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Wo die Liebe hinzieht ... Sammelband (4 in 1)

von Lisa Summer (Autor:in)
800 Seiten
Reihe: Wo die Liebe hinzieht ..., Band 5

Zusammenfassung

British Love

Linda hat nur ein Ziel in England: Ihre Schwester finden, um so ihren Vater zu retten.
Doch dann tritt Harvey in ihr Leben und stellt ihre Gefühlswelt auf den Kopf. Schnell wird klar, die beiden verbindet mehr, als sie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen ahnen.
Doch die Suche nach Lindas Schwester stellt ihre Beziehung auf eine harte Probe; denn während es zwischen ihnen knistert, läuft Lindas Vater die Zeit davon.

Swedish Kisses

Vor ihrem Auslandssemester in Schweden reist Clara für ein paar Wochen nach Stockholm. Dort trifft sie den gutaussehenden Thore. Dabei ahnt sie nicht, dass sie sich bald öfter begegnen werden.
Für sie ist die Nacht auf dem Partyschiff mit ihm eine einmalige Sache - denn was auf dem Meer passiert, bleibt auch auf dem Meer.
Doch dann steht sie Thore nur erneut gegenüber - als seine Studentin.

French Desire

Isabelle schaffte es schon immer, aus jeder Situation das Beste zu machen.
Statt in Liebeskummer zu verfallen, kauft sie sich nach der Trennung von ihrem Freund ein altes Landhaus in der Pariser Vorstadt.
Alles scheint perfekt zu sein, bis plötzlich der Bruder der Vorbesitzer halb nackt vor ihr steht und sein Recht am Haus ausspricht. Julien sieht überhaupt nicht ein, auszuziehen.
Isabelle gibt ihm bis zum Weihnachtsfest Zeit, sich eine neue Bleibe zu suchen, wenn er ihr so lange beim Renovieren hilft.
Doch dann verkauft sie ein wertvolles Bild von ihm und die Situation eskaliert.
Plötzlich hat sie nicht nur Streit mit Julien, dem sie gerade näherkam, sondern noch ganz andere Probleme.

Italian Feelings

Seit ihre Schwester ausgezogen ist, spürt Nicole vor allem eines: Langeweile.
Kurzerhand beschließt sie, mit dem alten Moped ihres Vaters nach Italien zu fahren und dort den Rest der Semesterferien zu verbringen.
Während eines Sturms gibt ihre Schwalbe kurz vor der Ankunft am Gardasee den Geist auf, doch zu Nicoles Rettung gabelt sie der attraktive Hotelierssohn Diego auf und bietet ihr nicht nur eine Mitfahrgelegenheit, sondern auch einen Schlafplatz an.
Da die Reparatur des Mopeds teurer als geplant ausfällt, schlägt Diego ihr vor, in einem der Hotels seines Vaters auszuhelfen. Nicole nimmt den Job an und steckt plötzlich in der Zwickmühle, denn nicht nur Diego macht ihr schöne Augen, sondern auch Kids-Club-Animateur Giulio. Schon bald muss sie erfahren, dass der sonnige Schein in der Hotellandschaft trügt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


British Love

Wo die Liebe hinzieht … 1

 

 

 

 

 

Linda

Every hour of sunshine I would exchange for an hour more for my sick father.

Linda, du wusstest, worauf du dich einließt, als du nach England gezogen bist, rede ich mir ein. Dieser blöde Matsch! Obwohl Eastbourne die sonnenstundenreichste Stadt Englands ist, hat es die letzten zwei Tage durchgehend geregnet. Ich ziehe meinen Stiefel mit einem kräftigen Ruck aus dem Schlamm und schüttle den Kopf. Nörgeln bringt mich schließlich auch nicht weiter. Seit über einem Monat bin ich bereits hier und habe meine Freunde, Familie und meine Heimat hinter mir gelassen. Doch das ist es mir wert. Jede Sonnenstunde würde ich gegen eine Stunde mehr für meinen kranken Vater eintauschen.

Mit den Händen in den wärmenden Manteltaschen stapfe ich durch den Matsch bis zu meinem Bauwagen. Auch diesen Tag werde ich in der Männerhöhle überleben. Vor dem metallenen Koloss in blau bleibe ich stehen und warte auf Kinnings, der die Baustelle leitet und wie jeden Morgen pünktlich um acht aus seinem Bauwagen kommen dürfte, sich ausgiebig vor mir strecken wird und mir anschließend den Schlüssel zu meinem Büro übergibt. Ich blicke auf meine Uhr, noch ein paar Sekunden, dann …

»Na Ms Baumgardener, bereit für den Tag?«, begrüßt er mich auf Englisch und schenkt mir eines seiner seltenen Lächeln unter dem breiten Schnäuzer. Nanu, was ihn wohl so fröhlich stimmt? Nach gestern Abend sollte ihm eigentlich nicht zum Lachen zu Mute sein.

»Muss ich wohl«, antworte ich.

Meine Hand packt den kalten Schlüssel, den Kinnings mir hinhält und ich drehe ihm den Rücken zu, um zu meinem Bauwagen zu gehen.

»Wenn Sie sich umgezogen haben, kommen Sie doch bitte kurz in mein Büro. Da sind noch ein paar Briefe, die zur Post müssen.«

Ich verharre in meiner Bewegung und verdrehe die Augen. Genau das ist es, was mich so stört. Sehe ich aus wie eine Postbotin? Wofür habe ich fünf Jahre studiert und einen Master als Bauingenieurin? Es würde mich nicht wundern, wenn die Briefe nicht einmal geschäftlicher Natur sind.

»Natürlich«, presse ich hervor, streiche meine Stiefelsohlen am Geländer ab und steige die kleine Treppe zum Bauwagen rauf. Ich bin die einzige Frau hier draußen und bekomme deshalb meinen eigenen Container, um mich dort umzuziehen und arbeiten zu können.

Mit einem letzten Blick auf Kinnings schließe ich die Tür hinter mir und halte so die morgendliche Frühjahrskälte draußen.

Es ist nicht so, dass ich Kinnings nicht mag. Er ist einer der wenigen, der mich nicht täglich anmacht, weil ich die einzige Frau bin, die die Männer tagsüber erblicken. Dennoch lässt auch er mich spüren, dass Frauen auf dem Bau nichts zu suchen haben und das kränkt mich.

Grubers gehört zu den größten Baufirmen Englands. Damit bietet sie mir die beste Chance, mich bei den Kollegen umzuhören, doch wirklich weit bin ich noch nicht gekommen. Niemand hier scheint Sandra Bergmann oder ihre Mutter zu kennen. Wer weiß, ob sie überhaupt noch so heißt.

Ich ziehe den gelben Bauhelm vom Kopf und fahre mir durch das lange, braune Haar. Dann streife ich die schwarzen Sicherheitsschuhe, die mir beinahe bis zu den Knien reichen, ab und wechsele meine Jeans und die Jacke gegen den grauen Overall, den alle bei Grubers tragen.

Meine Schulter lehnt gegen das kalte Metall, während ich aus dem Fenster sehe. Auf der Großbaustelle herrscht bereits reges Treiben. In ein paar Monaten soll an dieser Stelle eine Schwimmhalle entstehen, doch davon sieht man noch nicht viel. Gerade einmal das Fundament ist gelegt und die ersten Seitenwände sind in die Grube eingelassen.

Ich trete vor zur Kaffeemaschine, um die erste Kanne aufzusetzen. Als Frau bin ich zur Versorgerin der Arbeiter erkoren worden. Im Grunde ist es nicht schlecht. Ich bin nicht hier, um Karriere zu machen, sondern einzig und alleine, um meine Schwester Sandra zu finden. Wenn die Männer um zehn zum Frühstücken vor meinen Wagen kommen, ist es die Gelegenheit für mich, um mich diskret bei ihnen umzuhören.

Der Duft von gemahlenem Kaffee steigt in meine Nase und ich fülle ein paar Löffel in die obere Kammer der Maschine. Gibt es etwas Besseres als einen starken Kaffee mit einem Schuss Milch am Morgen? Während ich dem Gluckern der Kaffeemaschine lausche, dringt ein lautes Donnern zu mir durch, das die eisernen Wände des Bauwagens vibrieren lässt. Ich schaue auf und schiebe die Gardine an meinem Fenster zur Seite.

Chris steht klopfend vor der Tür und winkt mir durch das geschlossene Fenster zu. »Hey Linda. Na, ausgeruht?«

»Ach du. Immer doch. Kaffee?«

»Wie immer.«

»Schwarz?«

»Wie meine Seele.«

Ich lächle ihn an und werfe meine Haare nach hinten. »Stimmt es, dass es gestern Abend Probleme beim Verladen einer Bodenplatte gab?« Meine Braue wandert nach oben und ich sehe ihn mit schräg gelegtem Kopf an.

»Erwähn das besser nicht vor Kinnings. Du hättest ihn sehen sollen. So schlimm habe ich ihn noch nie ausrasten sehen. Er war wie ein explodierender Vulkan.«

Ich stelle mir meinen dickbäuchigen Chef mit hochrot angelaufenem Kopf vor und muss unwillkürlich lachen.

»Eben war er gut drauf. Was ist denn genau passiert? Marc hatte mir gestern eine kurze Nachricht geschickt. Als ich eben an der Baugrube vorbeigegangen bin, sah doch alles ganz gut aus.«

Chris reibt sich mit zwei Fingern über seine blonden Bartstoppeln. »Wir haben Mist gebaut, Marc und ich. Ziemlichen Mist. Wir haben die Platte nicht richtig befestigt und als ein Windstoß kam, riss eine Halterung und die Platte knallte gegen den kleinen Betonmischer, der aufs Fundament kippte.«

Ich ziehe die Luft scharf durch die kleine Zahnlücke zwischen meinen Vorderzähnen ein. »Ach Mist. Ist der Schaden groß?« Meine Hand greift zur Kaffeekanne und ich schütte uns beiden eine Tasse ein.

»Er hält sich in Grenzen. Danke.« Er nimmt einen kräftigen Schluck und verzieht sein Gesicht.

»Muss ich dich wirklich jedes Mal daran erinnern, dass der Kaffee heiß ist, wenn er aus der Maschine kommt?« Ich drehe mich um und ziehe eine Flasche Wasser aus dem Kasten unter meinem Schreibtisch hervor. »Hier.«

Er nimmt sie mit einem Nicken entgegen. Ein Zischen ertönt, als er sie öffnet und einen Schluck daraus trinkt. »Schon besser.«

Ich nehme ihm die Flasche ab und stelle sie neben seine Tasse auf das kleine Regal neben dem Fenster. Dabei fällt mein Blick auf Kinnings, der wildgestikulierend mit Marc vor der Grube steht.

Chris dreht sich um und zieht die Gardine zur Seite. »Meinst du, er feuert ihn wegen gestern?«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Er ist ein guter Maurer. Ich kenne seinen Lebenslauf.« An meinem ersten Arbeitstag bin ich alle Akten meiner Kollegen durchgegangen, um herauszufinden, ob einer von ihnen der Mann ist, mit dem Sandras Mutter vor all den Jahren durchgebrannt war – Fehlanzeige.

Kinnings schaut zu uns, nickt und stapft auf meinen Wagen zu.

»Na dann, ran an die Arbeit, heißt es wohl.« Ich klatsche in die Hände, ziehe mir meinen Helm auf und geleite Chris hinaus. »Bring die Tasse wieder, sobald sie leer ist«, rufe ich ihm zu, als er schon fast bei der Baugrube ist.

»Mache ich, bis nachher.« Er hebt seine freie Hand zum Gruß und geht rüber zu Marc, der an der Grube steht.

»Alles in Ordnung, Mr Kinnings?«

Er sieht verwirrt aus. »Ja, ja. Hat uns ein bisschen zurückgeworfen, der Unfall gestern. Mr Gruber kommt nachher mit seinem Gutachter vorbei, um den Schaden zu betrachten. Ich hatte sowieso einen Termin mit ihm, da bot sich das an. Vielleicht können Sie kurz bei Valerie vorbeischauen und ein paar Scones für nachher mitbringen. Eventuell beruhigt ihn das.« Oh je, ich kenne Mr Gruber nicht persönlich und wenn selbst Kinnings Angst vor seinem Urteil hat, möchte ich ihn auch erst gar nicht kennenlernen. Beworben habe ich mich direkt bei Kinnings. Gruber kenne ich nur von einem Foto auf seiner Webseite. Ein streng blickender, grauhaariger Mann hatte mir damals entgegen geschaut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er genauso wenig von Frauen in seinem Arbeitsbereich hält wie Kinnings und war erstaunt, dass ich die Stelle überhaupt bekommen habe.

Kinnings reibt sich am Kinn. »Ach, und warten Sie, ich schreibe Ihnen noch eine kurze Liste. Dann können Sie die Sachen auch gleich besorgen.«

Ein paar Minuten später mache ich mich genervt auf den Weg. Der Briefkasten ist nicht weit von der Baustelle entfernt. Ich schmeiße die Briefe hinein und biege zur Strandpromenade ab. Bevor ich zu Grubers kam und nach Eastbourne zog, konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass es in England Strände mit Palmen gibt.

Ich betrete den kleinen Laden an der Ecke und ziehe mir die nasse Kapuze von den Haaren. Kaum hatte ich die Baustelle verlassen, begann es zu tröpfeln. Hoffentlich regnet es jetzt nicht wieder den ganzen Tag. Gerade gibt es schließlich mehr als genug auf der Baustelle zu tun. Sobald ich zurück bin, werde ich den Schaden genauer begutachten müssen. Das heißt, sich in die Baugrube stürzen und die Wände nach Rissen abtasten.

Kinnings` Liste ist zum Glück nicht sehr lang. Vermutlich wird es die Tage Braten bei ihm geben. Ich schleiche durch die Gänge, packe alles in einen kleinen Korb und gehe zur Kasse. Der Boss hat mir fünfzig Pfund in die Hand gedrückt. Hoffentlich reicht es. Viel wird sicherlich nicht mehr für die Scones vom Bäcker übrigbleiben.

Nicht weit von hier entfernt gibt es eine gemütliche Patisserie, die ganz wunderbares Gebäck hat. Als ich gerade nach Eastbourne gezogen bin, lud Chris mich dort auf eine Tasse Tee mit Milch und den besten Scones, die ich jemals in England gegessen habe, ein.

Damals wurde ich das Gefühl nicht los, dass Chris etwas von mir will. Er und Marc sind auch die einzigen, mit denen ich mich von Anfang an super verstanden habe. Sie sind anders als die anderen und trauen mir mehr zu, behandeln mich wie eine von ihnen und nicht so, als gehöre ich bloß hinter den Herd. Inzwischen weiß ich jedoch, dass Chris nur freundlich sein wollte.

Ich laufe die Terminus Road entlang und betrete die kleine Patisserie. Bei Valerie ist es um diese Zeit noch nicht sehr voll und ich beschließe, selbst noch ein wenig hier zu verweilen und eins der köstlichen Törtchen in der Auslage zum Frühstück zu verspeisen.

Als ich auf dem Rückweg bin und sich die grauen Wolken langsam verziehen, bemerke ich erst, wie spät es ist. Seit Kinnings mich losschickte, ist bereits eine Stunde vergangen. Meine Schritte werden größer, damit ich noch vor der Ankunft von Gruber da bin.

Als ich auf der Baustelle ankomme, hört es endlich auf zu nieseln. Ich schreite geradewegs auf Kinnings Container zu, um ihm seine Einkäufe zu bringen.

Er sitzt nicht wie erwartet hinter seinem Schreibtisch.

Mit Blick auf das Fenster hieve ich die Tasche vor den Kühlschrank und räume die Sachen ein. Die Scones stelle ich oben drauf.

»Vielen Dank, Ms Baumgardener.«

Kinnings steht hinter mir und ich schrecke hoch.

»Kein Problem«, sage ich schüchtern und streife meine Jacke glatt. »Ich gehe jetzt zur Baugrube und sehe mir den Schaden an. Oder haben Sie eine andere Aufgabe für mich?«

»Nein, das passt schon.«

Ich drücke mich an ihm vorbei und ziehe meine Handschuhe aus der Tasche. Jetzt heißt es auf ins Abenteuer. Die Streben zur Grube klettere ich hinunter und kraxle durch den schlammigen Boden hin zu der beschädigten Wand. Von hier unten sieht man die feinen Risse sofort. Das wird ein langer Tag werden. Ein ganzer Stapel statischer Berechnungen wird durch den Unfall auf mich warten.

 

Einige Messungen später sitze ich hinter meinem Schreibtisch und rechne drauf los.

Die Zeit vergeht und langsam verschwindet die Sonne hinter den Backsteinhäusern der Stadt. Ich lege die neuen Berechnungen zur Seite und verlasse meinen Container. Die Risse werden uns sicherlich einige Tage zurückwerfen.

Auf der anderen Seite der Baustelle sehe ich Kinnings inmitten einer Traube von Leuten in Anzügen stehen. Wie kommen die Herrschaften nur darauf, dass eine Baustelle der richtige Ort für ihre Designeranzüge ist?

»Mr Kinnings, haben Sie die Kollegen nicht darauf hingewiesen, dass auf einer Baustelle Helmpflicht besteht?«, frage ich scherzhaft, als ich an ihnen vorbei auf die Ausfahrt zu gehe.

Kinnings sieht mich mit zusammengezogenen Brauen an. »Scheren Sie sich um Ihre eigenen Probleme. Haben Sie die statischen Berechnungen ausgeführt?«

Ich sehe ihn stirnrunzelnd an. Welche Laus ist ihm denn über die Leber gelaufen?

»Ja, natürlich, Sir. Sie liegen auf Ihrem Schreibtisch.«

»Gut so, dann verschwinden Sie jetzt. Und seien Sie morgen pünktlich da.«

Kopfschüttelnd gehe ich an den Anzugträgern vorbei. Kinnings muss eine ganz schöne Standpauke gehalten bekommen haben. Als ich ihn das letzte Mal sah, stand er noch lachend neben dem Kranführer.

Einer der Anzugträger, der mit Abstand jüngste unter ihnen, zwinkert mir zu und ich ringe mir ein kurzes Lächeln ab. Keine Ahnung, ob er es gesehen hat und ob sein Zwinkern überhaupt mir galt.

 

Harvey

Should I simply say hello? No, that is somehow uncool. I have to be self-confident.

 

Manchmal ist es nur ein Augenblick, ein kurzer Satz, den jemand sagt oder ein Schritt, den jemand geht und man ist hin und weg von ihm. Ich kann nicht anders und muss der jungen Dame zuzwinkern. Sie hat recht, absolut.

»Kinnings, auf ein Wort«, sage ich und er folgt mir zu seinem Bauwagen.

»Was ist denn nun schon wieder?« Seine Stimme klingt wie ein Grunzen, so hat er sich schon lange nicht mehr mir gegenüber aufgeführt. Irgendwann muss nun aber Schluss sein. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass er oder seine Kollegen Mist bauen.

»Joseph, wie lange kennen wir uns schon? Warst du es nicht, der mich, als ich fünf war, vorne auf die Baggerschaufel gesetzt und mit mir über die Baustelle gefahren ist? Was ist aus diesem Mann geworden? Ist dir der Erfolg, seit du die Baustellen in diesem Bezirk leiten darfst, über den Kopf gestiegen? Seit wann geht man so mit seinen Mitarbeitern um? Das war Ms Baumgardener, nicht wahr? Sie ist wirklich taff und vor allem hatte sie vollkommen recht. Vielleicht war es die falsche Entscheidung von mir, sie in deine Obhut zu übergeben.«

Kinnings Schnäuzer zuckt unter seiner Nase. »Du nennst es taff, ich nenne es frech.«

Ein Seufzer entweicht mir. »Sei nicht so stur! Sie ist eine gute Ingenieurin, das hast du mir selbst bei unserem letzten Gespräch gesagt. Es kann nicht sein, dass du mit meinen Angestellten rumspringst, wie es dir gefällt. Du weißt ganz genau, wie wichtig mir ein gutes Klima in der Firma ist. Das gilt nicht nur in meinem Büro, sondern auch auf den Baustellen! Du kannst deinen Frust nicht an ihnen auslassen! Vater hätte das vielleicht geduldet, doch ich bin nicht er. Bei mir herrschen andere Prinzipien! Du wirst dich morgen bei ihr entschuldigen, das ist mein letztes Wort.« Ich bin von mir selbst überrascht, dass ich plötzlich so laut werde. Ich kenne Kinnings mein Leben lang, früher war er einer der besten unter Vaters Führung: intelligent, zuverlässig, fleißig, streng, aber auch humorvoll und fair. Ich hoffe, er besinnt sich wieder darauf. Ich weiß, dass er eine kleine Anfuhr vertragen kann. Vermutlich tut es ihm sogar ganz gut, wenn ihm hin und wieder mal jemand die Meinung geigt, abgesehen davon hat Ms Baumgardener seine Anfuhr absolut nicht verdient. »Tu mir einfach den Gefallen und schau, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt«, sage ich ruhiger.

Kinnings grunzt. War das jetzt eine Zustimmung?

Als ich wenig später mit meinen Kollegen im Auto sitze, geht mir die junge Frau nicht mehr aus dem Kopf. Ich scrolle auf meinem Handy, bis ich ihre Akte in unserer Datenbank entdeckt habe. Linda Baumgärtner. Ich habe keine Ahnung, wie man den Nachnamen richtig ausspricht. Die Deutschen und ihre komischen Sonderbuchstaben … Auf ihrem Bewerbungsfoto wirkt sie zerknirscht, als hätte sie tagelang kein Auge zugedrückt gehabt. Eben sah sie viel besser aus. Die dunklen Haare trägt sie inzwischen auch kürzer. Ein Lächeln beschleicht mich und wärmt mich von innen auf, während es draußen schon wieder regnet und die Tropfen hart gegen die Scheibe platschen.

»Lasst mich am Grand raus«, beschließe ich spontan.

»Sicher?« Daniel, einer meiner Statiker, wirft einen Blick über seine Schulter und schaut mich fragend an. »Wir wollten heute alle zurück nach London.«

»Schon gut, ich leihe mir morgen einen Wagen. Ihr könnt mit diesem fahren.«

Er schaut zurück auf die Straßen und wendet kurz darauf das Auto, um in die andere Richtung zum Grand Hotel zu fahren. Dort verabschiede ich mich von ihnen und checke ein.

Während die Kollegen zurück zu ihren Familien fahren, stehe ich am Fenster meiner Suite und blicke hinaus auf den trüben Himmel. Ob sie irgendwo dort oben ist und über mich wacht? Die junge Miss hat mich ein bisschen an sie erinnert. Die Art, wie sie mich angelächelt hat. Außerdem hatte Mum vor all den Jahren mal fast den gleichen Satz zu Joseph und meinem Vater gesagt. Sie und Ms Baumgärtner hätten sich sicherlich gut verstanden. Verdammt, Harvey! Vergleichst du sie gerade wirklich mit deiner toten Mutter? Das darf doch nicht dein Ernst sein.

Trotzdem kann ich nicht anders, ziehe mein Portemonnaie aus meiner Gesäßtasche und krame das verblichene Foto von Mum und mir heraus, das wir mal in einer dieser Fotoautomaten auf der Kirmes gemacht haben, als ich sechs oder sieben war. Sie war eine wunderschöne Frau. Ich würde alles dafür tun, um dieses warmherzige Lächeln noch einmal zu sehen oder sie lachen zu hören.

Mein Blick fällt auf das Kärtchen, das über ihrem Foto steckt. Eine alte Clubkarte des Cameos. Ich dachte, ich hätte sie längst weggeschmissen. Vielleicht habe ich Glück und mir kommt bei einem Ale die Idee, wie ich die hübsche Miss für mich gewinnen kann, ohne morgen allzu plump zu klingen, wenn ich noch einmal auf der Baustelle auftauche.

Ein Taxi holt mich vor dem Hotel ab und bringt mich zum Nachtclub. Hier war ich ewig nicht mehr. Laute Musik und angetrunkene Leute sind eigentlich nicht mein Ding. Heute mache ich jedoch eine Ausnahme. Drinnen schlägt mir bereits der rhythmische Bass der Musik entgegen. Zum Tanzen kriegt mich jedoch keiner, mein Ziel ist die Bar. Geradewegs steuere ich auf sie zu und bleibe abrupt stehen, als mein Blick am schulterlangen Haar der Frau vor mir hängen bleibt. Das kann doch nicht sein! Sie – hier? Na super! Ich schaue zurück zur Tür und reibe meine Hände ineinander. Soll ich es wirklich wagen, sie einfach so anzusprechen? Man Harvey, Junge, reiß dich zusammen! Das ist doch nicht das erste Mal, dass du eine Frau ansprichst.

Ich beiße mir auf die Lippen und mache einen Schritt nach vorne – und noch einen und noch einen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. In meinem Hinterstübchen rattert es. Soll ich einfach Hallo sagen? Nein, das ist irgendwie uncool. Ich muss selbstbewusst auftreten. Was ist, wenn sie glaubt, ich stalke sie? Innerlich den Kopf schüttelnd verscheuche ich den Gedanken und bleibe hinter ihr stehen. Jetzt heißt es Zähne zusammenbeißen, cool und lässig wirken.

 

Linda

I look at Harvey, who rubs his index finger over the fine hair on his chin. »I know that. I stood in the shadow of the others for a long time myself. It took me a while to get accepted by the company.«

 

»Na, Sie haben ja Courage – alle Achtung. Die Demütigung so auf sich sitzen zu lassen und darüber zu stehen.«

Ich verharre in meiner Bewegung und bleibe regungslos stehen. Ich kenne die Stimme nicht, doch als ich mich umdrehe, wird mir klar, dass es der junge Anzugträger von eben ist, der mir gegenüber steht. Was macht er hier?

»Sagen wir, ich lebe noch.« Er setzt sich neben mich auf den Barhocker und ich gebe dem Kellner ein Zeichen, zu uns zu kommen.

»Was möchten Sie trinken?«

»Whisky Cola.« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Fremde neben mir eine Augenbraue hebt – steht ihm, der skeptische Blick.

»Und Sie?«

»Ein Ale, bitte.« Er nimmt die Flasche Ale entgegen und lässt seine Mundwinkel nach oben steigen. »Sie sind ganz schön taff«, sagt er trocken und dreht sich zu mir hin. Den Anzug von eben hat er zwischenzeitlich gegen ein schwarzes, enganliegendes Shirt und eine dunkle Jeans getauscht.

Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was das heute war. Normalerweise ist Kinnings nicht so.«

Sein Kopf hebt und senkt sich im Rhythmus der dröhnenden Musik im Hintergrund, während sein Bein auf und ab wippt – das macht mich ganz nervös. Ich konzentriere mich auf die langen Wimpern, die seine grünen Augen umrahmen. Solche Wimpern hätte ich auch gerne.

»Wir waren nicht gerade erfreut, über Mr Kinnings‘ Sorglosigkeit. Er vergisst manchmal, dass jeder Schaden, den er durch seine laienhafte Arbeit verursacht, auf die Firma zurückfällt.«

»Also war das nicht das erste Missgeschick unter seiner Leitung?«

Seine Augen ruhen einen Moment zu lange auf meinem Gesicht. Er zuckt lässig mit den Schultern und reibt sich über den Drei-Tage-Bart. »Lassen Sie uns doch das Thema wechseln. Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Wo kommen Sie noch gleich her?«

»Beantworten Sie jede Frage mit einer Gegenfrage?«

Er grinst und seine makellos weißen Zähne treten zum Vorschein. » Tue ich das?«

Ein Schmunzeln überkommt mich. »Ich bin aus Deutschland«, antworte ich laut über das Dröhnen der Musik hinweg und nehme einen Schluck aus dem Whiskeyglas vor mir. Als mir das Gebräu den Rachen wegbrennt, rümpfe ich die Nase und muss husten. Wie konnte ich nur auf die dumme Idee kommen, mir so ein Gesöff zu bestellen? Gerade komme ich mir alles andere als taff vor. Als Nächstes werde ich definitiv auf etwas Milderes zurückgreifen; vielleicht auf einen Cocktail oder einen harmlosen Longdrink.

»Trinken Sie einen Schluck von meinem Bier. Ich bin mir sicher, das wird Ihnen helfen.«

Tränen steigen in meine Augen und ich sehe die Bierflasche nur noch durch einen wässrigen Schleier. Ich nippe an der Flasche und atme erleichtert aus, als sich das Brennen in meiner Kehle legt. »Danke«, keuche ich.

Er nickt mir zu, nimmt die Flasche und hebt sie wieder an seinen Mund. »Ich war mal in München auf dem Oktoberfest, kennen Sie das?« Er schreit schon fast. Blöde Musik.

»Jeder Deutsche kennt es«, brülle ich zurück. »Ich bin in der Nähe von München aufgewachsen und gehe fast jedes Jahr hin.« Ich stelle ihn mir in einer knackig engen Lederhose und einem karierten Hemd vor. Beim Gedanken daran kreist meine Zunge über meine Lippen. Oh Gott, hoffentlich hat er das nicht bemerkt.

Seine Hand gleitet durch sein kurzgeschnittenes, braunes Haar, ohne dass er aufhört, mich zu beobachten. »Bringe ich Sie so zum Grinsen?«, fragt er plötzlich und ich presse meine Lippen aufeinander.

Mein Blick wandert zur verspiegelten Wand hinter der Bar. Na super, ich sehe aus wie eine überreife Tomate. »Na ja, vielleicht …«

Er prostet mir zwinkernd zu, als wäre ihm diese Unterhaltung überhaupt nicht peinlich. »Wenn Sie oft dort sind, dann müssen Sie mir einen Gefallen tun. Zum Oktoberfest gibt es immer ein ganz bestimmtes Bier, vielleicht könnten Sie mir mal ein paar Flaschen schicken. Oder besser noch, wir gehen gemeinsam hin und stoßen dort damit an. Wie sagen Sie in Deutschland?«

»Prost?«, frage ich unsicher. Hat er gerade wirklich vorgeschlagen, mit mir aufs Oktoberfest zu gehen? Wenn das so weiter geht, brauche ich doch noch einen Schluck Whiskey.

»Prost«, sagt er mit britischem Akzent und hebt seine Flasche ein weiteres Mal zum Anstoß.

Ich schaffe es nicht mehr, mein Lachen zu unterdrücken, lege den Kopf ein Stück nach hinten und lasse es einfach raus. Dieser Mann ist wirklich ein Knüller. Schade, dass er nicht mein Chef ist. Mit ihm ist sicherlich besser Kirschen essen als mit Kinnings. Nach dem Anschiss am Abend hätte ich nicht gedacht, dass ich mich noch so amüsieren würde.

»Und Sie und Ihr Chef sind in Eastbourne Gäste?«, frage ich.

Seine Stirn legt sich in winzige Falten. »Ich … verstehe nicht?«

»Ob Sie hier Gast sind?«, frage ich lauter. Wir hätten uns nicht so nah an die Boxen setzen sollen.

»Ich? Oh, ja. Ich übernachte immer im Grand, wenn ich in Eastbourne bin.« Das Grand Hotel, darauf bin ich gestoßen, während ich für meine erste Woche hier ein Zimmer suchte. Es ist das einzige Fünfsterne-Hotel an der britischen Ostküste, wenn ich mich recht erinnere.

Ich nicke anerkennend. »Sie kommen aus London, nicht wahr?«

»Gut erkannt.«

»Es muss aufregend sein, in einer so attraktiven und dynamischen Stadt zu leben.«

»Wenn man dort aufwuchs, ist es nicht aufregender als Eastbourne, nur ohne Strand und Palmen. Aber was zieht sie eigentlich hierher? Seit wann bevorzugen Frauen einen Job im Schlamm und zwischen einem Haufen schwitzender Kerle?«

Ich runzle die Stirn. Hat er meine Kollegen gerade wirklich als schwitzende Kerle bezeichnet? Klar trifft das zu, aber es aus dem Mund eines Anzugträgers wie ihm zu hören, überrascht mich. Erst, als er fragend eine Augenbraue hochzieht, antworte ich knapp, dass ich mal etwas Neues probieren wollte. Da er mit Mr Grubers Leuten herkam, hat er sicherlich gute Beziehungen zu der Chefetage. Da möchte ich nicht riskieren, dass er erfährt, wieso ich mich tatsächlich hier beworben habe.

»Noch ein Ale, bitte.«

Er trinkt ganz schön viel. Mein Blick fällt auf mein eigenes, noch fast volles Glas.

»Möchten Sie auch ein Bier? Es schien nicht so, als hätte Ihnen das«, er zeigt auf den Whiskey, »sonderlich gut geschmeckt.« Da hat er mich ja gut durchschaut.

»Ja, Ihr Ale war besser, als ich gedacht hätte.«

»Aber ans deutsche Bier kommt es nicht heran?« Er sieht mich fragend an und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.

»Sagen wir, es ist anders. Lecker, aber anders.«

Er beugt sich nach vorne und winkt den Barkeeper zu uns. »Für die Dame das beste Ale, das sie haben, damit sie lernt, die britische Bierbraukunst zu schätzen.« Er zwinkert mir zu und zeigt seine weißen Zähne.

Der Barkeeper schiebt mir lachend eine Flasche und ein Glas rüber. Ich schütte es mir selber ein und nippe den Schaum weg.

»Wie heißen Sie noch gleich?«

»Linda. Linda Baumgärtner.«

»Baumgardener, ein lustiger Name. Sie können mich Harvey nennen.« Er streckt mir seine Hand entgegen und ich schüttle sie. Seine Finger sind weich, und die Nägel gepflegt. Zu gepflegt für einen Kerl vom Bau.

»Was machen Sie bei Gruber? Sind Sie Architekt dort oder Ingenieur?«

»So etwas in der Art. Die meiste Zeit schließe ich Verträge. Doch damit möchte ich Sie nicht langweilen, schließlich füllt sich die Bar langsam. Ich habe das Gefühl, mir bleibt nicht mehr viel Zeit, um Sie in Ruhe kennenzulernen.« In Ruhe, der war gut. Langsam fällt mir wieder ein, wieso ich solche Clubs normalerweise meide. Es ist viel zu laut und stickig hier drin.

Lange werde ich nicht mehr bleiben. Ich kam sowieso nur her, um mich nach Kinnings‘ Anschiss abzureagieren.

»Es schien heute nicht so, als würde Ihnen der Job gefallen«, behauptet er und seine Stirn wirft eine leichte Falte.

Ich mache eine abwehrende Handbewegung. »Es ist nicht immer leicht, als Frau nur von Männern umgeben zu sein. Den Beruf habe ich gewählt, um kreativ zu sein, um meine Gedanken zu fordern, um etwas zu schaffen. Das versteht Kinnings nicht immer. Dennoch macht es Spaß. Es tut gut, zumindest hin und wieder sein Wissen anwenden zu können.«

Ich sehe zu Harvey, der sich mit seinem Zeigefinger über die feinen Haare an seinem Kinn streicht. »Ich kenne das. Ich stand selbst lange im Schatten der anderen. Es hat gedauert, bis man mich in der Firma akzeptierte.«

»Ich weiß nicht, ob es eine Frage der Akzeptanz ist. Vielleicht bin ich auch nur enttäuscht, weil ich mein Ziel, aus dem ich her kam, noch nicht erreicht habe«, antworte ich.

Seine Augen ruhen auf mir. »Was ist denn Ihr Ziel, wollen Sie Bauherrin werden? Dann muss ich Sie enttäuschen, das geht bei uns nicht so schnell.«

Ich lache. »Nein, nein. Das ist es definitiv nicht.«

»Machen Sie es doch nicht so spannend. Welche Geschichte verbirgt sich hinter Linda Baumgardener?«

Schmunzelnd schüttle ich den Kopf und schaue zu Boden. »Ich kann es Ihnen wirklich nicht verraten.«

Er sieht mich enttäuscht und entschlossen zugleich an. »Schade, ich würde gerne mehr über Sie erfahren. Aber wenn Sie mir nicht einmal das verraten möchten …«

»Manche Dinge verrät man eben nicht gleich«, sage ich geheimnisvoll und zwinkere ihm zu.

»Ich werde es schon noch herausfinden.«

»Wir werden sehen«, sage ich lächelnd und bestelle mir ein Wasser.

Er sieht mich mit gespieltem Entsetzen an. »Was, schmeckt Ihnen das Ale nicht?«

»Doch, doch. Es wird bloß Zeit für etwas Alkoholfreies. Sonst schaffe ich es nicht mehr alleine nach Hause.«

»Ich begleite Sie gerne.«

»Lieb von Ihnen. Noch bin ich jedoch nicht betrunken.« Ich schwenke das Wasserglas vor ihm hin und her, ehe ich daran nippe. »Entschuldigen Sie bitte, ich muss mal kurz. Sie wissen schon. Bis gleich.« Mist, ich hätte nicht so viel trinken dürfen. Meine Blase scheint plötzlich kurz vorm Platzen zu sein. Ich springe auf und winke ihm kurz zu, greife nach meiner Tasche und gehe, ohne mich umzudrehen, Richtung Toilette. Verdammt, war der Kerl süß, hoffentlich wartet er die fünf Minuten auf mich.

Als ich wiederkomme, ist sein Platz leer. Mein Blick schweift über die Menge tanzender und sich windender Leute. Der Club ist in den letzten paar Minuten richtig voll geworden. Wo ist er bloß hin?

»Das ist für Sie.« Der Barkeeper holt mich zurück ins Jetzt und reicht mir einen Bierdeckel, ehe er sich umdreht und Saft in einen Cocktailshaker füllt.

Der Pappdeckel liegt rau in meiner Hand. Ich muss ihn ins Licht halten, um die krakelige Schrift darauf zu erkennen.

›Sie hören von mir‹.

Was meint er damit? »Wo ist er hin?«, frage ich den Mann hinter der Bar.

Er zuckt mit seinen Schultern und nickt Richtung Ausgang. Ich lese mir noch einmal die kurze Nachricht durch. Wie soll ich denn von ihm hören, wenn er nicht einmal meine Nummer hat? Ob er sie aus Grubers Datenbank bekommen kann? Ich schüttle den Kopf und stecke die Pappscheibe ein. »Ich würde gerne zahlen«, sage ich zum Kellner, doch der winkt ab. Wow, dann hat Harvey wohl die Rechnung übernommen. Also sieht er nicht nur gut aus, sondern ist auch noch ein Gentleman.

 

Harvey

After all, she is worth the lack of sleep.

Ich kann nicht anders und schaue ihr hinterher. Ihr schlanker Körper verschwindet in der Menge.

Mein Bier ist fast leer. Der letzte Schluck fließt meine Kehle herunter und ich rufe den Barkeeper zu mir. »Zahlen bitte und haben Sie einen Stift?«

Er reicht mir einen Kuli und nickt auf den leeren Platz neben mir. »Zusammen?«

»Ja, bitte.« Ich reiche ihm das Stempelkärtchen und lege ihm dreißig Pfund hin. »Stimmt so.«

Ich habe eine Entscheidung gefasst. ›Sie hören von mir‹, kritzle ich auf den Bierdeckel und reiche ihn dem Barkeeper, damit er ihn ihr geben kann. Und jetzt weg hier, bevor ich es mir doch noch anders überlege. Nervös schaue ich nach hinten, doch sie ist immer noch nicht zu sehen. Egal, in nur zwei Wochen kann ich ihr bezauberndes Lächeln jeden Tag genießen.

Draußen herrscht ein eisiger Wind. Hoffentlich kommt sie gut zu Hause an. Vor mir hält ein Taxi und bringt mich zurück zum Hotel. Sie wird Augen machen, wenn sie morgen die Nachricht von Kinnings erhält. Ich sehe sie schon vor mir, wie sie freudig lächelnd in mein Büro tritt und mich dankbar umarmt, weil ich sie raus aus diesem Schlammloch geholt habe. Ich kann nicht anders und muss grinsen. Der Fahrer hält mich bestimmt für betrunken.

Ich laufe durch den Regen hinein ins Hotel und stürme hoch in meine Suite. Heute früh hätte ich nicht gedacht, dass ich die Nacht arbeitend verbringe werde. Doch ich möchte, dass Kinnings die Unterlagen für ihre Versetzung gleich morgen früh bekommt, daher heißt es jetzt ran an den Laptop. Sie ist den Schlafmangel schließlich wert.

 

Linda

It's as if everything was in vain. Every day I'm here is a day I can not spend with my family, with my dad.

 

»Ms Baumgardener, kommen Sie bitte zu mir. Heute Morgen lag ein Stapel Unterlagen auf meinem Tisch. Wie drück ich es am besten aus? Jaa … Sie arbeiten nicht mehr lange für mich.« Kinnings schaut mich mit zusammengepressten Lippen an und

mir bleibt die Spucke im Hals stecken.

Wie bitte? War das sein Ernst? Mir fällt die Notiz ein … Meinte er das mit ›Sie hören von mir?‹ Hatte er dafür gesorgt, dass ich gefeuert werde? Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen. Schließlich habe ich bloß gesagt, dass es nicht leicht unter all den Männern sei. Außerdem hätte er dann sicherlich nicht meine Getränke mitbezahlt. Vielleicht hat Harvey es Mr Gruber erzählt und der denkt nun, dass ich auf dem Bau nicht klarkomme. Oder war es wegen des Spruchs gestern? Zumindest Harvey schien er gefallen zu haben.

Och Menno, das darf doch nicht wahr sein. Ich brauche diesen Job. Ohne ihn läuft mein Visum bald ab und ich habe gar keine Chance mehr, meine Halbschwester zu finden.

Ich sehe flehend zu Kinnings auf, der auf seine Hände gestützt hinter seinem Schreibtisch steht. Er greift mit seiner rechten Hand zu seiner Lesebrille und schiebt sie nach oben. Ich habe keine Ahnung, was er mir mit dieser Geste sagen will.

»Was soll das heißen?«, setze ich erzürnt an. »Ist es wegen gestern? Das war doch nur ein Witz mit dem Bauhelm. Sie dürfen mich deswegen nicht feuern.« Ich balle meine Hände zu Fäusten.

»Oh, was das angeht, muss ich mich wohl bei Ihnen entschuldigen. Ich hätte Sie nicht so anfahren dürfen. Das Gespräch mit Herrn Gruber und seinem Team verlief nicht ganz so, wie ich es mir gewünscht hatte, da habe ich ein wenig die Beherrschung verloren. Bitte verzeihen Sie mir mein ungehaltenes Verhalten. Ihre Versetzung hat wirklich nichts damit zu tun.«

»Versetzung?« Meine Stirn runzelt sich und ich ziehe eine Braue hoch. Also doch kein Rauswurf. Ich schaue auf das dünne Goldkettchen an meinem Handgelenk und spiele mit dem Anhänger, einer kleinen Blume. Kein Rauswurf – nur eine Versetzung. Das macht es nicht viel besser. Er darf mich nicht versetzen lassen. Ich muss hierbleiben. Sandra ist hier, irgendwo hier. Dessen bin ich mir sicher.

»Ja, versetzen. Was haben Sie denn gedacht? Am ersten Juni beginnen Sie bei Herrn Gruber in der Londoner Zentrale. Man wird Ihnen wieder ein Apartment zur Verfügung stellen. Sie brauchen sich um nichts kümmern. Auf Wunsch können Sie sogar abgeholt werden.«

Der erste Juni. Das ist in nicht mal zwei Wochen. »Gibt es keine Möglichkeit, dass ich hier bleiben kann?« Gedankenverloren lasse ich mich auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch nieder. Mein ganzer Plan, Sandra in Eastbourne zu finden, wird mir gerade versaut.

»Tut mir leid, die Entscheidung kam von ganz oben. Entweder Sie akzeptieren sie, oder Ihre Probezeit ist hiermit beendet.« Er wedelt mit dem Stapel Papiere vor meiner Nase herum und zuckt unschuldig mit den Schultern. »Lesen Sie sich alles in Ruhe durch und setzen Sie anschließend einfach ihre Unterschrift drunter. Wenn Sie Fragen haben, finden Sie mich draußen. Es gibt noch einiges zu tun, Sie wissen ja.«

Nickend folge ich seinem Blick durch das kleine, dreckige Fenster nach draußen auf die Baugrube.

Er lässt mich alleine und ich blättere die Unterlagen vor mir durch. Es sind dieselben Vertragsbedingungen wie für meine aktuelle Stelle, nur, dass ich vorwiegend im Londoner Büro arbeiten soll. London, Stadt des Regens und der Menschenmassen. Für einen Kurztrip ist es sicherlich eine sehenswerte Stadt, aber möchte ich selbst dort leben?

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schaue bei Google Maps nach, wie lange ich von London nach Eastbourne brauche. Mit dem Auto bin ich in knapp zweieinhalb Stunden dort, mit dem Zug sogar noch eine Stunde schneller. Das geht, so kann ich immerhin an den Wochenenden herkommen und nach ihr suchen. Vielleicht habe ich sogar Glück und Harvey kann ein gutes Wort für mich bei Mr Gruber einlegen, damit er mich hierher zurücklässt.

Ich setze den Kuli mit verkrampften Fingern auf das unterste Blatt Papier und kritzle meinen Namen hin. »Auf Wiedersehen, Baustelle und Hallo Großstadtbüro«, murmle ich, ehe ich raus zu Kinnings gehe und die Überwachung der Anlieferung der neuen Baustoffe übernehme.

 

Heute ist es soweit. Draußen geht bereits die Sonne unter. Für meinen letzten Arbeitstag in Eastbourne hätte das Wetter an der Südküste Englands nicht besser sein können. Ich räume meine Klamotten aus dem Schrank und lege sie ordentlich zusammen. Anschließend packe ich alles in den großen Koffer, den ich mir von meinem Vater geliehen habe und setze mich auf den Deckel, um den breiten Reißverschluss zu schließen. Ansonsten habe ich bloß zwei Kartons zu schleppen, die mit nach London müssen. Ich stelle alles in den schmalen Flur und gehe in die kleine Küche.

Auf dem Herd kocht bereits das Wasser im Kessel und stößt pfeifend den Dampf aus. Ich lösche die Gasflamme mit einem Klick, gieße das Wasser über den Teebeutel und schütte den Rest in die Spüle. Dann lasse ich kaltes Wasser über den Kessel laufen, bis er abgekühlt ist und trockne ihn ab, um ihn zurück in den maroden Schrank zu stellen.

Als ich einzog, war ich heilfroh, diese Wohnung bekommen zu haben. Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, kostenlos wohnen zu dürfen.

Meine Fingerspitzen gleiten über die abgesplitterte Farbe an der Kante der Arbeitsplatte. Es wird ungewohnt sein, nicht mehr tagtäglich in dieses alte Haus am Rande der Stadt zu kommen. Ob sie mich in London wieder in ein so uriges Apartment stecken?

Ich gieße kaltes Wasser in meine Tasse nach, um den roten Tee direkt trinken zu können. Trotzdem verbrenne ich mir die Zunge. Sofort spüre ich die feinen Pickelchen, die die Verbrennung auf der Zungenspitze herbeiführt. Seufzend schmeiße ich den Teebeutel weg und raffe die Mülltüte zusammen, um sie nach unten in den dunklen Innenhof zu bringen. Der Geruch von modrigen Essensresten steigt mir in die Nase. Ich trete einmal kräftig gegen die stinkende Tonne. Der Schmerz schießt augenblicklich in meinen Fuß. Verdammt, ich will hier nicht weg! Ich lasse mich gegen die rote Backsteinmauer sinken, bis ich auf dem Boden hocke und schließe die Augen. Mein ganzer Plan scheint zum Scheitern verurteilt. Die letzten zwei Wochen habe ich viel nachgedacht, über mich, meinen Vater, London, Harvey und die neue Stelle, über alles. Vor allem über Sandra. Ich bin ihr kein Stück näher als an meinem ersten Tag in Eastbourne. Es ist, als sei alles umsonst gewesen. Jeder Tag, den ich hier bin, ist ein Tag, den ich nicht mit meiner Familie, mit meinem Vater verbringen kann. Und jetzt scheine ich mich noch mehr von Sandra entfernen zu müssen. Ich kann es einfach nicht fassen, dass Harvey für meine Versetzung gesorgt hat. Meine Finger krallen sich in das Unkraut, das entlang der Hausfassade wächst und ich zupfe ein paar Blätter Löwenzahn aus den Bodenfugen. Aus der Ferne höre ich das Läuten von Kirchenglocken. Jeden Moment müsste das Taxi kommen.

Ich reiße mich zusammen und laufe nach oben. Nachher im Taxi und in der Bahn werde ich genug Ruhe haben, um über alles nachzudenken. Jetzt ist jedoch nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Kaum stehe ich wieder in der Wohnung, klingelt es. Ich schütte den restlichen Tee ins Waschbecken und wische die Tasse mit der Hand aus, dann eile ich zur Tür.

Der Fahrer ist so freundlich und hilft mir, meine Sachen runter ins Auto zu bringen. Mit einem traurigen und einem lächelnden Auge schließe ich die Tür hinter mir zu und werfe den Schlüssel wie abgemacht in den Briefkasten des Hausmeisterservices im Erdgeschoss.

London, ich komme. Und Papa, ich werde nicht aufgeben, das verspreche ich dir.

Linda

Why does he have to smile so charming? I can not concentrate at all.

 

Ich starre nervös auf meine Schuhe, ziehe den Saum des roten Mantels, den ich heute trage, näher an mich und betrete den Koloss vor mir, der beinahe alle Gebäude im Umkreis überragt. Kinnings hatte mir gestern eine Nachricht zugesteckt, dass ich heute um zehn Uhr im dreizehnten Stock erscheinen soll. Ich streife meine feuchten Pumps am Teppich im Eingangsbereich ab, die ich mir extra heute Morgen in einem kleinen Schuhladen um die Ecke gekauft habe und betrete das geräumige Foyer. Zierliche rote Sofas stehen an den Seiten zwischen den vier Aufzügen mir gegenüber. Ohne mich weiter umzusehen, gehe ich auf eine der Lifttüren zu und bleibe abrupt stehen, als mich jemand von hinten anspricht.

»Entschuldigen Sie, Miss, Sie müssen sich zuerst bei mir anmelden, wenn Sie hoch wollen.«

Ich drehe mich um und blicke in das Gesicht einer blonden Frau, die sicherlich gut zwanzig Jahre älter ist als ich.

»Verzeihung. Ich bin Linda Baumgärtner. Ich soll zur Firma Gruber in den dreizehnten Stock.«

»Mr Gruber ist noch in einer Besprechung. Fahren Sie hoch und warten sie dort im Vorsaal. Sicherlich wird sich Ms Marley Ihrer annehmen.«

»Vielen Dank.« Ich nicke und eile zurück zu den Aufzügen. Ein Kribbeln in den Fingerspitzen lässt mich darauf hoffen, dass es Harvey ist, der sich um mich kümmern wird und nicht irgendeine Sekretärin. Ich bin mir absolut sicher, dass es seine abstruse Idee war, mich hierher versetzen zu lassen. Es muss einfach seinetwegen sein, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie er das angestellt hat. Laut Kinnings kam der Befehl immerhin von Gruber persönlich.

Ich betrete den leeren Lift und schaue in den Spiegel. Man, bin ich müde. Ich sehe aus, als hätte ich seit einer Woche nicht mehr geschlafen. Tiefblaue Ringe liegen unter meinen Augen. Ich bin noch vor den ersten Sonnenstrahlen aufgestanden, um mein neues Apartment herzurichten. Es ist eine schöne Wohnung, die nicht weit vom Hydepark und meiner neuen Arbeitsstelle gelegen ist. Sie gefällt mir besser als die in Eastbourne. Trotzdem war mir die alte Wohnung lieber, sie hatte etwas Heimliches. Ich weiß einfach nicht, was ich hier soll. Es kommt mir alles so unnütz vor.

Der Lift fährt mich ohne Halt nach ganz oben. Als sich die Türen öffnen, stehe ich vor einem kühl wirkenden Foyer und kann geradewegs durch die Panoramafensterfront nach draußen blicken.

Ich hasse Panoramafenster in dieser Höhe, trotzdem gehe ich ein paar Schritte vor. Der Ausblick raubt mir den Atem – und das wortwörtlich. Mir wird schwindelig und ich halte mich an einer weißen Säule, die die Decke stützen soll, fest.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Die süßliche Stimme einer jungen Dame tritt in mein Ohr und ich drehe mich zu ihr um.

»Ich soll mich hier melden, Linda Baumgärtner.«

»Ah, Ms Baumgardener, wir haben Sie bereits erwartet. Mr Gruber ist noch in einer Besprechung. Darf ich Ihnen Ihren Mantel abnehmen?«

»Oh, gerne. Dankeschön.«

Ich streife mir meinen Mantel ab und gebe ihn der hübschen Blondine. In diesem Moment öffnet sich links von uns eine Tür und Harvey kommt, begleitet von drei der älteren Herren, die mit auf der Baustelle waren, aus einem Konferenzraum hervor. »Verzeihen Sie«, sagt er und nickt dem Mann neben sich zu. Er schaut zu mir. »Linda, schön Sie wiederzusehen. Delilah, ich kümmere mich um sie.«

»Natürlich, Mr Gruber.« Ich schaue verwirrt von Harvey zu Delilah, die zurück hinter das Empfangspult tritt. Mr Gruber? Harvey ist Mr Gruber? Wieso hat er das nicht erwähnt, als er sich mir vorstellte? Mein Gott, ich bin so blöd! Natürlich, das erklärt, wieso er sich den Aufenthalt im Grand Hotel leisten und wieso ich so schnell versetzt werden konnte. Ich beiße mir auf die Lippen. Ganz schön peinlich, den eigenen Chef nicht gleich zu erkennen, auch wenn ich mir sicher bin, dass auf der Webseite ein älterer Herr zu sehen war.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragt er und zeigt durch die offene Tür in sein Büro.

»Einen Tee bitte«, antworte ich völlig konfus, bis mir wieder einfällt, dass ich ja sauer auf ihn bin. Wie schafft dieser Mann es nur, mich so aus dem Konzept zu bringen? Ich beiße mir auf die Lippen. »Und ich möchte erfahren, was ich hier mache.« Ich gehe an ihm vorbei und bleibe mitten im Raum, zwischen einer eleganten Sitzgruppe und seinem Schreibtisch, mit verschränkten Armen stehen.

»Mit Milch und Zucker?«

»Nur Milch, danke. Und hören Sie bitte auf, meinen Fragen auszuweichen. Dieses Spiel können Sie sich sparen.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Harvey gießt, ohne eine Miene zu verziehen, heißes Wasser in eine Tasse und steckt einen Beutel schwarzen Tee hinein. Zusammen mit einem Kännchen Milch stellt er die Tasse auf dem runden Glastischchen ab und weist auf meinen Platz, einen weißen Schwingsessel. »Setzen Sie sich und trinken Sie einen Schluck.«

Mit verschränkten Armen sinke ich in den Sessel, rühre die Tasse jedoch nicht an. Der Tee muss sowieso erst einmal durchziehen.

»Also?«, frage ich. Dieses Mal bin ich es, der ihn nicht aus den Augen lässt.

Eine seiner hellbraunen Augenbrauen wandert nach oben. »Also was?« Er zieht einen der Gästestühle vor seinem Schreibtisch herüber und stellt ihn vor mir ab. Mit beidseitig hochgezogenen Brauen setzt er sich vor mich und schlägt geschäftsmäßig die Beine übereinander, so dass die locker sitzenden schwarzen Hosenbeine seiner Jeans an seinen Knöcheln schlackern.

»Wieso bin ich hier? Mr Kinnings teilte mir nur einen Tag, nachdem ich Sie kennenlernte, mit, dass ich versetzt werde. Wieso haben Sie das getan? Ich verstehe es nicht.«

»Sind Sie denn nicht erfreut über den Wechsel?« Er meint es ernst. Harvey schaut mich geradezu verdutzt an.

Ich seufze. »Nein, ich gehöre nicht hierher. Bitte lassen Sie mich wieder bei Mr Kinnings arbeiten. Ich fühle mich draußen auf der Baustelle wohler.«

Seine Finger streichen über sein unrasiertes Kinn und er sieht mich nachdenklich an. »Tut mir leid, ich dachte, ich tue Ihnen einen Gefallen. Mit Ihren Qualitäten sind Sie hier im Büro und in meiner Nähe sicherlich besser aufgehoben. Ich hatte das Gefühl, Ihnen gefiele die Arbeit in Eastbourne nicht. Dass Mr Kinnings Sie nur unterfordere.«

»Selbst wenn es so wäre«, sage ich, ziehe den Teebeutel aus der Tasse und lege ihn auf den Untersetzer. »Warum haben Sie mich denn nicht einfach vorher gefragt? Ich war vollkommen überrumpelt. Im ersten Moment dachte ich, dass Mr Kinnings mich feuern wolle.«

»Wieso sollte er das tun?«

»Ich weiß es nicht, aber ich wusste auch nicht, wieso ich versetzt werden sollte. Außerdem hätten Sie mir ruhig sagen können, dass Ihnen die Firma gehört. Sie glauben gar nicht, wie peinlich mir das gerade ist. Ich dachte, Sie wären ein Architekt.«

Harvey lacht und feine Grübchen bilden sich um seine Mundwinkel. Ich gebe ein schwaches Lächeln von mir und streife meine langen Haare hinter die Ohren.

»Wie kommen Sie denn darauf? Sie müssen doch wissen, wie ich aussehe.«

Ich hebe entschuldigend meine Schultern. »Auf ihrer Webseite ist ein älterer Herr als Mr Gruber abgebildet. Ich hatte gedacht, er wäre einer der anderen Herren gewesen, die mit auf der Baustelle und auch eben mit Ihnen im Konferenzraum waren.«

Man sieht deutlich, wie er damit kämpft, nicht laut loszulachen. »Sie haben meinen Vater für mich gehalten? Aber ja, Sie haben recht, Mr Launchfield sieht ihm sehr ähnlich. Das mit der Webseite werde ich prüfen lassen. So lange bin ich schließlich noch nicht der alleinige Inhaber. Haben Sie Dank für den Hinweis.«

»Gerne«, sage ich verlegen. »Und …« Meine Hände reiben in meinem Schoß aneinander. »Werden Sie mich zurückversetzen? Ich glaube nicht, dass ich hier glücklich werde.«

»Laut ihrem Lebenslauf haben Sie nie in London gelebt. Woher wollen Sie das dann wissen? Es ist eine wunderschöne Stadt. Geben Sie ihr und mir eine Chance. Ich bin mir sicher, dass Sie es nicht bereuen werden.«

Er sieht mich freundlich an. Wieso muss er auch so charmant lächeln? Da kann ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Ich möchte nicht hierbleiben. Wie soll ich meine Schwester so finden? Ich wünschte, ich könnte ihm einfach sagen, wieso ich zurück möchte. Vielleicht würde er es sogar verstehen.

Meine Finger finden einen losen Faden an meinem Ärmel und fummeln daran herum. Die Chancen, dass er mich zurückschickt, stehen genauso groß wie jene, dass er mich kündigt, wenn ihm klar wird, dass ich gar nicht um des Jobs Willen hier bin.

Er steht auf und stellt sich vor eines der bodentiefen Fenster, die dem abgerundeten Büro eine besondere Helligkeit geben. »Die Sonne kommt heraus, stehen Sie auf und kommen Sie mit. Ein Spaziergang durch die Stadt wird Ihrem aufgewühlten Gemüt guttun. Außerdem möchte ich Ihnen unser neues Projekt zeigen.«

»Ich soll mit Ihnen spazieren gehen?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Während meiner Arbeitszeit? Und er behauptet, bei Kinnings wäre ich unterfordert gewesen …

Den Tee trinke ich in einem raschen Zug aus, verbrenne mir die Zunge und stoße einen kurzen Fluch aus. Harvey bekommt davon nichts mit.

Meine Glieder fühlen sich steif und bleiern an, als ich aufstehe und meine Kleidung glatt streiche.

Er dreht sich zu mir um und fährt sich mit der Hand durch sein kurzes, braunes Haar. Die feinen Grübchen umspielen erneut sanft seine Mundwinkel, als er mich anlächelt. »Sehen Sie es als architektonische Führung. Wenn Ihre Bauwerke ins Stadtbild passen sollen, müssen Sie dieses auch kennen.«

Ich seufze. Ich hasse es, wenn andere im Recht sind. »Na gut, nach Ihnen«, sage ich geschlagen.

Er geht zur Tür und hält sie mir auf. »Delilah, geben Sie Ms Baumgardener bitte ihre Jacke und verlegen Sie mein sechzehn-Uhr-Gespräch mit Herrn Levis auf morgen.«

»Selbstverständlich, Sir. Kommen Sie heute noch in die Firma?«

Harvey verneint und sie reicht mir meinen Mantel.

»Dankeschön«, sage ich ruhig und versuche die Anspannung abzuschütteln. Ich glaube nicht, dass Harvey mich einfach so gehen lässt – zumindest noch nicht. Jetzt heißt es für mich, das Beste aus der Situation zu machen. London ist nicht so weit von Eastbourne entfernt. An den Wochenenden kann ich also immer noch nach Sandra suchen. Außerdem brauche ich den Job; ohne Arbeit darf ich nur noch ein paar Wochen hierbleiben.

Resigniert folge ich Harvey in den Lift. Er wirkt viel entspannter als vor zwei Wochen.

Eine frische Brise weht mir die Haare ins Gesicht, als wir das Gebäude verlassen.

»Waren Sie schon einmal in London?«

»Ja, mit fünfzehn auf Abschlussfahrt der zehnten Klasse, aber das ist schon zehn Jahre her.«

»Dann lassen Sie uns durch den Hydepark gehen, der ist um diese Uhrzeit, wenn die meisten in ihren Büros sitzen, am herrlichsten.« Er lenkt mich um ein paar Bäume herum auf den großflächigen Park zu. Wir gehen durch eine schmale Tür am Rande des Zaunes, der die Parkfläche umgibt. Er bleibt plötzlich stehen, sodass ich beinahe in ihn hineinlaufe.

»Verzeihen Sie«, nuschle ich.

Er zeigt unter den Schatten der Baumkronen hindurch auf einen kleinen Weg. Der Pfad führt vorbei an einer Kapelle und auf den italienischen Garten zu. Hier hatten wir bereits vor zehn Jahren mit der Klasse gepicknickt. Es hat sich seitdem kaum etwas verändert.

Bei einer Reihe Parkbänke setzen wir uns und betrachten die Fontänen der vier Springbrunnen. Ich streiche mit meinen Fingerspitzen über das warme Holz, auf dem wir sitzen. Es ist rau, wie die Natur. Der Duft des immer noch feuchten Rasens steigt mir in die Nase. Er erinnert mich an unsere Ausflüge nach Italien, als ich noch klein war. Wir sind immer im Spätsommer hingefahren, wenn die Touristenmassen schon weg waren. Ich liebe diesen Geruch. Die feuchte Hitze, wenn es in der Nacht geregnet hat und nun die Sonne einen küsst.

»Ein herrlicher Ort, hier komme ich immer her, wenn es mir so geht wie Ihnen gerade. Ich hoffe, Sie sind nicht mehr allzu aufgebracht. Linda, sehen Sie es von meiner Seite aus. Hätte ich Sie vorher gefragt und Sie hätten Nein gesagt, wie hätte ich dann erst dagestanden, wenn ich Sie trotzdem rübergeholt hätte? Ich glaube, wir werden ein gutes Team bilden. Ich bin schon lange auf der Suche nach einer kompetenten Ingenieurin an meiner Seite. Frauen geben einem oftmals ganz andere Impulse als Männer. Sie betrachten die Dinge anders, pragmatischer. Bitte bleiben Sie und geben uns eine Chance.«

Die Ruhe, das Plätschern der Fontänen, es ist herrlich. Vor uns taucht ein Eichhörnchen auf und schaut uns frech an. »In Ordnung, aber nur eine«, sage ich verträumt und beobachte die Spatzen bei ihrer Suche nach Brotkrumen auf dem Boden.

»Sie werden es nicht bereuen«, sagt Harvey.

Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Eine angenehme Brise weht vorbei und kitzelt meine Nase. Erst letztes Wochenende lag ich am Strand von Eastbourne und jetzt bin ich hier. In London. Wenigstens spielt das Wetter heute mit. Ich knüpfe meinen Mantel auf und lasse die Strahlen direkt auf mein Dekolleté scheinen. Die Wärme tut gut.

Mein Kopf dreht sich zur Seite und mein Blick fällt auf sein Gesicht. Er ähnelt seinem Vater kaum. Als er meinen Blick bemerkt, huscht ein Lächeln über seine Lippen. Es tut gut, ihn lächeln zu sehen. Eigentlich ist er doch ganz nett. Vielleicht war es nicht richtig gewesen, sich dermaßen aufzuregen. Das wird mir hier draußen im Sonnenschein klar.

»Manchmal habe ich das Gefühl, alle Last der Firma ruht auf meinen Schultern«, sagt er plötzlich. Seine Stimme ist leise, beinahe ein Flüstern.

Ich nicke, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich seine Aussage überhaupt richtig verstanden habe.

»Manchmal muss man Entscheidungen treffen, die nicht jedem gleich gefallen«, spricht er weiter. »Vertrauen Sie mir, ich möchte nur das Beste – für Sie, für mich und für die Firma.« Harvey dreht seinen Kopf zu mir, kleine Krähenfüßchen umspielen seine Augenwinkel. »Ich werde mich gut um Sie kümmern. Bald werden Sie gar nicht mehr wegwollen.«

»Wir werden sehen«, sage ich mit einem Lächeln auf den Lippen.

Er richtet sich mit einem Mal auf und sieht sich um. »Lassen Sie uns weitergehen. Möchten Sie etwas essen?«

Ich schaue auf meinen flachen Bauch hinab, der in diesem Moment wie auf Kommando ein leichtes Grummeln von sich gibt. Hab ich überhaupt schon etwas gegessen, seit ich gestern hier ankam? »Ich könnte ein ganzes Kamel verdrücken.«

Er hält mir seine Hand hin und zieht mich hoch. »Ich glaube nicht, dass Ihnen das bekommen würde. Vertrauen Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.«

»Sie haben schon einmal Kamel gegessen?« Ich ziehe eine Braue nach oben und folge ihm zum nächsten Pfad. Wieso hat er es plötzlich so eilig?

»Ja, ich war während meines Studiums für zwei Monate in der Mongolei. Mir hat es damals nicht geschmeckt.«

Ich sehe es geradezu vor mir, wie er als Dschingis Khan einen Kamelschenkel kauend auf seinem Pferd durch die mongolische Steppe reitet und lache laut auf. Er sieht mich mit skeptischem Blick an, ohne sein Tempo zu drosseln, und zeigt auf den See, der einmal quer durch den Hydepark führt.

»Was haben Sie in der Mongolei gemacht?«

»Muss ich Ihnen darauf antworten?«

»Unbedingt.«

»Na gut. Bitte lachen Sie nicht.«

Oh, was kommt denn jetzt? Er läuft leicht rot an. Niedlich, wenn er so verlegen schaut.

»Ich war Kinderanimateur in einem Hotel. Einen Monat lang lief ich als Clown oder Zauberer herum und habe Luftballontiere gebastelt. Den zweiten habe ich dann das Land bereist.«

»Sie haben Luftballontiere gebastelt? Ich habe das nie hinbekommen. Sie müssen mir unbedingt einmal zeigen, wie das geht«, sage ich erstaunt. In ihm steckt wohl doch mehr als der steife Anzugträger im Büro.

»Ach, ich habe schon so einiges erlebt. Mein Vater hat mir während der Studienjahre regelmäßig den Geldhahn zugedreht, mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich regelmäßig durch die Welt zu jobben. In fast jeden Ferien war ein anderes Land dran. Einen Monat gut bezahlt arbeiten, einen reisen.« Danach erzählt er mir, wie er in Australien auf einer Farm arbeitete und in Amsterdam in einem Hotel jobbte. Das meiste Geld verdiente er in der Schweiz, als er den Kindern einiger Scheichs, die dort geschäftlich lebten, privaten Englischunterricht in einem Internat gab.

An einem Imbissstand bleiben wir stehen und holen uns jeder ein belegtes Baguette. Wir setzen uns auf einen kantigen Steinblock neben dem See. Er schlägt seine Beine erneut geschäftsmäßig übereinander und zeigt mit der geöffneten Hand auf die Umgebung, als wolle er sie segnen. »Sehen Sie, es ist doch alles gar nicht so schlimm. An einem herrlichen Tag wie diesem ist London mindestens genauso schön wie Eastbourne, nur die Palmen fehlen. Sie können ja an den Wochenenden runterfahren, wenn es Ihnen so wichtig ist«, merkt er an und beißt ein Stück seines Baguettes ab.

Ich werfe ein Stück Brot in den See und sehe einem Schwan dabei zu, wie er losstürmt und es im Wasser aufsammelt, ehe es vollständig aufquillt. Harvey zeigt auf ein ›Füttern verboten‹ Schild und ich stecke mir das nächste Stück selbst in den Mund, ehe ich ihm antworte. »Es ist nicht der Palmen wegen, dass ich nicht hierher möchte.«

»Was ist es dann?«

»Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt«, sage ich nur und kaue verloren auf meinem Baguette rum.

»Gibt es überhaupt für irgendetwas einen richtigen Zeitpunkt?«

»Bestimmt, aber dieser ist es nicht.« Ich stehe auf und klopfe die Krümel von meinem Schoß. »Kommen Sie, Sie wollten mir doch unser nächstes Projekt näherbringen.«

Ein Lächeln umrahmt Harveys Lippen und lässt seine Augen im sanften Schein der Sonne strahlen. »Natürlich, hier lang.« Er sieht in die Ferne, es scheint, als würde sein Blick irgendwo im Nichts verloren gehen. Hinter uns kommen die ersten Schwäne und Enten angewatschelt und picken die Krümel auf, die wir hinterlassen haben.

»Ich hoffe, Ihre Schuhe sind halbwegs bequem. Ich hatte mir gedacht, wir könnten London zu Fuß erobern, oder ist es Ihnen lieber, wenn wir ein Taxi bis zum London Eye nehmen?«

»Wieso fahren wir nicht mit dem Bus? Ich wollte schon immer in einem dieser Doppeldecker fahren.« Gut, schon immer ist übertrieben. Aber wenn ich schon mal hier bin …

»Oder so, warum nicht?«

Wir bleiben in einer Seitenstraße am Ende des Parks stehen. Hier, im Schatten der Häuser, weht ein kühler Wind. Ich raffe meinen Mantel enger an mich.

Als der Bus vor unserer Nase anhält, greift Harvey ungefragt nach meiner Hand und hilft mir hinein. Sehe ich so hilflos aus oder ist er einfach ein Gentleman?

Ich gehe die schmale Treppe rauf und nehme im oberen Stock Platz. Ich bin überrascht, dass die Busse in London um diese Tageszeit nicht überfüllt sind. Es sind kaum Plätze belegt. Harvey kommt mit unseren gestempelten Tickets hoch und setzt sich neben mich.

»Wir müssen Ihnen noch eine Oystercard besorgen, oder haben Sie ein Auto hier?«

»Nein, ich bin mit dem Flugzeug und dem Zug hergereist.«

Er nickt. Draußen herrscht ein reges Treiben. Je mehr wir uns dem Big Ben nähern, der alle Gebäude in der Nähe überragt, desto voller werden die Gassen. Das Licht der Sonne spiegelt sich in den Fenstern und ich muss meine Augen zusammenkneifen. Harvey hat recht. London ist eine schöne Stadt. Wenn es sein muss, werde ich es hier aushalten. London ist immer noch näher als München an Eastbourne dran. Wenn ich Samstagfrüh in den Zug steige, bin ich vormittags in Eastbourne und kann mir die Krankenhäuser vornehmen. Vielleicht wurden Sandra oder ihre Mutter mal in einem behandelt.

»Wo müssen wir aussteigen?«

»Ich schlage vor, beim Big Ben. Von dort ist es nicht weit bis zur Westminster Abbey, dann zeige ich Ihnen die Stelle für den geplanten Bau.«

»Gerne. Ich komme mir sowieso schon komisch vor, weil wir den ganzen Tag nicht im Büro sind.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich meine, wie wollen Sie ein Gebäude für London planen, wenn Sie die Stadt nicht kennen? Im Grunde ist es folglich ein ganz normaler Arbeitstag.« Er zwinkert mir zu und ich muss augenblicklich schmunzeln. Vielleicht sollte ich mich einfach entspannen. Die letzten zwei Monate waren schließlich hart genug gewesen.

Wir steigen kurz vor der Brücke, die über die Themse geht, aus und umrunden den Glockenturm, schlendern vorbei an der gotischen Kirche und bleiben auf der Great Smith Street stehen.

Harvey zeigt auf den Bau vor uns. »Das Gebäude wird nächsten Monat abgerissen.« Es ist ein altes Bildungsinstitut. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein anderes Gebäude hierher passen soll.

»Was soll hier eigentlich genau hin?«

»Ein Bürotower. Wir wollen die Moderne der Stadt mit dem alten Charme verbinden.«

»Wirklich? Ich hätte Angst, dass es genauso deplatziert wie der Wolkenkratzer in Southwark wirkt.« Wir haben den spitzen Riesen im Studium besprochen. Einfach hässlich das Teil.

»The Shard?«

Ich nicke.

»Ich bin auch nicht begeistert vom Standort, leider will die Stadt den Bau genau hier stehen haben.«

»Schade, wenn eine Stadt sich selbst versauen will.»

Er zuckt mit den Schultern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm das Stadtbild egal ist. Wahrscheinlich ist er einfach nur machtlos. Möglicherweise sind die Pläne auch weniger schlimm, als ich sie mir gerade vorstelle. Ich werde sie sicherlich bald zu Gesicht bekommen.

»Kommen Sie, lassen Sie uns zurück Richtung Themse gehen.« Er legt seine Hand auf meinen Rücken und führt mich weg vom Bauzaun, der das Gebäude bereits umrahmt.

Die Stille in den schmalen Seitengassen, die wir durchstreifen, ist herrlich. Wir plaudern über Gott und die Welt und durchqueren gemächlich die Straßen. Mir fällt auf, dass er immer wieder zu mir rüber schaut. Es ist beinahe, als würden wir uns seit Jahren kennen.

Erst auf der Brücke, die die Themse überquert, bleiben wir stehen und hören einem Musiker zu, wie er auf seinem Akkordeon spielt. In München sehe ich solche Leute kaum noch – Straßenkünstler. Früher war die Fußgängerzone voll von ihnen, heute hat man Glück, wenn man mal einen vor dem alten Rathaus trifft.

Harvey schmeißt ihm ein paar Pence hin, ehe er meine Hand greift und mich ohne Halt über die Brücke führt. Ich bin versucht, meine Hand zurückzuziehen. Es gehört sich einfach nicht, die Hand des Chefs zu halten. Da kann er noch so gut aussehen.

Er lässt mich endlich los und zeigt nach vorne.

»Sind Sie schon einmal mit dem London Eye gefahren?«

»Nein, und ich bin auch nicht sicher, ob ich das jemals möchte. Außerdem ist die Fahrt viel zu teuer.«

Er lacht. »Also bitte! Ich lade sie selbstverständlich ein. Na los, kommen Sie, das wird Spaß machen.«

Ich lege meinen Kopf in den Nacken und blicke von der Infotafel vor mir nach oben. Wie um alles in der Welt soll ich Spaß empfinden, wenn ich hundertfünfunddreißig Meter über der Erde hänge?

Während wir darauf warten, dass eine Gondel für uns frei wird, kralle ich meine Nägel ins metallene Geländer, bis meine Fingerspitzen unter dem Druck blassrosa anlaufen und der dunkelrote Lack meiner Nägel abzublättern droht. Mein Herz beginnt zu flattern und das nicht seinetwegen. Wieso tue ich mir den Scheiß an? Ich atme nur noch stoßweise. Plötzlich steht er hinter mir – ganz dicht und hält mich fest. Ich spüre durch meinen Mantel hindurch, wie sich sein Brustkorb an meinem Rücken hebt und senkt. Ohne weiter nachzudenken, lehne ich mich zurück, um nicht den Halt zu verlieren. Wie soll das erst werden, wenn wir oben sind?

»Atmen Sie tief durch. Wieso haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie Höhenangst haben?«

»Es geht schon«, presse ich hervor und schließe die Augen. Wie sang Rolf Zukowski gleich? »Ich schaff das schon«, flüstere ich. Ich kann nicht anders und schmiege mich an seine warme Brust. Er trägt keine Jacke. Nur einen kuschlig weichen, grauen Pullover.

»Mir … mir ist nur etwas schwindelig. Weiter nichts. Ich schaffe das, wirklich.«

Langsam löst sich seine Hand von meiner Hüfte und der Knoten in meiner Brust beginnt, sich zu lösen.

»Sind Sie sich sicher?«

»Ja, ich habe es satt, ständig vor der Angst wegzulaufen. Man verpasst so viel im Leben, wenn man vor jeder Furcht flüchtet.« Meine Stimme ist fester, als ich es erwartet hätte.

Die Türen der nächsten Gondel öffnen sich und ich richte mich auf. Ich kriege das hin. Mir kann nichts passieren!

Ohne, dass die Gondel anhält, treten wir ein. Ich setze mich sofort in die Mitte, möglichst weit weg von den gläsernen Wänden. Die anderen Leute, die hinter uns standen, starren mich an, manche mitleidig, andere abschätzig.

»Ich bin für Sie da.« Ich habe das Gefühl, dass es das erste Mal ist, dass ich ihn richtig ansehe. Seine grünen Augen strahlen eine unglaubliche Wärme aus. Wie macht er das nur? Wie hat er es in nur drei Stunden geschafft, dass ich mich wohl in London fühle? Er sitzt neben mir und lächelt mich an, mehr braucht es nicht. Er ist für mich da, das waren seine Worte. Wenn ich nur wüsste, ob sie wahr sind. Seine raue Stimme klingt immer noch in meinen Ohren nach.

»Ich bin mir sicher, dass Sie die Aussicht lieben werden. Sehen Sie, es geht hoch.« Ich schlucke. Muss er das so deutlich sagen?

Mit relativ sanften Bewegungen treibt uns das Riesenrad im gemächlichen Tempo nach oben. Das metallene Gerüst um uns herum gibt die zierlichen Schwingungen und Vibrationen, die der Wind außen verursacht, weiter. »Möchten Sie aufstehen …? Ich bleibe bei Ihnen, versprochen.«

Oh Gott, wenn er mir noch weitere Versprechungen macht, hat er mich bald.

»Kommen Sie, Sie wollten sich doch ihrer Angst stellen.« Wieso kann er das nicht mir überlassen? Seine Hand schiebt sich um meine Hüfte und zieht mich vorsichtig nach oben. Warum um alles in der Welt tue ich mir das an? Warum tut er mir das an? Er führt mich vor zur Panoramafront. Ich zittere und schaffe es kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mein Herz beginnt einen rhythmischen Tango hinzulegen, als er fester zugreift und mich für einen Moment vergessen lässt, dass er mein Boss ist.

Ich schließe meine Augen und lasse mich von ihm leiten. Als ich die Lider wieder öffne, spüre ich das kalte Metall der weißen Stahlrahmen an meinen Händen. Das Schlagtempo meines Herzens macht einen heftigen Sprung nach oben.

»Langsam ein- und ausatmen«, flüstert er in mein Ohr und der Duft seines Parfums, irgendein sportliches, dringt in meine Nase. Seine linke Hand umschließt meine und die Rechte umfasst meine Taille. Nicht schwach werden, Linda! Ob er meinen rasenden Puls spürt?

Vor uns erstreckt sich die Skyline Londons. Ich kann sogar die Tower Bridge sehen. Die Zugteile sind geöffnet und ein kleiner Kutter passiert die Schleuse.

Harveys Griff lockert sich. Spürt er, dass ich mich langsam entspanne?

»Wussten Sie, dass in den beiden Türmen früher im oberen Stockwerk Galerien angelegt waren und die Fußgänger so auch bei geöffneter Zugbrücke die Themse durch den oberen Brückenpfad überqueren konnten?«

»Nein«, hauche ich und betrachte die obere Brückenleiste. Die Brücke muss abends, wenn sie von den vielen Laternen der Stadt beschienen wird und der Mond sich im Wasser spiegelt, wunderschön aussehen.

Mein Puls beruhigt sich. Eben hat mein Herz noch heftig gegen den Brustkorb geschlagen, jetzt pocht es ruhig vor sich hin.

Harvey löst sich gemächlich von meinem Rücken. »Kommen Sie, bei dem guten Wetter heute können wir von der anderen Seite aus mindestens bis zum Windsor Castle sehen.« Seine Finger verhaken sich mit meinen, ohne dass ich groß Einfluss darauf nehmen kann. Sonder einer weiteren Vorwarnung zieht er mich von meinem schützenden Fixpunkt weg auf die andere Seite der Gondel.

Ich spreize die Finger meiner anderen Hand und lege sie flach auf die Scheibe. Das kühle Glas und die kalte Luft aus der Klimaanlage beruhigen mich. Er lässt meine Hand los und zeigt in die Ferne. Ich halte mich an einer der seitlichen Streben fest und folge seinem Blick.

Die hohen Mauern von Schloss Windsor ragen weit entfernt vor uns auf. Es muss wunderschön dort sein.

Mit der Spitze seines Zeigefingers berührt er meinen Hals und streicht mir ein paar Strähnen meines langen braunen Haares von meiner Schulter. Ein Schauer läuft über meinen Rücken. Ich schüttle mich und drehe mich um. »Bitte lassen Sie das«, sage ich ernst und drücke meine Schultern nach hinten. Wieso macht er das? Habe ich ihm unbemerkt Avancen gemacht?

»Entschuldigen Sie. Ich dachte nur -« Er bricht den Satz ab und schüttelt den Kopf.

»Tut mir Leid«, sage ich, auch wenn ich keine Ahnung habe, wofür ich mich überhaupt entschuldigen soll.

Ich senke meinen Blick und schaue auf das aufbrausende Wasser. Bitte nicht schon wieder! Das Baguette von eben drängt sich den Weg durch meine Speiseröhre hoch und ich muss mir die Hand vor den Mund halten, um den Würgereiz zu unterdrücken. Unter meinem Brustkorb beginnt es heftig zu rumoren. Meine Hände zittern, die Haare auf meinen Armen stellen sich auf. Bitte nicht! Alles beginnt sich zu drehen. Ich lasse meinen Kopf gegen die Scheibe sinken und schließe meine Augen. Die Gondel gleitet abwärts, das spüre ich auch, ohne dass ich hinsehe. Gleich sind wir wieder unten. Dieses Mal hält er mich nicht fest. Ich spüre seinen Blick auf meinen Rücken. Er steht direkt hinter mir. Ich versuche, mich auf seinen Atem zu konzentrieren. Jetzt nur nicht durchdrehen. Es ist gleich geschafft. Mein Herz schlägt immer schneller. Ich kenne dieses Gefühl. Nicht mehr lange und ich kann mich nicht mehr halten. »Tun Sie es«, presse ich hervor. »Halten Sie mich, bitte.«

Warme Hände legen sich um mich und ich spüre seine sanfte Haut auf meinen Handrücken. Ich meine, ein leises, fast schon schadenfrohes Glucksen von ihm zu vernehmen. Vielleicht irre ich mich auch.

Ich drehe mich um und bette meine Stirn an seiner Brust. »Ich habe meinen Mut wohl doch etwas überschätzt«, hauche ich und atmete seinen herrlich männlichen Duft mit tiefen Atemzügen ein. Die sanften Bartstoppeln an seinem Kinn kitzeln meine Stirn, als sich sein Kinn an meinen Kopf schmiegt.

Er bugsiert mich zur Seite und setzt mich auf der Bank in der Gondelmitte ab. »Geht es von hier aus?«

»Ja, ich denke schon.«

Ich starre auf seine säuberlich geputzten Lederschuhe. Sie sind braun. Ich mag eigentlich kein braunes Leder, überhaupt kein Leder.

Die Gondel nähert sich dem Boden und die gläserne Tür öffnet sich. Harvey zieht mich hoch und ohne einen Blick zurück in die Gondel, trete ich hinaus. Freiheit. Ich habe mich noch nie so frei und wohl auf dem Boden gefühlt. Ich kann gar nicht schnell genug über die schmale Rampe, die weg von den Gondeln führt, gehen.

»Hat es Ihnen wenigstens ein bisschen gefallen?«

»Sagen wir, ich brauche jetzt erst einmal einen richtig starken Kaffee, oder einen guten schwarzen Tee. Worauf hätten Sie mehr Lust?« Ich versuche zu lächeln, bin mir jedoch nicht sicher, ob es mir gelingt. Ich fühle mich, als würde ich aus einem Albtraum erwachen, der sich trotz der Monster gut angefühlt hat.

Harvey lacht. Die Laute dringen hell und schön zu mir durch.

»Nicht weit von hier gibt es einen Starbucks, mir wäre es bei dem warmen Wetter eher nach einem kühlen Frappuccino.« Seine Stimme reißt mich aus den Gedanken und ich versuche, nach vorne zu blicken.

 

Linda

»There's a reason why I will not work here. In London.«

Dieses verdammte Kleid, wo ist es nur? Seit zehn Minuten durchwühle ich meinen Koffer. Ich hätte mir längst die Zeit nehmen sollen, alles auszupacken. So wie es aktuell aussieht, wird Harvey mich nicht allzu schnell zurück nach Eastbourne lassen. Seit ich ein paar kleine Fehler – gut, es waren wirklich dumme Fehler, nach denen ich sogar an Daniels Fähigkeiten als Statiker und Bauzeichner gezweifelt habe – in den Plänen fürs neue Bürogebäude gefunden habe, schwärmt er schon die ganze Woche davon, wie froh er sei, dass wir nun zusammenarbeiten. Dafür umarmt er mich nicht mehr ständig, hat mich heute Abend jedoch zu sich zum Essen eingeladen. Angeblich ist es Tradition in der Firma, dass der Chef die neuen Mitarbeiter zu sich nach Hause einlädt. Delilah und Daniel kommen auch mit. Bisher habe ich, neben Harvey, nur mit ihnen zusammengearbeitet, deswegen bin ich froh, dass sie für heute zugesagt haben.

Irgendwo in den Tiefen meiner Tasche muss sich ein schickes, blaues Kleid verstecken. Unter einem grauen Pulli, den ich mir für morgen zur Seite lege, finde ich es schließlich. Es ist ein knielanges Sommerkleid mit blauen Blüten und das einzige Kleidungsstück in meinem Besitz, das sich wenigstens halbwegs für ein Dinner mit dem Chef und den Kollegen eignet.

Ich reibe mir die Schläfen. Die Nacht war wieder kurz. Die meiste Zeit lag ich wach und habe überlegt, wie ich morgen vorgehe. Bei Kinnings hatte ich tagsüber genug Zeit, stets alles für die Suche nach Sandra zu planen. Hier ist es anders. Harvey fordert mich mehr, als es mir lieb ist, sodass ich während der Arbeit kaum einen klaren Gedanken fassen kann. Dafür liege ich dann abends stundenlang wach.

Ich schnappe mir das Kleid und gehe ins Bad. In meinem Schädel dröhnt es. Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn ich mir noch eine Aspirin einschmeiße.

Ich ziehe mich aus und sinke erschöpft aufs Klo. Wieso tue ich mir das eigentlich alles an? Diesen Job, die Suche? Was ist, wenn ich sie finde und sie dann doch nicht als Spenderin in Frage kommt?

Denk gar nicht erst daran, Linda, rede ich mir ein und schüttle den Kopf. Sie wird es sein, sie muss es sein! Und selbst wenn nicht, wenigstens kann ich Papa dann noch ein letztes Mal glücklich machen, wenn er seine beiden Töchter zusammen sieht. Knapp dreißig Jahre, solange ist es her, dass er sie das letzte Mal in den Arm nehmen konnte. Ob sie sich noch an ihn erinnert?

Meine Finger umwickeln eine Haarsträhne und ich greife nach der Haarbürste, um meine Mähne zu zähmen. Meine Haare fühlen sich kraus und spröde an. Es wird Zeit, dass ich noch einmal zum Frisör gehe. Seit mein Vater krank ist, habe ich mir nichts Gutes mehr gegönnt. Aus dem Kulturbeutel unterm Waschbecken krame ich ein Gummi heraus und binde mir einen hohen Pferdeschwanz. Ja, ich glaube, das passt zu einem lockeren Abend. Ich hoffe zumindest, dass dieses Begrüßungsessen nicht allzu steif wird.

Pünktlich um neunzehn Uhr klingelt es und ich steige in den schwarzen Cab vor meiner Tür ein.

Zwanzig Minuten im abendlichen Londoner Gewühl später, stehe ich vor einer prunkvollen Stadtvilla im viktorianischen Stil. Das schwarze Eisentor öffnet sich automatisch, noch bevor ich den Türgriff packen kann. »Hexenhaus«, flüstere ich vor mich hin und betrete den gepflasterten Weg. Ich schreite den schmalen Pfad zwischen üppigen Rosenbüschen entlang und bleibe vor den gefliesten Stufen zwischen zwei Säulen vor der Eingangstür stehen. Harvey lehnt lässig, in einem schwarzen Shirt und Jeans gekleidet, am Türrahmen. So gefällt er mir am besten. Nach nur einer Woche im Büro kann ich einfach keine Anzüge mehr sehen. Wobei er auch dort nur selten einen trägt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er sich extra einen anzieht, wenn ein Termin ansteht. Kaum ist der Geschäftspartner weg, läuft er wieder relativ normal rum. Ich frage mich, was sein Vater sagen würde, wenn er ihn so in der Firma erleben würde. Bedenkt man, wie er manchmal von ihm spricht, scheint er ganz und gar kein lässiger Geselle zu sein.

»Sie sehen wundervoll aus.« Ein Lächeln umrahmt seine frisch rasierte Mundpartie.

Ich lege meinen Kopf schräg und schaue ihn mit dem schmeichelhaftesten Blick an, den ich draufhabe. Wie ein Gentleman reicht er mir seine Hand und führt mich durch den weitläufigen Flur, der durch einen prunkvollen goldenen Kronleuchter beschienen wird. Oma würde es hier sicherlich gut gefallen.

Er geleitet mich zum Ende des Korridors hin und nimmt mir meinen Mantel ab, dann bittet er mich in den Salon hinein.

»Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?«

»Wenn er nicht zu trocken ist.«

»Natürlich.«

Er entfernt sich und ich setze mich in einen roten Sessel im englischen Stil. Der ist vielleicht bequem. Mit übereinandergeschlagenen Beinen warte ich auf ihn. Offenbar bin ich die erste; hoffentlich kommen Delilah und Daniel bald. Es ist bereits kurz nach halb acht und ich werde langsam nervös.

Harvey kommt mit zwei Gläsern und einer Flasche aus Bordeaux zurück und schenkt uns jeweils ein Glas ein.

»Das Haus ist wunderschön«, bemerke ich und nippe an meinem Glas. Mensch Linda, fällt dir nichts Besseres ein? Wieso quatsche ich nicht gleich übers Wetter mit ihm?

Mein Blick gleitet zum Boden und er setzt sich mir gegenüber hin. »Nicht wahr? Tatsächlich bin ich in diesem Haus selbst aufgewachsen. Im Obergeschoss ist immer noch mein Jugendzimmer, so wie ich es vor dem Studium verlassen hatte.«

Sein Jugendzimmer? »Nein, wirklich?« Ich muss schmunzeln. Zu gerne würde ich sehen, wie er als Teenager hier in dieser riesigen Villa gelebt hat.

»Ja, ich würde Sie doch nicht anlügen. Was denken Sie bitte von mir?«

Gute Frage. Ich weiß immer noch nicht so ganz, was ich von ihm halten soll. Mal ist er sehr zuvorkommend, dann schmachtet er mich unerwartet an und dann ist er wieder total hektisch und gestresst.

»Wann kommen die anderen?«, frage ich, um seiner Frage zu entgehen.

Er sieht auf seine Uhr. »Sie müssten schon hier sein. Das ist ungewöhnlich. Delilah verspätet sich nie.«

»Und Daniel?«

Ein schiefes Grinsen tritt auf sein Gesicht. »Sie haben ihn ja kennengelernt. Er hält es nicht so mit der Sorgfalt.«

Ich muss an den fehlerhaften Bauplan denken. In Daniels Kopf scheint ein großes Chaos zu herrschen.

»Ja, das stimmt wohl. Wohnen Sie hier alleine?«

»Ja, auch wenn es oft etwas einsam ist.«

Ich schaue ihn stirnrunzelnd an. »Was ist mit Ihren Eltern, wenn ich fragen darf? Ich hätte erwartet, dass es ihr Haus ist, wenn Sie hier aufwuchsen.«

»Gewissermaßen ist es das auch, doch ich möchte Sie nicht mit meiner Familiengeschichte langweilen.«

»Sie langweilen mich doch nicht«, sage ich mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich finde es spannend, mal nicht über die Arbeit mit ihm zu reden.

Seine Augen strahlen mich an. »Ich liebe Ihre aufrichtige Art.« Und ich ihre, huscht es mir durch den Kopf.

Er schaut erneut auf die Uhr. »Entschuldigen Sie, ich hole kurz mein Handy. Vielleicht stecken die beiden im Stau. Sie haben es ja doch etwas weiter als Sie.« Er dreht sich um und geht raus in den Flur. Als er wiederkommt, sieht er mich mit faltiger Stirn an. »Tut mir leid, sieht so aus, als müssten Sie es heute mit mir alleine aushalten. Delilah hat mir auf die Mailbox gesprochen, dass sie ihren Eltern bei irgendetwas helfen muss und Daniel hat nur geschrieben, dass er doch nicht kann, ich Sie aber herzlich grüßen soll.«

Na super. Ich verstehe nicht, wieso ihnen das erst jetzt einfällt. Den ganzen Tag habe ich mit den beiden gemeinsam in Daniels Büro gesessen und sie haben nichts dergleichen erwähnt. Im Gegenteil, Delilah hat sich sogar noch mit einem »bis heute Abend« bei mir verabschiedet.

Stirnrunzelnd beobachte ich Harvey, wie er hastig etwas auf seinem Handy eintippt, ehe er es in einer Schublade verschwinden lässt. Haben Sie wirklich abgesagt oder hatte er doch seine Finger im Spiel? Eigentlich kann ich mir das kaum vorstellen. Wenn er mit mir ausgehen möchte, kann er mich doch einfach fragen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich »Ja« sagen würde. Schließlich bin ich nicht hier, um einen Mann fürs Leben zu finden, sondern einzig und allein, um meinen Vater zu retten.

»Kommen Sie, ich habe extra für uns gekocht. Und bitte sagen Sie mir, dass es Ihnen schmeckt. Jetzt, wo die beiden nicht kommen, ist nämlich viel zu viel da und ich habe nicht vor, mich die nächsten zwei Wochen noch davon ernähren zu müssen.«

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen und folge ihm vorbei an Miros Prades, the Village, das am Eingang zum modern eingerichteten Esszimmer hängt und bleibe vor einer reichlich gedeckten Tafel stehen. Er hat definitiv für mehr als zwei Personen gekocht, also war es wohl doch nur Zufall, dass meine Kollegen nicht kommen können.

Harvey zieht mir einen Stuhl vor. Feine Sorgenfalten und winzige Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Er muss noch nervöser als ich sein. Hat er wirklich Angst, dass es mir nicht schmeckt, oder ist er so aufgeregt, weil wir doch nur zu zweit sind? Es ist immerhin nicht das erste Mal, dass wir alleine sind.

Er räumt das freie Geschirr zur Seite und setzt sich mir gegenüber hin. »Darf ich Ihnen von der Tomatensuppe auftun?«

»Ich bitte darum.« Keine Ahnung, woher diese übertriebene Höflichkeit plötzlich kommt. Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht laut loszuprusten. Hier, unter dem riesigen, tiefhängenden Kronleuchter, komme ich mir vor wie Kate und vor mir sitzt William. Oder bin ich doch Lady Di und er ist Charles? Besser nicht.

Ein peinliches Schweigen legt sich über den Tisch. Nach der Vorspeise serviert er uns Putenbraten und zum Nachtisch ein kleines Törtchen, bei dem ich mir sicher bin, dass er es nicht selbst gebacken, sondern gekauft hat.

»Haben Sie sich inzwischen an die Stadt gewöhnt?«

»Kann man sich überhaupt an London gewöhnen? Es gefällt mir wirklich gut, aber ungewohnt bleibt es allemal. Das war jedoch auch schon in Eastbourne so.«

»Geben Sie mir Bescheid, wenn ich Ihnen bei der Eingewöhnung helfen kann.«

Ich muss schmunzeln. Bei dem Wort ›Eingewöhnung‹ muss ich gleich an ein Krippenkind denken.

»Vermissen Sie Deutschland sehr?«, fragt er plötzlich und ich hebe meinen Kopf.

»Ich vermisse das deutsche Frühstück: eine gesunde Scheibe Schwarzbrot mit etwas Käse und frischen Tomaten. Hier isst man bereits morgens so deftig. Es ist mir ein Rätsel, wie es die Engländer bei diesen Essgewohnheiten schaffen, so schlank zu bleiben.«

»Schwarzbrot … Ich weiß gar nicht, ob es so etwas hier zu kaufen gibt. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen jedoch eine Packung bestellen.«

»Bestellen – für mich?« Beinahe verschlucke ich mich an einem Krumen des Törtchens. »Nein, das ist wirklich nicht nötig. Wenn mich der Heißhunger danach überkommen sollte, dann gebe ich einfach meiner Mutter Bescheid, dass ich dringend ein Carepaket aus Deutschland benötige.«

»Na gut, aber das Angebot steht.« Wieder einmal bin ich mir nicht sicher, ob er gerade versucht, mit mir zu flirten. Mein Gott Linda, er ist dein Chef! Bestimmt will er einfach nur freundlich sein. Chris war damals ganz genauso, als ich neu auf der Baustelle war. Zwei Wochen später hat er mich dann zu sich und seiner Verlobten eingeladen. Manchmal glaube ich, dass ich einfach viel zu schnell viel zu viel über solche Dinge nachdenke, anstatt mich aufs Wesentliche zu konzentrieren.

Als wir fertig sind, ist nicht mehr viel vom Essen übrig. »Sie haben Glück, die Reste reichen nur noch für morgen.«

»Ja, Gott sei Dank.« Er lacht mich an. Ich werde dieses warme, herzliche Lachen vermissen, wenn ich erst wieder zurück in Deutschland bin.

»Und jetzt?«

Ich schaue auf die Uhr, es ist gerade einmal kurz nach acht. Ich fühle mich so voll, als würde ich jeden Moment platzen. In jedem Fall bin ich noch nicht bereit, hinaus in die abendliche Kälte zu treten und nach Hause zu fahren. Erst muss das Essen sacken.

»Was und jetzt«, frage ich schließlich.

»Wollen Sie es sehen?«

»Was denn sehen?« Ich habe wirklich absolut keine Ahnung, wovon er spricht.

Er grinst. »Mein Jugendzimmer. Sie haben mich vorhin so angesehen, als ich es erwähnt habe.«

Ich beiße mir auf die Lippen und kann mir das Lachen nicht verkneifen.

»So neugierig …?«, fragt er und greift meine Hand.

»Sie müssen das nicht tun. Ich fühle mich unwohl dabei, so tief in Ihre Privatsphäre einzudringen.«

»Aber nein, das wird lustig. Dann können Sie mir von Ihrer Jugend erzählen.«

Ich schlucke. »Na gut.«

Er zieht mich die Treppe hoch in den ersten Stock und bleibt vor einer weißen, mit Stuck verzierten Tür stehen. »Sie müssen mir versprechen, dass sie nicht lachen werden.«

Ich presse meine Lippen aufeinander und ziehe sie wie einen Reißverschluss mit meinen Fingern zu.

Harvey wirft mir ein Lächeln entgegen und öffnet die Tür.

Mein Mund formt ein O, während ich auf die mit Postern zugekleisterten Wände starre. Wow! »Sie waren ein richtiger Rebell als Teenager, oder?« Ich bin wieder in meinem vierzehnjährigen Ich. Vor mir thront Kurt Cobain. Daneben sitzt Daff McKagan an seinem Schlagzeug. Nebenan ein Bild von Marilyn Manson. Die anderen auf den Postern kenne ich nicht.

»Sagen wir …, mein Vater hat dieses Zimmer gehasst.«

»Wieso hat er es nicht leergeräumt, als Sie ausgezogen sind?« Ich schaue ihn lachend von der Seite an.

Er antwortet, ohne seinen nachdenklichen Blick von der Wand zu nehmen. »Mein Vater hasste nicht nur dieses Zimmer. Er hasste das ganze Haus.« Sein Blick wird trüb und seine Stimme leiser, brüchiger. »Meine Mutter starb, als ich zehn war, an Krebs. Danach wurde Vater zum herrischen Tyrannen, der alles verabscheute, was nicht nach seinen Regeln lief. Meine Mutter ist in meinem Zimmer gestorben, wissen Sie. Sie ist in einem Schaukelstuhl an meinem Bett eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Er hat dieses Zimmer nie wieder betreten, während es mein einziger Rückzugsort vor seinen Wuteskapaden wurde. Als ich mit achtzehn auszog, wollte er das Haus verkaufen. Ich konnte es zum Glück verhindern. Ich habe meine ganze Kindheit hier verbracht und viele schöne Stunden erlebt, als meine Mutter noch lebte. Dieses Haus ist alles, was ich noch von ihr besitze. Als lebe ihre Seele in ihm weiter.« Er dreht sich zu mir um und ich sehe, wie er die Tränen in seinen Augen zu unterdrücken versucht. Er schluckt deutlich. »Sie müssen wissen, meine Mutter war Erbin einer Tuchfabrik, die sie mir wiederum vererbt hat. Ich verkaufte meinen Anteil an der Fabrik und übergab das Geld meinem Vater im Tausch gegen das Haus. Vater war sowieso immer nur am Geld interessiert und daran, aus mir einen perfekten Sohn zu machen, der nicht widerspricht und irgendwann in seine Fußstapfen tritt.«

Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll. Wo führt das gerade hin? Ich greife seine Hand und drücke sie. Sie ist kalt und verschwitzt, aber das ist egal. »Wo lebt Ihr Vater heute?«

»Ich habe ihn Anfang des Jahres in ein Heim gebracht. Er hat sein ganzes Leben lang nur für die Baufirma geschuftet und im Zuge dessen vergessen, zu leben und sich an die Herzlichkeit, die einst in unserer Familie herrschte, zu erinnern. Er hat Alzheimer bekommen. Nur wenn ich mit ihm über die Arbeit spreche, scheint er noch bei klarem Verstand zu sein. Ich bin sozusagen in seine Position getreten und habe ehrlich gesagt ein wenig Angst, so wie er zu werden. Immer allen alles recht machen zu müssen, keine Fehler verzeihen zu können. Ich wurde mein ganzes Leben lang nur bewertet, er hat mich nie als Sohn betrachtet, immer nur als Arbeitstier, das funktionieren musste. Ich hoffe, ich werde Sie oder Delilah nie so behandeln.«

Seine Stimme klingt brüchig, als er spricht. Zum Schluss senkt er den Kopf und sieht mich mit nachdenklichem Ausdruck an.

Ich versuche zu lächeln, doch es gelingt mir nicht. Stattdessen ringe ich um meine Fassung. »Wieso erzählen Sie mir das alles?«, flüstere ich und merke, dass meine Augen feucht werden. Ich presse meine Lippen fest aufeinander und versuche, an etwas anderes zu denken, um nicht vor ihm loszuweinen. Es tut mir so unendlich leid für ihn, ich hätte vermutlich nicht anders gehandelt als er und auch für dieses Haus gekämpft. Ich merke gerade mehr denn je, wie verbunden ich mich meinem Vater fühle.

»Ich weiß es nicht«, antwortet er und holt mich zurück in das kleine Zimmer. »Ich glaube, sie sollten das einfach wissen, wenn wir so intensiv zusammenarbeiten.«

Ich nicke. »Welchen Krebs hatte ihre Mutter?« Ich muss es einfach erfahren. Teilen wir uns womöglich das gleiche Schicksal?

»Blutkrebs.«

Ich schlucke. »Darf ich Ihnen etwas anvertrauen?«

»Natürlich.«

»Können wir uns setzen?«

Er nickt und weist auf das Bett vor uns.

Ich lasse mich auf die Star Wars Decke fallen. Sie riecht wie frisch gewaschsen. Obwohl er das Zimmer nicht mehr zu nutzen scheint, wirkt es sehr sauber, überhaupt nicht so, als stünde es seit Jahren leer. Der Geruch erinnert mich an zu Hause. Meine Augen schließen sich und ich beschließe, ihm alles zu erklären. Ihm zu gestehen, wieso ich wirklich hier bin und lieber in Eastbourne geblieben wäre. »Es gibt einen Grund, wieso ich nicht hier arbeiten will. In London.«

»Es ist wohl nicht die fehlende Sonne?« Ich schlage die Augen auf. Er sieht noch bedrückter aus als eben.

»Nein … Nein, die ist es nicht. Auch wenn ich sie nach dem schlechten Wetter der letzten zwei Tage schon wieder vermisse.«

Er nickt. Gut, dann mal los.

»Ich bin auf der Suche nach jemandem.«

»Einem Verflossenen?«, unterbricht er mich und ich sehe ihn ernst an. »Tschuldigung«, murmelt er und faltet seine Hände im Schoß.

»Nein, ich suche meine Schwester. Mein Vater hat die gleiche Krankheit, die Ihre Mutter hatte. Sandra, meine Schwester, zog vor knapp dreißig Jahren mit ihrer Mutter nach Eastbourne und ich hoffe, sie dort zu finden. Vielleicht kommt sie als Stammzellspenderin in Frage. Verstehen Sie jetzt, wieso ich so sauer war, dass sie mich hierher versetzt haben? Ich werde morgen zurück nach Eastbourne fahren, um übers Wochenende nach ihr zu suchen.«

So, jetzt ist es raus. Harveys Augen ruhen auf mir, er wirkt unruhig. »Erzähl mir mehr«, sagt er nach einer Weile. »Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen.« Verschwunden ist die höfliche Distanz zwischen uns.

Er legt einen Arm um meine Schulter und zieht mich zu sich. Ich bette meinen Kopf an seinem Brustkorb, schließe die Augen und beginne zu erzählen ...

 

Linda

A tear runs from Dad's eyes. This is the first time in my life that I see him crying. He nods without looking at me. His lips tremble and he presses them tightly against each other.

 

Vor vier Monaten …

»Schatz, kannst du dich heute Abend um Papa kümmern? Ich will nach der Arbeit mal hoch auf den Dachboden, die ganzen Papiere für die Versicherung und so zusammensuchen.«

»Ach Mama, das kann ich doch nachher machen, wenn Papa schläft. Ich habe eh nichts zu tun.« Meine Mutter schenkt mir ein aufrichtiges Lächeln; ein seltener Moment, seit bei meinem Vater eine akute myeloische Leukämie festgestellt wurde.

Sie streift mir mit der Oberseite ihrer Finger über die Wangen. »Danke Schatz. Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du uns so unterstützt. Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist. Jetzt, wo du dein Diplom hast, könntest du auch arbeiten.«

Ich nehme meine Mutter in den Arm. Ich kenne sie, sobald sie melancholisch wird, fließen bei ihr die Tränen. »Mama, natürlich bin ich für dich und Papa da. Ihr habt euch fünfundzwanzig Jahre lang um mich gesorgt, da ist das selbstverständlich. Welche Unterlagen brauchst du denn?«

Mama wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht genau. Franz meinte, alles was wir von der Krankenversicherung haben. Und die Unterlagen zur Lebensversicherung. Unsere Heiratsurkunde, seine Geburtsurkunde, Rentenversicherung. Ach, einfach alles.« Sie lässt sich auf den Küchenstuhl fallen und vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Es ist einfach unfair. Mein Vater ist gerade mal fünfundfünfzig und soll sterben. Er hat noch nicht mal Enkelkinder. Krebs ist einfach ein Arschloch.

Ich beuge mich von hinten über Mama und lege meine Arme um ihre Schultern. »Ich finde schon alles. Mach dir nicht so viele Gedanken, wir schaffen das schon. Und Papa ist stark, das weißt du.« Ich schaue durch die geöffnete Küchentür ins Wohnzimmer, wo Papa auf der Couch liegt und fernsieht. Bayern spielt gerade gegen Dortmund. Früher wäre er zum Spiel gefahren und hätte es sich live angesehen. »Vielleicht haben wir ja doch noch Glück und es findet sich ein Spender. Kristas Sohn hatte doch auch Blutkrebs, und der hat einen Spender gefunden.«

»Ach Schatz, du weißt genau, wie unwahrscheinlich das ist. Wenn du wenigstens in Frage gekommen wärst.«

Ich seufze. Mama hat recht. Innerhalb der Familie liegt die Wahrscheinlichkeit, einen genetischen Zwilling zu haben, immerhin bei fünfundzwanzig Prozent. Ich gehöre leider zu den restlichen fünfundsiebzig. Außerhalb steht es für Papa eins zu einer Million.

Ich schaue auf die Uhr, die über der Tür hängt. »Du musst los. Ich suche dir alles raus, was ich finde.«

Mama sieht auf und streicht sich ihre tränennassen Haare aus dem Gesicht. »Bis nachher, Schatz. Pass mir gut auf Papa auf. Um drei kommt der Pflegedienst und schaut nach ihm. Vielleicht kannst du auch mal eine kurze Runde mit ihm raus in den Erikapark gehen. Danke für alles.« Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn und geht zu Papa ins Wohnzimmer.

Ich weiß nicht, was sie dort besprechen. Ich stelle den Wasserkocher an und setze mich hin. Ein paar Minuten später höre ich, wie die Haustüre zugeht. Jetzt, wo uns Papas Einkommen fehlt, hat Mama eine zweite Stelle angenommen und ich bin zurück nach Hause gezogen, um für Papa zu sorgen, solange sie arbeitet. Eigentlich wollte ich nach dem Studium die Welt bereisen und habe mir jeden Monat brav einen Teil meines Studiengeldes dafür zurückgelegt. Daraus wird nun nichts mehr. Jetzt sitze ich hier auf heißen Kohlen, koche für Papa und muss vom Staat leben. Eigentlich sollte ich dankbar sein für die Zeit, die ich noch mit ihm habe.

Ich gieße das Wasser über die Teebeutel in die Tassen und gehe ins Wohnzimmer. »Hier, schwarzer Tee für dich und Früchtetee für mich. Wie steht’s?«

»Drei zu null für die Bayern.« Papa rümpft die Nase. Gut, dass ihn keiner der Nachbarn jetzt sehen kann. Als Dortmund-Fan in Bayern zu leben kann lebensgefährlich sein.

Ich ziehe die Wolldecke von der Sofalehne runter und kuschele mich zu ihm auf die Couch. Er legt seinen Arm um mich und ich lausche den rhythmischen Schlägen seines Herzens. Hoffentlich höre ich es noch lange. Als das Spiel zu Ende ist, kommt von Papa nur noch ein leises Schnarchen. Er ist eingeschlafen, das wäre früher nie passiert.

Ich stehe auf und decke ihn zu. Seinen Tee hat er nicht angerührt. Die Tassen bringe ich zurück in die Küche und stelle seine in die Mikrowelle. Wenn er aufwacht, mache ich sie ihm noch einmal warm.

Jetzt heißt es ran an die Unterlagen. Ich schließe leise die Tür zum Wohnzimmer und hole die Leiter aus dem Schlafzimmer, um die knarzende Klappe zum Dachboden zu öffnen. Kaum habe ich die Lade ein Stück geöffnet, muss ich schnell sein und von der Trittleiter springen, ehe die Klappe komplett aufgeht und die Bodenleiter unter ächzenden Geräuschen runter rattert. Durch die Glasscheibe an der Tür luge ich ins Wohnzimmer. Papa liegt immer noch ruhig auf dem Sofa. Ich klettere die Leiter hoch und taste an ihrem Ende nach dem Lichtschalter. Als ich das letzte Mal hier oben war, war ich keine zehn Jahre alt. Papa hat mit mir nach alten Fotos von Opa und Oma gesucht, die früher hier wohnten, bevor Opa starb und Oma ins Heim kam.

Ich muss husten, meine Knie wirbeln einen Haufen Staub auf. Wie lange hat hier niemand mehr sauber gemacht? Die Wintersonne scheint mir durch das Dachfenster ins Gesicht und die kleinen Staubkörnchen tanzen in ihrem Lichtstrahl. Endlich sehe ich den Lichtschalter hinter der Luke klaffen und schalte ihn ein.

Was hab ich mir da nur angetan? Hier war lange keiner mehr, sehr lange. Dicke Staubschichten auf dem Boden und den verdeckten Möbeln liegen vor mir und Spinnweben verzieren die Ecken. Wo soll ich anfangen? Ich trete unter die nackte Glühbirne und sehe mich um. Das Dach ist gerade so hoch, dass ich aufrecht stehen kann.

Die Fotos waren damals in einer kleinen Kommode unterm Fenster, vielleicht finde ich dort auch die Versicherungsordner. Ich ziehe das Laken, das Mama irgendwann einmal über sie geschmissen hat, ab und öffne die drei oberen, breiten Schubladen. Nichts, nur ein Haufen Fotos, so wie damals. Das Schrankfach darunter ist leer. Unter dem nächsten Laken steht ein Kleiderschrank. Außer ein paar alten Pelzmänteln, die heute niemand mehr tragen würde, ist auch dieser leer.

Genervt atme ich aus. Mann, ist das hier stickig. Ich öffne, sicherlich zum ersten Mal in den letzten Jahren, das Fenster. Kalte Luft schlägt mir entgegen. Tut das gut.

Der Wind lässt etwas hinter mir rascheln. Auf dem Boden liegt ein einzelnes Blatt Papier. Es ist ein Bild. Unten, in der Ecke, steht mein Name drauf. Ich habe es 1995 gemalt. Ich bin mir sicher, dass es unser Haus zeigen soll. Darüber steht fur papa. Ich falte es und stecke es in meine Gesäßtasche. Wenn Papa wach ist, zeige ich es ihm.

Vor einem weiteren Schränkchen knie ich mich hin und ziehe die Decke, die dieses bedeckt, runter. Tschakka. Ich sitze einem Stapel Ordner gegenüber. Jetzt heißt es suchen. Einen Ordner nach dem anderen ziehe ich heraus und blättere ihn durch. Die meisten enthalten Rechnungen fürs Haus. Zwischendrin liegt auch mal etwas Brauchbares. Meine Eltern sind ganz schöne Chaoten, wenn es um Unterlagen geht. Langsam frage ich mich, ob Mama nicht vielleicht sogar darauf spekuliert hat, dass ich die Suche hier oben für sie übernehme. Die beiden haben offenbar überhaupt kein System.

Ich kralle mir den nächsten Ordner, ein dicker Blauer, 1979 bis `84 steht drauf. Wieder Rechnungen, offenbar hat Papa 1980 einen blauen Passat für 6000 DM gekauft. Ich meine, sogar mal irgendwo ein Foto von ihm gesehen zu haben.

Was ist das? Bescheid über Kindesunterhaltsforderungen für Sandra Bergmann. »Wer ist Sandra Bergmann?«, flüstere ich in den leeren Raum hinein.

Von unten ertönt die Klingel. »Moment«, rufe ich. »Ich geh schon, Papa, bleib liegen«, füge ich sicherheitshalber hinzu, löse den Zettel aus den Unterlagen und stecke ihn ein.

Ich steige die Leiter hinab und öffne dem Pflegedienst. »Mein Vater ist im Wohnzimmer, warten Sie bitte kurz, ich schaue, ob er schon wach ist.«

Die beiden Männer lasse ich kurz im Flur stehen und sehe nach Papa, der immer noch eingekuschelt in der Decke auf dem Sofa liegt. Seine Augen sind geöffnet. »Hast du gut geschlafen?«

»Ging schon. Haben wir bereits drei Uhr?«

»Ja, die beiden stehen vor der Tür. Soll ich sie zu dir lassen?«

»Muss wohl«, brummt Papa und ich helfe ihm, sich aufzusetzen, falte die Decke zusammen und lege sie zurück auf die Lehne. »Rufst du mich, wenn du etwas brauchst? Ich bin oben auf dem Speicher und muss ein paar Sachen zusammensuchen.«

»Geh ruhig, ich komme schon alleine mit den Burschen klar.«

Ich gebe Papa einen flüchtigen Kuss auf die dicken Wangen und gehe aus dem Zimmer.

»Sie können jetzt zu ihm. Er hat heute noch nicht viel gegessen; vielleicht können Sie ihm noch einmal sagen, wie wichtig das ist. Und er braucht etwas Neues gegen die Schmerzen. Die Ibu helfen ihm nicht wirklich. Wenn Sie gehen, möchte ich mit ihm eine Runde spazieren gehen. Heute ist ja so schönes Wetter. Wenn es Ihnen keine Umstände bereitet, würden Sie mir einen großen Gefallen tun, wenn sie ihn nachher in den Rollstuhl heben.«

»Werden wir, Frau Baumgärtner. Machen Sie sich nicht so viele Gedanken.«

»Das ist so leicht gesagt. Wenn etwas ist, dann rufen Sie einfach nach mir. Ich bin oben auf dem Dachboden.« Ich zeige nach oben und einer der Pfleger nickt mir zu. Während ich die Leiter raufklettere, gehen sie zu Papa ins Wohnzimmer.

Auf dem Boden knie ich mich wieder vor den Schrank und suche nach weiteren Infos zu dieser Sandra Bergmann, finde jedoch nichts. Dafür entdecke ich ein paar der Unterlagen, die Mama braucht. Als ich alle Ordner durchforstet habe, bedecke ich den Schrank wieder mit dem Laken, klopfe meine staubige Hose ab und gehe nach unten.

Der Pflegedienst sitzt bei Papa und unterhält sich mit ihm. Psychologische Seelsorge für Krebspatienten und deren Angehörige nennt sich das Programm.

Ich lege die gesammelten Unterlagen in die Küche und hole Papas Rollstuhl aus dem Schlafzimmer. »Wollen wir spazieren gehen? Die Sonne scheint.«

»Warum nicht«, brummt Papa. Man merkt, dass er seine Lebenslust mit jedem Tag, den er schwächer wird, verliert.

Einer der Männer, ich glaube, er heißt Lehmann, nimmt mir den Rollstuhl ab und schiebt ihn vor die Couch. Dann ziehen sie Papa warm an und heben ihn zusammen rein. Draußen helfen sie mir auch noch einmal, ihn die Rampe runter zu schieben. Unsere Eingangstür ist im ersten Stock des Hauses und ich schaffe es kaum, den Rollstuhl auf der steilen Rampe alleine zu halten. Wenn Papa den Krebs besiegt, wollen wir eine neue Rampe bauen, damit er alleine raus kann, bis er wieder fit ist. Dafür muss jedoch erst mal die Chemo anschlagen, oder er braucht endlich einen Stammzellspender.

Draußen schlägt mir ein kalter Wind um die Nase und ich hoffe, dass Papa nicht friert. Ich kenne ihn. Er würde es nicht sagen und es einfach aushalten. Er will uns nicht mehr zur Last fallen als unbedingt nötig.

Wir verabschieden uns von den Pflegern und ich schiebe ihn Richtung Park. Der Erikapark ist nur zwei- bis dreihundert Meter von unserem Haus entfernt. Als Kind habe ich oft dort gespielt. Ich schiebe Papa vorbei am Spielplatz und ziehe die Zeichnung, die ich auf dem Dachboden gefunden habe, aus meiner Tasche und zeige sie ihm.

Er lacht.

Ich habe ihn lange nicht mehr richtig lachen gesehen und mir kommen die Tränen vor Freude. Ich wische sie hastig weg, damit er sie nicht sieht.

»Wo hast du das denn her?«, fragt er und ich schiebe ihn zu einer freien Bank und setze mich vor ihn.

»Die habe ich auf dem Dachboden gefunden.« Ich strahle ihn an. Ich kann gar nicht anders, als mich mit ihm zu freuen.

Krähenfüßchen zieren seine faltigen Augenpartien und er lächelt. »Das hast du damals bei Oma und Opa gemalt«, erklärt er. »Schau, da ist sogar Siggi noch mit drauf.« Er zeigt auf die rechte Ecke und ich lache laut auf. Siggi war unser Kater. Auf dem Bild sieht er eher wie Micky Maus aus.

»Da war noch etwas, auf dem Boden«, sage ich und werde ernster. Papa runzelt fragend die Stirn. Ob er bereits ahnt, wovon ich spreche? »Weißt du, wer Sandra Bergmann ist?«

Alle Farbe weicht aus Papas sowieso schon blassem Gesicht. »Woher – wie?«, stammelt er und ich greife nach seiner Hand. Sie liegt kalt und zitternd in meiner.

Ich stehe auf und er sieht mich mit traurigen Augen an. Ich ziehe den Brief vom Amt aus meiner Tasche und zeige ihn ihm. »Der ist von 1984 und an dich gerichtet. Hast du – ist diese Sandra deine Tochter?«

Eine Träne läuft aus Papas Augenwinkeln. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ihn weinen sehe. Er nickt, ohne mich anzusehen. Seine Lippen zittern und er presst sie fest aufeinander.

Ich beuge mich vor und schließe ihn in meine Arme. »Papa, was ist passiert?«, frage ich flüsternd.

Er schüttelt leicht den Kopf und ich ziehe ein Taschentuch aus meiner Jackentasche hervor, um ihm die Tränen weg zu tupfen.

»Ich weiß es nicht«, sagt er mit brüchiger Stimme.

Ich drücke ihn noch einmal und halte seine trockene Hand. »Weiß Mama von ihr?«

Wieder schüttelt er den Kopf. »Behalte es bitte für dich. Ich will die letzten Tage meines Lebens nicht streitend mit ihr verbringen.«

Ich beiße mir auf die Lippen. Mir fiel es schon immer schwer, etwas vor Mama geheim zu halten. »Ich glaube nicht, dass sie es dir übel nehmen wird. Da wart ihr doch noch gar nicht zusammen.«

Sein Blick ist flehend. »Bitte.«

»Na gut, ich behalte es für mich, wenn es dir so wichtig ist«, verspreche ich und schlage die Augenlider nieder. »Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«

Seine Hand liegt weiterhin in meiner, langsam legt sich sein Zittern. »Lange vor deiner Geburt, zu ihrem siebten Geburtstag. Das war kurz, bevor ich deine Mutter kennenlernte.«

»Siebenundachtzig?«

»Ja.« In dem Winter hatten sie sich zum ersten Mal getroffen.

»Also ist sie jetzt fünfunddreißig?« Zehn Jahre älter als ich.

Papa nickt.

»Wieso hast du keinen Kontakt mehr zu ihr?«

»Gute Frage, die kann dir wohl nur ihre Mutter beantworten. Ich habe Birgit mit neunzehn in einer Disco kennengelernt. Ein Jahr später war Sandra auf der Welt. Als sie vier war, sind wir unsere eigenen Wege gegangen. Das war damals nicht leicht für mich. Ich war ja mitten in der Ausbildung und hatte mein ganzes Erspartes für unseren Familienwagen ausgegeben, als Birgit hochschwanger war. Dass ich so pleite war und kaum Zeit für die beiden hatte, hatte ihr wohl nicht gepasst. Damals hatte ich ja noch einmal eine zweite Ausbildung zum Schlosser begonnen. Und versuch du mal, von einem Ausbildungsgehalt Frau und Kind zu ernähren. Jedenfalls haben wir uns vierundachtzig getrennt. Da war meine Maus gerade vier Jahre alt. Sie war genauso ein aufgewecktes Kind wie du.« Er muss lachen. Er hat sie sichtlich geliebt. »Ich habe sie dann eine Weile nur noch an den Wochenenden gesehen und dann immer seltener. Birgit hat irgendwann, da muss Sandra sechs gewesen sein, einen Bauingenieur aus England im Urlaub kennengelernt. Ich habe ihn einmal kurz auf Sandras siebtem Geburtstag gesehen. Wir sind ein bisschen aneinandergeraten. Er meinte vor Sandra, dass ich keinen Bock auf sie hätte und mich deswegen nicht um sie kümmern würde. So ein Quatsch. Ich habe Birgit fast jedes Wochenende angerufen und gefragt, ob ich sie holen darf. Angeblich hatte Sandra nie Lust oder war krank … hatte Besuch. Irgendetwas war immer. Ich hatte mich so gefreut, sie nach mehreren Monaten endlich wieder zu sehen und dann sollte es das letzte Mal gewesen sein. Ihre Mutter ist kurze Zeit später mit ihr nach England gezogen, um diesen Typen – diesen Ingenieur, zu heiraten. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich wusste ja auch gar nicht, wohin sie gezogen waren. Ich habe nur einmal Post von ihr bekommen, dass ich keinen Unterhalt mehr zahlen bräuchte. Zuhause habe ich noch ein Bild von ihr, wenn Mama morgen arbeiten ist, zeige ich es dir.«

Ich stütze nachdenklich mein Kinn auf meinem Handrücken ab. »Glaubst du, sie lebt noch dort?«

Papa zuckt mit den Schultern. »Sandra? Wahrscheinlich. Sie wird sich dort ein Leben aufgebaut haben.«

»Papa, wenn wir sie finden … Vielleicht kommt sie als Spenderin in Frage. Hast du den Brief noch von Birgit? Vielleicht steht da etwas Wichtiges drin, etwas, das dir damals entgangen ist.«

»Papperlapapp. Wie willst du sie finden, wenn sie in England lebt?«

»Ach Papa, lass das bitte meine Sorge sein. Also, hast du den Brief noch?«

»Ich habe alles noch. Irgendwo wird er sicherlich sein. Wir können ihn morgen suchen.«

Ich setze ein schwaches Lächeln auf. Er hat recht, es wird schwierig werden, sie zu finden. Und ich müsste Mama alleine lassen. Vielleicht kann Tante Betty Mama helfen und hin und wieder nach Papa schauen. Oder wir müssen darauf pochen, dass Papa eine bessere Pflegestufe bekommt und der Pflegedienst länger bleibt.

Ich stehe auf und schiebe Papa noch ein Stück durch den Park. In meinem Kopf herrscht völliges Chaos. Ich habe eine zehn Jahre ältere Schwester, sie lebt in England und könnte Papas Rettung sein.

»Papa«, unterbreche ich das aufgekommene Schweigen zwischen uns, »wolltest du damals deswegen nicht, dass ich Bauingenieurwesen studiere?«

»Ja, wahrscheinlich«, sagt er nur und faltet seine Hände im Schoß zusammen.

 

Harvey

I can not help it and draw her closer to me. Her beautiful face is on my chest and her head moves up and down to the rhythm of my breath.

 

»Aus dem Poststempel ging hervor, dass der Brief aus Eastbourne kam. Ich hab mich bei euch, also bei Kinnings, beworben, um sie von dort aus leichter finden zu können. Außerdem hatte ich gehofft, dass einer der Kollegen Birgits Mann kennt. Aber niemand hatte dort von einer Birgit Bergmann oder meiner Schwester gehört. Morgen will ich wieder hinfahren. Vielleicht finde ich dieses Mal etwas heraus.«

Ich kann nicht anders und ziehe sie näher an mich. Ihr wunderschönes Gesicht liegt auf meiner Brust und ihr Kopf bewegt sich im Rhythmus meines Atems auf und ab. Es tut mir unendlich leid für sie, dass sie dieses Schicksal teilen muss. Wer kann sie besser verstehen als ich? In diesem Moment wird mir klar, was ich tun muss. Wieso wir uns begegnet sind. Ist es Schicksal, dass sie mir ihre Lage ausgerechnet hier, an dem Ort, an dem Mama starb, offenbarte? »Ich werde dich begleiten«, bestimme ich. Einen kurzen Moment lang befürchte ich, dass sie nein sagt, dass sie mich vielleicht sogar wegstoßen könnte, doch sie schließt nur die Augen und kuschelt sich noch näher an mich. Meine Finger verschränken sich mit ihren und ich fahre mit meinem Daumen über ihren Handrücken.

»In Ordnung«, sagt sie ganz leise und ich sehe, wie eine Träne stumm an ihrer Wange hinabgleitet. Bis sie ihr Kinn berührt, warte ich, dann streichle ich ihre Wangen, bis ihr Atem ruhiger wird und sie einschläft.

Und jetzt? Es ist so ungewohnt, gemeinsam mit einer Frau im Bett zu liegen. Sie schläft so ruhig. Vorsichtig ziehe ich sie sanft von meiner Brust, decke sie zu und gehe in mein Schlafzimmer.

 

Linda

It's funny to know that we almost grew up together.

 

»Guten Morgen, meine Schöne.«

»Morgen«, sage ich und stoße ein lautes Gähnen aus.

»Hat die Löwin gut genächtigt? Wie schläft es sich in meinem Jugendzimmer?« Er zwinkert mir zu.

Tatsächlich fand ich es gar nicht mal so schlecht. Ich war lediglich etwas überrascht heute Morgen, dass er nicht mehr da war. Offenbar kann ich immer noch wie ein Baby schlafen. »Ganz gut«, antworte ich und beobachte ihn dabei, wie er zur Kaffeemaschine läuft. Er muss bereits eine ganze Weile auf sein. Im Gegensatz zu mir ist er bereits frisch geduscht. Seine Haare sind immer noch leicht nass und wirken dadurch dunkler und gestylter als sonst. Mir gefällt es.

»Kaffee?«, fragt er.

»Ich bitte drum.«

Er schaltet den Vollautomaten ein und reicht mir kurze Zeit später eine Tasse. Gerade gibt es nichts, was ich mehr herbeisehne als dieses Heißgetränk. Ich bin so müde, da kommt der Kaffee gerade richtig.

»Ich würde sagen, wir fahren gleich zu dir, du packst deine Sachen zusammen und dann geht es nach Eastbourne. Weißt du schon, wo du deine Suche heute beginnen willst?« Er setzt sich neben mich und schält eine leicht unreife Banane. So esse ich sie auch am liebsten, wenn sie noch ein wenig grün sind.

»Ich dachte an die Krankenhäuser.« Ich kann es immer noch nicht so ganz fassen, dass mein Chef mich begleiten wird. Ob er es auch tun würde, wenn seine Mutter nicht am Krebs gestorben wäre?

»Klingt gut. Dann lass uns zeitnah aufbrechen. Ich muss noch kurz ein Telefonat führen. Falls du duschen willst, habe ich dir ein paar Sachen ins Bad gelegt.«

»Danke.«

Harvey zwinkert mir zu, steht auf und geht aus dem Raum. Ich trinke meine Tasse leer und stelle sie in die Spülmaschine.

Die paar Sachen im Badezimmer stellen sich als ein Sammelsurium aus Hotelartikeln, Haarspülung, einer Einweghaarbürste, Shampoo, Einwegrasierer und sogar einer Einmalunterhose heraus. Alles gebettet auf einem Stapel flauschig weicher Handtücher. Ich muss grinsen, als ich das ganze Zeug sehe. Hat er diesen ganzen Kleinkram aufbewahrt, falls mal eine Besucherin spontan über Nacht bei ihm bleibt? Er kam mir gar nicht vor wie ein Schürzenjäger. Irgendwie finde ich es aber auch süß. Immerhin denkt er daran, was wir Frauen eventuell gebrauchen könnten.

Ich nehme mir, was ich brauche – die Unterhose lasse ich liegen; ich ziehe mich eh nachher bei mir noch um – und genieße das warme Wasser auf meiner Haut.

Eine halbe Stunde später wartet Harvey bereits mit gepacktem Koffer vor der Tür und leitet mich zu seinem kleinen Fuhrpark um sein Haus herum.

»Porsche, Lamborghini, und daneben ein Mazda? Im Ernst?« Das Teil hat sogar einen Heckspoiler.

Er zuckt mit den Schultern. »Die einen sammeln Bücher, ich sammle Autos. In der Tiefgarage stehen noch sechs andere. Am Wochenende soll es regnen, ich würde sagen, wir nehmen den Mazda. Der ist nicht ganz so protzig.«

Ich sehe ihn kopfschüttelnd an. »Wenn du meinst.«

Ich steige in das niedrige Auto ein. Sind die immer so flach oder hat er ihn tiefer legen lassen? Da lobe ich mir wieder den Touran meines Vaters.

»Weißt du schon, wo wir übernachten werden?«, fragt er, während er den Mazda durch das Londoner Stadtgewühl lenkt.

Darüber habe ich mir noch gar keine großen Gedanken gemacht. »In irgendeinem Hotel, wir werden schon eines finden. Oder wäre es dir lieber, wenn wir heute Abend wieder hierher zurückkehren?«

»Nein, das passt schon«, sagt er nur und parkt den Wagen wenige Minuten später direkt vor meinem Haus.

»Kommst du mit hoch?«, frage ich ihn und nicke zu meiner Haustür.

»Geht leider nicht, ich muss noch etwas erledigen. Beeil dich einfach.« Er hält sein Handy vor meine Nase und wackelt damit in seiner Hand rum. Zwischen uns ist plötzlich alles anders. Als hätte ich einen Schalter gedrückt und es machte klick bei ihm. Allmählich glaube ich, dass sein ganzes, hochtrabendes Getue nur eine Show war, um mich zu beeindrucken.

»Gut, bis gleich.« Ich steige aus und gehe auf das Haus im viktorianischen Stil zu. Der Stil ist nur eine Nachahmung; die Firma ließ es vor drei Jahren für seine Angestellten bauen. Ich ziehe meine Schlüsselkarte durch den Schlitz und laufe hoch in den zweiten Stock zu meiner Wohnung. Ganz unten wohnt eine Frau aus Grubers Rechtsabteilung; die anderen Wohnungen stehen leer und das, obwohl hier in London ein ähnlicher Wohnungsmangel wie in München herrscht.

Ich kippe meinen Koffer auf dem Bett aus und schmeiße ein paar der Sachen wieder hinein. Insgeheim bin ich froh, dass Harvey im Auto wartet. Ich bin die geborene Chaosqueen und genauso sieht es auch hier aus.

Rasch wechsle ich meine Klamotten und packe mir etwas zu trinken für die Fahrt, mein Notizbuch und Geld ein, dann geht es los. Spätestens in drei Stunden bin ich zurück in Eastbourne.

»Warst du schon bei den Meldeämtern?«, fragt Harvey, kurz bevor wir die A23 verlassen.

»Nicht nur einmal. Ich bekomme immer die gleiche Auskunft. Eine Sandra Bergmann aus Deutschland sei nicht im System.« Wieso muss es auch ausgerechnet England, ein Land ohne Meldepflicht, sein, in das sie zog?

»Das hatte ich bereits geahnt. Wie wollen wir gleich vorgehen?«

»Ich würde sagen, wir suchen uns zuerst ein Hotelzimmer und fahren dann zu den einzelnen Krankenhäusern.«

»Ich habe bereits zwei Zimmer im Grand für uns reserviert.«

Ich reiße meine Augen auf. »Du hast was? Ist das dein Ernst? Das ist doch viel zu teuer. Wie soll ich mir das leisten können?«

Er lässt das Lenkrad los und macht einen lässigen Schlenker mit seiner Hand. »Beruhige dich. Ich hab schon alles bezahlt. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann verzichte einfach auf die Minibar.«

Ich gebe ein genervtes Schnauben von mir. Er kann doch nicht einfach so bestimmen, wo wir übernachten. »Wir müssen an einem Strang ziehen«, antworte ich mit verschränkten Armen.

»Du darfst dir aussuchen, welches der beiden Zimmer du haben willst, in Ordnung?«

Ich ziehe eine Braue hoch und sehe ihn trotzig an. »Trotzdem danke«, sage ich kleinlaut. »Lass mich dann wenigstens das Mittagessen gleich übernehmen.«

»Wenn du meinst.«

Ich nicke und schaue aus dem Fenster. Wir passieren gerade ein paar Nebenstraßen. Die Menschen hier sehen alle so zufrieden aus. Vielleicht hat es Birgit deswegen hierher verschlagen.

Er parkt den silbernen Wagen vor dem District General Hospital, unserer ersten Station heute. »Da wären wir. Denkst du, wir bekommen hier neue Informationen?«

Ich zucke mit den Schultern. Ich hoffe es, doch wirklich daran glauben kann ich nicht. Dafür wurde ich in den letzten Monaten zu oft abgewiesen.

Harvey geht vor. Er will, dass ich ihm das Reden überlasse. Vielleicht ist das ganz gut so, sein Englisch ist schließlich um Meilen besser als meines. Wir stellen uns in die Reihe am Empfang. Es dauert fast fünfzehn Minuten, bis wir dran sind. Harvey lehnt sich lässig mit dem Ellbogen auf den Empfangstresen und schenkt der Dame dahinter ein Lächeln, das er mir noch nie gezeigt hat.

»Viel zu tun heute, und das bei dem schönen Wetter?«

»Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragt sie und rollt mit den Augen. So wird das nichts, wird mir klar.

»Wir suchen eine Mrs Birgit Bergmann und eine Ms Sandra Bergmann. Können Sie in ihrem Computer nachschauen, ob eine von ihnen schon einmal hier behandelt wurde?«

»Und Sie sind?«

»Verzeihen Sie, Harvey Gruber, und das ist Ms Baumgardener, Sandra Bergmanns Schwester.«

Ich nicke der Frau zu. »Also?«, frage ich.

»Ich kann gerne nachsehen, darf Ihnen jedoch keine Informationen geben.«

Na super, ich bin schon dabei, mich umzudrehen und zurück zum Auto zu laufen, als Harvey mich an der Schulter packt und zu sich zieht. »Warte«, zischt er leise. Er greift in seine Hemdtasche und zieht einen Zweihundert-Pfund-Schein heraus. Dann setzt er erneut sein besonderes Lächeln auf. Ein bisschen erinnert er mich an Leonardo di Caprio in The Wolf of Wallstreet. »Kann der Sie überzeugen?« Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Harvey, der Bestecher. Das hätte ich wirklich nicht von ihm gedacht.

Die Empfangsdame sieht sich um, ob sie keiner beobachtet, und hält ihm die geöffnete Hand hin. Jetzt muss ich wirklich lächeln und hoffe, dass sie fündig wird.

»Wie waren die Namen?«

»Birgit und Sandra Bergmann«, wiederhole ich und buchstabiere ihr sicherheitshalber beide Namen.

Die Frau tippt hastig in den PC ein. »Tut mir leid«, sagt sie.

»Wieder nichts«, sage ich leise und lehne meinen Kopf an Harveys Schulter an. Wieso kann denn nicht einmal etwas klappen. Und dann hat er auch noch zweihundert Pfund dafür zum Fenster heraus geschmissen.

»Hier steht nur eine Birgit Ashgold, geborene Bergmann«, sagt die Empfangsfrau plötzlich und lässt mich aufschauen.

»Das ist sie bestimmt. Sie hat ja damals geheiratet.« Harvey schaut zu mir runter und ich kann meine Freude kaum vor ihm verbergen. Es ist das erste Mal, dass ich bei meiner Suche einen Schritt vorankomme.

»Sie ist am 14. Februar 1995 zusammen mit ihrem Mann Patrick und einem Kind hier eingeliefert worden. Ein schwerer Autounfall. Sie ist ihren Verletzungen während der Operation erlegen, mein Beileid.«

Binnen Sekunden sinken meine Mundwinkel zu Boden. Ich sehe sie sprachlos an. Birgit ist tot.

»Was ist mit ihrer Tochter?«, flüstere ich und beiße mir auf die Lippen. Hoffentlich hat Sandra den Unfall überlebt.

»Einen Moment. Sie hatte sich den Arm und einen Fußwirbel gebrochen.«

Ich atme erleichtert aus. Harvey legt seinen Arm um meine Schulter und zieht mich zu sich. Auch er ist am Lächeln. Sandra hat den Unfall tatsächlich überlebt, es besteht noch die Hoffnung, dass wir sie finden.

»Und ihr Mann?«, ergreift Harvey das Wort.

»Konnte nicht mehr reanimiert werden.«

»Steht dort, was mit der Tochter passiert ist? Wer sich um sie gekümmert hat?«, forsche ich nach.

»Ein James Jurek vom Jugendamt hat die Vormundschaft für sie übernommen.«

Ich ziehe mein Notizbuch aus der Handtasche und schreibe mir den Namen und ihren Todestag auf. »Vielen Dank, das hilft uns sehr weiter. Gibt es von Herrn Jurek eine Adresse?«

»Tut mir leid, da steht hier nichts.«

»Trotzdem Dankeschön.«

»Ich habe zu danken«, sagt die Empfangsdame und klopft sich auf die Brusttasche, in der der Zweihunderter steckt.

Harvey lacht und zieht mich zur Seite. »Siehst du, ich sagte ja, ich erledige das.«

»Das war Bestechung«, betone ich und kann das Grinsen doch nicht lassen. Arm in Arm verlassen wir das Krankenhaus.

»Kommst du damit zurecht, dass Birgit nicht mehr lebt?«, fragt er mich auf dem Weg zum Auto.

»Ja, ich denke schon. Es tut mir nur leid für Sandra, dass sie ihre Mutter so früh verloren hat. Das war bestimmt sehr schwer für sie. 1995 war sie gerade erst fünfzehn, das muss sie sehr geprägt haben.«

Harvey schweigt. Sicherlich kann er sich gut in sie hinein versetzen. Immerhin war er noch jünger, als seine Mutter von ihm ging.

»Am besten fahren wir zum Jugendamt, vielleicht wissen die etwas über diesen Jurek«, sagt er, als wir im Wagen sitzen und er den Motor startet.

»Und danach zum Friedhof«, schlage ich vor. »Irgendjemand muss sich schließlich um ihr Grab kümmern.«

 

Die Sonne scheint mir entgegen und ich klappe die Sonnenblende auf der Beifahrerseite herunter. Wir lassen das Jugendamt hinter uns und fahren die Strandpromenade entlang. Wirklich viel haben wir dort nicht erfahren. »Also ist er in Rente? Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja, genau. Und sie haben keine Adresse von ihm. So viel sie wissen, lebt er gar nicht mehr in England. Er träumte wohl immer davon, nach Australien auszuwandern und soll es Gerüchten zufolge nach seiner Pensionierung getan haben.«

Ich seufze und lege meine Hände gefaltet auf die Knie. Der Besuch beim Jugendamt war zwar nicht umsonst gewesen, dennoch hätte ich gerne mit Jurek persönlich gesprochen. »Dann lass uns jetzt zu dem Kinderheim fahren. Weißt du, wo es ist?« Der Mann vom Amt schrieb uns eine Adresse auf; dort kam Sandra nach dem Tod ihrer Mutter unter. Ich frage mich, wieso man sie nicht zu unserem Vater gebracht hatte. Es ist komisch, zu wissen, dass wir beinahe zusammen aufgewachsen wären.

Harvey zieht sein Handy aus der Hosentasche. »Ich weiß es nicht, aber dafür meine Miss Marple hier.«

»Miss Marple? Du nennst dein Handy Miss Marple?«

»Klar, sie findet alles in Sekunden heraus.« Er tippt etwas ein und klemmt das Smartphone in die Halterung neben seinem Lenkrad. Eine Frauenstimme ertönt und weist uns den Weg zum Kinderheim.

Inzwischen ist es früher Nachmittag und mein Magen gibt ein heftiges Knurren von sich.

Harvey biegt, ohne mich zu fragen, auf den Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants ein und fährt zum Drive-in-Schalter. »Was möchtest du?«

»Nuggets, Fries und ´ne Coke. Aber dieses Mal bezahle ich.«

Er zuckt mit den Schultern und bestellt für uns. Ich drücke ihm das Geld in die Hand und wir fahren weiter. »Ich hätte nicht gedacht«, sage ich und stecke mir die nächste Pommes in den Mund, »dass der große Bauherr, der im Grand nächtigt, freiwillig bei Mc Donald‘s zu Mittag isst.«

Harvey zuckt mit den Schultern, beißt in seinen Burger und schluckt hastig runter. »Du hattest Hunger und das war das nächste Restaurant, falls man es so nennen kann.«

Ich gluckse. Er hatte meinen knurrenden Magen gehört.

Kurze Zeit später parken wir vor dem backsteinernen Gebäude am Rande der Stadt. Kinder sehe ich keine. Vielleicht sind sie ja alle bei einem Ausflug. Ohne das erwartete Kindergeschrei wirkt die Gegend hier trostlos und verlassen. Das Kinderheim wird von einer hohen Mauer umgeben, hinter der zusätzlich noch eine dicht bewachsene Hecke steht, dessen Spitzen gerade so oben herausragen. Der große Hof liegt einsam und verlassen da. Keine Kreidezeichnungen auf dem Boden, keine Kettgars und Fahrräder, die herumstehen. Dabei liegt das Heim am Ende einer Spielstraße, perfekt, um den riesigen Hof für die Kinder mit zu benutzen. Ich stopfe mir das letzte Nugget in den Mund, nehme einen Schluck Cola und öffne die Tür. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«

»Laut Miss Marple schon. Schau, dort auf dem Schild steht es auch. Das ist das Kinderheim, in dem deine Schwester war.«

»Es sieht nicht sehr einladend aus.«

»Das Haus ist halt alt. Vielleicht sieht es drinnen gemütlicher aus.« Hoffentlich hat er recht. Man hört immer so viel Schreckliches von Kinderheimen, dass mich der trostlose Anblick vor mir mehr als verschreckt. Mein Blick geht gen Himmel; ein paar Wolken ziehen sich über uns zusammen und verstärken das trübe Bild vor uns. Harvey nimmt mich an die Hand und geht vor. Die Wärme seiner Finger gibt mir die Sicherheit, die ich im Moment brauche. Kaum spüre ich sie, fühle ich mich geborgen. Inzwischen kommen mir seine kleinen Gesten so vertraut vor, dass ich mir kaum noch vorstellen kann, ihn nicht mehr regelmäßig an meiner Seite zu wissen. In den letzten vierundzwanzig Stunden hat sich ein Band zwischen uns geflochten, das hoffentlich nie zu reißen droht. Es tut so unglaublich gut, zu wissen, dass ich nicht mehr alleine bin. Dass ich diesen schweren Weg mit ihm zusammen gehen darf. Dieser Rückhalt, den ich sonst nur von meiner Familie kenne, hat mir die ganze Zeit, seit ich in England bin, gefehlt.

Harvey steigt die fünf Stufen zur Eingangstür rauf und klingelt beim Büro der Heimleitung.

Es dauert einen Moment, dann ertönt die kratzige Stimme einer alten Frau. »Ja bitte?«

»Entschuldigen Sie, wir haben keinen Termin, dürften wir bitte trotzdem mit der Heimleitung sprechen?«, übernimmt Harvey die Antwort.

»Einen Moment bitte.«

Ich sehe Harvey mit gerunzelter Stirn an und er wirft mir ein halbherziges Lächeln zu. »Schauen wir mal«, sagt er nur.

Die Tür öffnet sich und eine streng aussehende Dame mit hochgesteckter Frisur und grauem Bleistiftrock steht vor uns. »Sie wünschen?«

»Guten Tag«, sage ich, »wir sind auf der Suche nach meiner Schwester, die hier vor zwanzig Jahren lebte. Möglicherweise könnten Sie uns ein paar Informationen zu ihr geben.«

Die Frau sieht uns nachdenklich an. »In den Neunzigern? Ich habe neunundachtzig hier angefangen, vielleicht kann ich Ihnen helfen. Kommen Sie rein, mein Büro ist gleich links.«

Wir gehen durch einen langen Flur, der voll von Zeichnungen und Bildern von Kindern ist. Harvey hatte recht, der äußere Schein trügt manchmal.

Im Büro begrüßt uns eine ältere Dame mit derselben kratzigen Stimme wie jene, die wir eben am Eingang hörten und serviert uns je eine Tasse schwarzen Tee.

»Danke Eleonora. Ich rufe Sie, wenn wir noch etwas brauchen.«

Die alte Frau verbeugt sich und geht mit kurzen, aber schnellen Schritten in gebeugter Haltung hinaus.

»Wie hieß Ihre Schwester gleich?«, fragt uns die Heimleiterin.

»Sie heißt Sandra. Sandra Bergmann.«

»Vielleicht auch Sandra Ashgold«, wirft Harvey ein.

»Bergmann … Ashgold, ja, ich erinnere mich an das Mädchen. Schrecklich, der Unfall ihrer Eltern. Und Sie sind ihre Schwester?« Unglaube zeigt sich in ihrem Gesicht.

»Ihre Halbschwester«, antworte ich selbstsicher. »Mr Ashgold war nicht ihr Vater.«

»Nicht? Dann hat er sie wohl adoptiert.«

»Möglich, das weiß ich nicht. Ich habe selbst erst vor ein paar Monaten von ihr erfahren. Können Sie uns denn sagen, wo sie jetzt lebt?«

Die Heimleiterin schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, ich glaube nicht, dass wir noch Akten aus dieser Zeit haben. Vor einigen Jahren haben ein paar unserer Jungs einen schrecklichen Streich gespielt und dabei einen Teil des Kellers – jenen, in denen wir die alten Akten, die wir nur in Papierform haben, archivieren – in Brand gesetzt. Es wäre ein Wunder, wenn ausgerechnet ihre Akte den Anschlag überlebt hätte.«

Harvey seufzt leise neben mir. Ich kann es ihm nicht verdenken. Wieder eine Sackgasse. Er lächelt müde und dreht seinen Kopf zum Fenster. Ich folge seinem Blick. Eine Gruppe Kinder mit nassen Haaren reiht sich in einer langen Zweierreihe vor dem Eingang ein. Langsam kommt Leben in die Umgebung; Kindergeschrei und -geplapper erklingen durch das angelehnte Fenster zu uns durch. Harvey hebt leicht sein Kinn, das bereits wieder von einem ganz leichtem Bartsaum bedeckt ist und deutet nach draußen, als wolle er sagen: ›Siehst du, kein Grund zur Sorge, deine Schwester hatte es hier gut.‹

Die Bürotür öffnet sich und lässt uns alle aufblicken. Eleonora steckt ihren grauhaarigen Lockenkopf durch den Türspalt. »Die Kinder sind vom Schwimmen zurück. Soll ich den Spielschuppen im Garten aufschließen?«

Die Heimleiterin nickt. »Ja bitte.« Mir fällt auf, dass sie sich uns überhaupt nicht vorgestellt hat. Ich habe keine Ahnung, wie sie überhaupt heißt.

Sie wendet sich wieder zu uns und sieht mich an. Von der Strenge beim Empfang ist nicht mehr viel übrig. Jetzt, wo von draußen die spielenden Kinder zu hören sind, strahlen ihre grünen Augen und die Grübchen um ihre Mundwinkel tun ihr Übriges. So sieht sie gleich zehn Jahre jünger aus. »Wenn Sie möchten, schicke ich Eleonora nachher, wenn die Kinder zu Abend essen, hinunter und lasse sie nachsehen, ob wir noch eine Kontaktadresse von Ihrer Schwester haben. Aber versprechen Sie sich bitte nicht zu viel.«

Ich nicke. »Vielen Dank für Ihre Mühe.«

Sie lächelt mich an. Harvey nimmt unter dem Tisch meine Hand und drückt sie kurz. Ein kleines Wir-schaffen-das-Zeichen.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute bei der Suche nach Ihrer Schwester. Und wenn Sie sie finden, dann grüßen Sie Sandra ganz herzlich von mir. Ich würde mich freuen, sie noch einmal wiederzusehen. Sie war ein sehr aufgeweckter und freundlicher Teenager. Das ist selten, wenn die Eltern verstorben sind. Die meisten Kinder verschließen sich vor uns, Sandra war anders. Sie war sehr tapfer. Vielleicht hat sie den Kampf aber auch alleine in ihrem Inneren ausgefochten, ohne uns an ihrer Trauer teilhaben zu lassen. Ich hoffe, sie hat einen Weg für sich gefunden, mit all dem Schmerz umzugehen, ohne ihrer Selbst einzubüßen.«

»Vielen Dank für Ihre Worte«, sage ich aufrichtig.

»Wir werden Ihren Gruß ausrichten, sobald wir sie gefunden haben. Dürfen wir Ihnen unsere Karte da lassen? Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann können Sie sich bei uns melden.« Harvey trinkt seinen Tee aus und steht auf, als mir noch etwas einfällt.

»Wissen Sie zufällig noch, auf welchem Friedhof ihre Mutter begraben liegt?«

Es ist nicht die Heimleiterin, sondern Eleonora, die wieder im Türrahmen erscheint und uns offenbar zugehört hat, die antwortet. »Ocklynge Cemetery. Ich habe sie damals oft dorthin begleitet«, erzählt sie.

Ein überraschter Ausdruck tritt auf das helle Gesicht der Heimleiterin. »Davon wusste ich gar nichts.«

»Sie hat ihre Trauer nicht in sich hineingefressen, sie wollte sie nur nicht vor den anderen Kindern zeigen. Sie hatte immer schon Angst davor, als schwach dazustehen. Ich habe sie oft zum Friedhof gefahren, damit sie dort in Ruhe weinen kann.« Eleonora setzt sich zu uns auf einen freien Stuhl. »Sie hat mich noch einmal besucht, wissen Sie. Das war«, sie reibt sich ihr faltiges und leicht behaartes Kinn, »2001 rum. Ja genau, im April, zu Ostern war das. Wir hatten uns ein paar Tage vorher zufällig gesehen und Ostern hatte sie mich dann besucht. Es war, als käme eine Enkelin vorbei. Ja, schön wars. Sie hatte damals einen jungen Mann kennengelernt. Samuel, so hieß er. Hat mir viel von ihm erzählt. Sie war ganz aus dem Häuschen. Er muss ein netter, gepflegter Mann aus gutem Haus gewesen sein. Studierte Jura oder so etwas. Sie kam mir sehr glücklich vor. Viel glücklicher, als ich sie jemals hier erlebt hatte.«

Ich kann nicht anders, als zu lächeln. »Und wissen Sie, wo sie damals gelebt hat? Haben Sie eine Adresse oder eine Telefonnummer von ihr?«

»Adresse? Nein, leider nicht. Sie hat mich dann auch nicht mehr besucht. War nur das eine Mal da. Ich weiß nicht wieso. Ich würde sie gerne noch einmal sehen, würd‘ wissen wollen, was sie aus sich gemacht hat. Glaube, sie hatte damals in einer Bäckerei gejobbt. Ja genau, da hatte ich sie ja getroffen. Aber die Filiale gibt es nicht mehr. Schade, hatten gutes Brot.«

Ich sehe enttäuscht zu Harvey rüber, der wieder aus dem Fenster sieht. Wo er wohl gerade mit seinen Gedanken ist?

»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sage ich. Eleonora sieht mich traurig lächelnd an. Sie muss sehr an Sandra gehangen haben. Es freut mich, dass Sandra in ihr eine Vertraute im Heim gefunden hatte.

Harvey wendet sich wieder uns zu. »Haben Sie vielen Dank für ihre Hilfe.« Er zieht ein kleines Etui aus seiner Hemdtasche und holt eine Visitenkarte der Firma heraus. »Bitte melden Sie sich, falls Ihnen noch etwas einfällt.«

»Das werden wir«, sagt die Heimleiterin und nimmt die Karte entgegen.

Als wir im Auto sitzen und zum Ocklynge Cemetery fahren, schweigen wir. Es fühlt sich plötzlich alles so komisch an, diese ganzen Sachen über sie zu erfahren. Als würden wir unerlaubt in ihre Privatsphäre eindringen.

 

»Da sind wir«, sagt Harvey und fährt links ran. »Der Ocklynge Cemetery. Bist du bereit? Am besten gehen wir gleich zum Friedhofswärter oder möchtest du zuerst nach ihren Gräbern suchen?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, das kostet doch sowieso nur Zeit.« Eigentlich geht es mir gar nicht darum. An ihren Gräbern zu stehen kommt mir bloß wie ein erneutes Eindringen in ihr Leben vor. Ich frage mich, wie sie reagieren wird, wenn wir irgendwann vor ihr stehen. Wenn wir bereits so vieles von ihr wissen und sie nicht einmal unsere Namen kennt. Mir wäre da ganz mulmig zumute.

Harvey geht ums Auto herum, öffnet mir die Tür und reicht mir die Hand. »Danke«, sage ich, werfe ihm einen langen Blick zu und folge ihm über die Straße zum rostigen Eingangstor des Friedhofes. Gleich daneben steht ein altes Herrenhaus. Es hat etwas Gruseliges an sich. »Meinst du, das ist es?«

»Das werden wir gleich herausfinden.« Harvey tritt vor und klingelt. Er winkt mich zu sich und ich komme näher, ehe ein junger, gut aussehender Mann in Shorts und T-Shirt uns die Tür öffnet. In der Hand hält er einen Basketball. Er sieht verwirrt aus, als er sich durch die blonden Haare fährt und abwechselnd von mir zu Harvey schaut.

»Wir würden gerne mit der Friedhofsverwaltung sprechen, sind wir hier richtig?«

Der junge Mann nickt. »Einen Moment.« Er dreht sich um und seine tiefe Stimme hallt aus dem langen Flur hinter ihm wider. »Dad, komm schon. Hier will dich jemand sprechen.« Der Basketballer dreht sich erneut zu uns. »Kommt gleich. Warten Sie hier.« Er wendet sich von uns ab und läuft zurück ins Haus. »Ist doch nicht Marc gewesen«, höre ich ihn sagen und sein Vater, ein älterer Herr im schwarzen Anzug mit Spitzbart und trüb wirkenden Augen, tritt vor uns.

»Mr Westfield, wie kann ich Ihnen behilflich sein?« Er reicht uns seine kalte Hand und setzt ein kurzes Lächeln auf.

»Wir würden gerne wissen, ob die Familie Ashgold, Birgit und Patrick, hier begraben liegt und wer in diesem Fall die Grabpflege bezahlt.«

»Natürlich, kommen Sie rein, ich werde für Sie nachsehen.«

Ich schaue zu Harvey. Ob er sich genauso unwohl fühlt, einfach in dieses alte Haus einzutreten und dem fremden Mann zu folgen? Als könne er meine Unsicherheit spüren, greift er nach meinem Arm und wandert suchend mit seiner Hand nach unten, bis sich unsere Finger ineinander verschränken.

Mr Westfield führt uns durch einen dunklen Flur in ein Büro, in dem sich die Akten auf dem Schreibtisch beinahe bis zur Decke stapeln. »Ich digitalisiere derzeit alles. Dann schauen wir mal, ob die beiden schon im Computer eingespeist sind.« Er setzt sich an seinen Schreibtisch und lässt uns im Türrahmen warten. Harvey beugt sich zu mir und blickt mir tief in die Augen. Weiß er, dass ich kurz davor bin, dahinzuschmelzen? Linda, konzentriere dich, ermahne ich mich.

Mein Herz beginnt schneller zu pochen, während wir wie auf heißen Kohlen dort stehen und auf Mr Westfields Urteil warten.

»Wann starben Sie?«

Ich ziehe mein Notizbuch aus der Manteltasche und lasse Harveys Hand los, um es aufzuschlagen. »Am 14. Februar 1995, ein Autounfall«, sage ich und versuche, ihm über die Schulter zu schauen. Der Bildschirm ist so dunkel, dass ich von hier aus nicht viel erkennen kann.

»Valentinstag, hmm.« Er reibt sich mit den Fingerspitzen über die Schläfe. »Ja, Sie liegen im vorderen Teil. Jetzt erinnere ich mich. Ich hatte gerade neu hier angefangen gehabt. Schrecklicher Unfall. Sie ließen damals eine Tochter zurück, die war fünfzehn oder sechzehn. Ein nettes Mädchen, ich hatte damals die Seelsorge zusammen mit dem örtlichen Pfarrer, Mr Brown, geführt.«

»Und die Grabpflege, wer bezahlt sie?«, hakt Harvey nach. Seine Stirn ist gerunzelt und wirft tiefe Falten.

Bitte, lass sie es sein, bete ich und schaue wieder zurück zu Mr Westfield, der sich zu uns umgedreht hat.

Er guckt uns mit grübelndem Ausdruck an, dreht sich um und starrt auf seinen Bildschirm. »Die wurde damals im Voraus gezahlt. Für dreißig Jahre gleich. Eine sehr großzügige Spende war das gewesen. Aber selbstverständlich, ich hätte es nicht anders getan, wenn ich so viel Geld besitzen würde.«

»Wie meinen Sie das?« Meine Brauen ziehen sich zusammen und ich sehe ihn mit gerunzelter Stirn an. Harvey umschließt meine Hand, in der ich immer noch das Notizbuch halte und beginnt, meinen Handrücken mit seinem Daumen zu reiben – das macht mich ganz nervös.

»Oh, Mr Flintwood war immerhin verantwortlich für ihren Tod. Er saß damals im Stadtrat. Das war ein Aufsehen. Und das arme Kind war seinetwegen zur Vollwaise geworden. Da wollte er sie wenigstens ein bisschen entlasten.«

»Also hat er den Unfall verursacht?«

»Ja, ja, das sage ich doch die ganze Zeit.«

Ich sehe skeptisch zu Harvey hoch. »Haben Sie eine Adresse für uns?«, fragt er.

»Ja, warten Sie, einen Moment.« Er kramt auf seinem Schreibtisch nach einem Blatt Papier und einem Kuli und kritzelt uns ein paar Zeilen drauf. »Bitteschön. Ich wünsche Ihnen viel Glück mit ihm und hoffe sehr, dass er noch lebt. Er war damals schon um die sechzig.«

»Wird schon«, flüstert Harvey mir zu und kitzelt mich dabei am Ohr. Ein kleiner Schauer läuft mir über den Rücken. Harvey sieht mich voller Elan mit seinen smaragdgrünen Augen an. Ich könnte ihn ewig lange einfach nur anschauen. In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln; erst ganz langsam, dann immer stärker. Ich kann nicht anders, als ihn anzulächeln.

Lass uns gleich morgen früh zu ihm fahren«, schlägt er vor, als wir das Haus des Friedhofwärters verlassen. »Heute ist es schon zu spät. Außerdem müssen wir noch einchecken.«

»Ja, das wird das Beste sein«, antworte ich und steige neben ihm ins Auto.

 

 

Harvey

It's such a funny feeling that is spreading in me. Is it luck? Confidence? Joy? I don’t know. All I know is that she causes me to be happy.

 

»Mr Gruber, schön Sie wiederzusehen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Guten Abend, Ms Sullivan. Ich habe für heute Nacht zwei Zimmer reserviert. Eines für mich und eines für meine Kollegin Ms Baumgardener.«

Ms Sullivan blickt auf den kleinen Bildschirm hinter dem Rezeptionspult und runzelt die Stirn.

»Stimmt etwas nicht?«, frage ich neugierig und versuche, einen Blick über den Tresen zu werfen.

»Es tut mir sehr leid, Mr Gruber, ihre Namen stehen nicht auf der Liste.« Das ist ein schlechter Scherz, hoffe ich.

Linda sieht verwirrt zu mir auf. »Ich dachte, du hättest reserviert?«

Mit den Schultern zuckend antworte ich ihr: »Ja, das habe ich auch. Heute Morgen, als du zu dir ins Haus gegangen bist und deine Sachen zusammen gepackt hast.« Das verstehe ich nicht. Es ist mir noch nie passiert, dass eine Reservierung nicht klappte, nicht hier, in diesem Hotel!

»Ahh, jetzt erkenne ich das Problem«, meldet sich die Dame zu Wort. »Sie wurden für nächste Woche eingebucht. Einen Moment, ich schaue, ob wir noch etwas frei haben. Heute tagt in der Nähe ein Kongress, daher gab es relativ viele Buchungen in den letzten Tagen.« Die Dame tippt etwas in ihren Computer ein und verzieht plötzlich wehleidig ihr Gesicht. Sie atmet schwer aus und mein Herz beginnt zu klopfen. Hoffentlich sind sie nicht bereits ausgebucht. Wenn selbst das Grand keinen Platz mehr hat, wird es in den anderen Hotels noch schwieriger, ein gutes Zimmer zu finden. Ich ziehe fragend eine Augenbraue hoch.

»Mr Gruber, bitte verzeihen Sie die Unannehmlichkeit, doch ich kann Ihnen leider keine zwei Einzelzimmer mehr anbieten. Lediglich unsere Mastersuite und das Penthouse stehen für heute Nacht noch zur Verfügung.«

Na super! Ich schaue in Lindas reines Gesicht, die mit fragendem Blick Ms Sullivan ansieht. Soll ich uns für diese eine Nacht das Penthouse buchen? Ein kleines Lächeln schleicht sich in meine Mundwinkel. Sicherlich würde es ihr überhaupt nicht passen, wenn ich so viel Geld hier lasse. Auf der anderen Seite hätten mich die zwei Einzelzimmer fast genauso viel gekostet. Linda war schon wenig begeistert, dass wir überhaupt hier übernachten. Ob sie mir gleich an die Gurgel geht, wenn ich die teurere Variante nehme? Kurz bin ich versucht, es auszuprobieren, doch dann besinne ich mich wieder zurück auf meine Grundwerte. Wenn das mit uns irgendeine Zukunft haben soll, dann sollten wir tatsächlich an einem Strang ziehen. Da hatte sie heute Morgen absolut recht. Das mit uns – wie das schon klingt. Noch ist da überhaupt nichts. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt bei ihr ankomme. Vielleicht möchte sie auch gar nichts von mir.

Ms Sullivan räuspert sich. »Mr Gruber?«

»Entschuldigen Sie bitte. Wir nehmen die Mastersuite«, entscheide ich. Linda sieht nicht traurig darüber aus, eher so, als würde sie sagen wollen, dass es eine vernünftige Entscheidung gewesen sei.

»Sehr gerne, Mr Gruber. Die Zimmer für nächste Woche, soll ich diese stornieren?«

»Ich bitte drum«, antworte ich genervt. Im Grunde bin ich mir sicher, dass die falsche Buchung nur ein Versehen war, trotzdem sollte so etwas nicht mehr vorkommen. Kurz überlege ich, dies der Dame zu sagen, doch dann bin ich mir sicher, dass Linda mich dadurch bloß für versnobt oder so halten würde und das will ich unter keinen Umständen. Sie ist so ein wunderbares, verträumtes Wesen, das Ruhe und Kraft in mich einkehren lässt. Ihre Nähe tut mir unglaublich gut.

»Sehr wohl, Sir. Mr Thompson wird Sie zu ihrem Zimmer begleiten.«

Einer der Porties verbeugt sich leicht vor mir und nimmt mir meinen kleinen Reisekoffer und Lindas Tasche ab. Wir folgen ihm zu den Aufzügen. Linda hat noch kein Wort gesagt, seit wir hier sind. So schweigsam kenne ich sie überhaupt nicht. Ich beobachte sie dabei, wie sie ihre kupferbraunen Haare lässig nach hinten wirft und ihren Blick durch das prunkvolle Foyer schweifen lässt, ehe das vertraute Pling des Aufzugs ertönt und wir hineintreten. Wir fahren einige Stockwerke nach oben. Es ertönt eine leise Musik über uns. Am liebsten würde ich Linda zu mir ziehen und sie einmal in meinen Armen herumwirbeln oder auch einfach nur ein bisschen die Hüften mit ihr kreisen lassen. Ein innerlicher Seufzer durchfährt mich. Nach diesem turbulenten Tag könnten wir beide ein wenig Spaß vertragen. Leider gehört es sich nicht. Wir sind uns sowieso schon viel zu nahe gekommen. Ich möchte gar nicht erst wissen, was die Kollegen von uns denken mögen, wenn sie erfahren, dass wir das ganze Wochenende miteinander verbracht haben. Ob sie hämische Kommentare abgeben würden? Ich kann so etwas einstecken, aber Linda …? Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie verträumt zur Decke schaut. Zu gerne wüsste ich, woran sie gerade denkt. Ein leichtes Flattern durchzieht meine Magengegend, als sich die Aufzugtüren öffnen und ich nach ihrer Hand greife. Bereitwillig nimmt sie sie in ihre. Empfindet sie auch etwas für mich? Es ist ein derart komisches Gefühl, das sich in mir ausbreitet. Ist es Glück? Zuversicht? Freude? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie mich glücklich macht. Lange habe ich mich nicht mehr so frei gefühlt wie in der kurzen Zeit, seit wir zusammen arbeiten.

 

Linda

Perfect silence reigns in our suite, only the beating of our hearts and our loud breath are heard. I made him as speechless as he did me.

 

Harvey schaut zu mir herunter und lächelt. Dabei könnte ich ihm stundenlang zuschauen. Er greift meine Hand und ich umschließe sie mit meiner. Diese kleine Geste ist so vertraut, als würden wir bereits Jahrzehnte lang gemeinsam diese Reise gehen.

Der Portier öffnet uns die Tür zu unserer Mastersuite. Kurz ist mein Herz stehen geblieben, als die Empfangsdame verkündete, dass wir uns heute Nacht ein Zimmer teilen müssten. Langsam frage ich mich, wo das alles hinführt? Ich bin doch bloß hier, um meine Schwester zu finden, nicht, um mich zu verlieben – und dann auch noch in meinen Chef. Meinen gutaussehenden, charmanten, liebevollen … Mein Gott, Linda, hör auf! Das ist falsch, das ist sowas von falsch! Mein Herz macht einen holprigen Sprung und sprintet los und zwar so richtig. Hoffentlich hört es niemand.

Hinter uns schließt sich die Tür und wir sind alleine. Der Portier ist so leise verschwunden, wie er gekommen ist. Harvey schaut mich grinsend an, lässt mich los und geht in das Zimmer nebenan. Der türkis-gräuliche Teppichboden scheint seine Schritte zu verschlingen. Mir klappt die Kinnlade runter, als ich mich umsehe. Die Suite ist riesig! Eine schlichte Eleganz zieht sich durch alle Zimmer. Mein Gott, ich möchte nicht wissen, wie viel Harvey für diese Nacht zahlen muss.

Mit gedämpften Schritten folge ich ihm in das Schlafzimmer und bleibe vor dem Kingsize Bett stehen. »Das ist unglaublich«, entfährt es mir. Mit offenem Mund sehe ich mich im Raum um und drehe mich einmal um mich selbst. Edle beige Bezüge zieren die dunklen Möbel aus feinstem Holz. Die hellen Wände strahlen dazu eine angenehme Wärme aus. »Harvey, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stammle ich vor mich hin.

Harvey steht auf und zieht mich zu sich rüber. Er kommt mir ganz nahe, beinahe berühren sich unsere Nasenspitzen und ein wohliges Kribbeln durchflutet meinen Körper. Sein warmer Atem haucht mir entgegen und die feinen Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Seine Lippen sind so wunderschön. Ich würde sie am liebsten küssen, sie einfach nur auf meinen spüren. »Danke«, flüstere ich.

Meine Lider senken sich über meine Augen, nur noch der helle Schein der untergehenden Sonne, die durch die Fenster hinter ihm scheint, zeichnet sich als weißer Kreis vor mir ab. Plötzlich durchfährt mich ein unglaubliches Gefühl, es zieht sich bis in meine Zehenspitzen. Ein Schwarm Schmetterlinge kreist durch meinen Bauch, als ich merke, was gerade passiert. Was er tut. Seine Lippen liegen warm und weich auf meinen und seine Hand greift in meinen Nacken. Meine Knie werden ganz weich, während ich mit meiner Hand an seine Hüfte greife und ihn näher zu mir ziehe. Eine liebliche Melodie ertönt von irgendwoher in meinem Innersten und bringt mich weg von hier. Seine Zunge dringt in meinen Mund und vollführt einen verführerischen Tanz mit meiner. In meinen Ohren rauscht es. Jede Faser meines Körpers will Harvey Gruber spüren, will von seinen sinnlichen Lippen berührt werden.

Die Zeit steht still. Mein Körper ist völlig steif, während wir dastehen und uns küssen. Ich öffne die Augen und lasse ihn langsam los. Harvey bewegt sich ein winziges Stückchen nach hinten, so dass wir uns ansehen können. Mein Atem geht schnell, ich bin super nervös. Harveys Pupillen sind geweitet, er sieht mich an, als wüsste er selbst nicht so genau, was gerade passiert ist. Wir starren uns an und niemand sagt etwas. Vollkommene Stille herrscht in unserer Suite, nur das Schlagen unserer Herzen und unser lauter Atem sind zu hören. Ich habe ihn genauso sprachlos gemacht wie er mich.

»Tut mir leid«, sagt er nach einer gefühlten Ewigkeit, packt mich im Nacken und zieht mich zu sich. Mein Kopf sinkt gegen seine Brust und gemeinsam lassen wir uns auf das kuschlig weiche Bett fallen. Seine Fingerspitzen wandern meinen Hals entlang und hinauf zu meinem Ohr. Es kitzelt angenehm. »Darf ich dich noch einmal küssen?«, raunt er in mein Ohr und fährt meinen Hals mit seinen vollen Lippen entlang. Alles in mir bebt. Er ist doch mein Chef, denke ich mir und kann trotzdem nicht von ihm lassen. Mein Mund findet seinen; dieser Kuss ist noch viel inniger als der erste.

 

Es dauert eine ganze Weile, bis wir uns voneinander lösen. Nun sitze ich an ihn gekuschelt auf dem großen Bett und wir zappen uns durchs Fernsehprogramm.

»Wir können runter an die Bar gehen, wenn du Lust hast«, schlägt er vor und nickt zur Zimmertür. Seine Finger kreisen über meinen Arm und hinterlassen eine kribbelnde Spur. Ich lasse mich vom Bett gleiten und gehe zum Fenster, schiebe den Vorhang zur Seite und beobachte die Wellen, wie sie gegen den Pier schlagen. »Wir könnten spazieren gehen, unten am Pier.«

Die Fernsehgeräusche erlöschen und ich spüre, wie Harvey sich hinter mich stellt und mir über die Schulter schaut. Seine Arme umschlingen meine Hüfte und sein heißer Atem streift meinen Hals. »Ja, die Sonne geht bald unter. Lass uns runter gehen, bevor es ganz dunkel ist.«

Ich schließe die Augen und genieße die Wärme seines Körpers an meinem. Sein markant männlicher Duft tritt in meine Nase und für einen kurzen Moment bin ich versucht, mich umzudrehen, an seine Brust anzulehnen und ihn erneut mit Küssen zu übersäen. Doch jetzt will ich einfach nur seine Nähe genießen, ohne ihm erneut gänzlich zu verfallen. Es ist so eigenartig, wie sich unsere Beziehung verändert hat. Wie aus einem kurzen Lächeln auf der Baustelle und ein Flirt in der Bar mehr wurde. Ich frage mich, wie dieser Tag verlaufen wäre, wenn Daniel und Delilah beim Abendessen gestern dabei gewesen wären. Hätten wir dann trotzdem über unsere Eltern gesprochen?

Er legt eine Hand auf meine Schulter. Es fühlt sich vertraut an, nicht belehrend, wie es sonst ist, wenn der eigene Chef dies tut. »Woran denkst du?«, fragt er. Seine Stimme klingt fest und doch hat sie etwas Sorgendes an sich.

»An alles«, antworte ich und weiß, dass die Antwort absolut nichtssagend ist.

»Gib nicht auf«, haucht er in mein Ohr und ganz automatisch verschränken sich unsere Hände ineinander. »Ich bin mir sicher, dass sie irgendwo da draußen ist. Wir werden sie finden und deinen Vater retten.«

»Selbst wenn wir sie finden«, antworte ich und drehe mich zu ihm um. Seine Augen sind unergründlich, wenn er mich so ansieht. »Wer weiß, ob sie dann auch als Spenderin in Frage kommt?«

Meine Stirn lehnt nun doch an seine Brust an und ich lausche dem Pochen seines Herzens. Es wird schneller, als er einen Arm um mich legt und mir über den Rücken streicht. »Ich denke einfach positiv. Und das solltest du auch tun.«

»Ja«, flüstere ich und streife ein paar Tränen mit meinem Ärmel aus meinem Gesicht. Es wirkt plötzlich alles so kompliziert. Liebe ich ihn wirklich? Kann man nach so kurzer Zeit überhaupt schon von Liebe reden? Was wird aus uns, wenn ich Sandra gefunden habe? Ich hatte nie vor, hier, in England, zu bleiben. Gibt es vielleicht gar keine Zukunft für uns beide? Was werden unsere Kollegen denken, wenn wir zurück sind? Wird er dort auch noch so offen mit mir flirten? Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf und lassen mich vollkommen ratlos zurück. »Komm, wir wollten doch rausgehen«, sage ich ganz leise und drehe mich wieder um, damit er mein trauriges Gesicht nicht sieht.

»Natürlich.« Er nimmt meine Hand und führt mich raus aus unserer Suite, als wisse er, wie nötig ich die frische Luft gerade habe.

Draußen schlägt uns ein angenehmer Wind entgegen und lässt mich klarer denken. Er hat recht, es bringt nichts, aufzugeben. Solange die Chance besteht, dass Sandra unseren Vater retten kann, werde ich sie suchen. Wenn es nicht klappt, so kann er sie wenigstens noch einmal sehen und sie können sich voneinander verabschieden. Auch wir haben eine Chance verdient, Harvey und ich. Ich weiß nicht, ob wir wirklich eine gemeinsame Zukunft haben, jetzt ist jedenfalls die Gegenwart, wir sollten sie leben.

Während wir am Pier entlanglaufen, überlegen wir, wo wir noch alles suchen könnten, falls wir morgen keine Auskunft bekommen. Viel fällt uns nicht mehr ein, dafür hält mich das Gespräch von meinen trüben Gedanken ab. Harvey bleibt an einem Eiswagen stehen und kauft jedem von uns eine Tüte Eis. Es ist ein bisschen wie früher, wenn ich mit Papa an der Nordsee war – der Duft des salzigen Meeres, die Möwen … das alles erinnert mich an längst vergangene, schöne Zeiten mit meiner Familie. Ob Papa mit Sandra und Birgit auch an die Nordsee oder nach Italien zum Gardasee gefahren ist? Ich hoffe, es bleibt uns noch genügend Zeit, um die Urlaube von früher irgendwann noch einmal wiederholen zu können, vielleicht sogar mit Sandra an unserer Seite.

 

 

Linda

»To rescue your father«, the old man in front of us ends my sentence.

 

Es ist schon fast neun Uhr, als es an der Schlafzimmertür klopft. Ich stehe auf und fahre mir mit den Fingern durch die Haare, um meine Mähne wenigstens ein bisschen auf die Schnelle zu zähmen. Harvey tritt ein und sieht mich verdattert an. »Guten Morgen Prinzessin, gut geschlafen?«

Ich gebe ein herzhaftes Gähnen von mir. »Ging schon«, sage ich nur. Gut, es war die beste Nacht seit langem. Keine Träume vom zukünftigen Grab meines Vaters, keine Ängste, dass wir es nicht schaffen. Dafür lagen wir die ganze Nacht eng aneinander gekuschelt da. Mehr ist jedoch nicht passiert und das ist auch gut so.

Harvey sieht aus, als wäre er gerade frisch aus der Dusche gekommen. Seine Haare liegen nass zur Seite gekämmt und das schwarze Shirt zeichnet sich deutlich an seiner Brust ab. Wann ist er bloß aufgestanden und wie hat er das erneut geschafft, ohne mich aufzuwecken? »Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mit mir zum Frühstück gehen willst, aber du siehst nicht so aus, als wärst du schon bereit dazu.«

Ich ziehe mein Schlafshirt ein Stück weiter nach unten, damit er meine Unterwäsche nicht sieht. »Ich habe nicht daran gedacht, den Wecker zu stellen. Ich springe fix unter die Dusche. Wenn ich mich beeile, bin ich in fünfzehn Minuten wieder bei dir.«

Er lehnt sich mit der Schulter am Türrahmen an und legt den Kopf schief. »Ich warte auf dich«, antwortet er und zwinkert mir zu. Was hat das denn wieder zu bedeuten?

»Wie du willst«, antworte ich und zeige auf die zwei rosa Sessel vor dem Fenster. Ich drehe mich um und ziehe eine schlichte blaue Jeans, einen bordeauxroten dünnen Pulli und frische Unterwäsche aus meiner Tasche und versuche, an ihm vorbei zum Bad zu kommen.

»Warte«, raunt er. Er kann der Versuchung genauso wenig widerstehen wie ich und packt mich an meinem Arm, ehe ich an ihm vorbeilaufen kann. Bevor ich Luft holen kann, drückt er seine zarten Lippen ohne Vorwarnung auf meinen Mund und ich schließe die Augen. In meinem Kopf dreht sich alles. Als er langsam von mir lässt, beiße ich mir auf die Lippen. »Nächstes Mal lässt du mich vorher die Zähne putzen, okay?«

Er grinst mich schelmisch an und gibt mir einen sanften Klaps auf den Po. »Mal schauen«, raunt er und zwinkert erneut. Dieser Mann macht mich einfach fertig. Ich stehle mich an ihm vorbei und schleiche mich ins Bad.

Als ich nur mit einem weißen Badehandtuch um den Oberkörper gewickelt und einem Tuch um die Haare aus dem Badezimmer komme, sieht Harvey mich mit großen Augen an. Er mustert mich. Irgendwie süß. Ich setze ein freches Grinsen auf und zwinkere ihm zu. »Hab etwas vergessen«, sage ich und ziehe meine Bodylotion aus dem Koffer. »Bis gleich.«

»Ja, bis gleich«, wiederholt er, ohne seinen Blick von meinem Körper abzuwenden. Männer …

Zehn Minuten später bedienen wir uns am großzügigen Frühstücksbuffet und suchen uns einen Tisch.

»Was glaubst du, wie Mr Flintwood reagiert, wenn wir ihn auf den Unfall ansprechen? Immerhin hat er damals zwei Menschen getötet«, frage ich, ohne meinen Blick von seinen moosgrünen Augen abzuwenden. Seit gestern Abend würde ich ihn am liebsten ewig anschauen. Linda – reiß dich jetzt verdammt noch einmal zusammen und konzentriere dich. Hier geht es gerade um das Überleben deines Vaters, ermahne ich mich selbst und schlage meine Augen nieder.

»Es war nicht seine Schuld«, sagt Harvey im ruhigen Ton und ich sehe ihn erstaunt an. Das ist mir neu.

»Wie meinst du das? Der Friedhofswärter meinte doch, dass er deswegen die Grabpflege übernommen hat.« Ich schaue ihm in die Augen und versuche zu entschlüsseln, was er genau meint.

»Schon«, antwortet Harvey und schluckt sein Essen runter. »Also ja, er ist ihnen reingekracht. Aber da konnte er nichts dafür. Ich habe mir heute früh noch ein paar digitalisierte Zeitungsartikel von damals durchgelesen. Es war ziemlich glatt gewesen und sein Wagen kam ins Schleudern auf der Autobahn, weil ein anderer ihn überholt hatte und so dicht vor ihm in die Spur zog, dass er bremsen musste. Der Wagen schlängelte zur Seite und krachte gegen Birgits, die gegen die Leitplanke raste und mit ihrem Mann im Vorderraum geradezu zerquetscht wurde. Sandra überlebte nur, weil sie hinten saß.«

Beinahe verschlucke ich mich an meinem Brot. »Das ist ja schrecklich«, flüstere ich und schüttle den Kopf, um das Bild vor meinem inneren Auge loszuwerden. »Was ist mit dem Fahrer passiert, der ihn überholt hatte?« Meine Hände zittern und eine kalte Leere nimmt von mir Besitz. Ich weiß einfach nicht, was ich gerade denken soll. Es ist das eine, zu wissen, dass Sandra ihre Mutter und ihren Stiefvater verloren hat, doch das andere, zu erfahren, wie es genau geschah. Sie muss so tapfer gewesen sein, diesen Schmerz über den Verlust all die Jahre ertragen zu können.

»Der ist einfach weitergefahren«, unterbricht Harvey meine Gedanken und ich sehe in sein sorgenvolles und gleichzeitig entsetztes Gesicht. Ihn trifft es genauso hart wie mich.

Wie kann man nur so ein Arschloch sein? Ich hasse diese Raser, die immer nur drängeln müssen, ohne Rücksicht auf andere Leben. Als gehöre die Welt ihnen.

Ich beiße in mein Marmeladen-Croissant, während Harvey Würstchen mit Speck, Ei und Toast isst und wir regen uns gemeinsam über den Überholer auf. Ich bete, dass man ihn irgendwann wegen einer Kleinigkeit, einem vergessenen Strafzettel oder so, dran kriegt.

Wir lassen uns viel Zeit beim Frühstücken und gehen noch einmal alle Informationen durch, die wir bisher haben. Wir wissen, dass Sandra nach dem Unfall ab 1995 im Heim war und dass sie 2001 in einer Bäckerei arbeitete und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Und dass sie einen Jurastudenten kennengelernt hatte. Nur wo ist sie jetzt, vierzehn Jahre später? Ob sie immer noch mit dem gleichen Mann wie damals zusammen ist? Es sind noch so viele Fragen offen, hoffentlich bekommen wir heute weitere Antworten.

Um kurz vor elf Uhr checken wir aus. Die Dame am Empfang entschuldigt sich noch einmal für die Unannehmlichkeiten und erlässt uns dafür die Kosten für das Frühstück. Ich bin froh, dass Harvey gestern Abend so ruhig geblieben ist, auf Streit mit der Direktion hätte ich nicht wirklich Lust gehabt. Vielleicht war es auch ein Wink des Schicksals, um uns näher zusammenzuführen, sonst hätten wir uns schließlich nie das Zimmer geteilt.

Draußen bringt uns jemand unseren Wagen und wir fahren zu der Adresse, die uns Mr Westfield gestern Abend gegeben hat.

 

»Sie wünschen?«

Ich sehe den Butler, zumindest gehe ich davon aus, dass es einer ist, skeptisch an und überlasse Harvey das Reden. Er kann so etwas besser als ich und seine vornehme Art kommt in einem reichen Hause wie diesem sicherlich gut an.

Harvey nickt dem Mann zu und ein Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab. »Guten Morgen Sir, wir würden gerne mit Mr Flintwood sprechen.« Ich kann nicht erklären wieso, doch ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken, während er neben mir steht und spricht.

»Haben Sie einen Termin?«

»Brauchen wir den denn?«, frage ich, mehr an Harvey, als an den Butler gewandt.

»Mr Flintwood ist sehr beschäftigt.«

»Es ist wirklich wichtig«, erwähne ich, auch wenn ich weiß, dass ich für ihn wie ein quengelndes Kleinkind wirken muss.

Der Butler atmet hörbar aus und dreht seinen Kopf zur Seite, als würde er auf jemanden warten. Worauf wartet er bloß?

»Wie lautet Ihr Anliegen?«

Ich hatte den Mund schon offen, als Harvey mir wieder diesen Ich-mach-das-schon- und lass-mich-reden-Blick zuwirft und ich ihn rasch zuklappe.

»Mr Flintwood hatte vor zwanzig Jahren einen Autounfall«, beginnt er und der Butler versteift sich.

Seine Augen ziehen sich zusammen. »Sie sind von der Presse, verschwinden Sie! Los, sonst rufe ich die Polizei.«

Ich weiche zurück und greife instinktiv nach Harveys Hand, doch dieses Mal schüttelt er mich ab und drückt sie stattdessen gegen die Tür, damit der Butler sie nicht zuschlagen kann.

»Wir sind nicht von der Presse«, sagt er deutlich.

»Ich bin die Schwester der Tochter«, werfe ich ein und ein verwirrter Ausdruck tritt auf das Gesicht des alten Mannes vor uns.

»Sandra hatte keine Schwester«, ertönt eine tiefe Stimme aus dem Hintergrund und ein alter Mann, auf einen Krückstock gestützt, tritt aus dem Schatten. Ein schwarz-grüner Morgenmantel bedeckt seine Schultern und flattert im leichten Windzug um seine Knie. »Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?«

»Mr Flintwood, bitte entschuldigen Sie die Störung, wir müssen dringend mit Ihnen über Sandra reden«, wiederholt Harvey im ruhigen Ton. Er sieht ihn an, als wäre er auf alles gefasst.

Ein eigenartiger Ausdruck huscht über Flintwoods Gesicht, als würden Erinnerungen vor seinem Auge vorbeilaufen. Beinahe von mir unbemerkt schüttelt er sich und sieht uns abwertend an. Ich weiß nicht, was ich von diesem Mann halten soll und schaue fragend zu Harvey, dessen Hand immer noch gegen die geöffnete Tür drückt, als hätte er Angst, dass Flintwood sie jeden Moment zuknallt. Sein Bizeps sticht dabei deutlich hervor und definiert die Muskeln unter seinem Shirt.

»Da gibt es nichts zu reden«, sagt der alte Mann grimmig und dreht sich um, um zurück in der Dunkelheit zu verschwinden. Der Butler wartet an der Tür, er wirkt unsicher. Genauso fühle ich mich auch gerade. Unsicher und verloren.

»Bitte«, flehe ich und ergreife die Chance. Einen großen Schritt trete ich nach vorne, so dass ich im langen, dunklen Flur des Hauses stehe. Der Butler schaut mich an, als würde er sofort die Polizei rufen, wenn ich es auch nur wage, noch einen weiteren Schritt hinein zu treten. Dennoch lässt er mich gewähren und vorsprechen. Erleichternd atme ich aus. »Ich bin Linda, Linda Baumgärtner. Und Sandra ist meine Halbschwester. Ich suche sie schon seit vier Monaten.« Ein Kribbeln durchzieht meinen Rücken, als ich Harveys warme Hand schützend auf mir spüre. Er ist für mich da.

Flintwood bleibt stehen, dreht uns jedoch weiterhin den Rücken zu. Seine Stimme hallt von der hohen Decke wieder. »Halbschwester? Sie hat nie etwas von einer Schwester erzählt.«

»Würden Sie uns bitte reinlassen, damit wir Ihnen alles erklären können?«, übernimmt Harvey das Wort und schiebt mich weiter in die Dunkelheit hinein.

Ein Schnauben ertönt aus dem Flur. »Wenn‘s sein muss. Peter, führen Sie die beiden in den Salon.«

Ich kann ein Lächeln nicht mehr unterdrücken und strahle Harvey an. »Gut gemacht«, flüstere ich und wir gehen von Peter überholt durch den dunklen Flur. Er führt uns nach rechts in einen weitläufigen Raum hinein. Trotz der Größe fühle ich mich durch die vielen dunkelfarbigen Ölgemälde an den Wänden, dem schwarzen Teppich und den braunen Deckenplatten erdrückt. Sie scheinen jegliches Licht zu schlucken, das die tiefen Fenster an der Südseite spenden.

»Setzen Sie sich«, sagt Mr Flintwood und zeigt auf zwei braune Ledersessel ihm gegenüber. Er selbst nimmt in einem Schaukelstuhl Platz, schlägt seine Beine übereinander und zündet sich eine Zigarre an. Ich muss husten, als mir ihr Rauch entgegenschlägt.

»Sandra … sie hat nie eine Schwester erwähnt.«

»Sie weiß nichts von mir. Ich habe ja auch erst vor kurzem von ihr erfahren. Unser Vater hatte nie von ihr erzählt.« Mein Herz schlägt fest und schnell gegen meinen Brustkorb, als das Wort auf Dad fällt.

»Hmm«, macht Mr Flintwood nur, also rede ich weiter.

»Mein Vater hat Blutkrebs, er stirbt bald.« Ich muss schlucken, als mir klar wird, was ich gerade gesagt habe. Ein leichtes Zittern nimmt Besitz von mir ein und ich sehe rüber zu Harvey; sehe in seine warmen, hoffnungsvollen Augen. Er legt eine Hand auf mein Bein und ich höre auf, mit ihm herumzuwippen. Langsam fällt die Nervosität ab und die ständige Angst um Papa legt sich wieder. Ich schließe die Augen und atme tief durch, um nicht loszuweinen. »Er, er …«, beginne ich und kaue auf meinen Wangentaschen herum. Harvey sitzt ganz ruhig da; dieses Mal fällt er mir nicht ins Wort. Ich reiße mich zusammen. »Ich – ich habe Unterlagen über sie auf unserem Dachboden gefunden. Mein Vater hat mir daraufhin erzählt, dass er Sandras Mutter Birgit kennenlernte, lange, bevor er meine Mutter kannte. Als Sandra sieben Jahre alt war, ist Birgit mit ihr nach England abgehauen und unser Vater hat die beiden nie wieder gesehen. Ich suche sie, um …«

»Um Ihren Vater zu retten«, beendet der alte Mann vor uns meinen Satz und setzt sich aufrecht hin, was ihm im Schaukelstuhl schwerfällt. Er sieht gebrechlich aus.

»Ja, vielleicht kommt sie als Stammzellspenderin in Frage. Und wenn nicht, ist es die letzte Chance, dass sie und unser Vater sich wiedersehen.« Ich versuche, das alles so nüchtern wie möglich zu sagen, um nicht wieder zu weinen. Trotzdem schaffe ich es kaum, die Feuchte aus meinen Augen fernzuhalten.

»Verstehe. Und wie soll ich Ihnen dabei helfen? Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr. Am Anfang hatte sie mich hin und wieder besucht. Da war sie jedoch die Einzige. Die Leute meiden mich seit dem Unfall. Erst wurde ich aus dem Stadtrat gewählt, dann auch aus allen anderen Räten. Dabei konnte ich noch nicht einmal etwas für diesen dummen Unfall. Ich hätte schon Superman sein müssen, um ihn zu verhindern. Und der Idiot, der Schuld war, kam ungestraft davon.«

»Wir kennen die Geschichte«, sage ich ruhig und falte meine Hände in meinem Schoß.

»Ja? Gut so. Wenigstens zwei, die mich nicht verurteilen. Jedenfalls kam Sandra am Anfang öfters mal vorbei. War nicht leicht für sie. Aber sie hatte mir verziehen, hat verstanden, dass ich nichts für den Tod ihrer Mutter konnte. Sie war ein nettes Mädchen. Irgendwann kam sie jedoch nicht mehr, sie meinte, sie hätte keine Zeit, hätte jemanden kennengelernt, so einen Anwalt. Ich weiß nicht, ob es stimmte. Vielleicht hatte sie auch nur keine Lust, ihre freie Zeit mit einem Greis wie mir zu verbringen. Ein paar Weihnachtskarten habe ich noch bekommen, die könnt ihr haben, vielleicht helfen sie euch. Weiß nicht, ob was Wichtiges drinnen steht. Kann sie eh nicht mehr lesen, bin ohne die Brille«, er zeigt auf seine Nase, »fast blind und mit sehe ich auch nicht mehr viel. Peter, kramen Sie doch bitte mal alle Weihnachtskarten dort hinten aus der Schublade raus und suchen sie jene von der jungen Sandra heraus.« Der wedelt mit seiner Hand und zeigt auf eine dunkle Kommode, sicherlich antik.

Peter verbeugt sich leicht vor ihm und entfernt im selben Zug einen hellen Fussel von der Hose des Greises. »Natürlich, Sir. Wie Sie wünschen.« Er geht vor zu der Kommode und kommt nach kurzer Zeit mit einem Stapel bunter Briefumschläge in der Hand zurück.

Mr Flintwood weist ihn mit einer Geste an, sie mir zu überreichen und ich lächle ihm freundlich nickend zu.

»Vielen Dank Sir, ich bin mir sicher, dass wir hierin ein paar Informationen zu Sandra finden werden, die uns weiterhelfen.«

»Ich gönne es Ihnen und Ihrem Vater«, sagt Flintwood ernst und deutet uns, dass es Zeit wird zu gehen. Ich kann es dem alten Mann nicht verübeln, schließlich war er nicht auf Besuch vorbereitet. »Peter, geleiten Sie das Paar bitte raus und machen Sie anschließend mein Bett fertig. Es wird Zeit für eine Stunde Augenpflege.«

Ich muss schmunzeln. Harvey grinst mir bei Flintwoods Worten frech zu und zwinkert.

»Was hältst du von ihm?«, frage ich Harvey, als wir bereits im Auto sitzen und Richtung London fahren.

Er zuckt die Schultern. »Er ist schon ein komischer Kauz, aber am Ende war er ja doch noch ganz gesprächig.« Ja, das war er. Viel mehr, als ich es zu Beginn erwartet hatte.

 

 

Linda

She does not know why I'm really here. She does not understand why it was so important to me to come here – to England. Why I just leave her and dad alone and that the whole thing is anything but selfish of me.

 

Als wir nach einem langen Stau endlich in London ankommen, ist es bereits kurz vor sieben. Harvey lässt mich nach einem kurzen – gut, ziemlich langen – Kuss vor meinem Haus raus und fährt zu sich nach Hause. Ich bin überrascht. An diesem Wochenende haben wir zu zweit viel mehr erreicht, als ich alleine während all der Zeit bei Kinnings. Inzwischen bin ich mir sicher, dass es die richtige Entscheidung war, Harvey in alles einzuweihen und das nicht nur wegen seiner leidenschaftlichen Küsse. Verträumt mit einer Hand an meinen Haaren herumzwirbelnd, öffne ich die Tür zu meiner Wohnung und schmeiße meine Tasche auf das Sofa. Seine leidenschaftlichen Küsse … wiederhole ich gedanklich und mir wird klar, was dieser Tag für uns bedeutet. Wir kommen Sandra mit jedem Schritt näher und damit auch der Rettung meines Vaters und meiner Rückreise nach Deutschland. Weiß er, was das für uns heißt? Versteht er das Problem? Bisher haben wir kein Wort darüber verloren, was geschieht, wenn meine kleine Mission beendet ist. Ich habe gar keine andere Wahl, als zurückzukehren. Wenn Sandra als Spenderin in Frage kommt, wird es dauern, bis mein Papa sich von all den Strapazen erholt hat und wieder ein normales Leben führen kann. Kann sie nicht spenden, möchte ich wenigstens so lange wie möglich bei ihm sein. Er wird mich brauchen, so wie ich ihn und Mama mein Leben lang gebraucht habe. Ich kaue auf meinen Lippen herum und stelle meine Tasche unter die Garderobe in den Flur. Es wird Zeit, mich wieder einmal mit meiner Mutter auseinanderzusetzen. Sie weiß nicht, warum ich wirklich hier bin. Sie versteht nicht, wieso es mir so wichtig war, hierher zu kommen – nach England. Warum ich sie und Papa einfach alleine lasse und dass das Ganze alles andere als egoistisch von mir ist.

Ich krame mein Handy aus der Tasche, schmeiße mich aufs Sofa und wähle unsere Nummer. Das Freizeichen ertönt.

»Baumgärtner«, ertönt ihre liebliche Stimme und ich muss augenblicklich grinsen. Egal, wie oft wir uns in den letzten Wochen gestritten haben, ich vermisse sie so sehr.

»Hey Mum, ich bin‘s.«

»Jetzt nennst du mich also schon Mum?«

»Ach Mama.« Ein leises Stöhnen entfährt mir. Wieso muss unser Telefonat gleich so beginnen?

»Schon besser. Du hast mich noch nie Mum genannt, ich hoffe, deine neue Heimat färbt nicht noch mehr auf dich ab.«

Ich verdrehe die Augen und gebe einen kleinen Seufzer von mir. »Das ist nicht meine neue Heimat. Und das weißt du ganz genau. Ich bleibe nur für ein paar Monate hier, um mich beruflich weiterzubilden. Du bist nach dem Studium doch auch für ein halbes Jahr nach China gezogen.«

»Mein Vater lag damals aber auch nicht im Sterben«, kontert sie und ich schlucke.

»Mama, du weißt, dass ich sofort nach Hause komme, wenn es ernst werden sollte. Bis dahin muss ich diese Chance nutzen. Wenn Papa mir seinen Segen gegeben hat, solltest du das auch tun.« Ich reibe mir mit der freien Hand den Arm. Ich würde ihr gerne die Wahrheit sagen, wieso ich wirklich hier bin, doch ich musste Papa versprechen, dass ich dichthalte, dass sie nichts von Sandra erfahren wird, solange ich sie nicht gefunden habe. »Wie geht es Papa denn?«, frage ich mit ruhiger Stimme, setze mich in den Schneidersitz und decke meine Beine mit einer Wolldecke zu.

Mama stößt ein beunruhigendes Schnauben aus. »Er ist schwach. Gestern ist er im Sitzen zusammengeklappt, zum Glück waren die Pfleger da. Tess lässt sie jetzt jeden Tag rein, wenn ich auf Arbeit bin.« Tess ist unsere Nachbarin. Ich wusste nicht einmal, dass Mama so gut mit ihr befreundet ist, dass sie ihr unseren Schlüssel anvertraut.

»Kommst du damit klar?« Ich beiße mir erneut auf die Lippe, ich weiß, dass Mama total überfordert ist. Beinahe hoffe ich, dass sie Ja sagt, auch wenn ich genau weiß, dass es eine Lüge wäre.

»Es wäre leichter, wenn du wieder hier wärst. Weißt du, ich verstehe es einfach nicht. Du hast uns die ganze Zeit unterstützt, bist sogar zurück in unser Haus, in dein altes Kinderzimmer gezogen und dann bekommst du so ein lächerliches Angebot und lässt uns sofort und ohne nachzudenken, was du deinem Vater damit antust, im Stich.«

In meiner Brust hämmert es. »Mama«, flüstere ich. Weiß sie denn nicht, wie weh sie mir mit diesen Worten tut? Ich wische mir ein paar Tränen aus dem Gesicht und versuche, den Kloß im Hals loszuwerden. »Mama …«, setze ich erneut an, doch ich habe keine Ahnung, was ich ihr sagen soll. Ich möchte sie nicht mehr anlügen. Ich möchte, dass sie mich wieder lieb hat und mich in den Arm nehmen kann, ohne mich schuldbewusst anzusehen. »Ich … gib … gib mir noch einen Monat, in Ordnung? Ich möchte wenigstens meine Probezeit hier auskosten.«

»Einen Monat? Schatz, was soll dir dieser Monat bringen? Glaubst du wirklich, der wird so sehr in deinem Lebenslauf hervorstechen, dass sie dir deswegen später die Bude einrennen? So funktioniert das Arbeitsleben nicht.«

Ich atme hörbar aus. »Ach Mama, du verstehst das nicht.«

»Nein Schatz, du verstehst das nicht. Komm einfach nach Hause, wir brauchen dich hier. Papa und ich auch.«

»Ich muss jetzt auflegen«, lüge ich. »Drück Papa von mir und schau, dass er gut isst.«

Jetzt seufzt Mama. »Ich hab dich lieb mein Spätzchen, trotz allem.«

»Das weiß ich doch. Ich dich auch. Tschüss.«

»Tschüss, mein Schatz.«

Ich drücke auf den roten Hörer und schmeiße mein Handy in die andere Ecke der Couch. Mama hat recht, sie braucht mich. Was habe ich mir nur dabei gedacht, sie so lange alleine zu lassen. Jetzt müssen sich schon unsere Nachbarn um Papa und die Pfleger kümmern. Das ist einfach nicht richtig. Das ist alles nicht richtig!

Ich lasse mich zurücksinken und schalte den Fernseher ein, vielleicht kann der mich ein bisschen ablenken.

 

 

Linda

»Oh, so you were alone with him?«

 

Am nächsten Morgen erscheine ich pünktlich auf der Arbeit, doch Harvey ist noch nicht da. Nachdem ich zwei Nächte in Folge in seinen Armen eingeschlafen und ohne ihn aufgewacht bin, war es diese Nacht sehr ungewohnt ohne ihn. Die Gedanken an den Zorn meiner Mutter und die Verachtung darüber, dass ich hier bin, ließen mich erst spät schlafen. Nun stehe ich hier, trage schwere Augenringe mit mir rum und sehe einfach nur scheiße aus. »Wann kommt er denn?«, frage ich Delilah, die vor mir steht und mit einem Plastikstäbchen in ihrem Kaffeebecher herumrührt.

»Ich weiß es nicht. Er hat mir nicht einmal gesagt, wo er hin will. Nachdem er ein paar Minuten im Büro war, hat er sich bloß sein Sakko gegriffen und ist rausgestürmt.« Delilah zuckt mit den Schultern und zeigt auf ihren Tischkalender. »Einen Termin hat er jedenfalls nicht.«

»Und jetzt? Meinst du, ich soll auf ihn warten? Oder darf ich solange über dem Bauplan brüten?«

»Ich kann dir Daniel hochschicken. Vielleicht hat er etwas für dich zu tun.«

»Ja, das wäre super. Ich will schließlich nicht schon wieder fürs Nichtstun bezahlt werden.« Ich muss an meinen ersten Tag in London denken und wie wir den ganzen Tag nur spazieren waren und uns die Stadt angesehen haben. Ein Schmunzeln überkommt mich, wenn ich daran denke, wie hilflos ich mich auf dem Riesenrad fühlte und wie wir uns dort das erste Mal richtig nahekamen. Es hatte beinahe etwas von einem Date.

Es dauert nicht lange und ich treffe mich mit Daniel in seinem Büro. Er breitet die zwölf Pläne, von jedem Stockwerk eines, vor uns auf dem Tisch und auf dem Boden aus. »Passt mir ganz gut, dass du hier bist«, sagt er und lächelt mich an. »Wir haben irgendwo einen Fehler gemacht, doch ich weiß nicht genau, wo. Und du hattest ja schon mal einen in der Zeichnung gefunden.«

»Drei«, korrigiere ich ihn.

»Ja, ja. Zieh mich bitte nicht weiter damit auf. Wir haben am Freitag versucht, alles zu einem 3D-Konstrukt zusammenzuführen, aber es sah komisch aus. Ich komme nur nicht darauf, wieso.«

»Kannst du mir das Modell zeigen?«

Er zeigt auf den Laptop, der in der Ecke auf einem Tisch steht und ich folge ihm dorthin. Er tippt etwas ein und kurze Zeit später poppt der neue Bürotower vor uns auf.

Ich schüttle den Kopf. »Der passt wirklich überhaupt nicht dorthin. Wieso wollen die das Stadtbild so zerstören?«, frage ich. Es ist das erste Mal, dass ich ein Bild des Towers von außen zu Gesicht kriege.

»Das hat Delilah mich auch schon gefragt«, antwortet er und reibt sich das Kinn. »Hat sie mich eigentlich mal erwähnt?«

»Nein, wieso?«, frage ich, ohne nachzudenken, und würde mir am liebsten gleich den Schädel auf die Tastatur hauen.

»Nur so. Hätte ja sein können, weil ich doch am Freitag nicht konnte.«

»Stimmt«, erinnere ich mich. Ich hatte das Essen schon wieder vollkommen vergessen. »Aber sie war auch nicht da.«

»Oh, also warst du alleine mit ihm? Na, wie war es denn so?« Er knufft mir neckisch mit der Faust in die Hüften.

Ist das sein Ernst? »Und wenn schon«, sage ich augenrollend und drehe mich um, weil die Tür aufgeht.

 

Harvey

»I noticed last night that they are all from the same manufacturer, a small shop here in London.«

 

»Daniel.« Ich nicke meinem alten Freund zu. Wieso grinst er so dämlich? Ist auch egal, ich schaue zu meiner Liebsten. »Linda, kommen Sie bitte in mein Büro. Daniel, Sie werden von Robin gebraucht.«

»Natürlich, Boss. Entschuldige, Linda. Viel Spaß noch euch zweien.« Er zwinkert ihr zu und beginnt, die vielen Pläne zusammenzurollen. Worüber haben die beiden eben gesprochen?

»Hey, hast du mich schon vermisst?«

Meine Hände gleiten um ihre Hüften, als wir außer Sichtweite sind, und verschränken sich hinter ihrem Rücken, sodass sie nicht mehr weglaufen kann.

»Ein bisschen – möglicherweise auch ein bisschen mehr.« Sie grinst, doch es kommt nicht bei ihren Augen an. Die wirken hundemüde. Hat sie denn gar nicht schlafen können?

»Was wollte er von dir?«, frage ich Linda ruhig.

»Nichts Besonderes. Ich sollte bloß mal einen Blick auf die Pläne werfen, irgendetwas scheint beim 3D-Modell nicht zu stimmen. Auf den ersten Blick konnte ich jedoch nichts erkennen. Also außer, dass der Tower überhaupt nicht dorthin passt.«

»Ach, ich weiß. Aber der Bürgermeister lässt einfach nicht mit sich reden.«

»Wo warst du denn den ganzen Morgen? Delilah meinte, du wärst ohne ein weiteres Wort verschwunden.« Ihre liebliche Stimme ist ganz leise. Wieso wirkt sie heute so bedrückt?

»Ja, so mehr oder weniger«, antworte ich ihr. »Komm mit in mein Büro. Es müssen ja nicht alle wissen, was wir das ganze Wochenende getrieben haben.« Wir haben während der Heimfahrt gestern viel geredet, auch darüber, dass wir es vorerst niemandem in der Firma sagen wollen. So wie Daniel uns jedoch eben angeschaut hat, ahnt er bereits etwas.

»Hier«, ich zeige auf die Weihnachtskarten auf meinem Schreibtisch, die Sandra Mr Flintwood geschickt hatte. Heute Morgen war ich bereits unterwegs gewesen und habe ein paar interessante Dinge erfahren. »Du hast sie auf dem Rücksitz liegen lassen«, beantworte ich ihren fragenden Blick. »Mir ist gestern Abend aufgefallen, dass sie alle vom gleichen Hersteller sind, einem kleinen Laden hier in London. Ich hatte heute Morgen mit der Besitzerin telefoniert und mich spontan mit ihr getroffen. Sie meinte, dass sie in Eastbourne nur einen einzigen Schreibwarenladen mit ihren selbsterstellten Karten beliefere. Vielleicht haben wir ja Glück und der Besitzer kennt sie. Ich habe Miss Marple gefragt: Es ist ein kleiner, privater Laden. Wenn du möchtest, fahren wir heute noch hin.«

Sie runzelt die Stirn und begutachtet eine Karte nach der anderen. »Heute?«, fragt sie kritisch. »Wie soll das gehen, wenn wir nach der Arbeit losfahren, wird der Laden längst geschlossen haben. Lass uns Samstag früh hinfahren, oder wir rufen an und machen einen Termin aus.«

»Ich Idiot.« Mann, bin ich blöd. Meine flache Hand klatscht mir vor die Stirn. »Gut, dann eben so. Ich bitte Delilah, dort anzurufen.«

»Und was willst du ihr sagen, wieso sie dort anrufen soll? Ich dachte, wir behalten die Sache erst einmal für uns.«

Ich seufze. Wie schaffst sie es nur, immer recht zu haben? »Dann rufe ich gleich an, oder willst du es tun? Ach nein, ich mache das schon. Um dreizehn Uhr kommt außerdem ein Kunde vorbei, du kannst dann wieder zu Daniel, wenn du möchtest. Ich glaube, er kann deinen scharfen Blick ganz gut gebrauchen.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Scharfer Blick?«

»Scharfer Blick, scharfes Aussehen …« Ohne es zu wollen, ziehe ich sie zu mir. Ja, scharf ist sie wirklich. Meine Hand fährt über ihren Po und sie drückt sich an mich. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten und küsse sie. Erst, als es plötzlich klopft, lasse ich sie rasch los und richte mein Hemd. Vielleicht ist mein Büro nicht der richtige Ort für solche Sachen.

Delilah klopft ein weiteres Mal und ich lasse sie herein. Ich wusste sofort, dass sie es war. Sie klopft immer im gleichen Rhythmus an.

Ich zwinkere Linda zu und werfe ihr hinter Delilahs Rücken einen Kussmund zu, ehe sie den Raum verlässt und zurück zu Daniel geht. Kurz überlege ich, ob es wirklich so eine gute Idee ist, sie mit ihm alleine zu lassen. Daniel kann sehr charmant sein, wenn er sich nicht gerade total dusselig und verpeilt anstellt. Doch dann sehe ich Delilah vor mir, die mir ein Kuvert überreicht und erinnere mich daran, dass ich sein Interesse an Delilah längst durchschaut habe und mich daher nicht wirklich um Linda sorgen muss.

 

 

Linda

His eyes are green like moss. They shine like a forest clearing in the morning dew. I cannot help it. My hand encloses his, the other reaches around his torso.

 

Mein Blick geht zur Uhr an der Wand. Noch eine Stunde und mein heutiger Arbeitstag ist vorbei. Morgen ist bereits wieder Freitag und das Wochenende – und damit die Zeit, in der Harvey und ich alleine sind – naht. Ich sehne mich nach ein bisschen Zweisamkeit mit ihm. Die letzten Tage waren anstrengend. Der Abriss des alten Bildungsgebäudes steht kurz bevor und damit steigt auch der Druck, die Pläne für den neuen Bau endgültig fertigzubekommen. Harvey kommt um die Ecke und winkt mir zu. Ich schaue zu Daniel und zucke mit den Schultern. »Pack deine Sachen zusammen, Linda, wir fahren nach Eastbourne. Kinnings hat gleich ein Vorstellungsgespräch, dein Posten muss endlich neu besetzt werden.«

»Also hat er ein neues Mädchen für alles gefunden?« Daniel lacht neben mir kurz auf, während Harvey den Kopf schief legt und uns blöd angrinst.

»Na komm, so schlimm war es ja wohl nicht bei ihm«, versucht er mich aufzuziehen. Stimmt, ich hätte es tatsächlich schlechter treffen können. Dennoch hätte er mir ruhig hin und wieder mehr zutrauen können, so wie Harvey es macht.

»Tschüß«, sage ich zu Daniel und umarme ihn zum Abschied. Wir beide verstehen uns ziemlich gut, auch wenn es manchmal nervt, dass er ständig gegen mich und Harvey stichelt. Soweit ich das mitbekommen habe, sind die beiden schon ziemlich lange befreundet und wenn es für Harvey klar geht, dann ist das auch für mich in Ordnung, denn ich weiß, dass er es nicht böse meint.

»Jedenfalls«, sagt Harvey, nachdem wir den Raum verlassen haben, »können wir davor zum Schreibwarenladen fahren und mit dem Besitzer sprechen.«

»Was?«

»Der Schreibwarenladen«, antwortet er und hebt eine Augenbraue.

Ich brauche einen Moment, um zu kapieren, wovon er spricht. Die Woche wurde ich so sehr auf Trapp gehalten, dass ich die Weihnachtskarten total aus den Augen verloren habe. »Hast du ihn endlich erreichen können?«

»Ja, heute Morgen. Der Besitzer war wohl im Urlaub.« Harvey zuckt mit den Schultern und zieht sich seine Jacke über.

Ich folge ihm aus dem Fahrstuhl und lasse mir von Delilah meine Sachen reichen. Dann fahren wir nach unten, steigen ins Auto und machen uns auf den Weg nach Eastbourne. Schwesterherz, ich komme. Bald hab ich dich.

 

»Mr Barkley, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns nehmen«, begrüßt Harvey den alten Mann.

»Gerne doch, wie kann ich Ihnen beiden behilflich sein?«

Ich ziehe die Weihnachtskarten von Sandra aus meiner Tasche und zeige sie ihm. »Die wurden hier, bei Ihnen, gekauft. Jedes Jahr eine. Erinnern Sie sich an die Käuferin?«, komme ich gleich auf den Punkt.

Er nimmt eine nach der anderen in die Hand, klappt sie auf, liest manchmal ein paar Zeilen darin und schaut sich anschließend die nächste an. »Sandra«, flüstert er und fährt mit dem Daumen über ihre Unterschrift. »Es kam mal eine Sandra regelmäßig hierher. Sie war Deutsche, wie Sie, wenn ich Ihren Akzent richtig deute.«

Ich nicke ihm zu und kann mein Lächeln nicht verbergen. Harveys Hand liegt warm und weich auf meiner rechten Schulter und er drückt sie sachte, als er das sagt.

»Das muss sie gewesen sein. Wissen Sie, wo sie jetzt wohnt oder wie sie mit Nachnamen heißt?«, frage ich aufgeregt. Mein Puls liegt wieder bei hundertachtzig und jagt das Blut durch meine Adern. Ich schaue ihn angespannt an, jede Faser meines Körpers wartet gebannt auf Neuigkeiten von ihm.

Der alte Mann schüttelt seinen Kopf und die Falten auf seiner Stirn werden noch tiefer. Meine Anspannung verpufft im Nichts. »Tut mir Leid, junge Frau. Ich habe sie sicherlich schon seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Damals schob sie eine dicke Kugel vor sich her.«

Ich schau von ihm zu Harvey. »Sie war schwanger?«, frage ich, unsicher, ob ich ihn richtig verstanden habe.

Er nickt und fasst sich an den grauen, kurzen Bart. »Ja, von diesem Anwalt. Ich weiß nicht, ob er ihr Mann war, doch ich habe die beiden öfters zusammen gesehen. Damals wohnte sie nicht weit von hier entfernt; bloß ein paar Straßen weiter in der Cornfield Lane. Meine Tochter ging dort in die Karateschule, da habe ich sie öfters in der Straße gesehen. Das Haus ist jedoch inzwischen abgerissen.«

Harvey lässt seinen Arm sinken und greift nach meiner Hand. Mit dem Daumen streift er über meine trockene Haut. Ich liebe es, wenn er das macht. »Vielen Dank Sir, Sie haben uns sehr weitergeholfen«, sagt er und macht Anstalten, zu gehen.

»Danke, für Ihre Hilfe. Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei uns.«

Der alte Mann nickt und Harvey reicht ihm seine Visitenkarte. Ich bin immer noch total baff. Meine Schwester hat also bereits ein Kind, möglicherweise sogar mehrere. Die ganze Zeit, während ich an sie dachte oder sie mir vorgestellt hatte, habe ich sie nie mit Kindern vor meinem inneren Auge gesehen. Tante – ich bin also tatsächlich Tante.

Wir verabschieden uns von Mr Barkley und setzen uns ins Auto.

»Und jetzt?«, frage ich. »Das bringt uns doch alles nicht weiter.« Auf die kurze Freude folgt wieder Ungewissheit. Hierher zu kommen hilft uns auch nicht dabei, sie zu finden. Am liebsten würde ich meinen Kopf in den Händen vergraben. Mir ist nur noch zum Heulen zumute. Wieso muss alles so kompliziert sein. Sollte ich jemals wieder ein Familienmitglied oder sonst irgendwen suchen, engagiere ich irgendeine Expertin dafür.

»Wir wissen jetzt, dass Sandra wahrscheinlich verheiratet ist und dass sie ein Kind hat. Das ist doch toll. Du bist Tante und dein Vater Opa«, muntert Harvey mich auf – oder versucht es zumindest.

Ich lasse meinen Kopf gegen das kalte Armaturenbrett sinken. »Und was habe ich davon, wenn ich sie und das Kind nie sehen werde?«, murmle ich in meine Armbeuge hinein.

Harvey legt seine Hand auf meinen Schoß. Ein Kribbeln zieht sich bis zu meiner Mitte hin. Was macht dieser Mann nur mit mir, dass selbst kleinste Berührungen nach mehr verlangen? Dabei gingen wir noch nie über einen einfachen Kuss hinaus.

»Warte doch erst einmal ab. Wir fahren jetzt zu Kinnings auf die Baustelle und wenn wir wieder zu Hause sind, dann schauen wir, wie wir mit den neuen Informationen umgehen.«

Ich schaue auf und seufze. Meine Stirn sinkt gegen die kalte Scheibe neben mir. »Na gut. Wahrscheinlich hast du recht.« Ich drehe meinen Kopf zu ihm um. »Wieso bist du beim Vorstellungsgespräch heute eigentlich dabei? Bei meinem warst du doch auch nicht anwesend.«

Harvey grinst und süße Lachfältchen bilden sich um seine Mundwinkel. Immer, wenn ich ihn so lachen sehe, wird mir ganz warm. »Wer, hast du gedacht, hat Kinnings den Skype-Account eingerichtet?« Er zieht seine Brauen so weit nach oben, dass seine Stirn sich kräuselt und sieht mich angeberisch an.

»Also hast du damals zugesehen?«

»Klar, ich war bloß nicht im Bild. Ich muss doch wissen, wer alles für mich arbeitet.« Das ist so typisch er, alles muss er unter Kontrolle haben. Genau das reizt mich jedoch auch so an ihm.

»Wieso hast du dich überhaupt für mich entschieden? Es gab doch sicherlich mehr Bewerber.«

»Möchtest du die Wahrheit wissen?«

»Selbstverständlich.«

Er kratzt sich am Hals, als wäre ihm die Antwort unangenehm. »Weil du eine Frau bist. Eine sehr hübsche Frau und intelligent noch dazu.«

Ich sehe ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Weil ich hübsch bin?«

»Ich schwöre, das ist die Wahrheit.«

»Und der Bewerber heute?«

»Der ist nicht hübsch.« Wir müssen beide über diese skurrile Unterhaltung lachen. »Er war der einzige, den wir auf die Schnelle auftreiben konnten«, gesteht er und sieht mich unschuldig an, ehe er den Wagen in eine große Matschpfütze auf der Baustelle lenkt und einen kurzen Fluch ausstößt.

»Mach dir nichts draus, es gibt Waschanlagen, selbst hier in Eastbourne«, sage ich beschwichtigend und gebe ihm einen flüchtigen Kuss, ehe er aussteigt und auf Kinnings zugeht, der ihn bereits erwartet.

Während ich im Auto sitze und die Ruhe genieße, frage ich mich, ob er damals schon etwas für mich empfand. Dachte er da bereits daran, mich irgendwann einmal daten zu wollen oder kam ich ihm viel zu kaputt vor? Mum und ich hatten einen riesigen Streit ganz kurz vor meinem Bewerbungsgespräch. Ich muss total verheult ausgesehen haben, als ich vor der Kamera saß. Ich weiß noch, dass ich vorher dafür gebetet habe, dass die Kamera hoffentlich ein möglichst unscharfes Bild von mir sendet.

Mein Blick schweift aus dem Fenster, es ist unheimlich ruhig auf der Baustelle. Dann fällt mir ein, dass die anderen vermutlich längst Feierabend haben. Immerhin ist es schon nach sieben, Chris wird längst bei seiner Verlobten sitzen. Schade, ich hätte ihn gerne noch einmal auf einen Plausch gesehen.

 

»Und, wie lief es?«, ich sehe Harvey mürrisch an. Fast eine Dreiviertelstunde habe ich alleine im Auto verbracht. Das war dann doch zu lange. Kurzzeitig hatte ich überlegt, zu Valeries zu laufen, doch die haben um diese Zeit vermutlich schon geschlossen.

Harvey zuckt mit den Schultern. »Den konnte ich Kinnings nicht antun. Der Junge hätte die Firma ins Verderben gestürzt.«

Ich blicke über Harveys Schulter hinweg aus seinem Autofenster zum Container hin. Der Junge steht mit schlaksigem Körper und hängenden Schultern dort und stolpert sogar beim Absteigen der Treppe. Armer Bursche, schießt es mir durch den Kopf.

»Spätestens, wenn er versehentlich in die Baugrube gefallen wäre und sich irgendetwas gebrochen hätte, hätte ich die Arschkarte gezogen.«

»Und jetzt?«, will ich wissen.

»Jetzt? Jetzt gehen wir etwas essen und fahren ins Hotel.«

»Ich meinte Kinnings. Wen wird er nun einstellen?«

»Ach, lass das mal unsere Sorge sein«, sagt er und lässt den Wagen langsam von der Baustelle rollen. Der Junge schaut uns mit verlegenem Blick hinterher. »Du hättest ihm eine Chance geben sollen«, sage ich und schenke dem jungen Mann ein Abschiedslächeln. Keine Ahnung, ob er es aus dieser Entfernung und durch die Scheibe überhaupt sehen kann.

Harvey zieht eine Braue hoch. »Er wird schon etwas finden.«

Ich verschränke die Arme. »Ich finde es nicht gut, wenn du so über die Leute redest. Weder er noch ich haben es verdient. Man stellt doch niemanden ein, weil er hübsch ist. Ich bin doch keine Hostess.«

Harvey seufzt. »Ich will mich nicht streiten. Lass uns einfach ins Hotel fahren. Du siehst hungrig aus.«

»Wieso machst du das überhaupt alles? Mit mir hierher fahren, Krankenhäuser und Schreibwarenläden abklappern?«

»Das weißt du genau.«

»Ach ja?«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie seine Augen feucht werden. Was ist denn nun los?

»Ja«, sagt er nur und klammert sich fester an das Lenkrad, sodass seine Knöchel weiß hervortreten.

Ich schüttle den Kopf und lehne mich zurück in den ledernen Sitz. »Dann halt nicht«, sage ich und lasse meinen Blick aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Strandpromenade schweifen. Er hat recht, ich habe Hunger, und wie. Wir fahren wieder ins Grand. Dieses Mal sollte alles bei der Reservierung passen. Er hat erneut die Mastersuite gebucht.

»Wir hätten uns auch ein kleineres Zimmer teilen können. Achtzig Quadratmeter für eine Nacht sind doch viel zu groß für uns, meinst du nicht auch? Lass uns das Geld nächstes Mal lieber für etwas Sinnvolleres ausgeben.«

»Ein Dach für die Nacht ist etwas Sinnvolles«, sagt er trocken. Was habe ich ihm denn getan? Seit er bei Kinnings war, ist er ganz komisch. Hatten die beiden wieder Streit? Ich schlucke, vielleicht hat Kinnings sich aufgeregt, weil ich mit hierhergekommen bin. Und dann bin ich nicht einmal ausgestiegen, um ihn zu begrüßen. Ich bin so eine Idiotin! Immerhin war er gewissermaßen mal mein Chef.

»Wieso bist du plötzlich so angepisst?«, frage ich in ruhigem Ton und versuche, nicht vorwurfsvoll zu klingen.

Harvey sieht mich mit trüben Augen an. Sein Mund verzieht sich nicht wie sonst zu einem Lächeln, wenn er mich ansieht.

»Seit der Baustelle hackst du nur auf mir herum. Ich kann nichts dafür, dass wir bei der Suche nach deiner Schwester nicht weiterkommen, okay. Glaubst du, ich will deinen Vater nicht retten? Doch, das will ich. Und ich kenne ihn noch nicht einmal. Ich will nicht, dass du so leiden musst, wie ich damals. Ich will nicht, dass du einen Elternteil an diesen Dreckskrebs verlierst, okay? Ich will dir nur helfen. Also hör endlich auf rumzumeckern. Wir fahren jetzt ins Grand und damit basta. Du musst doch sowieso keinen Pence dort lassen.«

Er hält vor dem Grand an, steigt aus und knallt die Tür zu. Dann wirft er den Schlüssel des Mazdas einem Pagen hin.

Ich greife mit zittrigen Händen nach meiner Tasche und steige aus. »Warte«, rufe ich. »Danke …« Mein Kopf ist gesenkt und ich traue mich nicht, ihm in die Augen zu blicken. Er hat recht. Ich sollte mich nicht in seine Firmenangelegenheiten einmischen. Genauso wenig darf ich meinen Frust an ihm auslassen. Hunger hin oder her. Er ist der Einzige, den ich hier habe. Der Einzige, der zu mir steht und mir hilft.

Ich starre auf die glattpolierten Fliesen unter mir und warte darauf, dass er unseren Zimmerschlüssel bekommt.

Ohne mich anzusehen, geht er an mir vorbei auf den Lift zu und drückt den Knopf, der den Aufzug im Foyer halten lässt. Den Portier, der seinen Koffer nehmen möchte, ignoriert er geflissentlich. Ich höre das leise, vertraute Ping und steige neben ihm ein. Ein Seufzer entweicht mir und ich schaue ihn liebevoll an.

»Danke«, sage ich noch einmal, nur lauter. Dieses Mal versuche ich, ihm in die Augen zu blicken. Ich schaue auf und sehe ihn lächeln, sehe in seine grünen Augen und die kleinen Fältchen daneben. Mein Herz beginnt, kräftig gegen meine Brust zu hämmern.

Ohne Umschweife ist der Streit vergessen und er zieht mich zu sich, nimmt mich in seine starken Arme. Ich lege meinen Kopf seitlich auf seine Brust und lasse den Tränen freien Lauf. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten. »Ich will nicht, dass er stirbt«, flüstere ich. Ein lauter Schluchzer entgleitet mir. Ich versuche gar nicht erst, ihn zu unterdrücken.

Er streicht mir über die Haare und schiebt sie aus meinem tränennassen Gesicht. So in etwa durfte ich ausgesehen haben, als er mich das erste Mal sah; vielleicht nicht ganz so schlimm, auch wenn ich mich damals ähnlich zerrissen gefühlt habe. Ich spüre sein Kinn auf meinem Scheitel ruhen, atme seinen herb männlichen Duft ein und schließe die Augen für einen Augenblick.

»Wir werden sie finden«, flüstert er und hebt meinen Kopf an.

Seine Augen sind grün wie Moos. Sie strahlen wie eine Waldlichtung im Morgentau. Ich kann nicht anders. Meine Hand umschließt seine, die andere greift um seinen Oberkörper.

Seine Finger berühren meine Hüften und ein wohliges Kribbeln durchzieht meinen Körper. Irgendetwas ist anders heute. Es ist, als sprängen kleine Funken tanzend über mich. Ich drücke ihn an mich und ehe ich mich versehe, streifen meine Lippen seine.

Alles in mir zieht sich zusammen. Sein Oberkörper presst sich an meinen und er drückt mich sacht und doch bestimmt gegen die Aufzugtüren. Nicht mehr lange und wir werden halten und sie öffnen sich.

Seine Hand fährt über meinen Rücken, während sein Mund über meinen Hals streift. Mit der Nasenspitze schiebt er meine Haarsträhnen zur Seite und küsst mein Ohr. Ein leises Kichern entweicht mir durch das angenehme Kitzeln. Ich wische die Tränen an seiner Schulter weg.

»Wir sind gleich da«, raunt er mir zu und presst seine sanften Lippen erneut auf meine. Ich erwidere den Kuss und lasse meine Zunge vorsichtig um seine gleiten, als der Aufzug mit einem sanften Ruck hält. Zaghaft drücke ich ihn von mir weg und streiche meine Kleidung glatt. Dann hebe ich meine Tasche, die ich irgendwann fallen gelassen haben muss, auf und folge ihm aus dem Aufzug.

Er bleibt vor einer der Türen stehen und sieht mich scharf an. »Darf ich bitten?«

Ich kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken und trete an ihm vorbei in den hellen, offenen Raum hinein und schmeiße meine Tasche auf das Polster vor dem Fenster. Anschließend gehe ich ins Schlafzimmer und lasse mich auf das riesige Bett fallen. Wärme überzieht meine Wangen, während er schweigend näher tritt und mir einen wissenden Blick zuwirft. Er lässt sich neben mich fallen und grinst mich wie ein Honigkuchenpferd an. »Du bist wunderschön«, flüstert er und schiebt meine Haare aus meinem Gesicht. Seine Finger greifen meinen Nacken und mit einem Ruck zieht er mich auf sich. Meine Haare fallen wie ein Vorhang über unsere Gesichter, als ich mich zu ihm hinab beuge und seine Lippen mit tausend Küssen benetze. Er wirft mir ein leises Knurren entgegen und wir drehen uns gemeinsam zur Seite. Seine Hand wandert schleichend unter mein Shirt und schiebt es nach oben. Ich helfe ihm und ziehe es über meinen Kopf. Mit vorsichtigen Griffen tastet er nach meinen Brüsten und schnippt mit der anderen Hand meinen BH auf. Sein Mund zieht eine Spur von Küssen über meinen ganzen Körper, von meinen Lippen über meinen Hals bis zu meiner Jeans, die er elegant mit den Zähnen öffnet. Ich fahre ihm mit den Händen durch die kurzen Haare und drücke meinen Rücken durch, stemme meinen Po nach oben, damit er mich von meiner elendigen Kleidung befreien kann. Meine Jeans landet auf dem Boden, gefolgt von meinem roten Slip.

Sein Mund bedeckt jedes einzelne Stück Haut von mir mit sanften Küssen und hinterlässt ein wohliges Kribbeln. Ich schlinge meine nackten Beine um seine Hüften und ziehe ihn zu mir nach oben. Meine Füße streifen seine Jeans, es wird Zeit, dass er sie auszieht. Er haucht meinen Namen und öffnet seine Hose mit einem Fingerschnippen. Ehe ich auch nur darüber nachdenken kann, was wir als nächstes tun, liegt sie samt seiner Boxershorts neben meinen Klamotten auf dem Boden. Ich setze mich vor ihn, meine Beine noch immer um ihn geschlungen, und streife mir mit den Füßen meine Socken ab, während ich sein Hemd aufknöpfe und über seine muskulösen Arme ziehe. Ich schmeiße das Hemd zur Seite und wir schauen uns stumm an. Dann beugt er sich nach vorne und ich kippe mit ihm auf mir nach hinten. Er übersät meine Brüste, meinen Hals und schließlich meinen Mund mit Küssen und lässt die Welt um mich herum still stehen. Ich bekomme nur noch mit, wie er von irgendwoher ein Gummi herbeizaubert und mir durch sein Eindringen ein lautes Stöhnen entlockt.

 

 

Linda

»He really loves you, I can see that in his eyes. How he always looks at you. He shines every time, but he's scared too.«

 

»Glaubst du wirklich, das bringt etwas? Es ist zehn Uhr morgens, wen sollen wir hier schon groß antreffen? Außerdem ist es Jahre her, dass sie hier gelebt hat. Du hast ihn doch gehört. Das Haus ist längst abgerissen.« Wir laufen am nächsten Tag die Cornfield Lane entlang. Ich bezweifle jedoch, dass es etwas bringt. Um diese Zeit sind die Leute auf der Arbeit und treiben sich nicht vor ihren Einfahrten herum. »Wir können schlecht an jedem Haus halten und klingeln.«

Harvey bleibt stehen und zieht eine Augenbraue hoch, sodass sich seine Stirn kräuselt. »Ist das ein deutscher Name?«, fragt er und zeigt auf ein großes Namensschild aus kleinen Fliesenplatten, das neben der Eingangstür des in die Jahre gekommenen Einfamilienhauses am Ende der Straße hängt. »Was ist das für ein Buchstabe?«

»Ein Ö. Ja, Tölle klingt deutsch. Tölle-Greenwitch. Sandra hieß aber nicht Tölle.«

»Wenn es aber auch eine deutsche Familie ist, kennen sie deine Schwester vielleicht.«

Vielleicht hat er recht. Ich drücke auf den Klingelknopf neben der Tür. Ein lautes Surren ertönt aus dem Hausinneren.

Ich schaue zu Harvey, als niemand öffnet und zucke mit den Schultern. »Keiner da.« Schade, kurz keimte ein Funken Hoffnung in mir auf.

In diesem Moment tritt ein Schatten hinter die Glastür und öffnet sie. Die Frau vor mir ist bestimmt schon an die siebzig Jahre alt. Sie wischt sich mit einem Lappen einen Fleck von ihrer Schürze und sieht uns fragend an.

»Hallo, sind Sie Frau Tölle-Greenwitch?«, frage ich auf Deutsch.

Harvey legt seine Hand auf meine Schulter. Ich verdränge das wohlige Kribbeln, das sich in mir ausbreitet sowie die Erinnerung an gestern Abend und versuche, mich auf die Frau mit dem schütteren, grauen Haar vor mir zu konzentrieren. Hat sie mich nicht verstanden? Sie antwortet nicht.

Die Frau dreht sich um. »Kommt rein«, sagt sie plötzlich und winkt uns in den Hausflur.

In der Wohnung liegt ein modriger Geruch. Wir gehen durch einen schmalen, dunklen Flur und werden von zahlreichen Katzen und Hunden auf Ziertellern an den Wänden beobachtet. Harvey greift nach meiner Hand und wir bleiben im Türrahmen zur Küche der alten Frau stehen.

»Nur noch Tölle«, sagt sie in akzentfreiem Deutsch, setzt sich auf die weiße Eckbank und schält die Kartoffeln vor sich weiter. »Mein Mann ist schon seit einigen Jahren tot. Setzt euch, ihr seht hungrig aus, ich koche für euch mit.«

Harvey sieht mich stirnrunzelnd an und ich zeige auf die freien Stühle vor uns. »Sie brauchen sich unseretwegen keine Mühe zu machen«, sage ich ehrlich, auch wenn ich gegen ein bisschen deutsche Küche nichts einzuwenden hätte.

Frau Tölle wedelt abweisend mit der Hand, in der sie den Kartoffelschäler hält. »Nichts für ungut, Mädchen, lass das meine Sorge sein. Ich hatte schon so lange keinen Besuch mehr, da nehme ich jeden Aufwand gerne auf. Ihr seid doch keine Erbschleicher, oder?«

Ich fange an zu lachen. »Nein, keine Angst, Frau Tölle, wir sind bloß auf der Suche nach meiner Schwester. Sie hat früher in dieser Straße gelebt. Als wir ihr Klingelschild sahen, dachten wir, dass Sie sie als Deutsche vielleicht kannten. Sie heißt Sandra Bergmann oder Ashgold und dürfte jetzt fünfunddreißig sein. Ihr Haus wurde wohl abgerissen.«

Harvey blickt abwechselnd von mir zu Frau Tölle. Offenbar versucht er, unserem Gespräch zu folgen.

»Dein Partner spricht wohl kein Deutsch?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, er ist Brite.«

»Ja, das war mein Henry auch. Halte ihn dir warm, Kind, ich sehe ihm an, dass du ihm viel bedeutest.«

Ich reibe mir mit der Hand über meine Wange. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer und ich kann nicht anders, als sie verlegen anzulächeln. Hoffentlich versteht Harvey wirklich nichts.

»Ich kenne deine Schwester. Eine nette, junge Frau. Haben uns immer gegrüßt.« Die alte Dame steht auf, zündet die Flamme des Gasherdes an und setzt das Wasser auf. Ihr Kinn zuckt rüber zu Harvey, der mit verträumtem Ausdruck aus dem Fenster sieht. »Isst er Kohlrouladen?«

»Ich habe absolut keine Ahnung«, gestehe ich.

»Er wird sie schon mögen. Führe ihn früh an die deutsche Küche heran, sonst musst du ein Leben lang Würstchen, Ei und Bohnen zum Frühstück essen.«

Ich grinse sie an. Harvey scheint nicht zu bemerken, dass wir über ihn sprechen. »Sandra«, sage ich. »Sie meinten, dass Sie sie kennen.«

»Ja, sie war immer mit dem Rad unterwegs. Nicht so geschäftig, wie die anderen Frauen in der Straße. Sie hat sich auch nie darum geschert, was andere so reden. Manchmal hat sie mir Eier und Milch vom Bauern mitgebracht. Dreimal die Woche ist sie morgens mit dem Rad zum Bauern gefahren, um frische Sachen dort zu holen. Der alte Watzke von gegenüber meinte schon, sie hätte eine Affäre mit dem Bauern. Aber der hat sowieso hinter jeder Ecke etwas Unsittliches vermutet. Jetzt liegt er unter der Erde und kann sich nicht mehr beschweren.«

»Haben Sie denn noch Kontakt zu Sandra?«

»Nein, nein gar nicht. Ich weiß nur, dass sie und ihr Mann sich etwas Größeres gesucht haben, als sie den Jungen bekamen.«

Ich drehe mich zu Harvey und stupse ihn an. »Sie hat einen Sohn bekommen«, sage ich auf Englisch zu ihm und er nickt mit strahlenden Augen.

»Herzlichen Glückwunsch, Tante Linda«, flüstert er und gibt mir einen Kuss, als Frau Tölle nicht hinsieht.

»Waren die beiden verheiratet?«, möchte ich wissen.

»Na, du fragst mich Dinge. Ich hab nie einen Ring an ihren Fingern gesehen. Aber ich habe Henrys Ring auch nie getragen. War mir zu ungewohnt. Ich hatte den ja immer nur an meiner Kette.« Sie zieht einen einfachen, goldenen Ring aus der rosa Bluse unter ihrer Schürze hervor.

»Der sieht sehr schön aus. Wie haben Sie und Henry sich kennengelernt, wenn ich fragen darf?« Ich schlage meine Beine übereinander und lausche der forschen Stimme der Frau. Ich finde es spannend zu erfahren, warum sie hierher zog. Während sie spricht, umschließen meine Finger Harveys, der wieder abwesend aus dem Fenster schaut. Dabei war es doch seine Idee, hierher zu kommen.

»Das ist lange her«, sagt sie und blickt in die nicht vorhandene Ferne. »1958 war das. Henry war damals in Westberlin stationiert.« Während sie erzählt, öffnet Frau Tölle den Gefrierschrank und zieht eine Dose aus ihm heraus. Dann legt sie die gefrorenen Kohlrouladen in eine Pfanne und gibt die Kartoffeln ins Wasser. »Ich kam damals täglich aus Ostberlin rüber, da musste ich an ihm vorbei. Er hatte meine Sachen kontrolliert, wie das so üblich war. Als ich wieder zu Hause war, fiel mir auf, dass ein Brief meiner Schwester an mich fehlte. Da waren so schöne Fotos drin. Die Käthe wohnte damals in Sachsen, bei Dresden. Jedenfalls bin ich zurück zum Grenzposten, um den Umschlag abzuholen. Der ist wohl aus der Tasche gefallen und niemand hat‘s bemerkt. Offenbar habe ich dem Henry damals ganz schön den Kopf verdreht. Der hatte mich nämlich gleich danach zum Essen eingeladen. Bevor die Grenzen dann ganz dicht gemacht wurden, sind wir hierher rübergeschippert. Man hatte ja schon geahnt damals, dass da irgendetwas kommt. Da konnte der Ulbricht einem noch so oft erzählen, dass man nichts plane. Nur meine Schwester, die Käthe, die ist damals nicht mitgekommen. Ich hatte es ihr ja angeboten. Das Haus, das wir damals hatten, war ja groß genug für drei. Ich hab sie dann lange nicht mehr gesehen. Sie kam ja nicht raus aus‘m Osten. 1990 hat sie mich dann das erste Mal besucht und danach haben wir uns alle zwei, drei Jahre getroffen. Das war schön nach all der Zeit. Und sie hat sich auch immer toll mit meinem Henry verstanden. Sie hat ja selbst nie geheiratet, wissen Sie.« Frau Tölle wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. »Vor vier Jahren ist sie gestorben, kurz nach meinem Mann, seitdem bin ich alleine hier. Ist auch nicht mehr so leicht heutzutage, jemanden kennenzulernen. Ich war ja schon froh, dass Ihre Schwester hin und wieder vorbei kam, um meinem Mann und mir ein paar Sachen vom Hof mitzubringen. Aber den Hof gibt es auch schon lange nicht mehr. Da steht jetzt ein großer Mastbetrieb.« Frau Tölle wendet sich wieder der Pfanne zu und rührt die Soße an. »Früher war das alles anders. Da kannte man seine Nachbarn noch. Jetzt ist man ja immer froh, wenn einem wenigstens ein Guten Tag entgegengebracht wird.«

»Das stimmt leider«, antworte ich. Zugegeben, ich kenne auch kaum einen aus meiner Nachbarschaft, weder hier, noch bei meinen Eltern in Germering.

»Ich hab euch gar nichts zu trinken angeboten. Was möchtet ihr denn? Wasser, Tee?«

Ich schaue zu Harvey und frage ihn. »Für uns beide Wasser, danke«, antworte ich.

Sie stellt jedem ein Glas auf den Tisch und füllt eine Karaffe mit Wasser auf.

Harvey schüttet sich etwas ein und nippt an seinem Glas. »Weiß sie etwas über Sandra?«

»Nicht viel. Jeder scheint sie zu mögen, aber keiner zu kennen. Das macht es nicht leichter. Ach ja, Frau Tölle lädt uns zum Essen ein.«

Seine Stirn wirft tiefe Falten. »Probiere bitte wenigstens; die deutsche Gastfreundschaft sollten wir nicht verstoßen. Außerdem ist sie so alleine«, flüstere ich und er nickt, wenn auch mit widerwilligem Ausdruck. Ich nehme seine Hand und streife mit meinem Daumen über die feinen Härchen an seinem Handgelenk. »Es wird dir bestimmt schmecken«, sage ich leise und gebe ihm einen kurzen Kuss auf die Wange. Er nimmt seine andere Hand und dreht meinen Kopf zu sich, dann drückt er seine warmen und weichen Lippen auf meine. Er schmeckt nach Honig, auch wenn ich nicht weiß, wieso.

»Es ist schön, wahre Liebe noch einmal erleben zu dürfen«, sagt Frau Tölle und holt uns so wieder zurück in die Gegenwart. Harvey läuft rot an. Das habe ich noch nie bei ihm erlebt. Ob er verstand, was sie sagte? Es ist mir zu peinlich, ihn danach zu fragen. Und was ist schon wahre Liebe? Meine Eltern, die lieben sich, da bin ich mir sicher. Die kennen sich aber auch seit fast dreißig Jahren. Harvey kenne ich noch keinen Monat richtig. Ich schaue in seine tiefgrünen Augen und versuche zu erkennen, ob sie mich so betrachten, wie mein Vater meine Mutter immer ansieht. Er lächelt mich an. Das tut Papa auch immer bei Mama. Nur wenn Papa sie so liebt, wieso sagt er ihr dann nicht die Wahrheit? Sollte wahre Liebe nicht alles überstehen?

»Woran denkst du?«, fragt Harvey mich.

»An meinen Vater.«

Er drückt meine Hand. »Wir werden ihn retten.« Seine Stimme klingt sanft und siegessicher. Ich wünsche mir, dass er recht behält.

»Kann ich Ihnen helfen?«, wende ich mich wieder an Frau Tölle und lasse Harveys Hand los.

»Nein, nein, Liebes. Bleibt ruhig sitzen.« Sie tischt jedem eine Roulade und ein paar Kartöffelchen mit Soße auf und setzt sich zu uns.

»Wie kommt es, dass ihr deine Schwester suchen müsst?«, fragt sie und beginnt zu essen.

Die Soße schmeckt leicht versalzen und der Kohl zu bitter. Harvey sagt nichts dazu und ich tue so, als würde es mir schmecken. Ich bin froh, dass er es kommentarlos hinnimmt. Es ist schön, Frau Tölle zuzuhören, auch wenn sie eine sehr eigenwillige Art an sich hat.

Ich erzähle ihr von meinem Vater und seiner Krankheit und wie ich von Sandra erfuhr. Sie hört mir aufmerksam zu. Als sie mir noch einmal Essen aufschlagen will, lehne ich dankend ab. »Ich bin wirklich satt. Wenn ich Sandra gefunden habe, dann werden wir Sie einmal zu uns einladen«, schlage ich vor.

»Hach Kind, das wäre schön.«

Als wir zurück zur Tür gehen, nimmt sie mich wie eine Mutter in den Arm. Dann legt sie ihre Hände um meine. Ihre Augen wirken warm und herzlich. »Ich wünsche euch von ganzem Herzen, dass ihr deine Schwester findet und deinen Vater retten könnt. Und grüß sie ganz herzlich von mir. Glaube mir, es tut mir im Herzen weh, dass ich euch nicht mehr helfen kann. Ich weiß, wie es ist, eine Schwester zu haben und sie nicht sehen zu können. Ich musste fast dreißig Jahre lang so empfinden. Doch immerhin kannte ich sie vorher schon. Ich möchte die Qualen deines Vaters nicht wissen. Es muss schrecklich sein, eine Tochter zu haben und sie nicht aufwachsen sehen zu können. Es ehrt dich unendlich, dass du dich für ihn auf diese lange Reise nach ihr begeben hast. Und auch deinen Freund, dass er dich so selbstlos begleitet. Nimm das nicht für selbstverständlich. Er hat dich wirklich gerne, dass sehe ich in seinen Augen. Wie er dich immerzu ansieht. Jedes Mal strahlt er, aber er hat auch Angst.«

Ich schaue von ihr zu Harvey, der neben mir vor der Tür steht und in die Luft starrt. In diesem Moment bin ich wieder froh, dass er meine Muttersprache nicht spricht.

»Sag ihm, was du wirklich empfindest.«

Ich beiße mir auf die Lippen. Ich habe keine Ahnung, was ich empfinde. Und selbst wenn ich ihn lieben würde, hätten wir keine Zukunft. Meine Familie braucht mich zuhause. Das hat mir das letzte Telefonat mit meiner Mutter deutlich gemacht. Wenn ich Sandra gefunden habe, dann muss ich zurück. Anders geht es nicht.

Frau Tölle drückt noch einmal meine Hände und verabschiedet sich in einem klaren Britisch von Harvey. Bemerkenswert, sie beherrscht beide Sprachen gleichermaßen akzentfrei.

Ich folge Harvey zurück zum Auto. Es ist bereits Mittag und wir müssen uns beeilen, damit wir vorm Feierabendverkehr in London sind. Eigentlich hätte ich heute um vierzehn Uhr frei gehabt, jetzt werden wir jedoch einiges an Arbeit nachholen müssen, um gelassen ins Wochenende starten zu können.

Harvey öffnet mir die Tür und ich setze mich in den Wagen. Die Luft hier drinnen ist stickig. Das Auto stand die ganze Zeit in der prallen Sonne.

»Ich lüfte gleich«, sagt Harvey und steigt auf der anderen Seite ein. »Wieder keine Informationen?«, fragt er und zieht eine Packung Kaugummis aus dem Türfach und hält sie mir hin.

»Musst du den Kohlrouladengeschmack loswerden?«, frage ich mit hochgezogener Augenbraue.

»Jap.« Er schüttet mir zwei in die Hand, dann nimmt er sich gleich drei Kaugummis auf einmal und steckt sie sich in den Mund.

»Danke, dass du nichts gesagt hast.«

Er wirft mir einen Kussmund zu. »Dafür war es zu wichtig. Sie weiß auch nicht, wo Sandra heute lebt und wie sie inzwischen heißt? Sie ist doch bestimmt mit dem Anwalt verheiratet. Willst du noch die anderen Häuser in der Straße durchklingeln?«

Ich schüttle leicht den Kopf, sodass mir mein Zopf sachte ins Gesicht schlägt. »Ich glaube langsam; dieses ganze Herumgefrage ist reine Zeitverschwendung, auch wenn es schön war, mit ihr über Sandra zu reden. Es bringt einfach nichts. Es ist zu lange her, dass sie hier war. Ich habe auch kaum noch Kontakt mit den Leuten, die vor sieben Jahren mal in meiner Nähe wohnten.«

»Leider gehen mir langsam die Ideen aus«, sagt Harvey und wirft mir einen mitleidigen Blick zu. Dann fährt er los und auf den Kreisverkehr zu, der uns zurück auf die Hauptstraße bringt.

 

Als wir in London ankommen, ist es dank eines Unfalls auf der Autobahn schon später Nachmittag. Wir schleifen uns lustlos ins Büro. Delilah hat längst frei und hat bloß eine Liste von Anfragen, Aufgaben und Terminen hinterlassen.

»Ich schaffe das alleine. Wenn du magst, kannst du nach Hause fahren. Du hast sowieso schon drei Überstunden heute gemacht.«

Ich schaue ihn skeptisch an. »Wieso Überstunden? Wir haben doch überhaupt nicht gearbeitet heute.«

»Da wir wegen des Vorstellungsgespräches in Eastbourne waren, zählt auch die lange Fahrt als Arbeitszeit. Und das Gespräch mit Ms Tölle rechne ich mal als normale Mittagspause an.« Er grinst mich schelmisch an. »Na los, fahr nach Hause. Ich werde das Wochenende durcharbeiten. Montag früh muss ich runter nach Manchester.« Er zeigt auf den Terminplan, den Delilah ihm geschrieben hat. »Ich komme erst am Mittwochabend wieder. Du kannst Daniel so lange unterstützen.«

»Also sehen wir uns erst am Donnerstag?«

»Weiß ich noch nicht. Ich nehme mir den 18. Juni jedes Jahr frei. Das ist der Todestag meiner Mutter. Ich werde Vater abholen und mit ihm zum Friedhof und anschließend zur Kirche fahren.« Aus seinem schelmischen Grinsen ist ein trauriges Lächeln geworden.

»Möchtest du, dass ich mitkomme? Oder willst du lieber alleine sein? Ich kann beides verstehen«, antworte ich ruhig und greife nach seinen Händen. Sie liegen gefaltet in seinem Schoß.

Er nimmt meine Hand und rutscht von dem hohen Hocker, der hinter Delilahs Empfangstresen steht, herunter und kommt einen Schritt auf mich zu. »Es gibt niemanden, den ich in diesem Moment lieber an meiner Seite hätte als dich«, raunt er in mein Ohr und gibt mir einen sanften Kuss auf die Wange.

Ein wohliger Schauer läuft über meinen Rücken und die Haare auf meinen Armen stellen sich auf. »Wenn du mir einen Urlaubstag dort gewährst, dann begleite ich dich und deinen Vater gerne«, sage ich und gebe ihm einen Kuss auf die Nasenspitze.

Er beugt sich runter und presst seine Lippen auf meine. Den Kuss unterbricht er und streift mit seiner Hand über meine Wangen. »Ich bin unendlich froh, dich kennengelernt zu haben.«

In meinem Bauch beginnt eine Schar Schmetterlinge, einen rhythmischen Tango hinzulegen. Wie soll ich ihm nur erklären, dass ich nicht ewig hierbleiben kann? Dass ich zurück muss, sobald ich meinen Vater gerettet habe? Bloß was ist, wenn wir es nicht schaffen? Wenn ich Sandra zu spät oder gar nicht finde?

Ich verdränge die perfiden Gedanken und gebe mich einem weiteren Kuss hin, ehe ich mich auf den Heimweg mache. Ich habe eine knappe Woche Zeit, um mir klar zu werden, was ich will. Wenn ich Harvey das nächste Mal sehe, muss ich dem Rat der alten Dame folgen und mit ihm sprechen. Sie hat recht, er mag mich. Zu sehr, als dass ich ihn ohne schlechtes Gewissen verlassen könnte. Und ich habe ihn zu gerne, um einfach zu verschwinden, wenn es soweit ist.

Ich steige in den Aufzug. Als die Tür mich und Harvey voneinander trennt, sinke ich mit dem Kopf gegen den kalten Spiegel und schlage einmal kräftig mit der flachen Hand gegen ihn. Der Spiegel vibriert unter der Wucht des Aufpralls und hinterlässt ein unangenehmes Summen in meinem Kopf. Wieso habe ich mich nur auf ihn eingelassen? Ich wollte doch bloß meine Schwester durch diesen Job finden. Warum muss nun alles so kompliziert sein?

 

Linda

»You've been single for a hundred years, then I'll let you off the leash and you're going to grab your boss?«

 

Es ist später Abend, ich sitze eingekuschelt auf dem Sofa in meinem Apartment und wähle die Nummer meiner besten Freundin. »Clara, ich bin‘s. Wie geht es dir?«, frage ich in mein Handy hinein und lege mich auf die Seite, um mit der Fernbedienung den Fernseher auf lautlos zu stellen. Es lief ohnehin nur Schmarrn.

»Hey, alles gut. Bin nur müde und dir?«

»Ach, ich weiß auch nicht. Irgendwie läuft hier nichts so wie geplant.« Ich ziehe die Decke über meine nackten Beine und höre einen leisen Seufzer durchs Telefon.

»Ja, hab‘s schon gehört.«

Ich runzle die Stirn. »Wie das?«, frage ich. Clara ist immerhin über tausend Kilometer von mir entfernt in München und niemand weiß von meinem Problem mit Harvey.

»Ich war gestern bei Tobi und habe auf dem Weg zu ihm deine Mutter getroffen. Sie hat mir erzählt, dass du nach London versetzt wurdest.« Ihre Stimme klingt rauer als sonst.

»Ach so, das.«

»Was hast du denn gedacht?« Während sie das fragt, stelle ich mir vor, wie sich ihre Stirn in tiefe Falten legt. Ich vermisse Clara total. Sie ist vier Semester unter mir gewesen und studiert immer noch.

»Weißt du, wie es meinem Vater geht?«, ignoriere ich ihre Frage und wechsle das Thema. »Mama und ich reden ja kaum noch, seit ich hier bin. Und ich weiß, wie schwer es Papa inzwischen fällt, lange zu sprechen, deswegen ruf ich nicht mehr so oft an.«

»Hmm, verstehe ich. Deine Mama hat nicht viel über ihn gesagt. Nur, dass er inzwischen komplett bettlägerig ist und sie deine Hilfe gut gebrauchen könnte. Sie sah müde aus, weißt du? Hatte tiefe, blaue Augenringe und ist ziemlich blass geworden.«

Ich kaue auf meinen Lippen herum. Wieso schaffen es aktuell alle, mit denen ich telefoniere, mir ein schlechtes Gewissen einzureden?

»Ich bin ja bald wieder da«, antworte ich nur, obwohl ich mir dessen nicht sicher bin.

»Weiß deine Mutter eigentlich inzwischen von Sandra?«

Irgendetwas raschelt in der Leitung, als würde sie etwas in Alufolie auspacken.

»Nein, ich habe ihr nichts gesagt. Hätte Papa etwas erzählt, hätte sie sicherlich längst angerufen und sich bei mir entschuldigt.«

»Sie ist immer noch sehr sauer, oder?«, fragt sie mit vollem Mund.

Ich stoße einen tiefen Seufzer aus. »Ziemlich. Ich kann es ihr nicht verdenken. Zu zweit war es schon anstrengend, sich um alles zu kümmern und jetzt ist sie alleine mit dieser Aufgabe.«

»Ich hoffe wirklich, dass ich nie in so eine Situation komme. Aber jetzt erzähl du mal. Wie ist es in London? Ist das Wetter dort wirklich so viel schlechter? Und wie läuft deine Suche? Kannst du Sandra jetzt überhaupt noch finden, wo du so weit weg bist?«

Ich fahre mir mit den Fingerspitzen durchs Haar und bleibe an einem kleinen Knoten hängen. Gute Frage, ob ich sie noch finden kann. »Aktuell ist alles ziemlich aussichtslos. Wir waren jetzt mehrmals in Eastbourne, haben ein Krankenhaus, den Friedhof, ein Kinderheim und allerlei Leute besucht und niemand, wirklich niemand, weiß, wo sie jetzt lebt oder wie ihr Mann genau heißt. Es ist einfach zum Mäusemelken.«

»Verdammt, ach Mausi, das tut mir so leid für dich. Fühl dich mal ganz doll gedrückt.«

»Danke, Süße.«

»Mit wem warst du denn da unterwegs, wenn du wir sagst? Hast du jemanden kennengelernt?«

»Gewissermaßen. Also … er ist mein Chef.« Clara reißt bestimmt gerade die Augen weit auf.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst? Du hast deinen Chef aufgerissen?«

»Das hab ich nicht gesagt.«

»Pah, vielleicht nicht mit Worten, doch deine Stimme verrät mir alles. Na los, erzähl. Wie heißt er, wie alt ist er, was macht er?«

Ich verdrehe die Augen. Clara kennt mich einfach zu gut. »Äh, er ist mein Chef. Also, er ist Ingenieur wie ich.« Ich kann nicht anders und lache los, als ich Clara deutlich kichern höre.

»Und weiter. Mann, du bist seit hundert Jahren Single, dann lasse ich dich einmal von der Leine und schon krallst du dir deinen Boss? Jetzt spann mich doch nicht so auf die Folter.«

Ich muss wieder lachen und fühle mich gleich viel besser als noch vor einer Stunde, als ich im Bus nach Hause saß. »Na gut, Harvey, achtundzwanzig, sportlich gebaut, Gentleman, könnte den Preis fürs charmanteste Lächeln gewinnen.«

»Huuh, also so, wie ich mir den klassischen Briten vorstelle.«

»Ja, in gewisser Weise.« Ich erzähle ihr vom Abendessen und wie er die Frau im Krankenhaus bestochen hat, vom Tod seiner Mutter und wie wir uns näher gekommen sind als geplant. Die Details lasse ich jedoch aus. »Verstehst du mein Dilemma? Ich habe ihn unheimlich gerne und er tut so viel für mich. Du hast meine Mutter selbst gehört, sie braucht mich und das wird sich nicht ändern, wenn es Papa besser geht. Es kann Monate dauern, bis er wieder richtig fit ist. Ich kann nicht länger als nötig hier bleiben. Manchmal muss man die Familie einfach vor die Liebe stellen.«

»Ach Mausi«, seufzt sie. »Ich weiß auch nicht, was da das Richtige ist. Rede mit ihm, sag ihm, was dir auf dem Herzen liegt. Wenn er dich gerne hat, dann wird er es verstehen. Und du verschwindest ja nicht für immer. Einmal im Flieger bist du in nicht mal zwei Stunden bei ihm. Kopf hoch, Süße.«

Ich atme schwer durch die Nase aus. Mir wird wohl wirklich nichts anderes übrig bleiben, als mit ihm zu sprechen. Außerdem muss ihm doch klar sein, dass ich nicht für immer hierbleiben kann, dass ich zurück muss. Er weiß, wie wichtig die Familie ist, wie viel Hilfe man braucht, wenn jemand an Krebs erkrankt. Er hat den ganzen Mist schon einmal durchgemacht und das als Kind.

»Danke«, mehr brauche ich nicht zu sagen. Sie weiß, dass es von Herzen kommt, so wie ich weiß, dass ihre Worte stets von dort kommen. Ich wünschte nur, Clara säße jetzt neben mir und würde mich drücken, so wie sie es sonst immer tat, wenn ich ein Problem hatte; wie sie es tat, als mein Vater die Diagnose bekam oder als ich mich mit meiner Mutter stritt, weil ich nach England ziehen wollte.

»Was gibt es denn eigentlich bei dir Neues? Geht da etwa was mit Tobi?« Tobi wohnt bei mir im Ort und hat mit uns zusammen studiert.

»Ha, der war witzig. Nee, keine Angst, außerdem ist er wieder mit Natascha zusammen. Aber – Trommelwirbel – ich habe ein Auslandssemester in Schweden genehmigt bekommen.«

»Nicht dein Ernst? Wann, wie, wo?«

»Im August geht es runter und im September los. Ach Mausi, ich hoffe, wir sehen uns vorher noch einmal.«

»Unbedingt«, sage ich mit einem matten Lächeln. Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder in Deutschland sein werde.

»Es geht an die Karlstad Universität, aktuell bin ich noch auf WG-Suche. Zum Glück sprechen die dort alle Englisch, mein Schwedisch beschränkt sich nämlich auf einen Einführungskurs in diesem Semester.«

»Also gehst du in ein Land, ohne auch nur annähernd die Sprache dort zu beherrschen?«

»Jap, bloß – wenn nicht jetzt, wann dann?«

Ich schüttle den Kopf. »Genau dafür liebe ich dich.« Ihr naiver Optimismus ist einfach genial. Ich wünschte, ich hätte ihn aktuell auch.

»Du, ich muss langsam auflegen. Ich schreibe morgen Baukonstruktion und will ausgeschlafen sein.«

»Mitten im Semester?«

Sie gibt ein leises Schnauben von sich. »Erinnere mich nicht daran. Ich bin doch im letzten durchgefallen. Jetzt die Prüfung ist nur für Nachschreiber.«

»Ups, dann drücke ich dir die Daumen. Du machst das schon. Ich habe den ganzen Mist doch auch irgendwie geschafft. Ich hab dich lieb, okay?«

»Ich weiß, ich dich auch. Schlaf gut und träum von deinem Harvey. Und Linda?«

»Ja?«

»Es wird alles gut. Rede mit ihm, er wird es irgendwie verstehen. Und deine Schwester wirst du auch bald sehen, das hab ich im Gefühl.«

»Ja, ich hoffe es. Gute Nacht.«

»Nachti.«

Ich lege auf und sinke weiter in die weichen Polster meiner Couch hinein. Da treibt es meine kleine Clara also bald nach Schweden. Offenbar werden wir gerade alle flügge.

 

Ich reibe mir die Augen, es ist fast Mitternacht. Ob Harvey immer noch in seinem Büro sitzt und über den Unterlagen brütet? Ich habe keine Ahnung, wie ich es ihm sagen soll, oder wann. Clara hat jedoch recht, ich muss es ihm sagen. Alles andere wäre unfair und ein falsches Spiel von mir. Ganz egal, was da zwischen uns ist, er muss wissen, dass es nicht für immer sein wird. Vielleicht weiß er es auch längst. Vielleicht sucht er gar nichts für länger und ich bin sowieso nur eine Spielgefährtin für zwischendurch, auch wenn ich das nicht glauben mag.

Ich stehe auf und lasse etwas Wasser aus dem Hahn in mein Glas laufen. Ich glaube doch selbst nicht, was ich da denke. Oder will ich es nur nicht glauben?

Ich trinke das Glas aus und lege mich mit meinem Laptop ins Bett. Schon vor einem Monat habe ich eine Suchanzeige bei Facebook aufgegeben und sogar eine Seite – Where is Sandra? – erstellt. Ich poste meine neusten Erkenntnisse, dass sie einen Sohn hat und wo sie lebte und hoffe, dass sie endlich jemand erkennt oder sie sich sogar selbst meldet. Ein paar der Beiträge wurden inzwischen so oft geteilt und kommentiert, dass ich mir kaum noch vorstellen kann, dass sie an Sandra vorbeigingen, wenn sie aktiv auf Facebook ist. Vielleicht hält sie sich ganz von den sozialen Netzwerken fern, anders kann ich es mir nicht erklären. Es wäre so viel einfacher, wenn ich ein aktuelles Bild von ihr hätte und nicht nur eines aus ihrer Kindergartenzeit.

Ich hole das verblichene, gelbstichige Foto aus meiner kleinen Schatzkiste, in der auch der Brief ihrer Mutter und die Weihnachtskarten liegen. Sandra hat ganz hellblonde Haare auf dem Bild, die streng nach hinten geflochten sind. Sie trägt ein hübsches Blumenkleid in gelb-weiß und schwarz glänzende Sandalen. Ich weiß, dass Papa mir auch mal solche Schuhe gekauft hatte. Vielleicht erinnerten sie ihn an seine andere Tochter. Ob mein Vater uns oft verglichen hat? Irgendwie vergleicht man Leute doch ganz automatisch miteinander, ob man will oder nicht. Ich fände es nicht schlimm.

Ich lege das Foto zurück zu den anderen Sachen. Papa wird es wiederhaben wollen, sobald ich zurück bin, ganz unabhängig davon, ob ich sie gefunden habe oder nicht. Er hatte das Bild all die Jahre unter vielen anderen im Schlafzimmer hängen und ich habe ihn nie gefragt, wer sie ist. Wenn ich es doch tat, und mich bloß nicht mehr erinnere, dann hat er mir sicherlich irgendeinen Quatsch erzählt, dass sie eine Cousine sei oder Ähnliches. Ob Mama aufgefallen ist, dass das Foto fehlt? Was sie wohl geglaubt hat, wer das Mädchen mit den Flechtzöpfen sei? Hat sie überhaupt noch die Zeit, sich richtig umzusehen?

Ich packe die Kiste zurück in den Schrank neben den Koffer und gehe die mehr als hundert Kommentare auf meiner Seite durch. Alle wünschen sie mir Glück bei der Suche und meinem Vater, dass er gesund wird. Ich habe damals lange mit mir gehadert, ob ich die Seite erstellen soll. Ich hatte Angst, dass meine Mama davon Wind bekommt. Doch sie kann ohnehin kaum Englisch. Inzwischen haben sich so viele gemeldet, dass sie sich als Spender registriert haben, dass ich weiß, dass es richtig war. Selbst wenn ich meinen Papa nicht retten kann, kann ich so anderen Menschen Leben schenken. Jeder soll einen genetischen Zwilling da draußen haben. Vielleicht wäre mein Vater schon gerettet, wenn sich alle, die spenden können, registrieren lassen würden.

Ich lese die letzten Kommentare und like sie alle. Mehr schaffe ich heute nicht mehr. Dann klappe ich den Laptop zu und lege ihn zur Seite. Dieses Wochenende will ich mal nicht nach Eastbourne fahren, sondern hierbleiben. Ich habe meinen Koffer immer noch nicht komplett ausgeräumt und auch so ist einiges an Hausarbeit liegengeblieben, das endlich aufgeholt werden muss.

 

Linda

»It's basically a day like any other«, he says quietly, avoiding my gaze. »It's just the memories that make it ugly.«

 

Mein Handy vibriert. Harveys Name prangt auf dem Display, heute soll er zurück nach London kommen. Ich bin froh, wenn er wieder hier ist.

»Guten Abend Darling, ich bin gut in London gelandet, Verhandlungen liefen prima. Ein großer, neuer Auftrag ist in Sicht.«

»Super, ich liege schon im Bett«, schreibe ich zurück.

»Sehen wir uns denn morgen? Ach ja, deinem Urlaubsantrag für morgen wurde selbstverständlich stattgegeben.«

Ich schicke ihm ein lachendes Smiley. Als wäre es nicht klar gewesen, dass er mir frei geben wird.

»Wo und wann wollen wir uns treffen?«, frage ich.

»Ich hole dich um neun zum Frühstücken mit meinem Vater ab.«

»Okay. Schlaf gut und träum süß. Denk nicht so viel nach.«

»Du auch, love you.«

Love you, das hat, seit ich sechzehn war, keiner mehr an mich geschrieben. Ich atme schwer aus, morgen Abend werde ich mit ihm reden müssen. Ich muss es ihm erklären, bevor das alles richtig ernst wird. Ich darf ihn nicht noch näher an mich heranlassen. Ich bin bereits viel zu weit gegangen und habe das Gefühl, mein Ziel allmählich aus den Augen zu verlieren. Das darf einfach nicht passieren! Sandra und mein Vater sollten oberste Priorität bei dieser Reise haben. Nur dafür bin ich hier, nicht, um mich zu verlieben. Ganz egal, wie nahe wir uns sein könnten; wenn mein Papa meinetwegen stirbt, weil ich mit Harvey geschmust und herumgevögelt habe, statt meine Schwester zu suchen, dann könnte ich es uns nie verzeihen – es ihm nie verzeihen. Wenn Papa stirbt, gibt es genauso wenig eine Zukunft für uns, wie wenn wir ihn retten. Zumindest nicht in den nächsten Jahren. Der ganze Mist ist ein aussichtsloses Unterfangen.

Ich stehe auf und laufe zu meinem Kleiderschrank. Ich habe es erst in dieser Woche geschafft, alles aus meinem Koffer herauszuholen und ordentlich aufzuhängen. Seit ich in London bin, werde ich immer chaotischer. Was macht diese Stadt bloß mit mir?

Morgen soll es ganz schön werden, über fünfundzwanzig Grad. Erst am Nachmittag soll es kurz regnen. Bis dahin bin ich hoffentlich zu Hause. Was soll ich bei dem tollen Wetter für einen Friedhofsbesuch anziehen? Und dann ist auch noch sein Vater dabei …

Ich kratze mich am Hals und ziehe ein Teil nach dem anderen aus dem Schrank, um es unordentlich wieder zurückzulegen. Ich besitze so gut wie nichts Schwarzes. Ich kann schlecht in kunterbunten Sachen dort auftauchen, egal wie schick sie sind.

Am Ende entscheide ich mich für eine schwarze Leggins – immerhin etwas Schwarzes – und eine seidige, antikrosa Bluse – schlicht und dennoch elegant.

Ich lege die Sachen für den morgigen Tag ins Badezimmer und räume meinen Kleiderschrank zum zweiten Mal in dieser Woche auf, dann gehe ich ins Bett. Hoffentlich schlafe ich schnell ein und liege nicht erneut in Gedanken versunken stundenlang wach.

Am nächsten Tag steht Harvey pünktlich vor meiner Tür und begrüßt mich mit einem Guten-Morgen-Kuss.

»Du siehst wunderschön aus«, raunt er mir ins Ohr, nachdem er von meinen Lippen ablässt.

Ich schaue verlegen zu Boden und wippe leicht auf den Zehenspitzen hin und her. »Genug der Schmeicheleien. Wie geht es dir?«

Er hebt erneut meinen Kopf an und küsst meine Stirn. »Jetzt wieder besser.«

»Sei bitte ehrlich«, antworte ich ihm und nehme meine schwarze Clutch von der Garderobenablage.

»Im Grunde ist es ein Tag wie jeder andere«, sagt er ruhig und weicht meinem Blick aus. »Es sind nur die Erinnerungen, die ihn hässlich machen.«

»Dann lasse sie nicht durch und denke nur an die schönen mit deiner Mutter.«

Unsere Hände verschränken sich ganz automatisch ineinander und er zieht mich liebevoll die Stufen zu meiner Haustür herunter. »Das hast du gut gesagt. Wie war denn eigentlich deine Woche bisher so ganz ohne mich?«

»Ach, nicht besonders. Daniel und Delilah und dieser Grauhaarige aus der Konstruktionsabteilung haben mich ganz schön auf Trab gehalten.«

»Logan Konsalik? Seine Mutter war auch Deutsche, wusstest du das?«

Ich schaue ihn überrascht an. »Nein, das hat er gar nicht erwähnt.«

»Ich glaube, er hat ihre Sprache nie gelernt.« Harvey schaut auf seine Uhr. »Komm, wir müssen uns ein wenig beeilen. Mein Vater ist feste Zeiten gewohnt. Wenn er bis halb zehn nicht gefrühstückt hat, wird er unausstehlich. Nicht, dass er das nicht sowieso schon ist.« Na super …

Heute ist er mit einem roten Mustang unterwegs. Es ist kein spezielles, englisches Modell; das Lenkrad ist wie in Deutschland auf der linken Seite. Es fühlt sich komisch an, rechts zu sitzen, aber links zu fahren.

 

Wir rollen auf die Einfahrt des Altenheimes zu und Harvey parkt im Rondell vor dem Eingang. Eine Schwester kommt uns mit einem älteren Herrn entgegen. Harvey setzt ein gekünsteltes Lächeln auf. Der Mann muss sein Vater sein.

»Mr Gruber, schön Sie zu sehen. Ihr Vater konnte es wohl kaum erwarten. Er hat gleich drei Mal heute früh versucht, uns zu entwischen. Dieser Schlawiner.« Sie lacht den alten Gruber fröhlich an, während er eine Miene aufsetzt, als würde man ihn foltern.

»Kommen Sie, Mr Gruber, ich helfe Ihnen in den Wagen.« Sie öffnet die hintere Tür und bugsiert ihn hinein. Er sitzt hinter Harvey.

»Guten Morgen, Mr Gruber«, sage ich mit der freundlichsten Stimme, die ich bei der angespannten Situation aufbringen kann und reiche ihm meine Hand.

»Wer ist das Mädchen?«, fragt er herrisch, ohne meine Hand zu beachten. Seine Lippen sind ganz schmal und blass.

»Linda heißt die junge Frau, Vater. Wir arbeiten zusammen. Sie ist die neue Bauingenieurin in der Firma. Meinst du nicht, es wäre angebracht, sie wie ein normaler Mensch zu begrüßen?« Harveys Hand rutscht auf meinen Schoß und streicht über meine Leggins.

»Morgen«, grummelt sein Vater. »Also ist es Ihre Schuld, dass ihr so spät seid?«

Ich schaue hilfesuchend zum Fahrersitz.

Harvey legt den Kopf schief. »Wir sind nicht zu spät, du warst bloß zu früh. Und jetzt schnall dich bitte an.«

Die Schwester winkt uns durch die Scheibe zu und geht kopfschüttelnd zurück ins Heim. Sie tut mir leid, jeden Tag Zeit mit dem Griesgram verbringen zu müssen.

»Wo fahren wir überhaupt hin?«, fragt Mr Gruber im genervten Ton. Er hat sich immer noch nicht angeschnallt und fummelt am Gurt herum.

»Soll ich Ihnen helfen?«

»Ich lasse mir nicht von einer Hure helfen. Sie schlafen doch bestimmt mit meinem Sohn, warum hätte er Sie sonst einstellen sollen?«

»Vater!«

»Ich verbitte mir diesen Ton«, sage ich deutlich, beuge mich nach hinten und schnalle ihn an.

Die Zornesader auf seiner Stirn tritt deutlich pochend hervor.

Ich grinse Mr Gruber so böswillig, wie ich kann, an und wir fahren los. Dabei lasse ich es mir nicht nehmen, meine Hand auf Harveys Bein zu legen, sodass sein Vater es sieht.

»Und jetzt? Bringt ihr mich zu der Hure ins Bordell?«

Der Wagen beschleunigt und fährt nun schneller als erlaubt. Häuser, Fußgänger und Autos ziehen im rasanten Tempo an uns vorbei. Harveys Blick geht starr nach vorne. »Eigentlich wollten wir mit dir frühstücken gehen. Der Appetit ist mir jedoch vergangen. Wir halten bloß kurz bei einer Bäckerei und essen unterwegs. Wenn wir nachher bei Mutter sind, benimmst du dich bitte.«

»Deine Mutter ist auch da? Hab sie lange nicht mehr gesehen.«

Ich drehe mich zu ihm um. Seine Gesichtszüge wirken auf einmal viel weicher. »Weiß er nicht mehr, dass sie tot ist?«, flüstere ich, sodass nur Harvey es hören kann.

Er zuckt mit den Schultern. »Manchmal erinnert er sich, manchmal nicht.«

»Wo treffen wir Julia?«

Julia – er hat nie erwähnt, wie seine Mutter hieß. Mir gefällt der Name. Englisch ausgesprochen hat er etwas Schönes, Wohlklingendes an sich. Anmutig und schüchtern zugleich.

Harvey bremst den Wagen sachte ab und fährt nun wieder im normalen Tempo. Ich bin mir nicht sicher, ob seine Hand zittert oder ob bloß das Lenkrad vibriert. Er sieht traurig aus, als er an mir vorbei auf meine Straßenseite schaut. Es wirkt, als ringe er um seine Fassung.

»Da vorne ist eine Bäckerei«, sage ich und zeige auf das Hängeschild mit dem Weißbrot am Ende der Straße.

Harvey hält vor dem kleinen Café und ich steige aus, um für uns alle belegte Baguettes zu holen. Ich hoffe, sein Vater kann die harte Kruste der Semmel noch gut durchbeißen und findet nicht wieder etwas zum Meckern.

Als ich zurück in den Wagen steige, sitzt Mr Gruber ruhig in der Ecke und starrt aus dem Fenster. Er sieht betrübt aus.

»Hast du es ihm erklärt? Mit deiner Mutter?«

Harvey nickt und lenkt das Auto zurück auf die Straße. Als wir in Highgate ankommen, ist es nach zehn. Wir setzen uns vor den Friedhof auf eine Bank und essen die Sandwiches.

»Ich habe uns extra angemeldet. Normalerweise muss man für den Besuch der Anlage bezahlen; als Angehörige haben sie für uns heute eine Ausnahme gemacht.« Als wir aufgegessen haben, führt er uns durch das rostige Tor des Osteingangs und wechselt ein paar Worte mit dem Pförtner. Der Highgate Cemetery ist ganz anders, als jener moderne in Eastbourne. Wir gehen vorbei an hunderten von Gräbern und mir treten die ein oder anderen bekannten Namen entgegen: Karl Marx, Alice Ekert-Rotholz … Viele der Gräber sind über hundert Jahre alt. Efeuranken schlingen sich um sie herum und Moos verschlingt die Grabplatten unter sich. Eine geradezu mystische Stimmung liegt über der Anlage und verursacht eine Gänsehaut bei mir. Ich kann mir vorstellen, wieso sie normalerweise Eintritt nehmen. Der Friedhof ist voller Touristen, die die Grabpflege sicherlich nicht erleichtern.

Je dichter wir in den von hohen Bäumen bewachsenen Friedhof hineingehen und den Hang hinuntertreten, desto düsterer wird die Stimmung. Wir sind im hinteren Teil des Friedhofes angekommen. Hier liegen eigentlich nur die sehr alten Gräber. Und doch ragt dort, zwischen zwei Gräbern, deren Inschrift der Witterung nicht komplett standhalten konnte, ein schlichtes Grab aus weißem Marmor heraus, vor dem wir stehen bleiben. Die Namen auf den beiden Gräbern daneben sind dieselben, wie der Mädchenname Julias. Ich kann die Jahreszahl darunter nicht mehr entziffern, schätze jedoch, dass Harveys Groß- oder sogar Urgroßeltern hier beerdigt sind. Ein üppiger Blumenstrauß liegt auf der weißen Grabplatte in der Mitte und eine Kerze brennt davor. Es muss heute bereits jemand hier gewesen sein.

»Hallo Mama«, sagt Harvey und setzt ein kurzes Lächeln auf. Seine Stimme klingt bedrückt, als hinge ihm ein Kloß im Hals. Er reibt seine Hände vor seinem Schoß und zieht die Nase hoch.

Ich tätschle ihm über den Rücken. Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll. Ich kenne solch eine Situation nicht wirklich.

Harveys Vater steht schweigend hinter uns. Er hat seit der Bäckerei kein Wort mehr verloren. Jetzt, vor dem Grab seiner Frau, sieht er nicht mehr so ernst aus. Seine Augen schauen wissend auf die Grabstätte und seine Mundwinkel sind ein winziges Stück nach oben gewandert. Ob er sich an schönere Zeiten zurückerinnert? Daran, wie sie als Familie zusammenlebten?

Über uns ziehen sich die Wolken allmählich zusammen und der Himmel verdunkelt sich. Dabei ist es hier unten sowieso schon so düster zwischen all den Gräbern und dichtstehenden Bäumen. Nicht mehr lange, und es wird regnen, dabei hatten sie den Regen erst für heute Nachmittag angesagt.

»Ich vermisse dich«, sagt Harvey leise und ich blicke zu ihm. Er zieht ein Blatt aus seiner Hosentasche, das er aufgefaltet vor die Blumen legt. Es ist das Bild eines Kindes, oder hat er es als Erwachsener gemalt? Es zeigt Berge, durch dessen Mitte ein Fluss fließt, gemalt mit Wasserfarben. »Für jedes Jahr eines, das habe ich dir damals versprochen.« Er dreht sich zu mir hin. Tränen laufen aus seinen Augen, als er mich in den Arm nimmt. »Du hättest sie geliebt«, flüstert er.

»Bestimmt«, antworte ich. In der Ferne ertönt der Ruf einer Krähe. Ich muss gefasst bleiben, um nicht loszuweinen. Ich beiße mir auf die Lippen und versuche, mich auf andere Gedanken zu bringen, doch es gelingt mir nicht. Vor mir verwandeln sich die Buchstaben auf dem Grab zum Namen meines Vaters. Ich wische mir mit dem Handrücken über meine Augen. Dieses Mal ist es Harvey, der mir über den Rücken streicht und mir einen Kuss auf die Haare gibt. Dabei wollte ich doch herkommen, um ihm Halt zu geben und zu trösten, und nicht umgekehrt.

Harveys Vater tritt zwischen uns und wir lösen uns aus der Umarmung. Für einen Moment habe ich vergessen, dass sein Vater auch hier ist. Dass auch er einen geliebten Menschen vor all den Jahren verloren hat. Ungläubig spüre ich, wie sich seine raue, faltige Hand kalt um meine schließt. Er beginnt, ein Gebet oder Ähnliches zu sprechen. Es ist auf Latein und ich verstehe nicht viel.

»Amen«, wiederholen Harvey und ich zum Schluss und lassen seinen Vater los, um uns zu bekreuzigen.

»Es sieht nach Regen aus, lasst uns zur Kapelle gehen und eine Kerze für sie anzünden«, schlägt Harvey vor und führt uns zurück den Hang rauf, dabei greift seine Hand erneut nach meiner und ich streichle seine mit meinem Daumen.

 

Die Highgate Rode Kapelle liegt mit dem Auto keine zehn Minuten vom Friedhof entfernt. »Hier fand der Gottesdienst zur Beerdigung damals statt, daher kommen wir jedes Jahr hierhin«, erklärt Harvey mir, als wir vor der imposanten Kirche aus Naturstein stehen.

Ich stehe ans Auto angelehnt da und bestaune die schöne Fassade.

»Wer ist die Frau?«, fragt Mr Gruber plötzlich und zeigt auf mich.

Harvey verdreht die Augen. »Eine Kollegin, Vater, das weißt du doch.«

»Die arbeitet in meiner Firma? Ich hab sie noch nie gesehen.«

»Ich bin doch schon den ganzen Tag mit Ihnen unterwegs«, sage ich freundlich.

»Lügnerin. Lügner haben in einer Kirche nichts zu suchen.«

Harvey atmet schwer aus und ich seufze. Er nimmt mich an die Hand und zieht mich zur Seite. »Mach dir nichts draus. Es ist einfach eine hässliche Krankheit. Er war zwar schon immer etwas eigen, aber normalerweise ist es auszuhalten.«

Ich weiß, wie schrecklich Alzheimer sein kann. Meine Urgroßeltern kämpften kurz vor ihrem Tod auch damit.

»Vielleicht ist es besser, wenn du draußen wartest und dich etwas umsiehst.«

Ich drehe meinen Kopf nach rechts und links. »Das Café dort sieht gemütlich aus«, antworte ich. »Ich warte dort auf euch und trinke solange einen Tee.«

»Dankeschön, Liebling.« Er gibt mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund und hakt sich bei seinem Vater ein.

»Bis gleich«, rufe ich ihnen hinterher und überquere noch einmal kurz zurückblickend die Straße. Sie haben beide den gleichen, selbstbewussten Gang, fällt mir auf, als sie in die Kirche treten. Ansonsten ähneln sie sich jedoch kaum. Vielleicht liegt das bloß am Alter seines Vaters. Er ging sicherlich schon auf die Vierzig zu, als seine Frau Harvey bekam.

Im Grunde bin ich ganz froh, bei diesem weiteren intimen Moment nicht dabei sein zu müssen und ein paar Minuten Ruhe vor seinem Dad zu haben. Ich weiß, dass er es nicht böse meint. Vielleicht mag er mich tatsächlich nicht – das ist in Ordnung, man muss nicht jeden mögen – ich bin mir jedoch sicher, dass die Sticheleien durch seine Demenz kamen.

 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752111934
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Liebesroman romantic Thrill Liebesroman für Urlaub Weihnachtsroman Schweden Urlaubsromanze Liebeskomödie Fernweh Buch Junge liebe Italien

Autor

  • Lisa Summer (Autor:in)

Lisa Summer schreibt und liest am liebsten Bücher für Jugendliche und junge Erwachsene, die gerne der Wirklichkeit entfliehen. Ihre Leidenschaft steckt sie dabei vor allem in das Schreiben von spannenden und humorvollen Liebes- und Alltagsgeschichten, sowie Dystopien.
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Titel: Wo die Liebe hinzieht ... Sammelband (4 in 1)