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Blackstone Jordan: Between Light and Shadow

von Sarina Louis (Autor:in)
363 Seiten
Reihe: Blackstone Reihe, Band 1

Zusammenfassung

Als seine hochschwangere Frau vor siebzehn Jahren bei einem Autounfall starb, hat sich das Leben von Jordan Williams innerhalb weniger Stunden vollkommen verändert. Er wurde von jetzt auf gleich Vater und wusste nicht, ob er dieser Aufgabe gewachsen war. Zusammen mit seinen Freunden und seiner Familie hat er es dennoch geschafft, dass seine Tochter Amy zu einer klugen und selbstständigen jungen Frau heranwuchs. Für ihn stand immer fest, dass es, abgesehen von seiner Tochter, keine Frau mehr schaffen würde, einen Platz in seinem Herzen zu bekommen. Bis er eines Abends auf die temperamentvolle Schönheit Grace Bennett trifft … Was hat das Schicksal noch mit ihm vor?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

Blackstone – Jordan

Between Light and Shadow

 

 

Von Sarina Louis

 

Prolog

 

 

 

 

 

»Es tut mir wirklich sehr leid!«

Auch wenn es nur sechs Wörter sind, die eigentlich harmlos klingen, sind es genau diese sechs Wörter, die mein komplettes Leben auf den Kopf stellen.

Ich kann nicht mehr atmen, ich kann nicht mehr denken.

Bis vor zwei Stunden war ich der glücklichste Mann auf dieser Welt. Was ist passiert, dass sich alles von der einen auf die andere Sekunde verändern muss?

»Und wie geht es dem Baby?«

Was ist los mit mir, dass ich nicht fähig bin, selbst nach meinem Kind zu fragen? Ich höre wie durch Watte, dass mein Bruder mit dem Arzt spricht, aber bin einfach nicht fähig, auch nur einen Ton von mir zu geben.

»Die Kleine ist eine echte Kämpferin, man merkt ihr kaum etwas davon an, dass wir sie vier Wochen zu früh auf die Welt holen mussten.«

»Ein Mädchen?« Es ist das erste Mal, seit ich hier bin, dass ich überhaupt etwas sage, auch wenn es nur ein leises Murmeln ist. Wie sehr hat sich Nora eine kleine Tochter gewünscht, aber wir wussten bis zum Schluss nicht, was es wird, weil unser kleiner Dickkopf sich im Ultraschall einfach nicht richtig zeigen wollte.

Ein Mädchen, mein kleines Mädchen.

»Können wir sie sehen?« Wieder ist es mein Bruder, der diese Frage stellt. Und was tue ich? Sitze einfach nur in diesem Wartebereich und habe meine Unterarme auf den Oberschenkeln abgestützt, den Blick auf den Boden gerichtet.

»Natürlich, in ein paar Minuten kommt eine Schwester, die Sie beide mit auf die Neugeborenenintensiv nehmen wird. Und danach melden Sie sich einfach noch mal bei mir, damit ich Sie zu Ihrer Frau bringen kann, um sich von ihr zu verabschieden.«

»Nein!« Das kommt für mich überhaupt nicht infrage. Fassungslos reiße ich meinen Kopf zu Samuel nach oben und sehe ihn einfach nur an. Wie soll ich mich von dem Menschen verabschieden, den ich am meisten auf dieser Welt liebe? Das kann er nicht von mir verlangen. Ich kann das nicht.

»Jordan, was redest du da? Selbstverständlich melden wir uns später bei Ihnen, Doktor Andrews.«

»Ich habe Nein gesagt. Warum versteht denn keiner, dass ich jetzt einfach zu meiner Tochter will? Bringen Sie mich jetzt zu meiner Tochter.« Meine Stimme klingt einfach nicht nach mir.

Mittlerweile bin ich aufgesprungen und laufe rastlos im Krankenhausflur auf und ab. Nur am Rande bekomme ich mit, dass Samuel sich noch kurz mit dem Arzt unterhält, bevor er zu mir kommt. Aber das ist mir alles egal. Wieso kann ich nicht einfach die Zeit zurückdrehen? Wieso bin ich nicht einfach mit ihr zusammen zu der Geburtstagsparty von Michelle gefahren? Stattdessen habe ich eine Ausrede gesucht, um in der Zwischenzeit das Kinderzimmer fertig zu machen. Nach vielen Diskussionen in den letzten Wochen, was die Wandfarbe betraf, weil sie abwarten wollte, ob es ein Mädchen wird, haben wir die Wände in einem zarten Gelb gestrichen. Und heute wollte ich die Zeit nutzen, um sie zu überraschen, indem ich die Möbel aufbaue, die schon längere Zeit in Kartons im Zimmer stehen, weil ich es ständig vor mir hergeschoben habe. Deswegen haben wir uns in letzter Zeit immer wieder angezickt.

»Mister Williams? Ich würde Sie gerne mit zu Ihrer Tochter nehmen. Sie wartet schon sehnsüchtig auf ihren Daddy.« Eine kleine Krankenschwester mit einem Kittel, auf dem ein Kindermotiv gestickt ist, steht vor mir. Sie hat einen blonden Pferdeschwanz und lächelt mich freundlich an. Anschließend wendet sie sich an meinen Bruder. »Sind Sie der Onkel? Wenn Sie möchten, können Sie gerne mitkommen. Die Kleine kann es bestimmt kaum erwarten, ihren tollen Onkel kennenzulernen.« Sag mal, bin ich im falschen Film? Sie weiß genau, dass meine Frau gerade bei einem Unfall gestorben ist und baggert meinen Bruder an. Geht‘s noch? Aber Samuel lächelt nur freundlich zurück und nickt.

Wir folgen ihr zu den Aufzügen und fahren auf die Neugeborenenintensivstation. Eine junge Ärztin mit kurzen dunklen Haaren nimmt uns dort in Empfang.

»Hallo, mein Name ist Doktor Miller. Ich war bei dem Kaiserschnitt dabei und habe mich anschließend um Ihre Tochter gekümmert. Der kleinen Maus geht es wirklich gut. Sie zählt zwar offiziell zu den Frühchen, aber vier Wochen vor errechnetem Entbindungstermin ist alles schon so, wie es sein soll. Trotzdem würde ich sie gerne ein paar Tage zur Überwachung bei uns behalten.«

»Ich möchte sie jetzt sehen … bitte«, sage ich, weil ich das Gefühl habe, dass sie mich wie ein Magnet anzieht. Sie liegt hier irgendwo ganz allein. Ohne mich. Ohne ihre Mom. Oh mein Gott, wie soll ich das ohne Nora schaffen? Wir waren immer eine Einheit. Wie soll ich ein guter Vater sein, wenn sie mir nicht zeigt, wie?

»Natürlich, kommen Sie.« Doktor Miller geht mit uns in so eine Art Vorraum, in dem wir uns die Hände desinfizieren sollen.

Als wir dann die Station betreten, werde ich von unzähligen Eindrücken erschlagen. Der Geruch nach Desinfektionsmittel und die Maschinen, die unaufhörlich blinken und piepen, drehen mir den Magen um. Nur zaghaft folge ich der jungen Ärztin. Vor ein paar Minuten konnte es mir nicht schnell genug gehen, endlich meine kleine Tochter zu sehen, aber je näher ich ihr komme, desto mehr zieht sich mein Herz zusammen. Sie liegt in einem kleinen Bettchen und ist an eine Überwachungsmaschine angeschlossen, die ihren Herzschlag überprüft.

»Mäuschen, guck mal, wer hier ist. Daddy und dein Onkel sind gekommen, um dich kennenzulernen.« Doktor Miller entfernt die Kabel und nimmt sie behutsam aus dem Bett, nachdem sie uns erklärt hat, dass die Vitalzeichen stabil sind.

Da ist sie, meine Tochter. Die gleichen dunklen dichten Haare wie ihre Mama, der gleiche Mund.

»Hallo Süße, ich bin es Sam, dein Lieblingsonkel.« Wie oft habe ich ihn in den letzten Wochen schon damit aufgezogen, dass das Baby nur den einen haben wird, aber in diesem Moment verkneife ich es mir. Meine Füße stehen wie angewurzelt in dem Raum und ich kann mich nicht bewegen. Mein Bruder merkt wohl, dass ich auf nichts reagiere. »Mann, Jordan, alles okay? Schau dir doch den Zwerg mal an. Ist sie nicht wahnsinnig süß? Genau wie ihre Mama.«

Das ist zu viel. Nie im Leben kann ich hierbleiben. Ich muss hier raus. Sofort.

Und genau das sage ich dann auch: »Ich kann nicht. Ich kann das einfach nicht. Nicht ohne Nora! Nicht ohne ihre Mom.«

Ich drehe auf dem Absatz um und renne, so schnell ich kann, aus diesem Raum. Aus diesem Krankenhaus. Aus dieser Situation.

 

Warum? Du hast mir versprochen, dass du mich nie allein lassen wirst. Wir wollten das zusammen erleben. Du hast mir gesagt, dass wir das zusammen schon hinbekommen. Du darfst mich nicht allein lassen. Fuck, wie soll ich das ohne dich schaffen?

 

 

****

 

 

»Komm her, Bruderherz.« Mir ist gar nicht aufgefallen, dass Samuel sich zu mir gesetzt und mich in die Arme gezogen hat. »Ich bin für dich da. Wir stehen das zusammen durch.«

Nachdem ich erst orientierungslos in dem Park, der zum Klinikgelände gehört, herumgelaufen bin, habe ich mich an einen Baum gelehnt und sitze seitdem hier und versuche einfach nur zu atmen. Versuche den Druck von meiner Brust zu nehmen. Seit James und Sam bei mir zu Hause aufgetaucht sind, um mir zu sagen, dass meine hochschwangere Frau einen Autounfall hatte und seit der Arzt mir mitgeteilt hat, dass sie leider nichts mehr für sie tun konnten, habe ich noch keine einzige Reaktion gezeigt. Auch nicht, als ich meine Tochter das erste Mal gesehen habe. Was stimmt nur nicht mit mir?

Aber hier an diesen Baum gelehnt, liege ich in den Armen meines kleinen Bruders und heule mir wie ein Baby die Augen aus dem Kopf. Es dauert bestimmt eine Stunde, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe.

»Wie soll ich mich von ihr verabschieden? Wie? Sie war die Liebe meines Lebens. Wir kannten uns doch schon seit dem Kindergarten. Ich will nicht zu ihr da reingehen und ihr Lebewohl sagen. Wir haben uns geschworen, immer füreinander da zu sein. Wenn ich die Möbel schon viel früher aufgebaut hätte und nicht erst auf den letzten Drücker, hätte ich mit ihr zusammen zu der Geburtstagsparty fahren können. Wenn ich …«, sage ich leise vor mich hin, aber ich merke, wie Sam sich verspannt. Er richtet sich ein Stückchen auf und drückt mich etwas von sich weg, damit er mir in die Augen sehen kann.

»Stopp … was redest du da für eine Scheiße? Du hast doch James vorhin gehört.« Man konnte ihm genau ansehen, dass es die schwerste Aufgabe seines Lebens war, mir die Nachricht von Noras Unfall zu überbringen. James ist der Vater meines besten Freundes Brian und der erste schwarze Polizist, der es zum Deputy Chief in unserem Police Department in Blackstone geschafft hat. Gerade als ich dabei war, die letzten Handgriffe im Kinderzimmer zu machen, standen plötzlich Sam und James im Türrahmen und sahen mich an. Irgendetwas in James’ Blick sagte mir sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

»Es war ein Unfall. Niemand konnte etwas dafür. Das Reh ist einfach auf die Straße gelaufen. Sie hatte überhaupt keine Zeit zu reagieren. Da hättest auch du nichts dran ändern können. Unfälle passieren, auch wenn sie noch so schrecklich sind.«

Sofort meldet sich das schlechte Gewissen bei mir. Ich bin so ein Idiot. Nicht nur ich habe einen wichtigen Menschen verloren, sondern auch mein Bruder, denn Nora war wie eine Schwester für ihn, im Grunde genommen sogar viel mehr als das, sie war seine beste Freundin.

»Ich bin so ein Arsch, sorry Sam, ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie es dir mit dieser Scheiße hier geht. Stattdessen sitze ich hier und heule …«

»Was? Spinnst du?«, unterbricht er mich direkt, auch wenn ich ihm ansehen kann, dass er ebenfalls kurz davor ist, zusammenzubrechen, denn auch er zittert und hat Tränen in den Augen. Doch es war schon immer so, dass mein kleiner Bruder, auch wenn er einen Kopf größer ist als ich, schon immer der Stärkere von uns beiden war. »Wie es mir geht, ist im Moment absolut zweitrangig. Aber was jetzt erst mal viel wichtiger ist: Willst du dich wirklich nicht von Nora verabschieden? Ich denke, dass du es später bereuen wirst, wenn du es nicht tust.«

»Das weiß ich, aber …«

»Natürlich wird es nicht leicht. Aber ich begleite dich auch gerne, wenn dir das lieber ist.«

»Danke. Das weiß ich wirklich sehr zu schätzen, aber ich bin es ihr schuldig, dass ich mal meinen Hintern hochkriege und das allein schaffe. Diese letzten paar Minuten, die wir zusammen haben werden, gehören nur uns beiden.«

Ich richte mich wieder auf und lehne meinen Kopf an den Baum, die Beine ziehe ich ganz dicht an meinen Körper, die Arme schlinge ich um meine Knie. Langsam drehe ich anschließend meinen Kopf wieder in seine Richtung, als ich seufzend ausatme.

»Wie soll ich das ohne Nora hinbekommen, Sam? Ich habe Schiss! Diese ganze Sache mit dem Baby hat mir vorher schon eine Heidenangst eingejagt, aber sie hat mir immer wieder gesagt, dass dieses kleine Wunder in ihr unser Leben nur bereichern kann. Sie hat sich so auf diesen neuen Lebensabschnitt gefreut.«

»Du etwa nicht?«

»Doch … schon, versteh mich nicht falsch, aber es gibt so viele Dinge, auf die man keinen Einfluss hat. Und das hat mich in Panik versetzt. Aber die Gewissheit, dass wir das zusammen machen, hat mir diese Angst einfach genommen. Am Anfang, als sie mir gesagt hat, dass die Pille durch das Antibiotikum nicht richtig gewirkt hat und sie dadurch schwanger wurde, habe ich gedacht, eine Welt bricht über mir zusammen. Scheiße Mann, ich bin doch erst zweiundzwanzig. Aber als ihr Bauch immer mehr gewachsen ist und ich das erste Mal die Tritte meines Babys gespürt habe, war es einfach um mich geschehen.« Ein Schmunzeln bildet sich auf meinen Lippen, als ich an diesen Tag denke. Nora hat mich so oft gerufen, als gerade Babyturnstunde angesagt war, damit ich ihr die Hand auf den Bauch legen konnte, und genau in diesem Moment war wieder absolute Funkstille. Aber auf einmal kam dieser feste Tritt. Und danach konnte ich nicht mehr genug davon bekommen.

Meinen Kopf lege ich auf meinen Unterarmen ab, während Sam sich eine Zigarette ansteckt, die er an mich weiterreicht, bevor er sich selbst eine anzündet. Mittlerweile sitzt er im Schneidersitz und beobachtet mich stumm, während ich einmal an meiner Kippe ziehe, bevor ich die Unterarme wieder über meine angewinkelten Beine hängen lasse. Er redet nicht dazwischen, wahrscheinlich weil er spürt, dass ich das gerade brauche.

»Mittlerweile habe ich mich richtig auf meine Daddyrolle gefreut. Unser Dad ist einfach der tollste Vater, den es gibt und genau das wollte ich für mein Baby auch sein. Der Beschützer, das Vorbild, der Held … keine Ahnung. Und was ist jetzt? Da oben liegt mein kleines Mädchen und ich bin wie eine Pussy aus dem Krankenzimmer geflüchtet. Habe sie einfach allein gelassen. Was ist, wenn ich diese Rolle nicht erfüllen kann, wenn ich das nicht hinbekomme?« Und schon wieder laufen Tränen wie Sturzbäche über meine Wangen. Mir wird gerade alles zu viel. Letzte Woche habe ich mich noch mit Nora über die Wandfarbe gestritten. Kleinigkeiten. Kleinigkeiten, die es nicht wert sind, überhaupt deswegen zu streiten. Was würde ich dafür geben, das Zimmer in dem strahlendsten Pink zu streichen und dafür meine Frau wiederzubekommen. Samuel nimmt mir die Kippe aus der Hand, drückt sie neben sich aus und streicht mir immer wieder über den Rücken. Er ist einfach nur für mich da. Unser Verhältnis war immer schon sehr eng. Auch wenn wir unterschiedlicher nicht sein könnten. Ich bin 1,75 Meter groß, habe blaue Augen und straßenköterblondes Haar, wie Sam mich immer aufzieht, während er dagegen einen ganzen Kopf größer ist als ich, dunkle Haare hat und verboten grüne Augen. Aber nicht nur beim Äußerlichen könnte man meinen, dass mindestens einer adoptiert wurde – was wir definitiv nicht sind, denn ich sehe aus wie Mom und er wie Dad –, denn auch unser Charakter ist grundverschieden. Während für mich schon sehr früh feststand, dass es nur die Eine für mich geben wird, ist mein Bruder eher der Typ, der absolut nichts anbrennen lässt. Keine Ahnung wie er das macht, aber die Weiber stehen alle auf ihn.

»Wer sagt denn, dass du allein bist, Bro? Wir konnten uns doch schon immer aufeinander verlassen. Ich habe den Zwerg vorhin gesehen und wusste sofort, dass wir das als Team schon schaffen werden. Irgendwie bekommen wir das schon hin. Mom und Dad sind ja auch noch da. Außerdem haben wir so viele Freunde, die uns zur Seite stehen werden. Aber darüber können wir uns die nächsten Wochen noch Gedanken machen. Jetzt müssen wir uns erst mal überlegen, was dein nächster Schritt ist, doch egal was es ist, ich bin an deiner Seite«, versucht er mich aufzumuntern.

Sein Handy vibriert in seiner Jeans und er zieht es vorsichtig heraus, um nachzusehen, wer ihm geschrieben hat.

»Wenn man vom Teufel redet.« Als ich ihn fragend ansehe, spricht er sofort weiter. »Es ist Dad. Er fragt, wo wir sind. Sie sind inzwischen angekommen. Brian sucht uns auch schon.« Das habe ich ja ganz vergessen. Mein Vater hat meiner Mutter ein Wellnesswochenende zur Silberhochzeit geschenkt, deswegen waren sie nicht in der Stadt. Sam hat sich darum gekümmert sie anzurufen, weil ich absolut nicht fähig dazu war. Und dass mein bester Freund für mich da ist, bedeutet mir viel. Oh mein Gott, Deborah weiß noch gar nichts.

»Ich muss sofort Deb anrufen. Sie weiß doch noch gar nichts von dem Unfall ihrer Tochter«, sage ich und springe auf. Um mein Handy aus der Hosentasche zu holen, greife ich sofort in meine Jeans, aber Sam hält mich auf.

»Jordan, beruhige dich, das habe ich vorhin schon erledigt. Sie kommt mit dem nächsten Flieger hierher«, redet er auf mich ein. »Komm, lass uns mal wieder reingehen. Es wird schon dunkel und die anderen warten im Eingangsbereich auf uns.« Er dreht mich vorsichtig herum und schiebt mich langsam wieder Richtung Krankenhaus. Ja, er hat recht, ich kann mich nicht ewig davor drücken, wieder da rein zu gehen. Nach der erschütternden Nachricht von Doktor Andrews über Noras Tod war ich wie gelähmt und wollte diesen Schritt auf keinen Fall gehen, weil er bedeutet, dass ich sie wirklich verloren habe. Aber jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, denn ich muss jetzt zu meiner Frau. Ihr einfach noch mal sagen, wie sehr ich sie liebe. Und dass ich stark genug sein werde, der Dad für unsere Tochter zu sein, den sie immer in mir gesehen hat.

 

 

****

 

 

Mittlerweile stehe ich vor dem Raum, in den sie Nora nach dem Notkaiserschnitt gebracht haben. Für mich ist klar, dass ich erst diesen Schritt hier gehen muss, bevor ich erneut zu meiner Tochter kann. Samuel wartet zusammen mit unseren Eltern und Brian im Wartebereich der Station. Sie werden sich im Anschluss selbst noch von Nora verabschieden.

Nur ganz langsam drücke ich die Türklinke nach unten und betrete anschließend den Raum.

Da liegt sie, friedlich, und wenn sie nicht so blass wäre, könnte man meinen, dass sie einfach nur eine Runde schläft. Oh, Sweetheart! Zögernd nähere ich mich der Trage, auf der sie liegt. Sie wurde mit einem Tuch, unter dem sich noch deutlich ihr Babybauch abzeichnet, bis zur Brust zugedeckt. Ihre Locken sind auf dem Kissen verteilt und sie hat den Kopf leicht zur Seite geneigt.

Auf der Stirn und im Gesicht hat sie einige blaue Flecken. Oh mein Gott. Soweit ich Doktor Andrews vorhin richtig verstanden habe, hat sie sich bei dem Unfall schwere Kopfverletzungen zugezogen, die zu Hirnblutungen geführt haben. Auf dem Weg hier ins Krankenhaus nach Petersburg hatte ihr Herz einmal aufgehört zu schlagen, aber sie konnten sie noch mal reanimieren. Dort angekommen, haben sie dann, wenn ich es richtig mitbekommen habe, sofort den Kaiserschnitt gemacht, um sie anschließend operieren zu können, aber dazu kam es gar nicht mehr.

Ich muss schwer schlucken, um nicht sofort wieder loszuheulen. Jetzt kann mich nichts mehr halten. Es ist, als würde mich die Frau, die ich mein Leben lang kenne und vor einem halben Jahr geheiratet habe, magisch anziehen. Mit zwei letzten Schritten bin ich bei ihr und lehne meine Stirn an ihre. Automatisch greife ich unter dem Tuch nach ihrer Hand, die eiskalt ist. Das ist zu viel. Ein unkontrolliertes Schluchzen bricht aus mir heraus.

»Nein! … Bitte bleib bei mir! … Wie soll ich das denn ohne dich schaffen, Sweetheart?« Ich versuche, mich wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen, aber die Tränen laufen unaufhörlich über meine Wangen. »Warum … Warum habe ich nicht auf dich gehört? Dann wäre das Kinderzimmer schon vor Wochen fertig gewesen. Aber ich Idiot musste es ja immer wieder vor mir herschieben. Ständig waren andere Sachen wichtiger.« Ich gebe ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn und atme tief durch.

Oh fuck, sie ist so bleich und kalt. Auch ihr süßer Duft nach Vanille, den ich so sehr an ihr liebe, ist verschwunden. Zitternd richte ich mich etwas auf, ziehe mir mit der anderen Hand den Stuhl heran, der an der Wand steht und lasse mich langsam darauf nieder, ohne ihre Hand loszulassen.

»Es ist meine Schuld. Du hättest gar nicht allein zu Michelle fahren dürfen. Es ist doch meine Aufgabe gewesen auf dich aufzupassen. Auf euch aufzupassen. Du hast gesagt, dass du weißt, dass ich ein guter Vater sein werde. Aber ich habe doch absolut keine Ahnung, wie. Ich habe Angst … verfluchte Angst, es nicht ohne dich zu schaffen.«

Kurz schließe ich meine Augen und lasse den Tränen freien Lauf. Mit meiner Hand streiche ich ihr ohne Pause über den Handrücken, in der Hoffnung, dass sie es spüren kann. Aber das kann sie nie wieder. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Wir können uns nie wieder küssen, uns nie wieder nahe sein, uns nie wieder lieben.

Eine Weile sehe ich sie einfach nur stumm an und wische mir immer wieder mit meinem Ärmel die Tränen vom Gesicht.

»Es ist ein Mädchen«, rede ich leise mit ihr, als ob sie mich hören könnte. Wir haben manchmal nächtelang einfach nur geredet. Es gab nichts, rein gar nichts, über das wir nicht sprechen konnten. »Du hattest die ganze Zeit recht. Also ich war ja total skeptisch, aber du wusstest von Anfang an, dass es ein Mädchen wird.« Erneut beuge ich mich nach vorne und lehne meine Stirn an ihre, denn ich muss ihr einfach noch etwas länger nahe sein. Jede einzelne Berührung aufsaugen.

»Sie sieht aus wie du. Genau die gleichen dunklen Haare, ich hoffe, sie bekommt auch deine Locken. Aber was viel wichtiger ist: Hoffentlich bekommt sie deine Augenfarbe. Das Braun hat mich schon immer fasziniert. Wenn du mich mit diesem Welpenblick angesehen hast, war ich dir mit Haut und Haaren verfallen.« Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen, als ich an so manche Situationen denken muss, wenn sie mich damit um den Finger gewickelt hat.

»Mister Williams …« Unwillkürlich zucke ich zusammen, denn ich habe gar nicht mitbekommen, dass Doktor Andrews mittlerweile den Raum betreten hat. »Ich weiß, es ist schwer, sich von Ihrer Frau zu trennen, aber ich würde gerne noch Ihrer Familie die Möglichkeit geben, sich von ihr zu verabschieden, bevor wir sie in die Pathologie bringen müssen.«

»Einen Moment noch!«

Nein! Wie kann er von mir verlangen, dass ich sie allein lassen soll?

»Aber nur noch einen kleinen Augenblick. Wir können sie nicht mehr lange hier oben lassen«, antwortet er mir leise, während er mir eine Hand auf die Schulter legt. Langsam drehe ich mich in seine Richtung und sehe zu ihm auf, obwohl ich nicht hören will, was er mir zu sagen hat, denn am liebsten wäre es mir, wenn er einfach wieder gehen würde. »Außerdem wartet auf der Kinderstation eine kleine Prinzessin auf ihren Papa.« Dieser Satz sorgt dafür, dass ich meine Augen einen Moment schließen muss. Es dauert einen Augenblick, bis mir klar wird, was er da gerade ausgesprochen hat und ich ihm antworten kann: »Okay, aber darf ich noch eine Minute mit meiner Frau allein sein? Ich komme gleich, versprochen.«

Doktor Andrews schenkt mir ein verständnisvolles Lächeln, bevor er nickt und das Zimmer verlässt.

Ein letztes Mal lege ich meine Lippen auf Noras und atme tief durch. Noch immer dicht an ihrem Mund flüstere ich: »Ich liebe dich, Sweetheart, das werde ich immer tun. Und ich verspreche dir, dass ich mein Bestes geben werde, um für unsere Maus ein guter Vater zu sein.« Langsam löse ich mich von ihr und gehe schweren Herzens Richtung Tür. Aber bevor ich sie öffne, drehe ich mich ein letztes Mal zu ihr um. »Niemals werde ich dich vergessen, Nora, hörst du, niemals!«

 

 

****

 

 

»Na sieh mal, kleine Maus, wer da ist!«

Ich habe eine ganze Zeit lang einfach nur im Türrahmen gestanden und die Krankenschwester dabei beobachtet, wie sie mein Mädchen mit der Flasche gefüttert hat. Jetzt sieht sie zu mir auf und lächelt mich an.

»Kommen Sie ruhig rein. Unsere Kleine hier ist schon total neugierig auf Sie.« Anschließend steht sie aus dem Sessel, in dem sie gesessen hat, auf und geht Richtung Wickeltisch. »Hallo, mein Name ist Victoria. Ich habe heute Abend den Spätdienst und kümmere mich um die Prinzessin. Sie hat vor Hunger so geschrien, dass ich noch gar nicht dazu gekommen bin, sie zu wickeln. Wenn Sie möchten, können Sie das gerne übernehmen.«

»Nein, nein, schon gut. Erst mal werde ich nur zuschauen.« Schwester Victoria lächelt mich milde an und legt meine Tochter auf dem Wickeltisch ab. Nachdem sie den Wärmestrahler darüber angeschaltet hat, beginnt sie sie langsam auszuziehen.

Ich kann einfach nicht meinen Blick von ihr abwenden. Sie ist so klein und zerbrechlich. »Keine Angst. Die kleinen Würmchen sind zäher, als sie aussehen«, sagt sie, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Und unsere Süße hier ist eine kleine Kämpferin. Auch wenn sie vier Wochen zu früh auf die Welt gekommen ist, ist sie putzmunter und kerngesund. Stolze 2500 g wiegt unsere hübsche Lady und ist 47 cm groß. Aber bei dem Appetit, den sie an den Tag legt, denke ich, darf sie in ein paar Tagen nach Hause.« Meine Tochter liegt auf dem Wickeltisch und schaut in meine Richtung, als wüsste sie ganz genau, wer da vor ihr steht. Nachdem Victoria ihr eine frische Windel angezogen hat, deutet sie auf den Sessel, in dem sie während des Fütterns gesessen hat. »Bitte ziehen Sie Ihr T-Shirt aus.«

Als sie meinen entsetzten Gesichtsausdruck sieht, muss sie schmunzeln. »Für die Kleine ist es wichtig, direkten Hautkontakt zu bekommen. Sie braucht die Körperwärme von ihrem Dad.« Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals, den ich mühsam hinunterschlucke. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet.

Aber ich möchte jetzt auch die warme Haut meines Babys auf meiner spüren. Ihr nahe sein. Ihr zeigen, dass sie nicht allein ist.

Ich ziehe mein Shirt über den Kopf und setze mich auf den Sessel. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Endlich. Endlich werde ich meine Tochter in den Armen halten. Was für mich vor ein paar Stunden noch unmöglich erschien, ist jetzt das Selbstverständlichste auf der Welt. Schwester Victoria legt mir meine Kleine auf den Bauch und deckt sie mit einer weichen rosa Decke zu. Anschließend verlässt sie leise den Raum.

Wahnsinn. So fühlt sich also der erste Moment mit meiner Tochter an. Die ganze Zeit habe ich versucht, nicht vor ihr in Tränen auszubrechen, aber dieser Augenblick ist so überwältigend, dass ich nicht anders kann. Einzelne Tränen laufen mir über die Wangen. Lächelnd sehe ich auf sie herunter und schaue sie verliebt an. Ganz sachte streichle ich ihr über den Rücken und hauche ihr sanfte Küsse auf das Köpfchen. Mein Mädchen.

Die ganzen Eindrücke, die auf mich einstürmen, sauge ich wie einen Schwamm auf.

Sie ist das hübscheste Baby auf der ganzen Welt. Klar, ich glaube, dass jeder Vater das über seine Tochter denkt, aber sie ist einfach perfekt. Und sie riecht so fantastisch.

Mit meiner anderen Hand streichle ich ihr zärtlich über die Wange und anschließend berühre ich ganz vorsichtig ihre zarten kleinen Fingerchen. Sofort umfasst sie meinen Zeigefinger mit ihrer Hand und hält ihn fest. So fest, als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen.

»Na Engelchen, ich bin es, Daddy. Tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe. Das wird nie wieder vorkommen. Hörst du, das habe ich deiner Mommy versprochen«, flüstere ich leise, aber das bekommt meine Tochter schon gar nicht mehr mit. Sie ist bereits eingeschlafen.

Dieser Moment hier lässt mich einen kleinen Hauch von Hoffnung empfinden. Hoffnung darauf, dass ich es vielleicht schaffen kann. Dass wir es zusammen schaffen können.

»Weißt du was, Amy Williams?« Es ist das erste Mal, dass ich mein Mädchen mit ihrem Namen anspreche, aber es kommt einfach kein anderer infrage. Amy war schon immer der Favorit von Nora gewesen. »Daddy und du werden es zusammen schon hinbekommen. Es kann sein, dass ich nicht immer perfekt bin und Fehler mache, aber eins kann ich dir versprechen: Ich werde dich immer lieben und für dich da sein, wenn du mich brauchst.«

 

 

1. Kapitel

 

 

 

 

 

17 Jahre später

 

»Amy Williams!?«, rufe ich meiner Tochter hinterher, die polternd die Treppe unseres kleinen Einfamilienhauses nach oben rennt. »Beweg sofort deinen Hintern wieder hier runter. Wir sind noch nicht fertig!«

Mittlerweile stehe ich an der untersten Stufe und warte auf eine Antwort von ihr, aber da kann ich, glaube ich, noch lange warten. Stattdessen wird die Tür ihres Zimmers so lautstark zugeknallt, dass ich Angst bekomme, das Haus könnte auseinanderfallen. Kurz darauf ertönt ohrenbetäubende Musik, sofern man das als Musik bezeichnen kann, denn das Einzige, was man hört, ist der Bass, der durch das ganze Haus dröhnt.

Jetzt reichts!!! Ich lasse mich doch nicht zum Affen machen.

Der Sicherungskasten befindet sich direkt unter der Treppe an der Wand. Und genau den steuere ich jetzt an.

Diese kleine … Was glaubt die eigentlich, wen sie hier vor sich hat? Ich bin immerhin ihr Vater, verdammt noch mal.

Nachdem ich die Sicherung für das oberste Stockwerk ausgeschaltet habe, legt sich sofort eine himmlische Ruhe über das komplette Haus.

Ahhhhh … wie schön!

Aber mit der Stille ist es direkt wieder vorbei, denn sofort wird Amys Zimmertür aufgerissen.

»Sag mal, geht‘s noch?! Du kannst mir doch nicht einfach den Strom ausmachen!«, brüllt sie mir aus der offenen Tür entgegen.

»Du siehst doch, dass ich das kann«, schreie ich, mittlerweile wieder zurück an der Treppe, ebenso lautstark zurück.

In letzter Zeit vergeht kaum ein Tag, an dem wir uns nicht ständig anschreien. Dieses Mädel ist genauso stur, wie ihre Mutter es war, hat aber zusätzlich noch meinen Dickkopf geerbt, was die Sache natürlich nicht einfacher macht. Denn meistens ist keiner von uns beiden bereit, als Erstes klein beizugeben. An manchen Tagen zicken wir uns ständig an und an anderen gehen wir uns schweigend aus dem Weg. Dabei hatten wir immer ein so inniges Vater-Tochter-Verhältnis. Wir konnten früher nächtelang mit einem heißen Kakao auf der Couch sitzen und über Gott und die Welt quatschen. Aber seit ein paar Monaten zieht sie sich immer mehr zurück und lässt mich überhaupt nicht mehr an sich heran. Dass sie mit ihrem alten Dad, der ich mit meinen mittlerweile neununddreißig Jahren nun mal für sie bin, nicht über irgendwelche Frauenprobleme reden möchte, ist mir schon klar. Und dass meine Mutter vor drei Jahren gestorben ist, hat ihr eine zusätzliche weibliche Bezugsperson genommen. Natürlich könnte sie auch mit Michelle reden, wenn sie etwas bedrückt, aber sie macht die Sachen meistens lieber mit sich selbst aus. Die Einzige, die sie im Moment an sich heranlässt, ist ihre beste Freundin Melly.

»Ich hasse dich!« Natürlich weiß ich, dass sie es nicht ernst meint und wenn ich jedes Mal zehn Cent bekommen würde, wenn sie mir diesen Satz an den Kopf knallt, wäre ich ein reicher Mann, aber trotzdem tut er verflucht weh. Doch ich kann es einfach nicht sein lassen, sie weiter zu provozieren. »Dann mache ich ja anscheinend alles richtig«, ist alles, was ich ihr darauf als Antwort gebe.

»Ahhhhrgh!«, kommt der sehr geistreiche Kommentar meiner Tochter. Anschließend fällt die Tür erneut ins Schloss und einige Minuten darauf geht es auch schon wieder mit lauter Musik weiter.

Shit … ich habe ganz vergessen, dass diese Erziehungsmaßnahme bei den Kids von heute nicht mehr wirklich von Erfolg gekrönt ist. In Zeiten von Smartphones und Bluetooth-Lautsprechern ist es ihnen auch dann noch möglich, uns mit ihrem Krach den letzten Nerv zu rauben, wenn die Welt untergeht.

»Amy!?« Dieses Weib treibt mich noch in den Wahnsinn. »Mach sofort die Musik leiser.«

Gerade als ich die Stufen nach oben laufen will, um unser Gespräch von vorhin weiterzuführen, ertönt aus der Küche die Stimme meines Bruders: »Mann, was ist denn hier schon wieder los? Kann ich auch mal vorbeikommen, ohne dass ihr euch an die Gurgel geht?«

Ich lasse erst mal von meinem Vorhaben ab, jetzt weiter mit Amy zu sprechen, denn wenn sie so drauf ist, komme ich noch weniger an sie heran, als es sowieso im Moment der Fall ist. Auf dem Absatz drehe ich um und laufe Richtung Küche.

Zwei Jahre nach Noras Tod wurde dieses kleine Schmuckstück von Haus verkauft. Dank meiner Eltern, die mich immer etwas finanziell unterstützt haben, konnte ich mir dieses damals renovierungsbedürftige Haus leisten. Zusammen mit Dad, Sam und Brian habe ich es zu unserem Zuhause werden lassen. Monatelang haben wir hier gearbeitet, bevor wir endlich aus unserer kleinen Wohnung umziehen konnten. Die Böden mussten alle abgeschliffen, zum Teil auch erneuert werden, die Fenster und Türen wurden alle ausgetauscht. Die Sanitäranlagen waren total veraltet und mussten komplett neu gemacht werden. Wir haben viel Schweiß und Zeit investiert, aber die Arbeit hat sich definitiv gelohnt. Unser Zuhause ist nicht riesig, aber wir sind hier sehr glücklich. Zumindest an den meisten Tagen.

Im Erdgeschoß befindet sich mein ganzer Stolz, abgesehen von Amy. Der Raum, der meine Leidenschaft widerspiegelt. Eine große weiße Küche mit schwarzer Granitarbeitsplatte, einer Kochinsel mit angrenzender Frühstückstheke und zwei Barhockern.

Kurz bevor Nora mit Amy schwanger wurde, habe ich meine Ausbildung zum Koch in einem Hotel in Petersburg, das circa fünfunddreißig Meilen von Blackstone entfernt liegt, abgeschlossen. Damals hatte ich immer einen Traum, den ich mal verwirklichen wollte. Aber wie das mit solchen Träumen meistens der Fall ist, bleiben sie unerfüllt. Schließlich musste ich Amy und mich ernähren und das war das Wichtigste auf der Welt. Deshalb war ich froh, dass damals zufällig an der Highschool eine Stelle als Koch in der Mensa frei wurde. Natürlich ist es nicht das, was ich mir immer erhofft hatte, aber es macht Spaß für die Kinder zu kochen.

Die Küche verfügt außerdem über einen direkten Ausgang zu einer Veranda, die um das komplette Haus führt und an einen kleinen Garten angrenzt. Durch diese Tür ist Sam auch ins Haus gekommen.

Nur durch einen bogenförmigen Durchgang gelangt man in den großzügigen Wohn-/Essbereich mit unserer riesigen Sofalandschaft und einem großen Esstisch. Direkt neben der Haustür haben wir nur noch eine Gästetoilette hier unten.

Im oberen Stockwerk befindet sich unser Bad und zwei Schlafzimmer, sowie ein Gästezimmer.

Nachdem ich die Küche betreten habe, setze ich mich an meine Frühstückstheke. Das laute Mahlen der Kaffeebohnen erfüllt den Raum, während Sam mit dem Rücken zu mir an der Arbeitsplatte steht und auf seinen Kaffee wartet. Erst als er damit fertig ist, dreht er sich zu mir um, und so lange warte ich, bis ich das Wort ergreife: »Frag das mal deine Lieblingsnichte. Die geht mir im Moment so dermaßen auf den Zeiger!«

Dieser Drecksack grinst nur frech und setzt sich mit seiner Tasse direkt mir gegenüber auf den Hocker.

»Hallo, du hättest mir ruhig auch mal einen Kaffee mitmachen können, du Arsch«, gebe ich grummelig von mir, bevor ich aufstehe, um eine Tasse aus dem Schrank zu holen, die ich anschließend unter die Maschine stelle und auf den Knopf drücke. Während die Bohnen lautstark gemahlen werden, lehne ich mich mit dem Hintern an die Arbeitsplatte und verschränke die Arme vor der Brust.

»Wusste ja nicht, ob es so eine gute Idee ist, deinen Blutdruck noch weiter in die Höhe zu treiben. Wollte dir eigentlich eher einen Beruhigungstee anbieten, aber den hättest du mir wahrscheinlich eher über den Kopf geschüttet.« Ich muss grinsen, dieser Spinner weiß, wie er mich wieder runterbringen kann.

»Ja stimmt. Wäre vielleicht gar keine schlechte Idee gewesen. Das hätte mich bestimmt beruhigt«, gebe ich ihm als Antwort, während ich gleichzeitig zum Kühlschrank laufe und die Milch heraushole, von der ich einen Schluck in meine Tasse gebe, denn ich kann auf vieles verzichten, aber nicht auf die Milch in meinem Kaffee. Dann setze ich mich wieder auf den Barhocker gegenüber von Samuel.

»Na los, raus damit. Was hat der Zwerg jetzt wieder angestellt?« Sam trinkt einen Schluck von seinem Kaffee und stellt die Tasse dann neben sich ab. »In letzter Zeit kann ich nicht einmal hier vorbeikommen, ohne dass gerade eine Bombe hochgeht.«

Ich stelle meine Tasse ebenfalls auf die Theke und atme tief durch, bevor ich weiterrede.

»Seit einem halben Jahr höre ich nur noch Shane hier, Shane da. Das ist dieser Typ aus ihrer Schule, auf den alle Mädels stehen, wobei ich mich sowieso frage, weshalb der noch auf die Highschool geht, schließlich ist der schon zwanzig.«

Ich stütze meine Ellenbogen auf der Theke ab und lasse meinen Kopf auf meine Hände sinken. Dieser Typ ist mir einfach nicht geheuer und von Brian weiß ich, dass er schon mehr als einmal Ärger gemacht hat.

»Ja, aber das ist so weit nichts Neues. Wir wissen doch schon länger, dass Amy ihn toll findet, aber die ganze Zeit hatten Melly und sie doch keinen Kontakt zu ihm, oder?«, will Sam von mir wissen.

»Das ist richtig, aber er hat sie heute wohl angesprochen, ob sie am Samstag zu ihm auf eine Poolparty kommen will. Die ganze Zeit interessiert er sich nicht die Bohne für sie und plötzlich will er sie unbedingt auf einer Party dabeihaben. Da ist doch was faul. Ich traue dem Kerl nicht«, versuche ich, meinem Bruder zu erklären, was Sache ist. »Sie kam heute von der Schule heim und meinte, sie würde auf jeden Fall zu dieser Party gehen. Sie hat mich noch nicht mal gefragt. So kenne ich Amy nicht. In der letzten Zeit provoziert sie mich immer und versucht mich auf die Palme zu bringen. Ständig behauptet sie, dass ich sie wie ein Baby behandeln würde und sie nie eigene Entscheidungen treffen dürfte.«

»Na ja …«, will Sam gerade zu einer Antwort ansetzen, aber ich unterbreche ihn sofort.

»Was heißt denn hier na ja? Natürlich kann sie ihre eigenen Entscheidungen treffen, aber ich mache mir halt Sorgen. Wenn sie einen anständigen Freund finden würde, hätte ich da echt kein Problem damit, aber diesem Shane steht der Ärger schon auf die Stirn tätowiert. Apropos Tattoos. Hast du dir den mal angeguckt? Hat der überhaupt auf den Armen noch jungfräuliche Haut?«

Sam räuspert sich und sieht mich grinsend an.

»Mann, deine Tattoos sind ja wohl nicht mit denen eines Milchbubis vergleichbar. Außerdem sind deine an Stellen, die ich mir nicht unbedingt angucken muss, außer wenn ich dich mal wieder zum Ausnüchtern unter die Dusche stelle.«

Ich setze mich wieder aufrecht hin und verschränke die Arme vor der Brust, während Samuel einen weiteren Schluck von seinem Kaffee nimmt.

»Aber eine Poolparty, bei dem zu Hause. Seine Eltern wären über das Wochenende weg. Da wird dann gesoffen und vielleicht noch Schlimmeres. Du weißt doch selbst, wie solche Partys ablaufen. Da wird …«

»Da wird was, Dad?« Erschrocken drehe ich mich um. Oh fuck. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass die Musik leiser gedreht wurde. Amy steht direkt hinter mir. Mein Blick durchbohrt meinen Bruder. Hätte der Drecksack mich nicht mal vorwarnen können?

Na super. Lasst die Spiele beginnen.

Sie geht an mir vorbei, wirft sich in Samuels Arme und drückt ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Das ist so typisch. Mit mir redet sie kein vernünftiges Wort, aber sobald ihr Onkel hier erscheint, macht die Madame einen auf liebe Nichte.

»Hallo Sam, könntest du Dad bitte sagen, dass ich kein Kleinkind mehr bin und auf mich selbst aufpassen kann. Er nervt voll mit seinem Kontrollwahn.«

»Kontrollwahn? Nur weil ich dich nicht zu dieser Party lassen will, machst du hier so einen Aufstand. Wolltest du nicht eigentlich bei Melly übernachten? Macht euch doch einen schönen Abend bei ihr zu Hause«, gebe ich ihr als Antwort.

»Oh ja, genau das machen wir. Wir ziehen unsere Arielle-Schlafanzüge an und machen uns Popcorn. Danach können wir noch ein bisschen die Eiskönigin gucken und um 22 Uhr schlafen gehen«, sagt sie in einem mehr als sarkastischen Tonfall. Mittlerweile hat sich Amy von ihrem Onkel gelöst und sich auf die Arbeitsplatte der Küche gesetzt.

»Jetzt werd bloß nicht albern. Ihr könnt auch gerne ausgehen. Am Samstag ist doch diese Tanzveranstaltung in der Stadt. Da gehen bestimmt auch einige aus eurer Schule hin.«

»Echt jetzt? Das haben wir früher schon gehasst«, fällt mir Sam in den Rücken.

Wenn Blicke töten könnten, würde er jetzt von dem Hocker fallen.

»Warum kann ich nicht auf diese Party?«, redet Amy mittlerweile in einem versöhnlicheren Ton. »Ach komm schon, Dad, alle aus unserer Stufe sind auf diese Party eingeladen. Was soll denn da schon passieren? Es wird mich schon niemand vergewaltigen.«

»Es geht doch nicht nur darum, dass dich jemand vergewaltigen könnte. Aber ich weiß was Typen in diesem Alter alles anstellen, um eine Frau ins Bett zu bekommen. Sieh dir doch nur mal deinen Onkel an. Der ist siebenunddreißig Jahre und legt heute noch alles flach, was nicht bei drei auf den Bäumen ist!« Amy muss kichern und Samuel meldet sich natürlich sofort zu Wort. Aber ich habe auch mit nichts anderem gerechnet.

»Hey … warum ziehst du mich da wieder mit rein? Außerdem, wie sich das anhört, schließlich lege ich gar nicht alles flach, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Aus diesem Alter bin ich raus. Sagen wir mal so, was nicht bei fünf auf den Bäumen ist, kommt in die engere Auswahl. Bei Weitem nehme ich nicht mehr alles und außerdem bin ich nicht mehr so schnell.«

Normalerweise müsste ich jetzt laut loslachen, aber weil Amy dabei ist, verkneife ich es mir und versuche vergeblich, das Zucken meines Mundwinkels zu verbergen.

Tja, was soll ich darauf erwidern? Er wird, glaube ich, nie erwachsen.

Amy rutscht mit ihrem Hintern von der Arbeitsfläche und kommt auf mich zu. Sie kuschelt sich in meine Arme und drückt mich ganz fest. Sofort schlingen sich meine Arme ebenfalls um sie. Wie ich diese Momente mit ihr liebe, nur leider sind sie in letzter Zeit viel zu selten geworden. Dann lehnt sie sich mit dem Oberkörper etwas zurück und sieht mich mit ihrem Dackelblick an.

Da ist er! Der Dackelblick, der mich so sehr an ihre Mom erinnert. Innerlich die Augen verdrehend sehe ich sie an und ich weiß genau wie sie, wenn sie jetzt noch anfangen sollte an ihren Locken zu zupfen und die Lippen zu einem Schmollmund verzieht, dass sie fast alles von mir haben kann.

»Och bitte, Dad.« Amy hat immer noch die Arme in meinem Nacken liegen und sieht mir tief in die Augen.

»Ja bitte, Dad«, zieht der Mistkerl von einem Bruder mich direkt auf. Aber der soll mal ganz schnell den Ball flachhalten, weil ich genau weiß, dass diese Masche bei ihm noch viel schneller funktioniert als bei mir.

»Ach, halt die Klappe«, entgegne ich ihm deswegen auch direkt.

Auch wenn ich froh über diesen friedlichen Moment bin und die Umarmung meiner Tochter gerade mehr als genieße, muss ich etwas Abstand zwischen uns bringen, damit sie mich nicht komplett um den Finger wickeln kann. Deshalb löse ich ihre Arme in meinem Nacken, schiebe sie etwas zurück und stehe auf. Dann bedeute ich ihr, dass sie auf dem Hocker Platz nehmen soll, bevor ich einen Schluck von meinem Kaffee nehme, die Tasse wieder abstelle und mich mit dem Rücken an die Arbeitsplatte lehne. Mit den Händen stütze ich mich links und rechts auf der Granitplatte ab.

»Schatz, jetzt hör mir mal bitte zu. Ich liebe dich. Und es ist ja nicht so, dass ich dir nicht vertraue, dass du keine Dummheiten machen wirst. Aber auf solchen Partys wird kein harmloses Ping-Pong gespielt«, fange ich an, ihr meine Bedenken zu erklären.

»Stimmt. Die nennen es einfach nur anders«, muss mein dämlicher Bruder seinen Senf dazugeben, indem er auf das Partyspiel Bier-Pong anspielt.

Manchmal könnte ich ihm echt den Hals umdrehen. Böse funkele ich ihn an, während ich zische: »Nicht sehr hilfreich, Sam!«

Er grinst mich frech an und streckt mir den Mittelfinger entgegen. Das war dann wohl seine Retourkutsche für den Kommentar mit den Weibern. Über diesen Idioten kann ich manchmal einfach nur den Kopf schütteln. Aber ich liebe ihn nun mal, was soll ich machen.

Amy nimmt einen Schluck von meinem Kaffee und verzieht das Gesicht wegen der Milch, bevor sie die Tasse wieder abstellt und mich wieder erwartungsvoll ansieht.

»Süße, was ich dir sagen wollte, bevor dein doofer Onkel dazwischengequatscht hat, ist, dass ich natürlich weiß, dass du kein Baby mehr bist und auch bestimmt keinen Bock auf einen öden DVD Abend mit deiner Freundin hast. Auch wenn deine Mom und ich das in deinem Alter gerne gemacht haben. Denn im Gegensatz zu deinem Onkel war ich damals schon in einer festen Beziehung. Aber trotzdem waren wir auch hin und wieder auf solchen Partys.«

Amy sieht mich an und schnauft.

»Och nee, bitte, ich will wirklich nicht wissen, was Mom und du auf irgendwelchen Partys getrieben habt. Ihhh.«

»Keine Sorge, wir haben gar nichts getrieben.« Sam verschluckt sich an einem Schluck Kaffee, den er gerade trinken wollte, weshalb ich sofort warnend zu ihm herübersehe, damit er dieses Mal bloß seine blöde Klappe hält. Dass Nora und ich mal von ihm auf so einer besagten Party in einem der Gästezimmer beim Vögeln erwischt wurden, braucht meine Tochter wirklich nicht zu wissen. Aber ich muss grinsen, als ich an diese Situation denken muss. Es ist gut, dass ich mittlerweile wieder an die schönen Momente mit Nora denken kann, ohne dass mein Herz schmerzt. Sie war die Liebe meines Lebens und wird es auch immer bleiben, aber ich habe mit den Jahren gelernt, dass sie uns nie verlassen hat. Sie ist immer allgegenwertig. Das sehe ich jeden Tag. Und dafür muss ich nur einen Blick auf unsere gemeinsame Tochter werfen. Sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Einfach wunderschön.

Amy dreht sofort ihren Kopf fragend in Sams Richtung.

»Mann, muss der Kaffee immer so heiß sein?«, gibt er ihr schulterzuckend als Antwort. Zum Glück geht Amy nicht weiter darauf ein, obwohl sie weiß, dass der Kaffee längst eiskalt ist.

Ich atme tief durch, denn ich weiß, dass es gleich mit dem friedlichen Moment vorbei sein wird.

»Können wir bitte wieder zum eigentlichen Thema zurückkommen. Natürlich habe ich nichts dagegen, wenn du am Samstag bei Melly übernachtest, ihr könnt auch gerne etwas zusammen unternehmen, aber ich werde es dir nicht erlauben auf diese Party zu gehen. Und darüber werde ich meine Meinung auch nicht ändern. Wenn sie bei jemand anderem stattfinden würde, würde ich mit mir reden lassen. Aber dieser Shane hat Dreck am Stecken und ich will nicht, dass du Kontakt zu ihm hast.«

Amys Haltung und ihr Gesichtsausdruck verändern sich schlagartig. Das habe ich befürchtet. Meine süße Tochter hat sich wieder in einen Trotzkopf verwandelt, die ihren Willen nicht bekommt. Sie springt von dem Hocker auf und rennt die Treppe wieder nach oben, nachdem sie mir auf dem Weg noch ein: »Du bist so ein Spießer« zubrüllt. Direkt danach fliegt erneut die Zimmertür ins Schloss und der Bass erfüllt wieder das ganze Haus.

Um nicht den nächsten Streit vom Zaun zu brechen, lasse ich meinen Kopf nach vorne auf meine Brust sinken und atme tief aus, während ich mir erschöpft mit den Händen durch das Gesicht fahre. Sam erhebt sich von seinem Hocker, kommt zu mir herüber und legt seine Hand auf meine Schulter.

»Der Grund weshalb ich vorhin eigentlich gekommen bin, erschien mir erst ganz okay. Aber mittlerweile finde ich die Idee ausgezeichnet.« Da ich nur meinen Kopf hebe und ihn fragend ansehe, fährt er fort: »Du hast doch den Rest der Woche Urlaub, oder?« Ich nicke. »Morgen habe ich mir spontan freigenommen, ein anderer Fotograf kann für mich nach Petersburg fahren, um die Fotos für den geplanten Zeitungsartikel zu machen. Mir ist vorhin mal eingefallen, wie lange wir schon keinen Männerabend mehr hatten.« Das ist nicht sein Ernst. Im Moment habe ich echt andere Sorgen, als mit ihm fünfzig Meilen nach Richmond zu fahren, nur damit er nicht allein auf Weiberschau gehen muss. Früher haben Sam, Brian und ich das immer einmal im Monat gemacht. Als Amy noch klein war, hatte sie dann immer bei unseren Eltern geschlafen. Außerdem haben wir heute Mittwoch.

»Muss das sein? Da oben sitzt ein zickender Teenie und ich habe keine Lust, dir dabei zusehen zu müssen, wie du wieder eine Frau abschleppst und ich am Ende allein an der Bar versauere. Das letzte Mal musste ich im Auto pennen, weil du unser Hotelzimmer als Liebesnest benutzt hast.«

»Nein. Hoch und heilig verspreche ich dir, dass ich heute ganz brav bleibe und nur einen ruhigen Männerabend mit meinem Bruderherz verbringen möchte.« Skeptisch hebe ich eine Augenbraue. »Wirklich. Nur wir beide. Zwei oder drei Bier. Ein bisschen Billard spielen und quatschen. Nach dem Streit mit Amy würdest du mal wieder auf andere Gedanken kommen. Brian habe ich auch gefragt, aber er kann heute nicht.« Was ich verstehen kann, ich würde an seiner Stelle auch nicht meine schwangere Frau allein lassen, um mir andere Weiber anzugucken, wie sie sich über den Billardtisch beugen und mit dem Hintern wackeln. Abgesehen davon, muss er im Gegensatz zu uns morgen wieder früh raus.

»So wie ich dich kenne, habe ich wahrscheinlich sowieso keine andere Wahl als mitzukommen, oder?«, frage ich ihn seufzend.

»Nope. Du weißt doch, wenn ich mir was in den Kopf gesetzt habe, bekomme ich es auch. Immer.«

»Funktioniert dieser Spruch auch bei deinen Tussis? Nein, sag es nicht, denn ich will gar nicht wissen, was du denen alles Dreckiges ins Ohr flüsterst, damit sie die Beine für dich breitmachen. Es gibt Dinge, die du besser mit ins Grab nimmst.«

»Oh du würdest dich wundern, wie viele Frauen auf meine Zunge stehen und was ich alles damit machen kann«, kontert er, wie immer mit Aussagen, die mir den Mund offen stehen lassen. Dieser Kerl ist unmöglich. Also ich habe in den letzten siebzehn Jahren ja auch nicht abstinent gelebt, denn so hin und wieder hatte ich schon Frauengeschichten laufen. Aber mehr als einmal habe ich eine Frau nie getroffen. Das ist auch der Grund, warum wir immer etwas weiter wegfahren und dann dort schlafen. Da kann ich mir sicher sein, dass ich diese Frauen wahrscheinlich nie in meinem Alltag wiedersehen werde.

»Boah, hör auf. Dass du dir noch keine Krankheiten oder Kinder eingehandelt hast, wundert mich wirklich«, gebe ich ihm als Konter.

Mittlerweile hat sich Sam neben mich an die Arbeitsplatte gestellt.

»Eher gefriert die Hölle. Du kannst vergessen, dass ich mal eine Tussi ohne Gummi ficke. Never ever.«

Ich muss grinsen. Er hat einfach noch nicht die richtige Frau gefunden, bei der es nichts Besseres gibt, als sie pur zu spüren. Haut auf Haut. Denn näher kann man einem Menschen einfach nicht kommen.

»Eines Tages wirst auch du Miss Right finden, bei der du nichts anderes mehr möchtest, als ihr so nahe zu sein, wie es nur geht«, sage ich, als ich mich wieder auf den Hocker setze.

»Das sagt mir der Mann, der seit Nora keine Frau mehr geküsst hat.« Das ist absolut unterhalb der Gürtellinie, und das weiß er auch, denn er sieht mich reuevoll an. »Sorry, Mann.«

»Schon gut. Also schön. Es ist wirklich keine schlechte Idee heute Abend einfach mal auf andere Gedanken zu kommen. Aber ich sag dir eins. Von mir aus kannst du dir ruhig ein Mädel klarmachen, aber nur unter zwei Bedingungen.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Erstens schlafe ich definitiv im Hotelzimmer. Du kannst sie gerne im Auto vögeln und dann zu mir zurückkommen. Aber dann nehmen wir dein Auto. Und zweitens versuchst du heute Abend nicht, mir eine Tussi aufzuschwatzen, denn ich werde heute definitiv keinen Sex haben.«

»Okay, abgemacht.« Sam grinst von einem Ohr zum anderen.

Na das wird wieder eine lange Nacht. Bin mal gespannt, aus welcher Scheiße ich ihn heute wieder rausholen muss.

 

 

 

2. Kapitel

 

 

 

 

 

Anscheinend hält sich Samuel doch alle Möglichkeiten offen, denn wir sind mit seinem schwarzen Dodge Charger Baujahr 1971 gefahren. Wobei ich mir kaum vorstellen kann, dass er in seiner Justine jemals eine Frau flachlegen würde, denn sein Oldtimer ist sein Ein und Alles.

Amy ist, bis wir gefahren sind, nicht mehr aus ihrem Zimmer gekommen. Auch auf meine Klopfversuche an der Zimmertür hat sie nicht reagiert. Da es keinen Sinn gemacht hätte, jetzt noch mal mit ihr reden zu wollen, habe ich sie in Ruhe gelassen und werde unser Gespräch auf morgen verschieben. Lediglich einen Zettel habe ich ihr auf den Küchentresen gelegt.

 

 

Amy Schatz,

Sam nimmt mich heute Abend mit nach Richmond.

Wir wollen ein bisschen Billard spielen und quatschen.

Morgen früh komme ich wieder und dann können wir noch mal in Ruhe reden, okay?

Hab dich lieb.

Kuss, Dad

 

 

****

 

 

Nachdem wir im Hotel eingecheckt haben, gehe ich schnell duschen, werfe mich in eine hellbraune Jeans, meine braunen Boots und ziehe mein blaukariertes Hemd drüber. Die Haare muss ich einfach nur etwas mit Gel bändigen. Mittlerweile sind zwischen den blonden Haaren auch einzelne graue zu sehen, aber das macht mir nichts aus. Oben trage ich sie etwas länger und an den Seiten sind sie recht kurz. Da ich heute keine Lust habe, mich zu rasieren, lasse ich meinen Dreitagebart einfach stehen, aber da ich sowieso nicht auf Weiberfang bin, ist es mir egal. Sam hat seine zerschlissene Lieblingsjeans und ein schwarzes Hemd angezogen. Seinen Untercut hat er lässig zur Seite gegelt. Nachdem wir noch eine Kleinigkeit gegessen haben, machen wir uns zu Fuß auf zum Greenleafs Pool Room. Das ist die Billardkneipe in Richmond, in der wir immer unsere Männerabende verbringen. Es ist schon komisch, dass Brian dieses Mal nicht mit von der Partie ist. Aber ich freue mich jetzt doch darauf, einen Abend mit meinem Bruder zu verbringen. Das haben wir schon so lange nicht mehr gemacht. Vor der Kneipe tummeln sich einige Raucher und ich bin froh, dass ich mir dieses Laster vor ein paar Jahren abgewöhnt habe.

Dafür dass heute Mittwoch ist, ist mehr los, als ich gedacht hätte. Um 22 Uhr bin ich davon ausgegangen, dass die meisten schon zu Hause sind, weil sie am nächsten Tag arbeiten müssen. Aber es ist wirklich jeder Billardtisch belegt. Auch an der Bar finden sich nur noch vereinzelte Plätze. Samuel schnappt sich einen Hocker, stellt ihn neben einen anderen freien, und bedeutet mir, mich ebenfalls zu setzen.

Er winkt den Barkeeper zu uns heran und bestellt uns jeweils erst mal ein Bier. Als wir die Flaschen in der Hand haben, prosten wir uns zu.

»Auf einen schönen Abend, Bruderherz. Es wird mal nicht gegrübelt und ich will, dass du einfach mal wieder den Kopf freibekommst und ein bisschen Spaß hast«, sagt Sam mir mit einem Zwinkern. »Heute möchte ich nichts mehr hören über pubertierende Mädchen, die einem das Leben schwer machen können.«

»Im Moment weiß ich einfach nicht, was mit ihr los ist«, fange ich doch genau mit dem verbotenen Thema an, weil es mich wirklich beschäftigt. Sie ist immer mit ihren Problemen zu mir gekommen. Aber Sam unterbricht mich direkt.

»Stopp … Entweder du hörst sofort auf, über den Zwerg zu reden. Oder ich lasse dich hier sitzen und suche mir doch eine Lady, mit der ich den Abend in unserem Hotelzimmer ausklingen lassen kann.«

»Ja, ist ja schon gut. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich heute Abend ein Partykönig sein werde«, gebe ich ihm als Antwort. Doch er hat ja recht, schließlich bin ich nicht den langen Weg mit ihm hierhergefahren, um dann Trübsal zu blasen.

Sam dreht sich auf dem Hocker, und schaut sich in der Billardhalle um, ob nicht doch mittlerweile ein Tisch freigeworden ist. Anscheinend haben wir Glück.

»Komm schon, schnapp dein Bier. Da vorne wird gerade ein Tisch frei.« Er deutet mit seiner Bierflasche auf zwei Mädels, die gerade dabei sind, die Kugeln einzuräumen. Doch ich habe überhaupt keine Zeit etwas auf seine Aussage zu erwidern, denn er ist bereits aufgesprungen, und steht schon neben dem Tisch, damit niemand auf die Idee kommt, ihn uns vor der Nase wegzuschnappen.

»Na ihr Süßen, ihr könnt die Kugeln einfach liegen lassen. Wir übernehmen euren Tisch«, sagt er ihnen, während er der Blonden über den Oberarm streichelt und ihr anschließend etwas ins Ohr flüstert, was sie kichern lässt. Sie wird sofort rot, und wieder einmal frage ich mich, wie dieser Kerl das macht, denn ich hätte mindestens einen riesen Anschiss bekommen und bei meinem Glück wäre es die Freundin von einem Türsteher gewesen. Aber selbst da hätte Sam es geschafft, sie um seinen kleinen Finger zu wickeln. Sie dreht sich mit ihrer Freundin um, nimmt sie an der Hand und gemeinsam gehen sie Richtung Bar, wobei sie sich immer mal wieder zu uns umdrehen und uns angrinsen.

Ich schnappe mir einen der beiden Barhocker, die an unserem Stehtisch sind und setze mich darauf. Nachdem ich an meinem Bier genippt habe und es anschließend auf den Tisch stelle, beobachte ich Samuel dabei, wie er das Dreieck auf dem Filz aufbaut.

Er grinst mich an und meint: »Du weißt aber schon: Wer baut, der haut!« Ein lautes Lachen vibriert in meiner Brust, denn es tut so gut, endlich mal wieder unbeschwert einen Abend mit Sam zu verbringen. Dass ausgerechnet der Spruch, der signalisiert, wer beim Billard aufbaut, auch den ersten Stoß machen darf, dafür sorgt, dass ich lockerer werde, hätte ich auch nicht gedacht.

»Brian hat mir vor Kurzem erst erzählt, dass dein dummer Spruch eigentlich eine feste Regel in der Kifferszene ist. Wer den Joint baut, darf auch als Erster rauchen«, muss ich ihm gleich mein neues Wissen unter die Nase reiben. Aber er überrascht mich immer wieder.

»Was denkst du, woher ich den Spruch habe.« Meine Augen werden groß und anschließend breche ich in schallendes Gelächter aus.

»Mir war schon immer klar, dass ich der Brave von uns beiden bin.«

Sam hat mittlerweile die Kugeln auf dem Tisch ausgerichtet und reibt die Spitze seines Queues mit Kreide ein, dabei grinst er schelmisch zu mir herüber.

»Ja klar, weil du mir erzählen kannst, dass Brian und du früher immer brav wart. In der Zeit, als ihr mich noch nicht mitnehmen wolltet, habe ich oft genug von Dad und James gehört, was ihr zwei wieder angestellt habt.«

Er beugt sich über den Tisch, legt die weiße Kugel zurecht und macht den ersten Stoß.

Na super. Man merkt ihm an, dass er doch öfter spielt als ich, denn er versenkt direkt zwei Halbe.

Ich habe mich mittlerweile auch an den Tisch gestellt und die Hände darauf abgestützt, um seinen nächsten Stoß zu beobachten.

»Kein Kommentar«, gebe ich ihm grinsend zur Antwort.

Oh ja, Brian und ich haben wirklich als Halbstarke den ein oder anderen Mist gebaut. Aber es war nie etwas Gravierendes, einfach nur Jungsstreiche. Natürlich haben wir damals in der Garage von Brians Dad immer mal wieder heimlich geraucht und ein einziges Mal einen Joint ausprobiert. Was vielleicht im Nachhinein nicht die cleverste Idee war. Denn selbstverständlich haben wir den Gestank nicht rechtzeitig rausbekommen. Und Brian musste sich mächtig übergeben von dem Zeug. Tja, die Woche Hausarrest haben wir bis heute nicht vergessen.

»Wusste ich es doch«, sagt Sam, nachdem er mit dem nächsten Stoß die gelbe Neun in der hinteren linken Tasche versenkt hat, was mich nur grinsend den Kopf schütteln lässt.

Ich möchte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sich von hinten zwei Arme um meinen Bauch legen und sich ein zierlicher Frauenkörper an mich schmiegt.

»Hey Joey, na wie geht‘s? Ist schon lange her.« Oh Fuck. Diese Stimme kenne ich leider noch zu gut. Nadine.

Sam steht mir am Tisch gegenüber und er lächelt mich spitzbübisch an. Nadine ist eine meiner One-Night-Stands, die ich vor über vier Monaten das letzte Mal gesehen habe. Ich löse ihre Arme von mir und drehe mich zu ihr um. Ja, ich muss zugeben, es war nett mit ihr, aber ich habe ihr damals unmissverständlich klargemacht, dass es keine Wiederholung geben wird.

»Hi, Nadine«, sage ich ihr, als ich sie ein kleines Stück von mir wegschiebe. »Was soll das? Damals habe ich dir doch deutlich genug gesagt, dass es kein zweites Mal geben wird.« Ich hoffe, dass sie meinen halbherzigen Versuch sie abzuweisen akzeptiert. Doch sie ignoriert meine Worte und kommt wieder einen Schritt auf mich zu. »Ach Joey, wir hatten doch so viel Spaß, oder nicht?« Sie stellt sich an meine Seite und legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel. Anschließend lässt sie sie ganz langsam nach oben wandern und streicht hauchzart über meinen Schwanz. Fuck. Was wäre ich für ein Mann, wenn mich diese Berührung kaltlassen würde, denn es zuckt verdächtig in meiner Jeans. Mein Adamsapfel hüpft deutlich auf und ab, als ich schlucke, was ihr ein triumphierendes Glucksen entlockt. Mit meinen Händen halte ich mich hinter mir am Billardtisch fest und versuche tief durchzuatmen, um ihr nicht noch mehr zu zeigen, welche Wirkung ihre Berührung auf mich hat, denn mein letztes Mal war tatsächlich mit ihr damals gewesen, abgesehen von meiner eigenen Hand, aber das ist definitiv kein Vergleich zu einer Frau.

»Nadine …«, stoße ich leise aus, obwohl ich befürchte, dass es ihr nicht wie erhofft signalisiert, dass sie aufhören soll.

»Ja, Süßer?« Mittlerweile hat sie ihre Hand aus meinem Schritt gelöst und fährt mir aufwärts über die Brust und lässt sie anschließend an meinem Hals liegen. Ihr Körper presst sich immer dichter an meine Seite und ich muss für einen kurzen Moment meine Augen schließen.

»Nadine, ich …«, versuche ich erneut, etwas zu sagen, aber das Einzige, was meinem Mund entweicht, ist ein leises Stöhnen. Meine Hände umfassen inzwischen den Rand des Tisches so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten.

Shit, warum bekomme ich es einfach nicht hin, ihr zu sagen, dass sie aufhören soll?

Hinter mir höre ich meinen Bruder nur leise keuchen, und etwas murmeln, wie: »Scheiße, ist die heiß«, aber ich ignoriere ihn.

Ich spüre ihren Atem auf meinen Lippen und merke, dass ihr Mund meinem immer näher kommt. Sofort verspannt sich mein ganzer Körper, denn ich habe das Gefühl, als hätte jemand einen Kübel mit Eiswasser über mir ausgeschüttet.

»Nimm sofort deine Finger von mir! Du weißt genau, dass Küssen ein absolutes No Go ist«, knurre ich sie an, während ich ihre Hände von mir löse und sie grob nach hinten schiebe. Sie sieht mich erschrocken an, weil sie sich nicht erklären kann, warum ich so schroff reagiere. Selbst Samuel zieht scharf die Luft ein, weil ich sonst niemals so ausflippe. Aber ich habe es ihr damals des Öfteren gesagt. Warum denken die Weiber immer, nur weil man sie einmal flachgelegt hat, dass wir Männer ihnen dann hoffnungslos verfallen wären?

»Aber Joey …«, versucht sie, die Fassung wiederzuerlangen und mich vielleicht doch noch umzustimmen, indem sie mir einen verführerischen Augenaufschlag, wie sie vermutet, zuwirft, aber mit dem Versuch mich küssen zu wollen, hat sie sich die Chance auf eine Nacht mit mir definitiv verspielt.

Ich halte immer noch ihre Hände vor ihrem Körper aneinandergepresst fest und sehe sie herablassend an. »Weißt du was, Schätzchen? Ich war so kurz davor, dich vorhin hinter mir her aufs Klo zu zerren, um dich dann in einer der Kabinen zu vögeln.« Sie sieht mich mit großen Augen an und Sam klappt die Kinnlade nach unten. Aber er fängt sich schnell wieder und beobachtet das Schauspiel ruhig weiter, während er die Bierflasche ansetzt. Ist wahrscheinlich besser als Kino für ihn.

Was soll ich sagen, Sam, auch ich kann mal schlagfertig sein.

»Aber bevor ich das mache, lasse ich mir lieber von dem Kerl da hinten, der mich schon die ganze Zeit beobachtet, einen blasen. Also zieh Leine und such dir einen anderen Idioten, denn bei dir werde ich definitiv nichts mehr einlochen.« Angewidert lasse ich ihre Hände los und drehe mich zu Sam um, der gerade damit beschäftigt ist, das Bier vom Rand des Billardtisches aufzuwischen, das er gerade ausgespuckt hat.

»Was ist? Bin ich jetzt endlich dran?« Sam sieht mich mit offenem Mund an und lässt sich widerstandslos den Queue aus der Hand nehmen, obwohl ich wahrscheinlich noch gar nicht an der Reihe bin. Um meinen geplanten Stoß auszuführen, schiebe ich die verdatterte Nadine einfach auf die Seite und umrunde den Tisch, während ich fachmännisch die Kugeln in Augenschein nehme, als wäre nichts passiert. Im Augenwinkel kann ich sehen, dass sie sich wutschnaubend davonmacht. Das Nächste, was ich mitbekomme, ist Sam, der sich vor Lachen nach vorne beugt und einfach nicht mehr aufhören kann. Dass ich das noch erleben darf. Einen sprachlosen Samuel Williams.

»Fuck, Jordan.« Er hat die Hände auf den Knien abgestützt und sieht immer noch lachend zu mir herüber. »Wer bist du? Und was hast du mit meinem Bruder gemacht?«

Keine Ahnung. Aber diese Tussi hat definitiv eine Grenze überschritten und ich habe Rot gesehen.

Ich sehe ihn über den Tisch gebeugt an und muss jetzt auch lachen. Nachdem ich meinen Stoß ausgeführt habe, der keine einzige Kugel versenkt hat, lehne ich den Queue an den Rand des Billardtisches und stütze mich mit den Händen darauf ab.

»Shit, hat das gut getan. Was findest du an diesen Weibern, die sich einem schon dauerfeucht in die Arme werfen? Haben die gar keine Selbstachtung?«

»Weiß nicht, hab sie noch nicht gefragt. Aber es spart jede Menge Zeit, wenn ich mich nicht ewig lang da reinknien muss. Denn es ist mir lieber, wenn sie vor mir knien. Und im Endeffekt stöhnen sie am Ende in jeder Position: kniend, liegend oder stehend. Da kann ich auf dummes Gequatsche verzichten«, gibt er mir mit einem dreckigen Grinsen zurück, während er sich mein Bier schnappt und es genüsslich trinkt.

»Boah, Sam. Ich kann ja verstehen, dass man ab und zu darauf zurückgreift, um seine dicken Eier loszuwerden, aber willst du das wirklich für den Rest deines Lebens haben?«

»Bis jetzt ist mir noch keine Frau über den Weg gelaufen, die mich vom Gegenteil überzeugen könnte, dass es sich lohnt, das alles aufzugeben.«

Oh ja, glaube mir, auch du wirst irgendwann in den Genuss kommen, die Eine zu treffen, und ich werde mit Vergnügen beobachten, wie du ihr von der ersten Sekunde an mit Haut und Haaren verfällst, denke ich etwas wehmütig, weil ich meine große Liebe schon gefunden hatte, sie mir aber auf tragische Weise wieder genommen wurde. Und dieses Glück hat man nur einmal im Leben.

Aber das sage ich ihm natürlich nicht, weil ich seine Einstellung zur Liebe kenne, stattdessen sehe ich ihn nur etwas traurig an, weil mir die Erinnerung an Nora zugesetzt hat. Auch nach so vielen Jahren vermisse ich sie immer noch.

»Mir ist auf Billard irgendwie die Lust vergangen. Könntest du bitte die Sachen zusammenpacken? Ich geh mal pinkeln.« Seine Antwort gar nicht erst abwartend laufe ich in Richtung der Toiletten.

Als ich auf dem Rückweg den Flur wieder entlanggehe, erregt ein Geräusch meine Aufmerksamkeit. Ein dunkles Frauenlachen, das mich auf der Stelle stehen bleiben lässt. Obwohl ich die Stimme noch nie zuvor gehört habe, sorgt sie dafür, dass ich eine Gänsehaut bekomme und meine Kopfhaut zu prickeln beginnt. Verdammt. Was ist da los? Dazu gesellt sich die Stimme einer anderen Frau, die etwas sagt, das ich nicht verstehe, was aber das kehlige Lachen noch verstärkt. Wow, dieser Klang ist der Hammer. Wie sich dieses Geräusch wohl anhört, wenn …

Meine Beine setzen sich wieder in Bewegung, denn ich will wissen, zu wem dieses ausgelassene Lachen gehört, weshalb ich den Flur weiter entlanglaufe und um die Ecke biege, aber dann bleibe ich wieder abrupt stehen.

An der Wand stehen einige Dartautomaten, die alle mit Spielern belegt sind. Doch meine Aufmerksamkeit gilt direkt den zwei Frauen am ersten Automaten. Mir zugewandt steht eine süße Blondine mit offenen Haaren, in einem schwarzen Jumpsuit und High-Heels, die ihrer Freundin gerade etwas ins Ohr flüstert. Daraufhin wirft diese den Kopf in den Nacken, wodurch ihr geflochtener Zopf einen Blick auf ihren wunderschönen Hals freigibt, und lacht wieder los.

»Ja, hast du dem sein Gesicht gesehen, als ich ihm gesagt habe, dass er sich verpissen soll? Holy Shit, wie mir solche Typen auf den Nerv gehen.« Diese Stimme bringt mich noch um. Immer noch an der Ecke stehend beobachte ich die zwei ganz fasziniert. Mein Blick wandert an ihrem roten rückenfreien Oberteil nach unten und bleibt kurz auf dem Arsch in dieser sexy Jeans hängen, bevor ich ihn wieder nach oben wandern lasse.

Ihre Haut hat die Farbe von flüssiger Milchschokolade und am liebsten würde ich einfach hingehen und probieren, ob sie genauso gut schmeckt, wie sie aussieht. Hallo, was stimmt nicht mit mir?

»Oh ja, Maus, das war klasse.« Die Blondine sieht sie jetzt traurig an und man merkt, dass sie versucht, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. »Was soll ich denn ab morgen ohne dich machen, du wirst mir so fehlen.«

Ich versuche, ihrem Gespräch zu lauschen, aber es ist mir nicht möglich, weil sich eine Hand auf meine Schulter legt und Sam dazwischenquatscht. »Sag mal, bist du ins Klo gefallen? Ich wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben. Was machst du eigentlich hier hinten?«

Wieso schreit er nicht noch lauter? Ich glaube, es hat ihn noch nicht jeder gehört.

»Kannst du vielleicht mal deine Klappe halten«, zische ich ihm zu, während ich ihm meinen Ellenbogen in die Seite ramme. Dann drehe ich mich zu ihm um und schiebe ihn aus dem Sichtfeld, in der Hoffnung, dass sie uns noch nicht gesehen haben.

»Was denn?« Durch meine Geheimnistuerei erst recht neugierig geworden, schiebt er sich an mir vorbei, um einen Blick um die Ecke zu werfen. »Scheiße, sind die heiß!«, ist sein einziger Kommentar.

»Danke, das weiß ich selbst. Hör auf, so da hinzustarren.« Am Ellenbogen ziehe ich ihn wieder zu mir in den Flur.

Gerade als ich noch mal ansetzen will, etwas zu sagen, werden wir unterbrochen von der Stimme der dunkelhäutigen Schönheit.

»Wenn du jetzt noch ein Mal deine dreckigen Finger auf meinen Arsch legst, ist die einzige Flöte, die bei dir noch geblasen wird, die Blockflöte zu Weihnachten.«

Shit … das hat sie eben nicht gesagt. Wir können es beide nicht verhindern und prusten los.

Sam und ich schieben unsere Köpfe wieder um die Ecke und beobachten die Szene vor uns.

Keine Ahnung warum, aber es ist total sexy, wie sie dasteht und dem dunkelhäutigen Typen vor sich den Arm auf den Rücken dreht. »Ich habe es dir vorhin schon mal gesagt. Such dir ein anderes Opfer, das du mit deinen widerlichen Wurstfingern anpacken kannst. Darfst du überhaupt schon ohne elterliche Aufsicht länger als 22 Uhr wegbleiben? Wenn ich jemanden vögeln will, dann muss der definitiv mehr als drei Haare am Sack haben.«

Sollte ich mich vielleicht mal untersuchen lassen? Weil irgendwie macht mich diese Frau gerade so was von an, sodass mein Schwanz schon extrem gegen meine Knopfleiste der Jeans drückt.

Sam dreht sich zu mir um und sieht mich groß an. »Alter, die macht mir ein bisschen Angst!« Weil ich daraufhin wieder leise lachen muss, rollt er mit den Augen und fährt fort: »Jetzt stell dir doch mal vor, die liegt mit dir im Bett.« Danke … Das hilft auch nicht gerade dabei, meinen Schwanz wieder in seine Schranken zu weisen. Unauffällig drücke ich mit meiner Hand gegen meinen Schritt, um mein bestes Stück etwas zu verlagern. »Wenn diese Wildkatze ihre Krallen ausfährt, bleibt am Schluss nur noch Gemetzel übrig. Ich bevorzuge süße kleine Kätzchen, die sich schnurrend an mich schmiegen.«

Hmm … ich denke, dass beides seine Vorteile hat.

»Ihre Freundin dagegen wäre es schon wert, mal einen genaueren Blick zu riskieren.« Kaum hat er den Satz ausgesprochen, ist er auch schon dabei den Stehtisch neben ihrem, der gerade frei wird, in Beschlag zu nehmen.

Da die Mädels auch ohne einen Helden auszukommen scheinen, der sie vor der bösen Männerwelt beschützt, folge ich Samuel an den Stehtisch und wir setzen uns jeweils auf einen Hocker.

Der Typ ist mittlerweile schon wieder vorne an der Bar bei seinen Kumpels. Den sehen wir heute nicht mehr. Aber vielleicht trifft er unterwegs ja noch Nadine …

Als die Bedienung vorbeikommt, bestellen wir uns jeweils einen Whisky und Dartpfeile. Irgendwie liegt mir Dart mehr als Billard, wobei ich mich frage, ob es auch mit der Ablenkung neben mir klappt.

Bis jetzt haben die zwei noch keine Kenntnis von uns genommen, aber genau in diesem Moment sieht sie zu mir herüber. Ihre Lippen umspielt ein kleines Lächeln und ihre Augen leuchten. Sie nimmt ihr Bier und prostet mir zu. Da ich mein Getränk noch nicht habe, hebe ich nur meine Hände und zucke mit den Schultern.

»Hey, Jungs.« Die zwei kommen mit ihren Drinks zu uns an den Tisch. »Keine Angst, wir beißen nicht«, ist das Erste, was die Blonde zu uns sagt.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, brummt Sam so leise neben mir, dass nur ich es verstehen kann, was ihm von mir einen kleinen Tritt unter dem Tisch einbringt.

»Hey, wie geht‘s? Wir wollten euch eigentlich schon zur Hilfe kommen«, gebe ich ihnen selbstsicherer als Antwort, als ich mich eigentlich fühle. »Aber dann war ja schnell klar, dass du die Situation ganz gut allein im Griff hattest.«

»Ach, das war doch nur ein kleiner Junge, der noch nicht weiß, wie man gerade pinkelt. Der war zu keiner Zeit eine Gefahr«, redet jetzt die Dunkelhaarige mit mir. Sie jetzt aus direkter Nähe zu sehen und ihre Stimme zu hören, bringt mich nun doch wieder aus der Fassung. Sie hat etwas an sich, das mich aus dem Gleichgewicht bringt. »Das hier ist meine beste Freundin Liz. Und ich bin Grace«, sagt sie und lächelt mich dabei schief an.

Sam und Liz sehen sich kurz in die Augen, bevor er schnell seinen Blick von ihr abwendet und das Wort ergreift. »Ich bin Samuel, aber ihr könnt ruhig Sam zu mir sagen.« Er gibt beiden kurz die Hand und redet weiter. »Und das hier ist mein Bruder Jo…«

»Joey«, falle ich ihm sofort ins Wort. »Mein Name ist Joey.«

»Seid ihr von hier, Joey? Habe euch hier noch nie gesehen«, fragt mich Grace. In diesem Moment werden unsere Drinks und die Pfeile gebracht, worüber ich sehr froh bin, denn dann kann ich dieser Frage geschickt ausweichen. Ohne zu zögern nehme ich meinen Whisky in die Hand und warte darauf, bis alle miteinander angestoßen haben.

»Was haltet ihr davon, wenn wir zusammen Dart spielen? Je mehr, desto lustiger«, komme ich direkt zu einem anderen Thema, denn ich gebe nie mehr Infos an diesen Abenden über mich preis, als ich unbedingt muss. Schließlich habe ich eine Tochter zu Hause und habe keinen Bock darauf, dass plötzlich eine dieser Eine-Nacht-Abenteuer vor meiner Haustür steht.

»Ja, wieso nicht«, antwortet mir Grace und dieses Mal bin ich es, der unter dem Tisch einen Tritt abbekommt. Was ist sein Problem? Dass er wirklich Angst vor Grace hat, kann er mir nicht erzählen und außerdem scheint sie wirklich sehr nett zu sein. Was wohl aber nicht an Grace, sondern eher an Liz liegen dürfte, denn er weicht ständig ihren Blicken aus.

Oh, das könnte noch spannend werden.

Auf meinen Lippen bildet sich ein teuflisches Lächeln, als ich wieder das Wort ergreife. »Na dann mal los. Auf einen schönen Abend, Mädels.«

 

 

3. Kapitel

 

 

 

 

 

Die Idee von den Mädels, dass wir Pärchen-Teams bilden, fand ich super. Sam jetzt eher weniger. Erstens, weil wir festgestellt haben, dass beide Frauen grottenschlecht sind, und zweitens, weil Liz unbedingt mit Sam in ein Team wollte.

Es ist schon das dritte Spiel, das wir spielen. Mittlerweile haben wir 1 Uhr, es sind auch schon einige Drinks über die Theke gegangen und die Stimmung ist ausgelassen. Auch Sam hat wieder zu seinem eigentlichen Charme zurückgefunden, obwohl mir auffällt, dass er sehr darauf bedacht ist, Liz nicht zu berühren.

Im Gegensatz zu Grace und mir. Wir klatschen uns jedes Mal ab, wenn dem anderen ein guter Wurf gelungen ist.

»Guck, guck, guck … ich hab die Zwanzig getroffen. Ganz außen am Rand«, ruft Grace ganz euphorisch und hüpft wie ein Gummiball auf und ab.

»Nicht ganz, du hättest innerhalb des Ringes sein müssen, Süße«, gebe ich ihr lachend zurück.

»Ach, Grace, das ist schon in Ordnung«, redet jetzt mein Bruder ebenfalls lachend dazwischen. »Im Gegensatz zu Liz triffst du wenigstens die Scheibe.« Worauf er von ihr einen kleinen Schlag gegen den Hinterkopf bekommt.

»Jetzt sei mal nicht so frech. Wer hat denn vorhin das Double Bullseye getroffen?«, gibt sie zurück, wobei sie ihm die Zunge rausstreckt.

»Ja, aber nur weil du gestolpert bist.«

»Joey, jetzt sag doch mal was!«, fordert Liz jetzt von mir Unterstützung, aber das können die zwei ruhig allein aushandeln.

»Klärt das mal schön unter euch, denn ich muss meiner Partnerin jetzt erst mal zeigen, wie man richtig zielt, damit ihr keine Chance mehr gegen uns habt.«

»Die haben wir sowieso nicht«, sagt Sam, wobei er dieses Mal schlauer ist, denn er sieht, dass sie ihn wieder schlagen will, und läuft lachend davon.

»Boah, warte. Du kleiner Mistkerl …«, ist das Letzte, was wir von ihr hören, bevor sie ihm kichernd folgt.

Ich nehme noch einen Schluck von meinem Drink, bevor ich mich ganz dicht hinter Grace stelle, denn sie ist gerade dabei, hochkonzentriert auf die Scheibe zu zielen. Aber so wie sie dasteht, trifft sie nie im Leben irgendetwas. Sie merkt sofort, dass ich hinter ihr stehe, obwohl ich extra darauf achte, sie nicht zu berühren, denn ihre Atmung verändert sich sofort.

»Was wird das?«, flüstert sie ganz leise und lässt ihren rechten Arm sinken. »Ich warne dich, wehe du nutzt die Situation aus und begrapscht meinen Hintern. Du weißt, zu was ich fähig bin.«

Den Kopf legt sie ganz leicht schief und atmet flach aus, bevor sie sich zu mir umdreht und auf meine Hände starrt.

»Wow … wow … wow.« Einen kleinen Schritt trete ich zurück und nehme reflexartig meine Arme nach oben. »Keine Angst, Grace, ich hänge an meiner Flöte«, sage ich, was sie sofort zum Kichern bringt. »Ich wollte dir nur zeigen, wie man besser steht und den Arm zum genaueren Zielen halten muss.«

Daraufhin schenkt sie mir ein umwerfendes Lächeln und dreht sich wieder um. Jetzt bin ich derjenige, der erst mal tief durchatmet. Es kostet mich schon den ganzen Abend meine komplette Selbstbeherrschung, sie nicht zu schnappen und gegen die nächstbeste Wand zu drücken, um sie zu …

Shit, wo kommt das denn her?

»Auf, Joey, zeigs mir, bevor die anderen wiederkommen.« Dieser Satz hilft mir auch nicht gerade dabei, meinen Schwanz unter Kontrolle zu halten, der den ganzen Abend schon in Habachtstellung ist.

Trotzdem versuche ich, es zu ignorieren, und nehme erst jetzt meine Hände wieder nach unten, um erneut hinter sie zu treten. Mit meiner rechten Hand tippe ich ihr auf den Oberschenkel. »Den Fuß musst du ein kleines Stück weiter nach vorne stellen und deine Hüfte etwas seitlich drehen, Süße.«

Anschließend rutsche ich noch etwas nach vorne, was jetzt doch wieder gefährlich wird, denn ich stehe mit meinem Schritt sehr dicht an diesem Hammerhintern. Mit meiner Hand fahre ich ihren Arm nach unten und ergreife vorsichtig ihre rechte Hand, die ich leicht schüttle. »Du darfst die Hand nicht so verkrampfen, sonst wird das nichts.«

Mit meinen Lippen bin ich mittlerweile ganz dicht an ihrem Ohr und spreche sehr leise, was ihr sofort eine Gänsehaut im Nacken beschwert. Gut so. Dann bin ich wenigstens nicht der Einzige, dem die Situation zu schaffen macht.

»Okay, so ist es gut.« Mann, diese Frau riecht so fantastisch. Für einen Moment schließe ich meine Augen und atme kurz ihren Duft ein.

»Alles klar bei dir, Joey?«, fragt sie mit ihrer tiefen sexy Stimme, die unmittelbar in meinen Schwanz fährt.

»Oh ja …« Fuck. Bitte lass es sie nicht merken. Bitte. Aber ich weiß, dass sie es merkt, denn sie drückt kaum merklich ihren Hintern ein kleines bisschen nach hinten. »Wenn du nicht willst, dass ich deinen Arsch anfasse, du kleines Biest, dann hör auf, mit dem Hintern zu wackeln.«

»Ich wollte mich nur locker machen«, gibt sie schelmisch grinsend zurück, während ich ihre Hand ein wenig fester drücke.

»Jaja, locker machen. Aber bei mir ist gleich gar nichts mehr locker. Zurück zum Thema«, sage ich, was sie erneut zum Kichern bringt.

Gemeinsam heben wir ihren Arm und ich zeige ihr, wie sie ihn halten muss, um besser zielen zu können. Danach trete ich einen kleinen Schritt zurück und beobachte sie schmunzelnd. Sie steht da, den Mund etwas geöffnet und die Zungenspitze hat sie leicht herausgestreckt. Es ist amüsant, sie dabei zu beobachten, wie stark sie sich konzentriert, um diesen Wurf zu machen.

Kurz darauf fliegt der Pfeil Richtung Dartscheibe und kaum zu glauben, aber wahr, sie trifft die Double 20.

»Waaaaahhhhh … ich habs geschafft. Ich habs wirklich geschafft. Joey … ich kanns.« Grace dreht sich um und fällt mir voller Freude um den Hals. Aus ihrem Zopf haben sich während des Abends ein paar Strähnen gelöst, die mich jetzt im Gesicht kitzeln. Der Kokosgeruch ihres Shampoos weht mir entgegen. Wie im Reflex schlinge ich meine Arme um sie, hebe sie hoch und drehe mich mit ihr im Kreis.

Nachdem ich sie wieder vorsichtig heruntergelassen habe, stehen wir uns fast auf Augenhöhe gegenüber. Ihr ganzes Gesicht strahlt wie ein Kind, das zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum sieht. Das Lächeln ist einfach atemberaubend und zaubert mir auf der Stelle auch ein Grinsen ins Gesicht.

»Ja, Baby, du hast es geschafft.« Keine Ahnung, wie es passieren kann, aber ich fahre mit meinen Händen ihre Arme nach oben und lege sie an ihre Wangen. Ganz langsam nähere ich mich mit meinen Lippen ihrem Mund, den sie minimal geöffnet hat. Ihre Atmung wird schneller, genau wie meine. Aber es ist keine Angst, denn in diesem Moment möchte ich genau das hier tun. Ich will sie küssen. Mit meinem Blick wandere ich kurz von ihren Augen zu ihren Lippen und wieder zurück. Ein kaum merkliches Nicken signalisiert mir, dass sie mir die Erlaubnis für diesen Kuss gibt. Jetzt gibt es kein Halten mehr und ich lege ganz zart meine Lippen auf ihre. Mit der Zunge fahre ich vorsichtig ihre Unterlippe entlang und sofort gewährt sie mir Einlass. Am ganzen Körper bildet sich eine Gänsehaut, weil nichts auf dieser Welt mit diesem Gefühl vergleichbar ist. Unsere Zungen spielen leicht miteinander und ich lege meine Hände jetzt vorsichtig an ihre Taille. An meinem Mund merke ich, dass sich ihre Lippen zu einem Grinsen verziehen, bevor sie meine Hände nimmt und sie auf ihren Hintern schiebt, was mir ein Keuchen entlockt. Diese Frau macht mich fertig.

»Fuck …«, höre ich plötzlich Sam neben mir sagen. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass er wieder mit Liz aufgetaucht ist. Und es ist mir auch egal, warum die zwei so lange Zeit verschwunden waren.

Natürlich weiß ich, dass ihm bewusst ist, dass diese Situation etwas in mir verändert. Und genau das holt mich auch wieder ein Stück in die Wirklichkeit zurück. Wie konnte ich es überhaupt zu diesem Kuss kommen lassen?

Ich löse mich sanft von ihr und lehne meine Stirn gegen ihre. Der fragende Blick, den sie mir aus ihren dunkelbraunen Augen zuwirft, bringt mich fast um. Was habe ich nur getan?

»Grace, ich …«

Nachdem ich noch mal tief durchgeatmet habe, mache ich einen kleinen Schritt nach hinten, unsere Augen ruhen immer noch aufeinander, aber Grace gibt mir überhaupt nicht erst die Möglichkeit mich von ihr zurückzuziehen, denn sie folgt mir und steht wieder dicht vor mir.

»Joey.« Kurz schließe ich meine Augen. Mein Name ist Jordan, würde ich ihr am liebsten entgegenbrüllen, aber ich kann nicht. Auch wenn es sich falsch anfühlt, aber sie kann irgendwie hinter meine Mauern blicken und wenn ich ihr meinen richtigen Namen verrate, ist auch der letzte Schutzwall noch weg. Das kann ich nicht riskieren.

Weil ich nicht auf sie reagiere, legt sie ihre Hand an meine Wange und zwingt mich somit die Augen wieder zu öffnen.

»Joey … fang nicht damit an, es kaputt zu reden, okay? Wir sind zwei erwachsene Menschen, die einen schönen Abend miteinander verbracht haben. Morgen ziehe ich sowieso in eine andere Stadt, weil ich vor Kurzem eine neue Stelle angenommen habe. Wir sehen uns nach heute Nacht wahrscheinlich sowieso nie wieder.« Eigentlich sollte mich das erleichtern, weil es genau das ist, was ich möchte. Oder?

Im Augenwinkel sehe ich, dass Sam und Liz sich an einen anderen Tisch gesetzt haben, um uns etwas Privatsphäre zu geben, wofür ich meinem Bruder echt dankbar bin.

»Die Typen, die mich sonst anbaggern, wollen mich oft nur als Trophäe haben, weil sie mit einer dunkelhäutigen Frau ins Bett wollen. Aber du bist anders als die meisten Männer, die ich kenne. Du hast mich den ganzen Abend respektvoll behandelt und mir nicht ein Mal das Gefühl gegeben, nur ein Sexobjekt zu sein«, redet sie leise weiter mit mir, während sie zärtlich mit dem rechten Daumen über meine Wange fährt.

Dieser Kommentar bringt mich zum Grinsen.

»Echt, das ist ja eine absolute Frechheit. Wie können die so was nur behaupten?«, sage ich und sehe ihr dabei tief in die Augen. »Ein Sexobjekt, also diesen Gedanken hatte ich keine einzige Sekunde«, gebe ich ihr mit einem frechen Grinsen zurück, damit sie merkt, dass ich kein Wort davon ernst meine, denn ich möchte einfach nur die leichte Stimmung wiederhaben.

»Hmm … bist du dir da absolut sicher, dass ich keine Wirkung auf dich habe?« Mittlerweile ist sie ganz nah an mich herangetreten und hat ihren Mund an meinem rechten Ohr liegen, ihre Hand immer noch an meiner Wange.

Das Einzige, was ich ihr darauf erwidern kann, ist ein Nicken und ein leises Brummen, denn ihr Atem an meinem Hals und Ohr machen mich fertig. Das Blut rauscht direkt in südlichere Regionen und bewirkt, dass mein Freund wieder weniger Platz in der Hose bekommt.

Anscheinend amüsiere ich sie damit, denn sie stößt ihr kehliges, dunkles Lachen aus, das mich von der ersten Sekunde an fasziniert hat. Grace drückt kurz ihr Becken an meins und wandert mit ihrer linken Hand meinen Rücken nach unten auf meinen Hintern, um mich näher an sich zu pressen.

»Oh Babe, und ob du mich willst. Aber ich will dich genauso sehr.« Es ist natürlich schwer, ihr etwas anderes weismachen zu wollen, denn die Beule in meiner Hose spricht eine eindeutige Sprache.

»Wir haben da nur ein Problem!«, gebe ich ihr als Antwort, während ich meinen Ständer jetzt auch an ihr reibe.

Sie wirft den Kopf leicht in den Nacken und sieht mich dann mit lustverhangenen Augen an.

»Hm?« Oh, habe ich dir etwa die Sprache verschlagen, Grace?

»Ich kann meinen Bruder wohl schlecht die Nacht in Justine verbringen lassen!«

»Sie heißt Liz, und da kann er lange warten, denn sie lässt sich nicht so schnell auf einen Mann ein.«

Als ich kapiert habe, dass sie ja nicht wissen kann, wer oder was Justine ist, werfe ich den Kopf in den Nacken und breche in schallendes Gelächter aus, was mir einen verdutzten Blick von ihr einbringt.

»Justine ist sein Auto. Aber das Problem ist, dass wir uns ein Hotelzimmer teilen und ich ihn ja schlecht im Wagen schlafen lassen kann«, gebe ich ihr die Erklärung von meinem Heiterkeitsausbruch, was sie jetzt auch kichern lässt.

»Ah okay. Normalerweise würde ich ja sagen, dass du mit zu mir kommen kannst, aber in meinem kleinen Apartment stapeln sich die Umzugskartons, die morgen früh von einer Spedition abgeholt werden. Aber … komm mit. Ich habe da eine Idee!«

Ohne die Chance zu haben, darauf zu reagieren, verschränkt sie unsere Hände ineinander, zieht mich hinter sich her und steuert den Tisch an, an dem Sam und Liz sitzen.

»Schlüssel her!«, ist das Erste, was sie zu Samuel sagt, als wir ihren Tisch erreicht haben, dabei hält sie ihre rechte Hand auffordernd nach oben, mit der anderen hält sie immer noch meine umklammert.

Aus einem anregenden Gespräch mit Liz herausgerissen, dreht Sam seinen Kopf zu uns herum und schaut zwischen Grace und unseren ineinanderverschränkten Händen hin und her. Dann setzt er ein Grinsen auf und sieht jetzt direkt mich an.

»Vergiss es, Wildkatze, in meinem Auto wird nicht gevögelt«, spricht er mit Grace, während er die ganze Zeit mich ansieht, um meine Stimmung auszuloten. Aber da braucht er sich keine Sorgen zu machen. Im Moment ist es genau das, was ich möchte. Diese eine Nacht mit Grace verbringen, ohne daran zu denken, was morgen passiert. »Wenn dann wäre ich der Einzige, der in meinem Baby …«

»Komm lass stecken, ich will gar nicht wissen, welche Körperflüssigkeiten du schon in Justine hinterlassen hast.« Sam sieht mich darauf wieder verdutzt an, weil ich untypisch für mich, so eine persönliche Information, wie den Namen seines geliebten Dodge Charger weitergegeben habe. Als jetzt Liz komisch zwischen uns dreien hin und her sieht, löst aber Grace direkt das Rätsel auf. »Keine Angst, Maus, wir reden nur von seinem Auto.« Dann wendet sie sich wieder Sam zu. »Aber ich möchte bestimmt keinen Sex auf der Rückbank deines Heiligtums haben. Du sollst mir nur den Schlüssel von eurem Hotelzimmer geben.«

Normalerweise würde ich sagen, wäre sie das perfekte Gegenstück zu Sam, aber ich befürchte, dass sie sich gegenseitig umbringen würden. Sie hat genauso eine große Klappe wie er und sie schafft es doch tatsächlich, dass er den Hotelzimmerschlüssel ohne Widerworte aus seiner Jeanstasche zieht und ihr hinhält. Aber kurz bevor Grace ihn schnappen kann, zieht er ihn noch mal zurück.

»Moment, und wo soll ich dann bitte den Rest der Nacht verbringen? Es ist nachts noch arschkalt draußen, auch wenn wir schon Mai haben«, versucht er, noch auf Grace einzureden, aber sie kontert ihm direkt.

»Ach du bist doch ein schlauer Junge. Dir wird schon was einfallen. Zur Not kannst du ja bei Liz auf der Gästecouch schlafen. Sie hat ein Herz für streunende Hunde.« Mit diesem Satz nimmt sie dem sprachlosen Sam den Zimmerschlüssel aus der Hand und läuft, mich hinter sich herziehend, Richtung Ausgang, bevor sie den Kopf noch mal zu ihm umdreht. »Es ist auch super nett von dir, dass du die Rechnung bezahlst. Du bist echt ein Schatz. Dankeschön.«

Diese Frau ist echt der Knaller. Und sie hat recht, sie will mich und ich will sie. Wir sind doch beide erwachsen genug, um ein bisschen Spaß miteinander zu haben, ohne dass es am Schluss in einer Tragödie endet.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752145144
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Kleinstadt Teenager USA Rassismus Polizistin Romance Alleinerziehend Liebe Afroamerikanisch

Autor

  • Sarina Louis (Autor:in)

Sarina Louis wurde 1983 in Worms am Rhein geboren. Gemeinsam mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern und ihren Eltern wohnt sie in einem Dreigenerationenhaus. Für Sarina gibt es nichts Besseres als durch ein Buch in eine andere Welt abzutauchen, die einen vom Alltag mal für ein paar Stunden herausholt.