel an Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen zu kämpfen hatten und haben. Kleinen Bevölkerungen ging es oft gut, großen praktisch immer schlecht! Deswegen haben sich in allen Arten Strategien entwickelt, mit Ressourcenknappheit in der einen oder anderen Form umzugehen, einschließlich beim Menschen. Solche, die keine passenden Strategien entwickelt haben sind ausselektiert worden.

Unsere Biologie ist auf die Bewältigung von Mangelzuständen ausgerichtet. Der Wille zu überleben, Gier und Hunger haben über Millionen von Jahren unseren Körper und unseren Geist geprägt.

Pleistozän

Das Pleistozän begann vor 2,588 Millionen Jahren und endete vor 11700 Jahren. Seit Beginn des Pleistozäns kommt es zu zyklischen Vereisungen der Nordhalbkugel unseres Planeten (die Antarktis ist seit circa 34 Millionen Jahren bereits vergletschert). Die Kaltzeiten dauerten meist 100.000 bis 200.000 Jahre und wurden unterbrochen von relativ kürzeren Erwärmungsphasen von einigen 1000 bis einigen 10.000 Jahren. Durch die andauernd wechselnden klimatischen Bedingungen entstand im Pleistozän ein hoher Anpassungsdruck auf Pflanzen und Tiere. Unter anderem entwickelten sich in dieser Zeit in Afrika die Hominiden und schlussendlich Homo Sapiens (also wir).

Holozän

Dieses Zeitalter beginnt vor 11700 Jahren und dauert bis Heute. Der Beginn des Holozäns war das Ende der letzten Eiszeit, es kam zu einer Erwärmung, Abschmelzen eines Großteils der Gletscher im Norden, Anstieg des Meeresspiegels und feuchterem Klima. Diese veränderten klimatischen Bedingungen ermöglichten die Entwicklung von Landwirtschaft in Süd- und Mittelamerika, Mesopotamien und der Levante, sowie Indien und China. Mit dem Beginn des Holozäns und der Landwirtschaft änderten sich die Lebensbedingungen der Menschen grundlegend. Landwirtschaft ermöglichte, dass mehr Menschen ernährt werden konnten, allerdings war die Ernährung für den Einzelnen wahrscheinlich gleichzeitig schlechter geworden und weniger abwechslungsreich als für die Jäger und Sammler. Mehr Menschen und kollektives Betreiben von Landwirtschaft bedingte die Entwicklung von größeren Gesellschaftsstrukturen und letztendlich Staaten.

Hominiden (Menschenaffen)

Dieser Begriff wird unterschiedlich verwendet. Zur Gruppe der Hominiden wurden früher die Menschen und „nahe Verwandte“ gezählt wie Australopithecus, Homo erectus, Neandertaler, Denisovamenschen. Heutzutage werden von vielen Wissenschaftlern auch Gorillas, Orang-Utans und Schimpansen zu den Hominiden gerechnet. Die Hominiden entwickelten sich seit 5 - 7 Millionen Jahren in Afrika.

Unter den wechselnden klimatischen Bedingungen des Pleistozäns kam es immer wieder zur Herausbildung zahlreicher neuer Hominidenarten, uns eingeschlossen.

Homo Sapiens

Dieser Begriff bedeutet wissender oder auch vernünftiger Mensch. Damit bezeichnen wir also uns selbst. Durch Fossilfunde ist belegt, dass Homo Sapiens, also unsere direkten Vorfahren, bereits vor etwa 300.000 Jahren in Afrika existierten. Vor circa 100.000 Jahren begannen unsere Vorfahren sich über die Grenzen von Afrika hinaus auszubreiten.

Woher wir kommen

Der moderne Mensch entwickelte sich vor circa dreihunderttausend Jahren im südlichen oder östlichen Afrika.

Gedanken an die frühe Menschheitsgeschichte werden heutzutage oft mit romantisierenden Vorstellungen verbunden. Die Menschen lebten in Eintracht mit der Natur in kleinen Gruppen und in Harmonie miteinander... in Afrika, ein weiter Kontinent mit vielgestaltiger Landschaft in der sich Savannen und Wälder abwechseln, reich an Nahrungsmitteln, angenehme klimatische Bedingungen.

... Hier müssen wir leider die STOPTASTE drücken. Stimmt in dieser Form nicht. Überhaupt nicht. Leider.

Das Zusammenleben in ursprünglichen Gesellschaften

Hartnäckig hält sich der Gedanke von dem edlen Frühmenschen, der noch nicht von der Zivilisation verdorben war und in Harmonie mit der Natur sowie mit seinesgleichen lebte. Dies ist eine Vorstellung, welche sich vor etwa 200 Jahren im Zeitalter der Romantik entwickelt hatte und von europäischen Philosophen (welche niemals selbst indigene Völker besucht hatten!) z. B. Rousseau geprägt wurde. Auch unter anderem von Karl Marx wurde die Vorstellung eines idealen Urzustandes der Menschheit übernommen, in welchem die Menschen frei gleich und gerecht waren, keine staatlichen Organisation und keine Gefängnisse brauchten. Eine Gesellschaft in der jeder nach seinen Fähigkeiten sich einbrachte und jeder seine Bedürfnisse stillen konnte.

Es handelte sich dabei aber nicht um anthropologische Erkenntnisse! Sondern es waren idealisierte Gegenentwürfe zu den negativen Auswüchsen der europäischen Zivilisation oder zu einer als leidvoll erlebten Gegenwart überhaupt.

Vielleicht war die Idealisierung von "Naturvölkern" außerdem Ausdruck und Kompensation eines schlechten Gewissens, nachdem man sie kolonialisiert, zwangsmissioniert, versklavt und ihre Stammeslande ethnisch gesäubert hatte.

In Europa sind diese Vorstellungen zusätzlich - ohne dass wir es meistens bewusst wahrnehmen - mitgeprägt von der Vorstellung eines früheren Paradieses, in dem die Menschen glücklich lebten, solange sie die Gebote Gottes nicht übertraten. Die Geschichte von Adam und Eva im Paradies wird den Kindern in Europa immerhin schon seit über 1000 Jahren gelehrt und ist in unserer Kultur verinnerlicht. Psychologisch gesehen handelt es sich bei der Idee von einem paradiesischen Urzustand wohl auch um eine Rückerinnerung an eine frühe Zeit der kindlichen Geborgenheit.

Die historische Realität ist aber eine andere.

Inzwischen existieren zahlreiche anthropologische Untersuchungen über indigene Völker, aus denen man Rückschlüsse auf unsere Vorfahren ziehen kann. Wissenschaftler können darüber hinaus immer besser fossile Spuren interpretieren. Das Leben unserer Vorfahren war sicher nicht einfach, und das Zusammenleben für Homo Sapiens mit seinesgleichen nur selten harmonisch. Gewalt untereinander ist in indigenen Völkern sehr häufig, sowohl innerhalb der Gruppe, als auch unter verschiedenen Gruppierungen in Form von Stammeskriegen. Bevor die Europäer Amerika und Afrika betraten, waren Kriege unter den Stämmen die Regel. Und aus archäologischen Funden weiß man, dass schon vor vielen Tausend Jahren bereits sich die Menschen organisiert hatten, um größere Schlachten gegeneinander zu führen. Gefängnisse gibt es bei „Naturvölkern“ zwar nicht, sehr wohl aber die Todesstrafe und die Gründe für eine Exekution können vielfältig sein. Allein der Verdacht, von einem bösen Geist befallen zu sein, kann ausreichen. Bei den Achè in Paraguay kann man schon dann von den Kollegen erschlagen werden, wenn man der Gruppe einfach nur zur Last fällt. Des Weiteren haben die meisten indigenen Völker besondere Tabus. Diese zu brechen wird regelmäßig mit Tod oder Verbannung bestraft (Verbannung war nur mit einer geringen Chance verbunden zu überleben). Wenn ein paar Jäger sich auf eine mehrtägige Expedition aufmachten und einer krank wurde, dann ließ man den Kranken üblicherweise zurück. Hatte er Glück und wurde wieder gesund, konnte er sich wieder den anderen anschließen. Wahrscheinlich gibt es in den ursprünglichen Sprachen kein Wort für die Übersetzung des unseres Begriffes „soziale Sicherheit“.

In kleinen Gruppen war zwar keine staatliche Organisation in unserem Sinne erforderlich und sind kleine Gruppen überschaubar genug, dass sich jedes Mitglied auf seine Weise irgendwie einbringen kann, allerdings immer nur im Rahmen bestehender Hierarchien (welche übrigens von Volk zu Volk äußerst unterschiedlich ausgeprägt sind), der gruppenspezifischen Moralvorstellungen und vor allem unter Beachtung der jeweils geltenden Tabus. Diese Einschränkungen können äußerst streng sein.

Leben war immer ein Überleben.

Umweltfaktoren

Klimatische Bedingungen und andere Umweltbedingungen waren tatsächlich günstig für die Entwicklung der Spezies Mensch. Aber es war alles andere als angenehm und nicht das, was man in Reiseprospekten vermittelt bekommt.

Die Landschaft war vielfältig strukturiert, bot dichte Baumbestände und offene Savannen und tatsächlich ein reichhaltiges Angebot an pflanzlicher und tierischer Nahrung. Es half den Menschen dabei sehr, dass sie äußerst flexibel auf verschiedenste Nahrungsmittel zugreifen können. Koalas sind zum Beispiel dagegen sehr spezialisiert: Sie brauchen Eukalyptusblätter zum Essen. Wo es keine Eukalyptuswälder gibt, dort gibt es keine Koalas. Menschen können sich dagegen von allem Möglichen ernähren, von Wild ebenso wie von Insektenlarven, Fischen Muscheln, oder Wurzeln, Blättern, Gräsern, Früchten. Selbst von der Muttermilch anderer Tiere. Dennoch war die Konkurrenz groß und Nahrung keinesfalls leicht verfügbar

Das Klima war häufigen Veränderungen unterworfen seit Beginn des Pleistozäns vor etwa 2,588 Millionen Jahren. Seit dieser Zeit kommt es zu zyklischen Vereisungen der nördlichen Regionen unterbrochen von kurzen Warmzeiten. Die andauernden klimatischen und ökologischen Veränderungen erzeugten einen hohen Anpassungsdruck.

Neben Anpassungen an längerfristige Veränderungen mussten auch die kurzfristigen Veränderungen bewältigt werden. Am Vormittag herrschten meistens angenehme Temperaturen, im Tagesverlauf wurde es aber recht heiß, und die Nächte können auch in Afrika recht kalt werden. Dazu kamen Trockenzeiten und Regenzeiten. Mit diesen kurzfristigen Veränderungen kam Homo Sapiens zurecht.

Dann forderte die Auswanderung aus Afrika wiederum erhebliche Anpassungen an zahlreiche neue Gegebenheiten. In Europa und im nördlichen Asien mussten - und konnten - auch die strengen Winter überlebt werden, da der Mensch dank seines Großhirns und der Möglichkeit, zahlreiche unterschiedliche Nahrungsquellen für sich zu verwenden, mit einer erheblichen Flexibilität ausgestattet ist. Außerdem war Feuer beherrschbar und konnte das fehlende Fell durch Kleidung kompensiert werden.

Darüber hinaus überstanden unsere Vorfahren Parasiten, Infektionskrankheiten, Gifttiere, giftige Pflanzen und Pilze, außerdem kleine sowie größere Beutegreifer. Und mit den Mitmenschen musste man ja auch noch zurecht kommen!

Die Anpassungen betreffen natürlich nicht nur den Menschen sondern alle lebendigen Organismen. Tiere lassen sich nicht gerne jagen und Pflanzen zum Beispiel „möchten“ nicht gegessen werden. Deswegen produzieren Pflanzen zahlreiche Giftstoffe oder mechanische Abwehrmethoden wie Dornen, Wachsschichten usw. Tiere welche Pflanzen verzehren verfügen - so wie der Mensch - wiederum über zahlreiche biochemische Ausstattungen verfügt, mit denen Gifte mehr oder weniger gut neutralisiert werden können.

Das ergibt einen steten Wettstreit zwischen z.B. Pflanzen welche immer wieder neue Gifte produzieren und Pflanzenessern welche immer neue Entgiftungsmethoden entwickeln.

Teilweise setzt sich auch hier Kooperation zum gegenseitigen Vorteil durch: Die Pflanze produziert neben Dornen Giften usw. Teile welche sie „zum Verzehr anbietet“ wie Früchte oder Blüten. Dadurch werden die Samen der Pflanze besser verbreitet, und die Pflanzenesser haben mehr Nahrung. Oft gilt das Angebot allerdings nur sehr exklusiv für einzelne Arten. Die Früchte der Tollkirschen zum Beispiel sind für manche Vogelarten und Schnecken genießbar, für die meisten Säugetiere und die meisten Vögel dagegen ziemlich giftig.

Im Rahmen der evolutionären Entwicklung hat der Mensch gelernt, Pflanzen zu züchten und an seine Bedürfnisse anzupassen. Aber auch Weizen, Reis usw. gewinnen einen Vorteil. Die Pflanze bietet dem Menschen Nahrung, dafür sorgt der Mensch für ihre Ausbreitung, ausreichend Wasser und Schutz vor Insekten sowie vor Überwucherung durch Unkraut.

Die Zeit ab dem Ende des letzten Vereisungszyklus vor 11.700 Jahren wird als Holozän bezeichnet. Seit damals entwickelten die Menschen unter nun für sie günstigeren Bedingungen Landwirtschaft und größere staatliche Strukturen. Staatenbildung und mehr Nahrung bedeutete mehr Bevölkerung, aber für die einzelnen Menschen war das Leben weiterhin hart. Die Ernährung wurde mit der Landwirtschaft einseitiger, da vorzugsweise einige wenige Pflanzen kultiviert wurden. Die Bevölkerung wuchs teils rasch und konnte prinzipiell solange wachsen, wie Nahrungsquellen erschlossen werden konnten. Eine größere Bevölkerungsdichte begünstigt die Ausbreitung von Seuchen, und kurzfristige Wetterkapriolen konnten Hungersnöte bewirken.

Und rasch verstanden einige Homo Sapiens, dass die Arbeit in der Landwirtschaft mühseliger ist, als die Nahrung von anderen zu nehmen. Man konnte andere berauben oder versklaven. Gegen solche üblen Artgenossen lernte man aber auch, sich zu schützen. Nicht nur mit Stadtmauern. Mit besserer Organisation und fortschrittlicheren Waffen konnten Kriege nun in größerem Ausmaß geführt werden. Und es waren die staatlichen Strukturen sehr rigide. Dies beschreibt zum Beispiel das Gilgamesch-Epos, welches weit über 3.000 Jahre alt ist. Von diesem Gilgamesch, einem legendärem Stadtkönig von Uruk in Mesopotamien heißt es ebendort: „….gezückt sind seine Waffen. Mit dem Pukku hält er seine Genossen in Schach, ständig lässt er die jungen Leute grollend umhergehen, Gilgamesch lässt den Sohn nicht zum Vater, Tag und Nacht treibt er ihn an mit Macht …“ Die genaue Bedeutung eines Pukku ist unbekannt, möglicherweise war es eine Art Hockeyschläger. Jedenfalls wussten die Menschen in Babylonien und Assyrien, welche diese Geschichte aufgeschrieben hatten, was es bedeutete, wenn der Stadtkönig mit seinem Gerät daherkam: Man hatte zu gehorchen, hart zu arbeiten und die Befindlichkeit der Menschen interessierte die Herrscher nicht. Zumindest aber schützten die Herrscher ihre Untertanen vor den Räubern, welche von auswärts kamen. Kollektive freier selbstbestimmter Menschen dagegen waren anderen gegenüber vergleichsweise wehrlos.

Zusammengefasst:

Die Bedingungen waren also gegeben, dass Menschen überleben konnten, aber für die Menschen nur selten angenehm und schon gar nicht harmonisch. Die meiste Zeit unserer Geschichte war von einem Mangel an Nahrung geprägt. Nur unter günstigen Bedingungen kommt es zu Wachstum der Population, das aber dann sehr schnell (exponentiell) geht. Das geht so lange bis Ressourcenknappheit herrscht, also Hunger oder andere ungünstige Faktoren wie Seuchen oder Kriege die Bevölkerungszahl reduzieren. Im Laufe der Geschichte litten also immer viele an Hunger während nur wenige unter günstigen Bedingungen sich sattessen und friedlich leben konnten. Hunger bewirkt eine Verschärfung des Konkurrenzkampfes, da einfach nicht alle eine Hungerperiode überleben konnten. Und wir sind die Nachkommen von zahlreichen Ahnen welche Hungerperioden irgendwie überlebt haben.

"Die Natur macht nichts Schlechtes." Oder doch?

Im Licht der Evolution gibt es kein gut oder schlecht im moralischen Sinne. Eigenschaften und Verhaltensweisen wirken sich entweder günstig oder ungünstig aus.

Andererseits muss es für jedes Wesen, das irgendetwas wahrnehmen und die Wahrnehmung erleben kann, ein gut oder schlecht im Sinne von angenehm oder unangenehm (und außerdem neutral) geben. Und dies ist gleichbedeutend mit nützlich oder schädlich. Nahrung ist zum Beispiel gut, etwas Verdorbenes, Giftiges ist schlecht. Hunger ist unangenehm, essen ist angenehm. Gutes muss angestrebt werden, schlechtes vermieden werden. Eine fehlende Empfindungsfähigkeit für das, was angestrebt werden soll und dem, was vermieden werden soll, ist mit dem Überleben nicht vereinbar. Wozu essen wenn Hunger nicht unangenehm ist und Nahrung nicht schmeckt? Oder warum nicht ohne jegliche Umsicht auf einen steilen Felsen klettern, wenn das Herunterfallen keine Unannehmlichkeit darstellt?

Ein Adler handelt aus Sicht des Adlers "gut" wenn er einen Hasen fängt. Für den Hasen sind die Jagdfähigkeiten des Adlers "schlecht", und der Hase dann gut, wenn er eben diesem Adler rechtzeitig davon läuft. (Wenn es ein Hasenmännchen ist. Hasenweibchen laufen nicht immer davon, sondern attackieren durchaus mal einen angreifenden Adler mit Tritten, um ihre Kinder zu schützen. Das kann dem Adler schon mal eine Rippe brechen.)

Bestimmte Eigenschaften sind im Rahmen konkreter Umweltbedingungen entweder förderlich, dann breiten sich die Eigenschaften aus oder sie sind hinderlich, dann bilden sich die Eigenschaften eben zurück. Für den Adler ist es förderlich, effizienter zu jagen, dem Hasen dagegen nützt es, schneller zu rennen oder sich geschickter zu verstecken.

Es macht überhaupt keinen Sinn, in der Biologie „gut“ oder „schlecht“ im Sinne moralischer Kategorien anzuwenden. Moralische Kategorien entwickelten sich erst später im Rahmen der Evolution von Kultur und Religion.

Es können daher auch der Mensch und seine natürlichen Eigenschaften an sich weder gut noch schlecht im moralischen Sinne beurteilt werden. Dies ist wichtig, wenn man die Geschichte oder jetzt existierende indigene Völker betrachtet. Viele Vorgänge, Vorschriften, Bräuche und so weiter mögen aus unserer Sicht komisch, fremd, bösartig oder abstoßend wirken. Alles hat sich aber irgendwann einmal entwickelt, da es unter speziellen Umständen zum Überleben einmal förderlich war.

Ebenso sind Kategorien wie "schön" "oder hässlich" keine objektiven Maßstäbe, sondern unterliegen biologischen Vorgaben und beim Menschen nun auch sehr der kulturellen Entwicklung.

Es ist zum Beispiel moralisch oder ästhetisch an sich weder gut noch schlecht, dass der Mensch im Lauf seiner Evolution den Großteil seines Fells verloren hat. Der Effekt war schlicht und einfach der, dass er dadurch schwitzen kann und damit seine Körpertemperatur besser regulieren kann, was nützlich ist beim Laufen über lange Strecken. Allerdings waren die kalten Nächte für den Menschen dadurch wiederum ein größeres Problem. Anpassungen haben immer auch einen Preis, der mal gering, mal hoch sein kann. In Afrika war der Fellverlust immerhin zu einem "vertretbaren Preis" möglich und durch die Innovation der Feuerbeherrschung kompensierbar. Hätte sich die Menschheit nicht in Afrika sondern in Sibirien entwickelt, wäre ein Verlust der Fellbehaarung nicht mit dem Überleben vereinbar gewesen.

Wir würden einen Menschen mit Fell aufgrund unseres gewohnten Menschenbildes eher als hässlich empfinden. Wäre unsere Welt aber andauernd kalt und hätten wir keine technischen Mittel, um uns zu wärmen, würden wir Schwiegerkinder mit reichlich Körperbehaarung als attraktiv für unsere Kinder ansehen und hoffen, dass auch unsere Enkel mit viel Fell auf die Welt kommen.

Für das, was aus der Natur kommt, gibt es kein allgemein gültiges gut oder schlecht. Die Eigenschaften aller Lebewesen entwickeln sich in andauernder Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen und Anpassung untereinander.

Unsere Vorfahren - wir können stolz auf sie sein

Keine Sorge, ich möchte keine Konflikte mit Ihren Eltern oder Großeltern ansprechen, es geht um die entfernteren Vorfahren. Bevor Sie auf die Welt kamen, hatten Sie zwei Eltern, davor vier Großeltern, acht Urgroßeltern und da auch Uroma und Uropa nicht aus dem Nichts heraus in die Welt traten, hatten diese wiederum Eltern und Großeltern. Betrachten Sie dies immer weiter, kommen Sie zurück zu Ihren Vorfahren in der Neuzeit, davor im Mittelalter, in der Antike, vielleicht war unter den Vorfahren irgendein mittelalterlicher Tuchhändler oder eine germanische Kriegerin, oder der eine oder andere Angehörige eines asiatischen Reitervolkes, welcher römische Städte plünderte oder auch ein römischer Legionär, welcher eben diese Stadt ein paar Hundert Jahre vor den Galliern erobert hatte und eine Gallierin (ebenfalls Ihre Ahnin) zur Sklavin gemacht hatte. Weiter zurück geht es über die Bronzezeit zur Jungsteinzeit, dann zur Altsteinzeit.

Die Vorfahren in der Steinzeit waren uns von der biologischen Ausstattung her sehr ähnlich. Die Menschenart, die damals existierte und deren Linie bis zu uns führt, nennt sich Homo Sapiens. Homo Sapiens entwickelte sich langsam vor etwa 300.000 Jahren, soweit derzeit bekannt ist. Noch weiter zurück, kommen wir zu einer Gruppe von Hominiden, welche sehr menschenähnlich waren. Über einige Millionen Jahre geht es dann weiter zurück zu affenartigen Vorfahren, noch weiter zu kleinen Säugetieren, welche irgendwie den großen Asteroideneinschlag vor 66 Millionen Jahren überlebt haben, und so weiter. Im Prinzip ließe sich für jeden Einzelnen von uns einen Stammbaum aufzeichnen, welche bis über 3 Milliarden Jahre zu den ersten Einzellern zurück reicht. Im Laufe der Entwicklung gab es zahllose Anpassungen an die jeweiligen Umweltbedingungen. Der Bauplan des Körpers wurde über die DNA jeweils an die nächste Generation weiter gegeben und leicht modifiziert. Während dieser langen Entwicklung sind über 99,99% aller Tier- und Pflanzenarten längst ausgestorben. Teilweise waren sie nicht ausreichend angepasst, teilweise hatten sie einfach Pech (zum Beispiel lebten sie zum Zeitpunkt des Asteroideneinschlages auf der falschen Seite des Planeten). Zu jedem einzelnen unserer Vorfahren bis hin zu den allerersten Einzellern, welche irgendwo an einer heißen vulkanischen Quelle im Ozean oder in einem Gezeitentümpel an einer längst versunkenen Meeresküste heranwuchsen, verbindet uns eine ununterbrochene Linie mit Milliarden Verbindungsgliedern. Wäre auch nur ein einziges Bindungsglied unterbrochen worden, Sie würden nicht existieren, könnten also jetzt dieses Buch gerade nicht lesen.

Es benötigte viele Millionen Anpassungen damit Sie gerade jetzt und gerade so existieren, wie Sie sind. Ein paar andere Genmutationen vor 500 Millionen Jahren und wir würden vielleicht als röhrenwurmähnliche Wesen heute auf dem Meeresboden herumgrundeln. Zu unserem Glück haben wir uns aber über viele Stufen zum Homo Sapiens entwickelt.

Homo Sapiens bedeutet: „Der wissende (oder vernünftige) Mensch“. Also so benennen wir uns selbst. Tatsächlich sind die Entwicklung und die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns ein herausstehendes Merkmal. Der „wissende Mensch“ bezeichnet sich oft gerne auch mal als „Krone der Schöpfung“. Wenn auch die Leistungen, die der Mensch in den letzten 100 000 Jahren hervorgebracht hatte, sicher herausragend sind, so ist „Krone der Schöpfung“ wohl zu hoch gegriffen. Milliarden Jahre der Evolution sind nicht jetzt zu Ende, bloß weil wir gerade da sind. Und ganz so einzigartig sind unsere Eigenschaften nicht. Auch Tiere können Emotionen haben, sind zu hohen kognitiven Leistungen fähig, (abstraktes Denken und Werkzeuggebrauch ist nicht nur bei unseren nächsten affenartigen Verwandten, sondern auch bei Oktopus oder Krähen nachgewiesen worden), und haben Fähigkeiten, welche als „theory of mind“ (=die Fähigkeit, sich in den Gemütszustand anderer Wesen versetzen zu können) bezeichnet werden. Und die Fähigkeit ein „Ich“ von der Umwelt zu unterscheiden. Viele Experimente hat man hierzu bei Raben oder Hunden zum Beispiel gemacht. Ob Katzen über diese Fähigkeiten verfügen weiß man nicht, Katzen arbeiten schlicht und einfach bei den Experimenten nicht ausreichend mit. Katzenliebhaber würden dies für Ihre Katzen aber ohne weiteres bejahen.

Auch die sprachliche Kommunikation kann bei Tieren sehr komplex sein.

Und die ursprünglich nur den Menschen zugeschriebene Fähigkeit zum Altruismus hat man nicht nur bei uns biologisch nahestehenden Tieren entdeckt, sondern sogar bei Ameisen, (es gibt Ameisenarten, welche bei Kriegszügen gegen andere Ameisenkolonien nicht nur Soldatenameisen einsetzen, sondern auch solche, welche sich als „Feldsanitäter“ betätigen und verletzte Ameisen zurück in den Bau bringen um sie gesund zu pflegen).

Es ist auch nicht so, dass die circa 300 000 Jahre oder vielleicht ein paar 100 000 Jahr mehr, welche der Mensch existiert, im Licht der evolutionären Entwicklung besonders lange wären. Neunaugen existieren bereits seit über 300 Millionen Jahre, ohne daß sie sich seither (soweit man aus Fossilfunden ableiten kann) wesentlich verändert haben. Ob uns also unsere genetische Ausstattung längerfristig das Überleben sichert, bleibt noch abzuwarten.

Dennoch besitzt insgesamt die Art Homo Sapiens eine Kombination von Merkmalen, welche nicht nur das Überleben in einer harschen Umwelt ermöglicht, sondern letzten Endes auch die Entwicklung von Kultur und Zivilisation. Wie sich das alles entwickelt hatte ist natürlich nicht bis ins Detail geklärt und war ja auch niemand von denen, die heute daran forschen, damals dabei. Im Laufe der Zeit hat die wissenschaftliche Forschung aber doch vieles geklärt.

Was gehört also zu unseren herausragenden Merkmalen?

Die Entwicklung des Nervensystems und des Gehirns

Nervensysteme gibt es mindestens seit 500 Millionen Jahren. Als Neurologe nennt man natürlich als großen Vorzug der Menschheit den größten Verbund von Nervenzellen, also das Gehirn. Das Gehirn des Menschen ist nicht nur im Vergleich zur Körpergröße relativ groß, sondern es hat auch im Vergleich zu anderen Tieren recht viele Verknüpfungen (Synapsen) zwischen den Nervenzellen.

Gleichgewicht von Antrieb und Hemmung

Die Prozesse in unserem Körper werden zu einem wesentlichen Teil über das Nervensystem durch ein Gleichgewicht von Antrieb und Hemmung gesteuert.

Das Prinzip lässt sich gut erfassen, wenn man es mit dem Auto fahren vergleicht. Stellen Sie sich ein Auto vor mit einem Lenkrad, das ausschließlich nach links lenkt, Sie können mehr nach links lenken oder weniger nach links. Es ist klar, dass Sie damit nicht mehr als einige Meter weit kommen werden. Am besten fährt es sich wenn das Lenkrad in gleicher Weise nach links wie nach rechts gewendet werden kann. Beim Geradeausfahren halten Sie es in der Mittelstellung, (tatsächlich macht man immer wieder ganz kleine Korrekturbewegungen, mal nach links, mal nach rechts), und je nach Situation lenken Sie, wenn es erforderlich ist, dann mal mehr zur linken, mal mehr zur rechten Seite.

Auch unsere Muskelbewegungen funktionieren nach diesem Prinzip. Wenn Sie den Bizeps anspannen, um den Arm zu beugen, hält der Trizepsmuskel etwas dagegen, damit die Bewegung harmonisch verläuft. Und für jeden einzelnen Muskel muss die Spannung ebenfalls reguliert werden. Es gibt Nervenzellen (die motorischen Neurone), welche die Muskelspannung erhöhen. Diese werden wiederum in ihrer Aktivität durch andere Nervenzellen im Rückenmark und Gehirn gehemmt. Im Normalfall hat der Muskel eine passende Grundspannung, ist weder schlaff, noch verkrampft. Es stehen bereits hinter einem einfachen Vorgang wie dem Beugen eines Armes recht komplexe Vorgänge.

Für jede Bewegung und vor allem für feine Bewegungen unserer Finger führt unser Gehirn über ein Dutzend Korrekturen pro Sekunde durch. Meistens bemerken wir diese nicht. (Manche bemerken allerdings das feine Zittern der Finger bei Bewegungen, dies ist genetisch bedingt verstärkt ausgeprägt.)

Wenn wir etwas in die Hand nehmen, nehmen wir es genau so in die Hand, dass wir es halten können und damit eine Aktion durchführen können. Dafür erhält das Gehirn andauernd Rückmeldungen von zahlreichen Sensoren in der Haut, Muskeln, Gelenkkapseln und Sehnen. Damit kann der Griff reguliert und Bewegungen sehr fein abgestimmt werden. Wie komplex dies in Wirklichkeit ist, wissen die Hersteller von Robotern. Es ist extrem schwierig einen Roboter so zu konstruieren, dass er ein Werkzeug in die Hand nimmt und damit einfache Aktionen ausführt. Immerhin ist das möglich. Trotz enormer Fortschritte in der Entwicklung künstlicher Intelligenz und der Robotik ist es bisher aber noch nicht gelungen, eine Roboterhand so zu konstruieren, dass der Roboter einerseits einen Hammer so in die Hand nehmen kann, dass er ihn benützen kann ohne aus der Hand zu fliegen und andererseits ein rohes Ei so aufzunehmen, dass dieses Ei weder aus der Hand fällt, noch zerbricht. Uns gelingt das meistens ziemlich locker. Für solche alltäglichen Aktionen muss die Spannung der Muskulatur andauernd mal etwas erhöht, mal etwas reduziert werden und nur wenn Antrieb der Muskelspannung und Hemmung der Muskelspannung genau reguliert werden, ist die Bewegung flüssig und der Griff genau richtig.

Auch auf der emotionalen Ebene unterliegt das Gehirn ebenfalls Prozessen von Antrieb und Hemmung der Antriebe. Freud, der sich sehr ausführlich mit den in seinem Zeitalter sehr verdrängten Trieben beschäftigt hatte, erkannte nicht nur dass der Sexualtrieb ein enorm starker (und weil verdrängt vielfach unbewusster und deswegen dann problematischer) Antrieb ist, sondern dass es zu jedem Trieb auch eine starke Hemmung geben muss. Gäbe es zum Beispiel nur einen Sexualtrieb ohne Hemmung, hätten sich unsere Vorfahren fröhlich vergnügt, hätten aber nie Zeit gehabt für Nahrungserwerb oder sich um die Kinder zu kümmern.

Dies gilt auch für alle anderen Antriebe und Emotionen.

Um in einer harschen Umwelt zu überleben, war es notwendig Furchtsamkeit und Vorsicht zu entwickeln. Aus einer sicheren Höhle hinaus zu gehen war schlicht und einfach lebensgefährlich. Zu viel Vorsicht ließ einen aber verhungern, also brauchte man als Gegenpol zur Furchtsamkeit Mut Unternehmensgeist, Neugier und vor allem Hunger, um doch hinaus zu gehen.

Euphorie und depressive Verstimmungen müssen sich also im Gleichgewicht halten. Zu viel Euphorie und Sorglosigkeit war in der Umwelt unserer Vorfahren regelmäßig tödlich. Ängstliche Zurückgezogenheit ebenso.

Aggression war notwendig um sich zu behaupten und zwar auch gegenüber den eigenen Gruppenmitgliedern. Zu viel Aggression war aber war wiederum schlicht und einfach tödlich, daher gibt es in der Natur etwas, das man als Tötungshemmung gegenüber den Artgenossen bezeichnet. War einer bei einem Rangkampf unterlegen und verzog sich (oder lag besiegt auf dem Boden), wurde er meistens wieder in Ruhe gelassen.

Schlafen ist notwendig zur Regeneration von Gehirn und Körper, dann braucht es wieder die Wachphase um für das Leben und Überleben zu sorgen.

Das Atmen wird recht genau reguliert, wir brauchen einen Atemantrieb, damit wir genug Sauerstoff aufnehmen und Kohlendioxid abatmen. Atmen wir aber zu viel, dann atmen wir auch zu viel Kohlendioxid aus. Dies bewirkt wiederum, dass der Säuregehalt des Blutes etwas abnimmt und sich dann die Muskulatur verkrampft (im extremen Fall kommt es dann zur Hyperventilationsattacke), also fährt der Körper die Atmung herunter, wenn genug Sauerstoff und zu wenig Kohlendioxid im Blut vorhanden ist.

Ebenso gibt es zum Hunger als Gegenpol die Sättigung. Bei unseren Vorfahren war das Spannungsgefühl zwischen Hunger- und Sättigungsgefühl so austariert, dass man in einer Umwelt mit wenigen Ressourcen, welche außerdem nicht regelmäßig verfügbar waren, überleben konnte, also mehr Hungergefühl vorhanden war und weniger Sättigungsgefühl. Dieses System ist definitiv nicht austariert für eine Zivilisation, in der Nahrung andauernd verfügbar ist.

Das vegetative Nervensystem: Sympathikus und Parasympathikus

Sympathikus und Parasympathikus hemmen sich gegenseitig.

Organfunktionen, welche zu einem großen Teil nicht bewusst von uns gesteuert werden, wie zum Beispiel Verdauung, Blutdruckregulation, Durchblutung, Herzschlag, werden von Hormonen und vom vegetativen Nervensystem koordiniert.

Das vegetative Nervensystem gliedert sich in zwei Teile: Den Sympathikus und den Parasympathikus, (der Parasympathikus wird oft auch als Vagus bezeichnet, anatomisch gesehen ist der Vagusnerv aber lediglich ein Teil des parasympathischen Nervensystems). Eine gute Balance zwischen diesen beiden Polen ermöglicht es dem Körper und auch dem Gehirn, sich an die aktuellen Umweltbedingungen anzupassen. Eine gestörte Balance kann zahlreiche körperliche Beschwerden verursachen.

Die „Zuständigkeit“ des Sympathikus umfasst zum Beispiel körperliche Aktivität, Kampf, Flucht.

Der Parasympathikus wiederum ist zuständig für Verdauung, Regeneration, Rückzug und Erholung.

Beide zusammen regulieren die Körperaktivität auf die aktuellen Erfordernisse hin. Mal ist mehr der Sympathikus aktiv, mal mehr der Parasympathikus (im Grundprinzip so, wie Sie ein Auto auf einer kurvenreichen Straße mal mehr nach links, mal mehr nach rechts lenken und damit immer auf der Straße bleiben).

Nehmen wir einen unserer Vorfahren. Er begibt sich zu einer Stelle, an der kürzlich eine Giraffe verendet ist, also eine Chance auf ein anständiges Mittagessen. Dorthin schreitet er zügigen Schrittes, er muss sich beeilen, es gibt in der Nähe noch viele Lebewesen mit leerem Magen. Da er es mit der nötigen Vorsicht und Achtsamkeit tut, bemerkt er aus der Ferne, dass sich gerade ein Löwe (ebenfalls hungrig) an eben diese Stelle begeben hat. Bedauerlicherweise ist auch der Löwe achtsam und hat den Homo Sapiens schon bemerkt. Unser Vorfahr hat eine fortgeschrittene Gehirnentwicklung erreicht und besitzt genug Vorstellungskraft, dass er sich ein Stück weit in den Löwen hinein versetzen kann ... er merkt nicht nur dass, sondern auch wie der Löwe ihn anblickt und hat blitzschnell eine Vorstellung davon, was der Löwe empfindet: Er spürt den Hunger im Blick des Löwen und beide wissen dass frisches Hominidenfleisch aus heutigem Fang ein schmackhafteres Mittagessen ist als eine gestern verendete Giraffe.

In dieser Situation ist es eine gute Idee, zum Beispiel gleich mal davon zu rennen. Der Sympathikus wird in einem Bruchteil einer Sekunde alarmiert. Er fährt das Streßprogramm für Körper und Geist hoch. Damit sorgt sofort dafür, dass alle notwendigen Reserven mobilisiert werden: Die Pupillen weiten sich, das gesamte Denken wird auf die Situation mit dem Löwen eingeengt. In der Erwartung, dass die Muskeln gleich mal jede Menge Energie verbrauchen werden, wird rasch Zucker aus dem Gewebe mobilisiert, die Atemfrequenz wird erhöht um mehr Sauerstoff für den Energiestoffwechsel bereit zu stellen, der Blutdruck und die Herzfrequenz erhöhen sich, da die Muskeln gleich viel Blut anfordern werden, (diese Blutdruckerhöhung war für unsere Vorfahren nicht wirklich gefährlich, da aktive Muskeln ihre Blutgefäße erweitern und der Blutdruck dadurch wieder gesenkt wird). Der Sympathikus sorgte auch dafür ein weiteres Problem gleich vorbeugend zu lösen: Wenn unser Vorfahr jede Menge Muskelkraft aktiviert und schnell los rennt, erhitzt sich der Körper rasch, bei übermäßiger Erhitzung bricht er zusammen - nur aus Sicht des Löwen optimal. Daher hat der Sympathikus schon im Voraus die Schweißdrüsen aktiviert und wenn man losrannte, war schon die Körperkühlung eingeschaltet.

Der Löwe hatte übrigens ebenfalls seinen Sympathikus aktiviert, allerdings konnte er nicht so gut schwitzen und bei dem schnellen Sprinten wurde ihm ebenso schnell mal zu heiß.

Der Mensch ist zwar, im Vergleich zu anderen Arten, vor allem zu Löwen, nur ein mittelmäßiger Sprinter, kann aber lange Distanzen recht gut durchhalten und so war es immer wieder mal möglich dem Löwen zu entkommen. Falls die Anfangsdistanz groß genug war und der Löwe rechtzeitig bemerkt worden war.

Da alles auf die eine Situation fixiert war, wurde gleichzeitig das Vagusnervprogramm (also der Parasympathikus) herunterreguliert, es war keine Zeit, beim Laufen irgendwo Schmerzen wahrzunehmen, oder zu verdauen, die Durchblutung im Magen-Darm-Bereich wurde heruntergefahren, damit mehr Blut für die Muskeln zur Verfügung stand.

War man aber dann wieder in einem sicheren Bereich und hatte man selbst später oder hatten die Kollegen, (welche durchaus mit einem teilten, wenn man sich vorher mit ihnen gut gestellt hatte), Nahrung gefunden, war es wichtig den Sympathikus wieder herunter zu regulieren. In einer Umwelt, in der energiehaltige Nahrungsmittel knapp waren, musste ein unnötiger Energieverbrauch vermieden werden. Dauernde Muskelaktivität, hoher Blutdruck und Hyperventilation waren kostenintensiv, und unnötiges Schwitzen verbrauchte viel Wasser, das auch nicht gerade immer verfügbar (und vor allem nicht immer sauber) war.

In Ruhezeiten wurde das Kommando über das vegetative Nervensystem an den Parasympathikus übergeben: Der Blutdruck und die Herzfrequenz wurden herunterreguliert, die Atmung lockerer, Schmerz wurde wieder mehr wahr genommen, damit verletzte Körperteile nicht unnötig belastet wird, die Durchblutung des Bauches wurde angeregt und wenn Nahrung zur Verfügung stand, war es auch Zeit Verdauungssäfte zu produzieren. Der Geist war entspannter, weitete sich und Gedanken konnten wieder fließen. Nach dem Stress des Tages konnte man sich in einen sicheren Bereich zurückziehen, man konnte sich gegenseitig pflegen und ausschlafen.

Beim Schlafen kamen die Träume hinzu. Wie wir träumen und warum wir träumen ist nach wie vor nicht geklärt. Ein Aspekt des Träumens war und ist es aber wohl auch, die Situationen des Tages zu verarbeiten. Hätte man vielleicht langsamer zur Giraffe laufen sollen oder früher aufstehen müssen? Hätte man die Gefahr früher wahrnehmen können? Und die Assoziationen in den Träumen sind recht frei: Gibt es zum Beispiel eine Verbindung zwischen bestimmten Abdrücken im Boden und großen Katzen? (Irgendwann wurde ein Zusammenhang hergestellt und wurde die Fähigkeit Spuren zu lesen entwickelt, vielleicht in der Nacht nach jenem Tag).

Am nächsten Tag ging man wieder auf Nahrungssuche, vielleicht ein Stück vorsichtiger oder ängstlicher oder nur zusammen mit anderen. Aber gehen musste man, sonst wäre man verhungert.

Übrigens war Weglaufen in vielen Fällen eine gute Option für das Überleben einer Art, die relativ gut und ziemlich ausdauernd auf zwei Beinen laufen konnte.

Homo sapiens konnte außerdem natürlich auch kämpfen, wenn der Löwe schnell genug war ihn zu erreichen, und vor allem eine Gruppe von gemeinsam kämpfenden Homo sapiens war für den Löwen durchaus gefährlich. Einen Kampf zu vermeiden war dennoch oft sinnvoller, als einen Kampf zu gewinnen, da man, selbst wenn man siegreich war, Verletzungen davon tragen konnte. Infizierte Wunden waren ein gravierendes Problem. Besonders dann, wenn es keine Unfallambulanzen gab und keine Antibiotika.

Es gab aber Situationen, in denen Weglaufen keine Option war, nämlich dann, wenn kein Weg zum Weglaufen mehr offen stand. Am meisten betrifft das Frauen mit Kindern. Hier lief dann im Notfall eine Variante der Sympathikusaktivierung ab, nämlich das Programm „ich kämpfe bis zum Tod und das mit allen Mitteln“. Auch damit konnte man öfter überleben. War der Gegner nicht allzu aggressiv oder hungrig, brach er vielleicht den Angriff ab, da er nicht riskieren wollte, selber verletzt zu werden.

Eine weitere Abwehrmöglichkeit bietet der Totstellreflex: Das Pendel schlägt vom Sympathikus rasch in die Gegenrichtung, der Parasympathikus übernimmt und fährt den Blutdruck sowie alles andere runter. Es kommt zum Kollaps und zur Bewusstlosigkeit. Wenn man Glück hat, verliert der Angreifer sein Interesse.

Längerdauernde Reaktionen des vegetativen Nervensystems:

Die oben beschriebenen Stressreaktionen laufen kurzfristig ab. Das vegetative Nervensystem kann – und muss - sich natürlich auch längerfristig auf Ruhe- bzw. Stresssituationen einstellen.

Bei andauernd gefährlichen Umweltbedingungen gibt es einerseits die Möglichkeit dass es der Sympathikus seine Aktivität hinaufreguliert. Dies führt zu chronischer Anspannung, erhöhter Wachsamkeit, aber auch Einengung des Denkens mit Konzentrationsstörungen, Verdauungsstörungen, erhöhtem Blutdruck, erhöhter Herzfrequenz usw.

Andererseits gibt es aber auch die vom Parasympathikus dominierte Vermeidungsreaktion. Herunterregulierung der Aktivität und Rückzug ist ebenfalls eine Möglichkeit um chronische Stresssituationen zu begegnen. Außerdem ist diese Form energiesparender, daher nützlich gerade auch in Mangelzeiten sinnvoll.

Beides kann sowohl die Reaktion auf die äußere Umwelt betreffen als auch dann eintreten, wenn die Beziehungen innerhalb der Gruppe chronisch belastend sind.

Zum Beispiel sind Migräne oder Depressionen vom Aspekt des vegetativen Nervensystems her mehr von der parasympathischen Vermeidungsreaktion dominiert.

Angst, Unruhe und dauernde Anspannung sind dagegen mehr vom Sympathikus gesteuert.

Fehlregulationen des vegetativen Nervensystems:

Es gibt außerdem die Möglichkeit, dass beide Anteile des vegetativen Nervensystems sehr aktiv sind und es zu einem Wechselspiel zwischen erhöhter Sympathikus- und Parasympathikusaktivität kommt. Das kann sich auf der körperlichen Ebene in sehr verschiedenartigen Beschwerden äußern, wie zum Beispiel Reizdarmbeschwerden, Blutdruckschwankungen, Herzfrequenzstörungen oder auf psychische Ebene in einem Wechselspiel der Gefühle, zum Beispiel raschen Wechseln von Stimmungszuständen oder gleichzeitigen Bestehen von Unruhe, Anspannung und Hemmung.

Eine Fehlregulation des vegetativen Nervensystems trägt außerdem erheblich bei zu Schlafstörungen.

Bei Tieren laufen übrigens grundsätzlich die selben Programme ab. Vor allem bei Säugetieren. Bei denen ist übrigens das Programm "ich schütze meine Kinder" grundsätzlich mit eingeschlossen. Dies ist für die meisten von uns heute kein Thema mehr, und in einer Zivilisation, in welcher der Verstand dominiert und man Instinkte unterdrückt, werden solche Dinge nicht mehr so recht verstanden. Aber ein Muttertier ist definitiv gefährlicher als ein Vatertier. Und die nette Kuh auf der Alm kann mit gesenkten Hörnern anstürmen, wenn sich Wanderer den Kälbern nähern. Anstatt vorher den Hausverstand einzusetzen, verklagt man stattdessen nachher den Bauern. Das Verhalten vieler Zivilisationsmenschen gegenüber Tieren würde unseren Vorfahren als grenzenlos naiv erscheinen.

Dieses vegetative Nervensystem, mit dem unsere Vorfahren recht gut an die damalige Umwelt angepasst waren, besitzen wir in der gleichen Ausstattung noch heute. Das, was in diesem Nervensystem damals abgelaufen ist, die Alarmreaktion bei Gefahr, die Entspannungs- und Regenerationssysteme beim Lagerfeuer, die Vermeidungsrektion des Parasympathikus, die Kampf- und Weglaufreaktion des Sympathikus: Es läuft auf der körperlichen und psychischen Ebene prinzipiell in gleicher Weise bei uns heute noch ab.

Nur: Die Umwelt hat sich dank unserer Zivilisation erheblich geändert.

Stress macht den Körper und den Geist bereit für Kampf, Flucht oder beides. Das ist heutzutage recht unpraktisch bei Prüfungen, einer Auseinandersetzung mit KollegInnen oder im Straßenverkehr.

Und im Ruhemodus am Abend haben wir jede Menge zum Essen und viel Alkohol zur Verfügung. Der Parasympathikus meldet sich dann und spricht: Erinnere dich, die letzten 300.000 Jahre gab es meistens am nächsten Tag kaum was zu essen, also nimm so viel wie möglich, solange die Gelegenheit da ist! Und bei chronischem Stress und unüberschaubarer Umwelt schaltet sich immer noch die parasympathische Vermeidungsreaktion ein.

Nachteile eines großen Gehirns

Wenn wir uns jetzt 200 000 oder 300 000 Jahre zurück denken, in eine Zeit, in der unsere Vorfahren mit Überleben, Nahrung suchen, vermeiden selber zu Nahrung zu werden und gelegentlich sich vermehren, beschäftigt waren, dann erscheint ein großes Gehirn zuerst einmal als Nachteil.

Evolutionsbiologische Nachteile eines großen Gehirns sind:

Ein großer Kopf und dadurch eine schwere, für die Mutter und das Kind gefährliche Geburt zu einem sehr frühen Reifungszeitpunkt

Eine extrem lange Zeit der Reifung von der Geburt bis zur Selbständigkeit

Hoher Energieverbrauch

Mehrheitlich entwickelten die Tiere keine großen Gehirne. Die oben erwähnten Neunaugen kommen seit 300 Millionen Jahr auch mit einem geringen Gehirnvolumen gut durch die Evolution. Große Intelligenz kann hilfreich sein, ist aber ganz offensichtlich zum Überleben nicht unbedingt notwendig. Und allein schon angesichts der Tatsache, dass die große Intelligenz es uns als einziger Spezies ermöglicht, nicht nur einen beträchtlichen Teil anderer Arten auszurotten, sondern prinzipiell auch uns selber, ist es fraglich, ob hohe Intelligenz unser Überleben längerfristig sichert.

Ein großes Gehirn benötigt nun mal einen großen Kopf. Aufgrund des aufrechten Ganges konnte aber irgendwann das Becken der Frauen nicht mehr breiter werden. Deswegen werden Kinder relativ früh geboren, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch nicht weit entwickelt sind. Zu diesem Zeitpunkt sind Menschenkinder völlig hilflos. Obwohl Menschenkinder im Verhältnis zu ihrem Reifestadium recht früh zur Welt kommen, ist die Geburt jedes einzelnen Kindes schwierig, Komplikationen bei der Geburt sind häufig und ist die Sterblichkeit bei Menschengeburten recht hoch. In manchen Ländern sterben bei Schwangerschaft und Geburt auch heutzutage noch über 5% der Frauen. Und die Säuglingssterblichkeit, (das bedeutet die Sterberate vor dem 1. Lebensjahr) liegt dort auch über 10%.

Noch dazu bedingt ein großes Gehirn eine lange Entwicklungszeit.

Bei anderen Tieren ist die Gehirnentwicklung und die gesamte Entwicklung bis zur Selbständigkeit weniger schwierig. Zum Beispiel benötigt ein Krokodil, das aus dem Ei schlüpft, nur wenig mütterliche Fürsorge. Die Mutter nimmt es nach dem Schlüpfen ins Maul und trägt es zum Wasser. Ab dem Zeitpunkt, an dem es in das Wasser entlassen wird, (also einige Minuten bis Stunden nach dem Schlüpfen aus dem Ei), ist das Krokodiljunge selbständig genug, um sich dort die Nahrung zu, zu überleben und ein kleiner Teil der zahlreichen Krokodiljungen erreicht das Erwachsenenleben. Krokodile haben also wenig Aufwand für Gehirnentwicklung und Pflege der Nachkommenschaft. Und mit wenig Gehirn und wenig Brutpflege existieren sie erfolgreich immerhin bereits seit ca. 80 Millionen Jahren.

Bei Menschen benötigt es wegen der aufwändigen Gehirnentwicklung viele Jahre, bis die wenigen Kinder selbständig werden. Daher müssen Kinder im Familienverband oder familienähnlichen Strukturen groß gezogen werden, was wiederum recht komplizierte Sozialstrukturen bedingt.

Ein großes Gehirn benötigt außerdem viel Energie. Es benötigt circa 20% des Sauerstoffes, den ein Mensch im Ruhezustand verbraucht, des Weiteren ist es recht anspruchsvoll. Für seinen Energiestoffwechsel benötigt es große Mengen an Glucose (Zucker), während andere Organe, wie zum Beispiel Muskeln, jede Menge sonstige Nährstoffe verwerten können (Aminosäuren, Fette, Ketonkörper). Diese Energie muss erst mal erworben werden.

Vorteile eines großen Gehirns:

Das große Gehirn braucht also viel Energie und viel Zeit zur Entwicklung. Die Energie musste irgendwie in Form von Nahrung erworben werden, und für die Nachkommen musste wegen der langdauernden Gehirnentwicklung viel Zeit investiert werden, die sich in irgendeiner Form lohnen musste.

Damit so etwas wie die Entwicklung eines großen Gehirns überhaupt hatte stattfinden können, musste es einen erheblichen Nutzen haben, welcher nicht nur ein Überleben trotz großen Gehirns ermöglichte, sondern besseres Überleben wegen eines großen Gehirns. Und zwar Nutzen im evolutionsbiologischen Sinne dahingehend, dass letztendlich die Gene effizienter weitergegeben werden konnten. Welche Vorteile die Wichtigsten waren und den eigentlichen Anstoß für die außergewöhnliche Gehirnentwicklung des Menschen gaben, ist bei Forschern umstritten. Offensichtlich jedenfalls war es letzten Endes wohl eine Kombination mehrerer Eigenschaften, welche beim Menschen die Entwicklung des Gehirns förderten.

Sprache und Abstraktionsfähigkeit

Unbedingt zu nennen ist die Entwicklung von Sprache. Akustische Kommunikation kann auch bei Tieren komplex sein. Die menschliche Sprache ist aber mit ihren vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten einzigartig. Damit war nicht nur Kommunikation über größere Distanzen möglich, sondern auch die Entwicklung von abstraktem Denken (also Dinge zu benennen, welche zumindest im Augenblick nicht konkret sichtbar waren, oder letztendlich auch solche, welche nie real existierten).

Darüber hinaus war eine effizientere Weitergabe von Wissen möglich. Kultur gibt es bei Tieren auch, die Jungen lernen von den Erwachsenen Fertigkeiten durch Zusehen und Nachmachen. Junge Affen an den Stränden in Thailand schauen den Alten zu, wie diese Muscheln mit Steinen knacken und machen es ihnen dann nach. Der Mensch aber war nicht mehr nur daran gebunden, etwas vorzuzeigen und nachzumachen. Dank der Sprachfähigkeit konnten technische Fertigkeiten zusätzlich durch Unterricht von Schülern durch Lehrer erlangt werden. Und durch Sprache konnten sogar neue Möglichkeiten gedacht und die Gedanken diskutiert werden.

Wahrscheinlich eng mit der Fähigkeit, abstrakte Dinge, zu benennen war wohl auch die Fähigkeit zum symbolischen Denken. Dies mag relativ einfache Grundlagen gehabt haben. Einige Fußabdrücke können zum Beispiel darauf hinweisen, dass in dieser Richtung, hinter jenem Hügel, eine Gruppe Zebras ist, dies könnte ein lohnendes Ziel für die Jagd sein. Sieht man daneben den Abdruck einer Löwin, ist es vielleicht doch besser Beeren und Wurzeln zu sammeln. Man hatte aus solchen Informationen ein Wissen um die Existenz von etwas, das vorerst einmal nicht sichtbar war. Irgendwann begannen Menschen, selber Zeichen zu machen und ihnen Bedeutung zu geben. Wenn man Informationen anderen Stammesgenossen durch Zurufe oder Zeichen kommunizieren konnte, war dies ein weiterer Vorteil.

Mit Sprache und Abstraktionsfähigkeit war es möglich, Erfahrungen zu berichten und darüber hinaus sich Geschichten auszudenken.

Und mit der Möglichkeit zu sprechen kamen auch ganz neue Möglichkeiten zur Lüge.

Tiere können zwar auch betrügen. Afrikanische Drongovögel stoßen zum Beispiel, wenn ein Tier verendet ist, Rufe aus, welche andere Tiere als Warnung vor Feinden verwenden. Sind die Konkurrenten vor dem nicht vorhandenen Feind davongelaufen, hat der Drongo die Mahlzeit für sich allein. Anglerfische haben einen Fortsatz, welcher aussieht wie ein kleiner Fisch um Beute herbeizulocken usw.

Aber Menschen können aufgrund ihrer Abstraktionsfähigkeit und komplexen Sprache besonders perfide und komplizierte Lügengeschichten erfinden.

Aufrechtes Gehen: Freie Hände, Gebrauch von Werkzeug und Feuer

Für das aufrechte Gehen allein benötigt man kein großes Gehirn. Aber beim Menschen haben sich aufrechter Gang und Gehirnentwicklung gegenseitig beeinflusst.

Ein Strauß läuft sehr gut auf seinen kräftigen Beinen und benötigt dafür keinen großen Kopf. Beim Strauß haben sich aber die vorderen Extremitäten zurückgebildet, weil er sie nicht mehr zum Fliegen braucht. Und es gab keine gute Möglichkeit, die Flügel bald mal zu Greiforganen umzurüsten. Beim Menschen aber konnten die vorderen Extremitäten für andere Aufgaben verwendet wurden. Die freien Hände ermöglichten früher das Klettern auf Bäumen, später den Gebrauch von Werkzeug. Werkzeuge werden zwar auch von Tieren verwendet, z.B. stellen manchen Krähenarten aus Zweigen Haken her, mit denen sie nach Insektenarten angeln können. Aber bei Menschen wurde der Werkzeuggebrauch immer differenzierter. Dank zunehmender Gehirngröße stand viel Rechenkapazität zur Verfügung zur Koordination der Finger. Der Energieverbrauch für diese Rechenarbeit des Gehirns wurde mehr als ausgeglichen.

Mit scharfkantigen Steinen konnte man Nüsse besser knacken oder Knochen von Tieren aufbrechen um an das fetthaltige Knochenmark zu kommen. Einfache Waffen wie geworfene Steine oder spitze Holzstöcke konnten den Jagderfolg verbessern, und eine Homo Sapiens Gruppe konnte sich schon mit den primitiven Waffen gegen Beutegreifer wehren.

Die Herstellung von Werkzeugen und Waffen lässt sich über 1 Million Jahre zurückverfolgen. Kunstgegenstände gibt es seit mindestens 70.000 Jahren.

Als nun die Hände frei und das Gehirn groß genug war, konnte außerdem Feuer kontrolliert werden, und das seit weit über 1 Million Jahren. Die Kontrolle über Feuer machte es nicht nur möglich sich in der Nacht zu erwärmen. Womit nicht nur Nachteile des Verlustes der Fellbehaarung zum Teil ausgeglichen wurden, sondern auch Nahrung so zubereitet werden konnte, dass weniger Energie für die Verdauung der Nahrung und für das Kauen investiert werden musste. Darüber hinaus wurden beim braten gefährliche Keime und Parasiten abgetötet. Das Gehirn war zwar anspruchsvoll in seiner Energieversorgung aber es ermöglichte zum Ausgleich, dass immer mehr und höherwertige Nahrung zur Verfügung stand.

Mit geschickten Fingern konnte man sich außerdem selber und den Artgenossen Parasiten aus der Haut entfernen, dadurch wurde die Last durch Infektionskrankheiten reduziert.

Später konnten die Hände dann noch verwendet werden, um Kleidung herzustellen, damit konnte der Mensch sich effizienter in die kühlen Zonen des Planeten ausbreiten.

Aufrechtes Gehen: Kooperatives Jagen und gut schwitzen können

Klimaveränderungen gab es immer wieder, (dies bedeutet nicht, dass ich es befürworte, dass die Menschheit heutzutage konsequent die Chemie der Atmosphäre unseres Planeten verändert). In Afrika, also dort wo wir herkommen, gab es Zeiten, in denen sich der Urwald ausbreitete, es gab Zeiten, in denen die Sahara grün war, es gab Zeiten, in denen sich Wald zurückbildete und dafür mehr Savannenlandschaft mit hohen Gräsern sich ausbreitete, sowie Wüsten entstanden. Jede Veränderung bewirkte vielfältige Anpassung. Einige unserer Vorfahren begannen sich von den Wäldern in das Savannengras zu begeben. Hier war es günstig sich aufzurichten, man konnte etwas mehr Überblick gewinnen, als wenn man auf vier Füßen stand. Auf zwei Beinen sich zu bewegen ermöglichte es, sich über längere Strecken schneller, ausdauernder und mit weniger Energieaufwand fortzubewegen als auf vier Beinen.

Effizientes Laufen über längere Strecken wurde nicht nur durch den aufrechten Gang und eine relativ gut ausgeprägte Beinmuskulatur möglich, sondern auch den Verlust des Fells.

Der Verlust von Fell brachte wiederum Vorteile und Nachteile.

Nachteil war die direkte Sonneneinstrahlung auf der Haut. Dadurch wird Folsäure zerstört, dies ist ein wichtiges Vitamin, vor allem für schwangere Frauen. Eine dunkle Haut verminderte den nachteiligen Effekt der Sonneneinwirkung. Ist die Haut aber zu dunkel, wird zu wenig Vitamin D produziert, welches wieder für die Knochen notwendig ist. Deswegen wurde die Haut bei denjenigen, welche in die hohen nördlichen Breiten ausgewandert sind, wieder heller.

Ein zweiter Nachteil des Fellverlustes war mehr Energieverlust in kalten Nächten.

Der Vorteil des Fellverlustes war, dass Menschen besser schwitzen können und damit effizienter ihre Körpertemperatur regulieren können. Dadurch wird verhindert, dass sich der Körper Aufgrund die Arbeit der Muskulatur zu schnell überhitzt. Darüber hinaus bedeutet weniger Fellbehaarung auch weniger Parasiten, welche im Haarkleid nisten konnten, (von denen gab und gibt es allerdings immer noch genügend).

Der Mensch hatte nun die kognitiven Voraussetzungen, um sich in seiner Umwelt besser zurecht zu finden, sowie die körperlichen Voraussetzungen, um sich effizient und schnell über längere Strecken fortzubewegen.

Darüber hinaus entwickelte er hinreichende komplexe Sozialstrukturen für das gemeinsame Jagen. Unsere Vorfahren waren Sammler und Hetzjäger. Sie konnten gemeinsam ein Tier jagen, das viel schneller sprinten konnte. Wenn eine Gazelle aber auch locker über kurze Strecken dem Homo Sapiens davon sprintet, kommt das Tier bald in die Situation, dass es seine Körpertemperatur wieder herunterregulieren muss. Schwitzen kann es nicht so gut wie der Mensch. Die Wärmeabfuhr geschieht, indem es sich im besten Fall in den Schatten legt und hechelt. Die überschüssige Wärme wird über die Zunge abgeführt, was wesentlich weniger effizient ist, als das Schwitzen auf der ganzen Haut. Während es seine Körpertemperatur herunterregulierte, kamen unsere ausdauernden Vorfahren ihm bald nach. Es sprintete wieder weg bis es nicht mehr konnte und zuletzt konnte man es in die Enge treiben. Dies funktionierte aber nur dann effizient, wenn man zusammen gearbeitet hatte und sich auch über größere Distanzen koordinieren konnte. Dazu benötigte es immer komplexere soziale Bindungen innerhalb der Gruppe. Es war dafür notwendig, dass sich alle nach ihren Fähigkeiten in ihre Gruppe einbrachten. Zusätzlich zur pflanzlichen Kost war nun immer mehr hochwertiges frisches Fleisch verfügbar. Für die einzelnen Mitglieder machte das natürlich nur dann Sinn, wenn alle auch ihren Anteil an Nahrung bekamen und außerdem ihren Anteil an Sex (sonst hätten sie ja nicht ihre Gene weiter geben können). Wer nicht kooperierte, bekam im Allgemeinen nicht viel ab.

Nachteile eines aufrechten Ganges

Wie immer ist die Evolution nicht gerade freundlich gegenüber den einzelnen Lebewesen. Auch die Vorteile des aufrechten Gehens müssen durch einige Nachteile „bezahlt“ werden.

Der aufrechte Gang veränderte die Statik unserer Wirbelsäule und unserer Gelenke ganz erheblich. Die Anpassung an die neue Statik ist bis heute noch nicht perfektioniert, deswegen haben wir (unter anderem) viele Beschwerden im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule.

Darüber hinaus hat der Mensch ein großes Gehirn und ein großes Gehirn benötigt nun mal einen großen Kopf und dieser ist schwer. Der Kopf muss bei aufrechter Position von der Halswirbelsäule und der dazugehörigen Muskulatur einerseits gehalten und ausbalanziert werden, gleichzeitig muss er gut beweglich sein. Das führt häufig zu Abnützungen der Halswirbelsäule und schmerzhaften Muskelverspannungen.

Die Muskulatur der Wirbelsäule unserer Vorfahren wurde allerdings regelmäßig trainiert, vermutlich liefen unsere Vorfahren pro Tag 20 bis 30 Kilometer.

Komplexe soziale Strukturen

Die überwiegende Zeit der Vorgeschichte lebten unsere Vorfahren in kleinen überschaubaren Gruppen und darüber hinaus vielleicht in lockeren Stammesverbänden. Wahrscheinlich waren die Gruppenstrukturen und die Regeln des Zusammenlebens von Stamm zu Stamm sehr unterschiedlich. Jedenfalls können auch heute noch in verschiedensten Völkern und Kulturen sowohl „modernen“, als auch indigenen Kulturen, sehr unterschiedliche Organisationsformen beobachtet werden. Es ist unwahrscheinlich, dass es eine einzige ursprüngliche Kultur gegeben hat und finden sich heute bei indigenen Völkern sowohl zum Beispiel patriarchale als auch matriarchale, recht hierarchische und ziemlich egalitäre (gleichmachende) Strukturen.

Während gesellschaftliche Strukturen offensichtlich sehr flexibel sein können, bestanden für Menschen, welche unter schwierigen Bedingungen in Gruppen von wenigen Dutzend bis 100 Personen überleben wollten, jedoch immer grundlegende Notwendigkeiten.

Während das einzelne Individuum relativ schwach und verletzlich ist, konnte eine gut kooperierende Gruppe es auch mit großen Gegnern aufnehmen. Kooperierende Jäger konnten über viele Kilometer Gazellen zu Tode hetzen oder ein Mammut erlegen (versuchen Sie das mal alleine mit Speeren und Wurfstöcken) und sich auch gemeinsam gegen große Katzen oder Rudeln von Hyänen zur Wehr setzen. Natürlich bei Bedarf auch gegen den Stamm auf der anderen Seite des Flusses. Man konnte sich bei Krankheit gegenseitig pflegen, sich bei der Kindererziehung unterstützen, die Jungen konnten von den Alten lernen. Wenn einzelne Wache halten, können die anderen gut und tiefer schlafen.

Und alle konnten ihre speziellen Fähigkeiten einbringen, manche waren bessere Läufer, andere hatten schärfere Augen, konnten besser mit Kindern umgehen, waren geschickter in der Herstellung von Geräten und Waffen, wieder andere kannten sich ein Stück besser mit Pflanzen aus, deren Eignung zur Nahrung oder ihren pharmakologischen Eigenschaften und so weiter.

Neben dem Erschlagen werden war das Ausgestoßen sein aus der Gruppe die höchstmögliche Form der Bestrafung. Wer ausgestoßen war konnte noch so stark sein, allein geblieben waren die langfristigen Überlebenschancen gering und die Fortpflanzungschancen sehr gering. Ein Einzelner musste sich verstecken, möglichst unauffällig bleiben und sich irgendwie doch seine Nahrung und sein Wasser suchen. Alleine schlafen macht vielen Menschen heute noch ein Unbehagen, welches in unserer Zeit nun nicht mehr rational begründbar ist. In der Vorzeit war es tatsächlich oftmals gefährlich. Allein stand man unter chronischem körperlichen und mentalen Stress (biochemisch kommt es dabei meist zu einer regelmäßigen Sympathikusaktivierung, außerdem produziert der Körper vermehrt Stresshormone wie Cortisol).

Natürlich, ein geschickter Homo Sapiens konnte eine Zeitlang mal allein zurechtkommen, im Allgemeinen war es – zumindest längerfristig - besser, innerhalb der Gruppe zu bleiben. Und alleine vermehren konnte man sich sowieso nicht.

Damit nicht allzu viele gegenseitige Verletzungen auftraten, musste Aggression eingegrenzt werden. Zu viele Konflikte und Spannungen bedeuteten für die Mitglieder einer Gemeinschaft ebenfalls chronischen Stress mit spürbaren körperlichen Beschwerden. Daher war man regelmäßig bestrebt, unnötigen Stress im gemeinsamen Beziehungsnetzwerk zu reduzieren. Aggressivität verschwand jedoch nicht, da es einer gewissen Aggressivität bedurfte, um sich überhaupt zu behaupten.

Andererseits war vielfältige Kooperation unter den an sich aggressiven Homo Sapiens notwendig.

Es war nicht immer der Stärkste, welcher an der Spitze der Hierarchie stand, sondern öfters auch Derjenige, der ein besseres Netzwerk an Beziehungen aufbauen konnte. Das beobachtet man auch bei Schimpansengruppen. Natürlich konnte sich theoretisch immer der Stärkste an die Spitze der Hierarchie prügeln. Jedoch bestand für ihn einerseits die Gefahr, dass er dabei selber verletzt wird, andererseits auch, dass er sich zu unbeliebt machte und sich irgendwann die Anderen von ihm abwandten. Oder, wenn er allzu gewalttätig und unbeliebt war, dass sich mehrere gemeinsam gegen ihn wandten.

Die äußeren Gefahren sind in unserer Gesellschaft weitgehend abgeschafft. Aber auch heute ist es noch so, dass Personen, welche nicht Teil der Gruppe sind, die vereinsamt sind, häufig an psychosomatischen und körperlichen Beschwerden, sowie Depressionen leiden. Dies trotz objektiver äußerer Sicherheit, ausreichend Nahrung, etc. Für unser biologisches System bedeutet Alleinsein weiterhin Stress mit deutlichen psychischen und körperlichen Auswirkungen. Ebenso belasten natürlich chronisch negative Beziehungen und Sozialstrukturen.

Für die Medizin ergibt sich, dass Themen wie Gesundheit oder Krankheit nicht nur auf der Ebene individueller Vorgänge zu betrachten sind, sondern auch im sozialen Kontext. Vor allem bei chronischen Erkrankungen.

Die menschliche Biologie funktioniert sowohl in ihren mentalen als auch in ihren körperlichen Aspekten seit Hunderttausenden Jahren nun mal am besten in einem überschaubaren sozialen Netzwerk mit gut funktionierenden Beziehungen.

Ist das soziale Netzwerk zu groß, wird es für den Menschen unübersichtlich. Die Entwicklung von staatlichen Strukturen, welche vor ca. 10 000 bis 12 000 Jahren begannen, (nicht zufällig ab dem Holozän nach dem Ende der letzten Eiszeit, als günstigere klimatische Bedingungen mit der Möglichkeit zur Landwirtschaft entstanden), erforderte eine Reihe von Anpassungen. Insbesondere erforderten Staaten auch Organisation und hierarchische Strukturen. Die Mechanismen von Respekt gegenüber Alphatieren, Dominanzverhalten, Selbstbehauptung und Einordnung in die Gruppe wirkten nun mit der Staatenbildung in einem zunehmend größeren - und für den Einzelnen zunehmend nicht mehr zu überblickendem - Rahmen.

Da es grundsätzlich gefährlich war aus der Gruppe verstoßen zu werden, galt es allgemein, sich einzuordnen, sich nicht zu oft mit den Alphatieren anzulegen sowie sich möglichst an die Regeln und Tabus des eigenen Stammes zu halten. Und später an die Ordnung des jeweiligen Staates.

Für die Entwicklung der Menschheit war es allerdings immer außerdem notwendig, dass Einzelne zumindest mal ein bisschen ihre eigenen Wege gingen, neue Gedanken dachten, neue Reviere erkundeten, neues Wissen erwarben. Zu eigenständig denken und handeln sollte man aber besser nicht.

Und so sind es Menschen gewohnt, dem Druck nach Konformität und einer Autorität eher nachzugeben. Eben weil es meist für das Überleben sinnvoll war. Wenn im Stamm ein gefährliches Unternehmen beschlossen wurde, konnte es zwar sein, dass einzelne Vorsichtigere davor warnten, („Hey Leute, anstatt einen Höhlenbären zu jagen, könnten wir doch auch sammeln gehen, gerade jetzt gibt es viele Pilze“). Vielleicht gingen die Anderen auf die Warnungen ein. Wenn man jedoch überstimmt wurde, war es aber besser mitzugehen. Alleine bleiben war die wesentlich schlechtere Option, als gemeinsam ein gefährliches Unternehmen zu bewältigen. Waren die Kollegen erfolgreich, war man selbst ein Außenseiter geworden. Waren sie nicht erfolgreich war man auch am Misserfolg mit schuldig, da man ja nicht geholfen hatte als es am notwendigsten gewesen wäre.

Heute gibt es keine Großtiere mehr mit einfachen Waffen zu jagen und unsere große Gesellschaft ermöglicht äußerst viele Freiheiten. Man kann sich sozusagen aussuchen, zu welchen Stämmen man gehören will (z.B. Fanclubs, Vereinen, Parteien …) und die Mitgliedschaften sind flexibel geworden.

In unserer menschlichen Biologie ist aber weiterhin der instinktive Reflex, Autoritäten zu folgen und mit den Anderen mitzulaufen, tief verankert. Es bedarf einiger Willenskraft und Nachdenkens, um nicht blindlings einer Mehrheit in ein Unglück zu folgen.

Es hat sich gezeigt, dass Menschen, welche in einer Demokratie aufgewachsen sind und moralisch gefestigte Überzeugungen haben, unter Anleitung einer Autorität, zum Beispiel der Autorität eines Wissenschaftlers, durchaus bereit sind Mitmenschen zu quälen oder gar in Lebensgefahr zu bringen. Und das entgegen ihrer eigentlichen Überzeugung! Nicht nur die Geschichte zeigt das auf. Dies wurde mehrfach in psychologischen Experimenten untersucht. In einem der berühmten Milgramexperimente versetzten die Untersuchungsteilnehmer unter Anleitung eines Versuchsleiters zur Erforschung von Lernprozessen Versuchspersonen (vermeintlich, in Wirklichkeit war es ein Schauspieler) schmerzhafte und gefährliche elektrische Schocks. War ein Leiter anwesend taten es circa 2 von 3 Personen, bei zwei weiteren Leitern sogar 90%.

Versuchen Sie einmal ein Fußballstadion mitten in einer Gruppe von Fans sitzen zu bleiben, wenn alle rundherum aufstehen und jubeln. Oder wenn alle in einer bestimmten Weise gekleidet sind, sich ganz anders anzuziehen. Im Falle von Mode ist Konformität weniger problematisch (allerdings nicht ganz unbedenklich, beispielsweise können auf Dauer getragene zu enge Schuhe die Füße erheblich schädigen). Bei aggressiven Fanclubs, politischen oder religiösen Bewegungen wird die Gruppendynamik allerdings irgendwann einmal gefährlich.

Oben erwähnte Experimente zeigten aber auch: Zumindest eine Minderheit der Menschen in unserer Gesellschaft können frei denken und geben nicht so leicht ihre Überzeugungen auf, nur weil sie mit irgendeiner Autorität konfrontiert sind. Eigenes Nachdenken und freies Entscheiden ist auch unter erschwerten Bedingungen möglich!

Sexualität und Partnerschaft

Das soziale System unserer Vorfahren wurde besonders kompliziert durch das Aufziehen von Kindern, das ist bekanntermaßen auch heute ein sehr schwieriges Thema. Bis ein Kind ein Alter erreicht, in dem es halbwegs selbständig ist, benötigt es beim Menschen viele Jahre und dazu waren intensive Bindungen zwischen Eltern und Kindern sowie Bindungen zwischen den Erwachsenen notwendig.

Und es sei noch einmal wiederholt: Es hat sich das an Eigenschaften und Strukturen das durchgesetzt, was förderlich war für das Weitergeben der Gene. Nun ergab sich ein erhebliches Spannungsfeld: Für einen Mann, beziehungsweise für seine Erbinformationen, würde vordergründig ein Vorteil darin bestehen, seine Gene möglichst weit zu verteilen und mögliche Konkurrenten auszuschalten. Das machen zum Beispiel Gorillas. Ein Gorillamann hat einen Harem und prügelt sich fleißig mit allen männlichen Konkurrenten. Dies ist aber sehr energieaufwändig und auch verletzungsträchtig. Irgendwann ist er geschwächt und alt genug, dass er sich einem stärkeren, jüngeren und erfolgreicheren Konkurrenten gegenüber sieht. Nach der Niederlage wird er von seinem Harem vertrieben und stirbt meistens bald. Solange er den Harem noch beherrscht, hat er natürlich sehr viel Stress und wenig Zeit sich um die Kinder zu kümmern.

Beim Menschen dauert das Aufziehen von Kindern wesentlich länger als bei Gorillas. Daher ist es für die Gene des Mannes sinnvoller sich auch um die Kinder zu kümmern ... und ab und zu einen Seitensprung zu machen.

Frauen dagegen können ihre Gene nicht so breit streuen. Eine Schwangerschaft dauert schließlich neun Monate, dann kommen bei unseren Vorfahren noch zwei oder drei Jahre Stillzeit hinzu. Für die Frau besteht die richtige Strategie darin, sich den besten Mann in der Gruppe zu suchen, was aber notwendigerweise zur scharfen Konkurrenz mit anderen Frauen führt. Also nimmt sie vielleicht mit dem Zweitbesten vorlieb. Auf jeden Fall muss sie sich viel mehr überlegen, für wen sie ihre kostbare Eizelle verwendet. In weiterer Folge war es notwendig den Mann, (der übrigens nicht unbedingt der Vater des Kindes sein musste - ja es tut mir leid, aber Evolution hat nichts mit dem zu tun, was wir Moral nennen), dazu zu bewegen, sich um sie und die Kinder zu kümmern. Dadurch nahm im Laufe von 100 000 oder Millionen Jahren auch die Sexualität beim Menschen einen besonderen Entwicklungsweg.

Bei vielen Tieren gibt es Zeiten der sexuellen Aktivität, dann werden Nachkommen gezeugt, anschließend herrscht über die meiste Zeit sexuelles Desinteresse. Rehe paaren sich im Sommer, nach der Paarung bleibt der Bock ein paar Tage in der Nähe (um andere Böcke zu vertreiben), dann gehen beide ihre eigenen Wege. Das ist aber längst nicht bei allen Tierarten so und Menschen sind nun mal keine Rehe. Es ist ein grandioser Irrtum von Generationen von Päpsten, welche lehren, dass der ausschließliche (und gottgewollte) Zweck der Sexualität das Zeugen von Kindern sei. Diese Lehre ist biologisch sowie anthropologisch falsch und hat sich für zahllose Menschen als äußerst schädlich erwiesen.

Da Mann und Frau sich gemeinsam um Kinder kümmern mussten, wurde Sex in der menschlichen Entwicklung auch mehr und mehr zur Beziehungspflege. Der Mann konnte weiterhin seine Sexualität ausleben und die Gefahr, dass er sich zu viel um andere Frauen kümmerte, war verringert. Freilich konnte er sich seinerseits nie so ganz sicher sein, ob es tatsächlich seine eigenen Kinder und damit seine Gene waren, um die er sich kümmerte. Da entwickelten sich dann auch solche Dinge wie Eifersucht.

Ein weiteres Problem waren auch in dieser Hinsicht Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen. Einerseits waren diese Auseinandersetzungen oft von Gewalt gekennzeichnet, da man um knappe Ressourcen gekämpft hatte. Andererseits war es biologisch denkbar ungünstig, sich nur innerhalb der eigenen Gruppe zu verpartnern. Dies bedeutet Inzucht und führt mit der Zeit, wenn die Gruppe zu klein ist, zu genetischer Degeneration. Also war es durchaus sinnvoll, sich ab und zu mal mit Angehörigen der benachbarten Gruppe zu treffen, um ein paar Gensätze wieder neu zu durchmischen. Das war biologisch notwendig, obwohl man Fremden gegenüber grundsätzlich misstrauisch war.

Das Grundprinzip sieht man noch heute in zahlreichen Filmen oder Geschichten. Zwei Staaten, oder Fraktionen, Familien, Könighäuser sind miteinander verfeindet, aber irgendein Angehöriger von Gruppe A verliebt sich in eine Angehörige der verfeindeten Gruppe B. Es hat einen sinnvollen evolutionsbiologischen Hintergrund: Julia vermeidet Inzucht und verliebt sich in Romeo, statt mit ihrem Cousin Kinder zu zeugen.

(Ich gebe es zu: Shakespeare hat das viel poetischer zum Ausdruck gebracht.)

Und weiter ist auch heute noch vielfach zu beobachten: Frauen tendieren dazu Sex zu haben damit sie eine Beziehung haben können, Männer eher dazu eine Beziehung zu haben um Sex haben zu können.

Es geht aber keinesfalls nur um die Sexualität, sondern damit eng verbunden ist Nähe und ursprünglich auch viel die gegenseitige Körperpflege. Beobachtet man Affengruppen, kann man sehen, dass die ranghöheren Tiere mehr Kontakte mit anderen haben und den Alphatieren häufiger das Fell gepflegt wird. Körperliche Nähe mit vertrauten Gruppenmitgliedern stärkt Bindungen, vermindert Auseinandersetzungen und reduziert den Level an Stresshormonen. Darüber hinaus war immer der Befall durch Parasiten ein erhebliches Gesundheitsproblem. Das gegenseitige Entfernen von Hautparasiten war in Zeiten ohne Antibiotika, Insektenschutzspray, Hautcremes, etc., enorm wichtig für die Gesundheit. Dabei waren Frauen generell geschickter als die Männer, da sie primär diejenigen waren, welche die Kinder gepflegt hatten.

Dies mag auch erklären warum einer der häufigsten Berufswünsche bei jungen Mädchen Friseurin ist. Da jedenfalls Körperpflege überlebensnotwendig war, stellt sich dabei die Frage: War der älteste Beruf der Menschheit nicht vielleicht doch Friseurin? Wenn die Männer wohl auch weniger dazu tendierten, waren sie dennoch ebenfalls zur Körperpflege fähig, besonders diejenigen, welche eher mehr „weibliche Anteile“ hatten. Nicht alle Friseure sind deswegen gleich homosexuell, aber doch einige.

Homosexualität ist ein Teil unserer Biologie, bei manchen in ausgeprägter Weise vorhanden, bei anderen weniger oder auch gar nicht. Über viele Jahrhunderte haben christliche Kirchenlehrer Homosexualität verurteilt, als krank, sündhaft und gegen die göttliche Natur gerichtet. Schon die Beobachtung der Natur entlarvt dies als völligen Unsinn. Da Homosexualität im Tierreich ja durchaus verbreitet ist: Hätte ein allmächtiger Gott damit bei den Tieren etwas erschaffen, das nicht gottgewollt ist??

Sexualität und Beziehungspflege hängen nun mal zusammen. Beziehungen, auch körperlicher Natur, fördern wie gesagt den Zusammenhalt zwischen den Gruppenmitgliedern, senken den Level der Stresshormone. So finden sich homosexuelle Beziehungen nicht nur in vielen Bereichen der Tierwelt (vor allem bei Herdentieren), wie zum Beispiel zwischen Bonobos, Delphinen, Kranichen und Pinguinen, sondern auch zwischen Kardinälen. Es ist völlig unsinnig, so etwas zu verurteilen und mit Schuldgefühlen zu beladen, jedenfalls solange Beziehungen zwischen Erwachsenen in beidseitigem Einverständnis eingegangen werden.

Hier ergibt sich in der Evolution aber auch ein beträchtliches Spannungsfeld. Sexualität ist ein starker Antrieb. Einerseits können nun homosexuelle Veranlagungen den Zusammenhalt zwischen Gruppenmitgliedern verstärken (spricht man mit Frauen über Homosexuelle, beschreiben sie diese meistens als besonders einfühlsame, höfliche und angenehme Mitmenschen). Andererseits gibt es ohne heterosexuelle Kontakte keine Vermehrung.

Somit gibt es notwendigerweise eher wenige rein homosexuelle Menschen und mehr, die sowohl homosexuelle als auch heterosexuelle Veranlagungen haben. Je nach Lebensumständen und Entwicklung kann mal mehr die eine, mal die andere Tendenz begünstigt werden. Aus unserer biologischen Entwicklung erklärt sich also sehr wohl, warum es Menschen gibt, welche sich nicht für eine bestimmte Richtung entscheiden können oder deren psychisches Geschlecht mit dem körperlichen Geschlecht in Spannung oder sogar Widerspruch steht.

Sigmund Freud hat dargelegt dass zu jedem starken Trieb auch eine entsprechende Hemmung gehört. Unser Gehirn funktioniert durch den Gegensatz von Antrieb und Hemmung, sonst würde ein Einzeltrieb alles andere überdecken und dies wäre mit dem Überleben und somit der Weitergabe der Gene nicht vereinbar. In diesem Spannungsfeld von Antrieb und Hemmung und verschiedenen Polen der Sexualität haben es sich kulturell sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit der Sexualität herausgebildet.

In vielen Gesellschaften war der Umgang mit Sexualität, Homosexualität und Bisexualität recht entspannt. Beispielsweise in vielen Stadtstaaten des antiken Griechenlands. Nicht nur Alexander der Große hatte neben mehreren Frauen auch einen General, welcher gleichzeitig sein Geliebter war. In der Geschichte der Mongolen wird beschrieben, dass Dschingis Khan einen Gefährten namens Jamuqua hatte, mit dem er nicht nur auf die Jagd ging, sondern dass die beiden sich im Zelt unter einer Decke gemeinsam wärmten. Selbstverständlich hatte er auch, wie es sich für einen großen Mongolenfürsten gehörte, einen großen Harem.

In der katholisch geprägten Kultur Europas dominiert der Anspruch auf Hemmung des Triebes, was aber, wie inzwischen allgemein bekannt ist, nie funktioniert - nicht einmal innerhalb dieser Institution. Und Freud hat ausführlich dargelegt, dass es auch nicht funktionieren kann. Ein paar Vorschriften und abstrakte Moralvorstellungen ändern nicht unsere biologischen Grundlagen. Hat man nun aber ein öffentlich gültiges Moralsystem geschaffen und kollidiert dieses notwendigerweise mit Dingen, die grundlegend unsere Person ausmachen, kommt es in weiterer Folge zu starken Schuldgefühlen und Verdrängungen. Dann gibt es die Möglichkeit, die Triebe soweit zu verdrängen, dass sie abgekapselt werden und einer bösen äußeren Welt oder sogar Dämonen zugeschrieben werden. Der Teufel wird in der katholischen Kirche oft als triebhaftes Wesen beschrieben, macht also das, was die Gläubigen auch gerne tun würden, aber nicht dürfen. Dies führt zu starken neurotischen Fehlentwicklungen. Besonders übel ist es, wenn sich die Triebe in einer Weise die Bahn brechen, dass sexuelle Gewalt über wehrlose Menschen ausgeübt wird. Dies ist definitiv zu verurteilen. Aber es müssen auch die Gründe dafür verstanden werden, will man gegen solche Übel wirksam etwas tun.

Der dritte und heilsame Weg anstatt neurotischer Verdrängung oder missbräuchlichem Ausleben wäre dagegen, die eigenen Triebe, Antriebe und Beweggründe zu erkennen (dies ist bereits in vielen Fällen sehr schwierig) und zu lernen, diese in einer gesunden Weise zu leben. Natürlich ist das für Betroffene innerhalb eines rigiden Moralsystems besonders schwer umzusetzen und auch für die Priesterschaft gilt was bereits im Neuen Testament steht: „Der Weg zum Heil ist schwer, er ist schmal, führt steil bergauf und nur wenige gehen ihn“.

Verdrängte Antriebe und ungesunde Formen von Partnerschaft und Sexualität sind eine häufige Ursache oder zumindest Mitursache bei Depressionen, Ängsten und psychosomatischen Beschwerden. Depressive Personen leiden darüber hinaus schnell unter Schuldgefühlen, auch wenn objektiv keine Schuld vorhanden ist.

Das Zusammenwirken von körperlichen und seelischen Vorgängen

Diese Diskussion ob medizinische Probleme körperliche oder psychische Ursachen haben wird teils mit großer Vehemenz geführt und sind die Diskussionen darüber unendlich. Dabei kann man die ganze Geschichte wesentlich entspannter betrachten:

Eine Trennung zwischen "psychisch" und "körperlich" ist aus biologischer Sicht sinnlos.

Weder existiert unsere Psyche unabhängig von unserem Körper und seinen biologischen Vorgängen, noch ist unser Körper eine zwar komplexe aber doch geistlose biologische Maschine und darüber schwebt irgend eine Psyche, die nur gelegentlich damit zu tun hat. Psychische Vorgänge und körperlichen Vorgänge stehen in Wirklichkeit andauernd in enger Wechselwirkung miteinander.

Betrachten wird doch nur mal unsere einfachen körperlichen Vorgänge, z.B. Atmung: Sollte man hierüber diskutieren ob dies ein körperlicher oder psychischer Vorgang ist? Dies lässt sich tatsächlich nicht trennen. Auf der körperlichen Ebene haben wir die Lungen, jede Menge Muskeln welche den Atemvorgang bewerkstelligen, Sauerstoff welcher über die Lunge aufgenommen wird, Kohlendioxyd, das aus dem Blut wieder über die Lunge abgegeben wird. Ein funktionierendes Atmen ist aber nicht nur für den Körper, sondern auch für unseren seelischen Zustand unerlässlich. Mal ganz abgesehen davon, dass unser Gehirn ohne Sauerstoff lediglich ein paar Minuten überleben kann. Wenn unsere Atmung schlecht ist aufgrund irgendeiner körperlichen Erkrankung, wird sich das selbstverständlich rasch auf der mentalen Ebene bemerkbar machen. Luftmangel und Atemnot verursachen einerseits körperliche Reaktionen wie Herzklopfen, Blutdruckerhöhung, Muskelanspannung usw., andererseits schlicht und einfach auch Angst. Nächtliche Atembeschwerden führen zu Schlafstörungen und wenn sie nur lange genug den Schlaf gestört haben zur Reizbarkeit, Depressionen, Konzentrationsstörungen usw. Umgekehrt können wir, wenn wir unseren Atem beobachten, sehr wohl feststellen, wie sich unsere geistige Verfassung auf die Atmung auswirkt. Sind wir geistig angespannt atmen wir auch schneller und angespannter, sind wir gelassen ist unser Atem gleichmäßig und entspannt. Sind wir aufgeregt oder erwarten wir uns, dass etwas Wichtiges (sei es gut oder schlecht) bald geschehen wird, atmen wir schneller. Dies ist ein notwendiger biologischer Vorgang. Durch psychische Vorgänge und Erwartungshaltungen wird der Körper angeregt sich vorzubereiten auf das was bald kommen wird und zu den vielen Reaktionen des Körpers gehört dazu, dass die Lunge den Körper ordentlich mit Sauerstoff versorgt.

Oder betrachten wir die Verdauung: Sind wir hektisch und gestresst, essen wir auch hektisch, der Magen übersäuert und leidet mit unserer seelischen Verfassung mit. Umgekehrt ist es so, dass wenn wir etwas Schlechtes essen und dann Bauchbeschwerden haben, selbstverständlich nicht fröhlich und entspannt bleiben sondern die Psyche auch mitleidet. Beim Reizdarm ist der Darm vielfach genauso gereizt wie die Person, welche den Darm besitzt.

Ein Paradebeispiel für eine psychische Krankheit ist die Depression. Aber die Depression ist nicht lediglich eine Erkrankung der Seele, womit der Körper nichts zu tun hat. Sondern Depression verursacht jede Menge körperliche Veränderungen. Nicht nur die gebeugte Haltung des Körpers, die Verarmung des Gesichtsausdruckes und die leise Stimme, welche sich vielfach bemerkbar macht. Auch zahlreiche körperliche Beschwerden wie erhöhte Empfindlichkeit für Schmerzen, Verstopfungsneigung, Reizmagen, Konzentrationsstörung, erhöhte Kortisolspiegel, Blutdruckschwankungen, Schwindelzustände, durch Organbefunde nicht erklärbare Schmerzen, Herzrhythmusstörungen und vieles andere mehr können Auswirkungen von Depressionen sein. Und für die Behandlung von Depressionen gibt es nicht nur Psychotherapie oder Psychopharmaka. Bewiesenermaßen hat eine körperliche Therapie wie regelmäßiger Ausdauersport eine heilsame Wirkung auf Depressionen und Angststörungen.

Es gibt natürlich viele Gesundheitsstörungen welche primär mal organisch bedingt sind. Wenn ich einen Unfall habe und mir beispielsweise ein Bein gebrochen habe, möchte ich selbstverständlich eine adäquate Versorgung des körperlichen Schadens. Es wäre skurril, wenn auf der Unfallchirurgie zuerst ein Therapeut zu mir käme um über das Erlebte zu reden (in Spitälern der Vereinigten Staaten kann es Ihnen allerdings passieren, dass zuerst der Krankenhausjurist kommt, um mögliche rechtliche Probleme abzuklären bevor Sie überhaupt behandelt werden). Selbstverständlich möchte ich, dass die Unfallchirurgie mein Bein versorgt, je nachdem, wie die Situation eben ist, mit Gipsverband oder indem der Knochen zusammengeschraubt wird.

Danach gibt es aber auch bei technisch chirurgisch optimaler Versorgung recht unterschiedliche Heilungsverläufe! Zuerst einmal wirkt sich ein Unfallereignis direkt auf unseren mentalen Zustand aus. Wenn ich Schmerzen habe und ans Bett gefesselt bin, wird natürlich mein Gefühlszustand nicht ganz ausgeglichen bleiben. Dies ist völlig normal. Nach Operation und akuter Nachbehandlung schließt sich der Genesungsprozess an. Für diesen Heilungsprozess sind nun zwei Dinge wesentlich. Einerseits die physikalische körperliche Rehabilitation, in der die Bewegung geübt, die Muskulatur wieder aufgebaut und die Belastbarkeit verbessert wird. Dies kann man, wenn man unbedingt möchte, als rein körperliche Vorgänge betrachten.

Diese körperlichen Vorgänge laufen aber auf keinen Fall unabhängig von unserem mentalen Zustand ab. Es macht einen wesentlichen Unterschied ob ich dann motiviert und eifrig am Programm teilnehme, mich von Rückschlägen nicht entmutigen lasse und am Fortschritt arbeite oder ob sich Ängste einstellen, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen, Antriebsstörungen wodurch im weiteren Verlauf auch der körperliche Heilungsprozess gestört wird, in manchen Fällen sogar unmöglich wird.

Ich kenne Menschen welche einen Unfall hatten und dann durch die chirurgische Behandlung in technischer Hinsicht ein optimales Ergebnis in dem Sinn hatten, dass die körperlichen Strukturen wieder korrekt hergestellt worden waren. Dennoch kreisen die Gedanken um den stattgehabte Verletzung, den geschädigten Körperteil, sie sind verkrampft, blockiert, haben Schmerzen, es kommt sogar zu depressiven Entwicklungen und es gelingt ihnen in weiterer Folge nicht so richtig im Berufsleben oder Privatleben Tritt zu fassen.

Und ich kenne Andere wiederum, welche trotz schwerer Verletzungen, welche nur bedingt „repariert“ werden konnten - also die einen bleibenden Defekt verursachten -, sich nicht entmutigen ließen, kontinuierliche Fortschritte machten und sich einer guten Lebensqualität sowohl körperlich als auch psychisch erfreuen.

Das folgende Beispiel ist zwar nicht alltäglich, aber ein außergewöhnliches Beispiel mag besser verdeutlichen was ich meine:

Einmal hatte ich einen Patienten zur Kontrolle zu einer Nervenmessung. Über 20 Jahre vor der Untersuchung hatte er einen Genickbruch erlitten. Er war Ringer und die Ärzte haben ihm völlig korrekt eindringlich geraten, das Genick nicht mehr zu belasten, da es sonst zu einer Querschnittlähmung kommen kann und selbstverständlich sollte er mit dem Ringen aufhören. Dieser Patient ist ein sehr selbständig denkender Mensch und hatte sämtliche Ratschläge der Ärzte (er respektiert meinen Berufsstand nicht so besonders) in den Wind geschlagen. Er hat sich weiter als Ringer betätigt. Durch sein Training hatte er eine extrem gut ausgeprägte Nackenmuskulatur, wobei er gleichzeitig gut beweglich blieb. Bei der Untersuchung sah ich einen Mann, dessen Nackenmuskulatur ein bisschen an einen Stiernacken erinnerte. Er hatte nur eine geringfügige Funktionsstörung eines Halsnervens, wobei er sich sonst guter Gesundheit erfreute.

Letztendlich wurde sein instabiles Genick durch seine hochgradig trainierte Nackenmuskulatur stabil gehalten. Die Stabilität des Genicks und seinen auch sonst guten körperlichen Zustand hatte er durch seine stabile psychische Verfassung und seine Willenskraft erreicht.

Ich empfehle ihnen natürlich NICHT, im Falle einer Genickverletzung mit dem Ringersport anzufangen. Nicht für alle ist die Kampfarena ein guter Ort. Aber sollten Sie das Unglück einer schweren Verletzung erlitten haben, empfehle ich doch jedenfalls - egal ob Sie operiert werden mussten oder nicht, egal ob oder was für einen Sport sie bisher getrieben haben - im Rahmen der Physiotherapie und Rehabilitation eifrig am Muskelaufbau zu arbeiten. Dafür brauchen Sie eine gute mentale Verfassung. Und auch an dieser ist im Rahmen von Rehabilitationen zu arbeiten.

Weitere Beispiele könnten haufenweise angeführt werden, dies soll aber genügen um dazulegen, dass es nicht sinnvoll ist, Gesundheit oder Gesundheitsstörungen als rein körperliche oder rein psychische Vorgänge zu betrachten. Auch wenn der Schwerpunkt eines Problems und damit einer Therapie mal mehr auf der körperlichen Ebene mal auf der psychischen Ebene liegen muss. Damit Therapie erfolgreich ist, soll vor allem bei längerfristigen Heilbehandlungen und chronischen Erkrankungen immer bedacht werden, dass bei psychischen Störungen zusätzlich auf körperlicher Ebene gearbeitet wird, und bei körperlichen Funktionsstörungen die mentale Gesundheit einbezogen wird.

Wenn im Folgenden von Gesundheitsstörungen und körperlichen und psychischen Vorgängen gesprochen wird, gilt der Grundsatz:

Körper und Psyche bilden eine Einheit und stehen in enger Beziehung zueinander, sowohl bei Gesundheit als auch Krankheit.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144376
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Lebensstil Biologie Ängste Psychologie Depression Migräne Gesundheit Medizin

Autor

  • Wolfgang Boese (Autor:in)

Geboren 02.07. 1963. Absolvierung des humanistischen Gymnasiums in Salzburg Studium der Medizin an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck. Anschließend Praktikum am Ramathibodi Hospital in Bangkok. Facharztausbildung Neurologie und Psychiatrie an der Neurologie und an der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses Rankweil in Vorarlberg, sowie im Krankenhaus Maria Rast in Schruns. Seit August 2000 Inhaber einer Facharztpraxis für Neurologie und Psychiatrie in Feldkirch/Vorarlberg.
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Titel: Ängste, Depressionen, Migräne: Warum sie uns heute immer noch plagen? Und einige Dinge, die man dagegen tun kann