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Observe: Die andere Seite

von Lisa M. Louis (Autor:in) Lisa Summer (Autor:in)
210 Seiten
Reihe: Observe, Band 2

Zusammenfassung

Kim und ihre Freunde sind endlich frei, doch diese Freiheit währt nicht ewig.

Sie werden immer weiter in einen Strudel aus Lügen und Intrigen gezogen, die nur ein Ziel haben: Macht!
Und dann gerät ihre Welt auch noch komplett aus den Fugen, als jemand Totgeglaubtes vor ihnen steht.
Kims Entscheidungen sind wichtiger denn je.

Wird sie den androhenden Krieg verhindern können und kann sie dem geheimnisvollen, jungen Mann, der in ihr Leben tritt, widerstehen?

***Das Taschenbuch umfasst 340 Seiten*** Bisher von der Autorin erschienen:

Lisa Summer: British Love
Lisa Summer: Swedish Kisses
Band 3: French Desire
Lisa Summer: Italian Feelings
Lisa Summer: Wo die Liebe hinzieht ... Sammelband
Lisa Summer: Ich kann dich verdammt gut riechen (Liebeskomödie)
Lisa Summer: High Seas - Leidenschaft auf hoher See
Lisa Summer: High Seas - Verloren im Paradies
Lisa Summer: Die Farben meiner Hoffnung
Lisa Summer: Liebespost vom Weihnachtsmann
Lisa M. Louis: Observe - Die neue Welt (YA-Dystopie)
Lisa M. Louis: Observe - Die andere Seite (YA-Dystopie)
Lisa M. Louis: Observe - Sammelband

Das Taschenbuch umfasst 340 Seiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog



»Sie hat schon wieder nichts gegessen.«

»Was erwartest du? Sie trauert. Sie hat ihren Ehemann verloren.« Der ältere der beiden jungen Männer schaut auf den jüngeren herab, während sie einen dunklen, fensterlosen Gang entlang schreiten.

»Sie kannten sich doch kaum. Ich dachte, unter dieser Kuppel wurden sie alle mit Fremden verheiratet.«

»Emur, die Akten liegen seit Wochen auf deinem Schreibtisch. Hast du sie jemals gelesen?« Der Ältere rollt mit den Augen und schaut Emur herablassend an. »Offensichtlich nicht, sonst wüsstest du, dass auch er noch aus der alten Welt stammte und sie sich sehr wohl schon kannten.«

»Ich hab vielleicht mal drüber geschaut.«

»Das reicht aber nicht!«

Emur zuckt zusammen, als er einen leichten Schlag auf den Hinterkopf spürt.

»Du weißt, wie wichtig sie ist. Glaubst du, das ist alles nur ein Spaß? Glaubst du, wir würden sie so behandeln, wenn sie uns nichts nütze? Bis morgen hast du die Akten gelesen. Das ist mein letztes Wort.«

»Ja, Meister Andrieu. Tut mir leid.«

Emur bleibt geknickt vor der großen eisernen Doppeltür stehen und atmet tief durch; ehe er klopfen kann, unterbricht Andrieu ihn: »Nenn mich nicht Meister. Das klingt lächerlich. Ich bin dein Cousin wievielten Grades? Ach, egal! Dennoch solltest du Respekt vor mir haben, immerhin werde ich irgendwann dein König sein. Aber Meister, das klingt einfach nur lächerlich! Jetzt klopf schon an, wir werden erwartet.«

Emurs Hand schlägt gegen das kalte Eisen; er wirkt nervös, als er die schwere Tür öffnet und die beiden jungen Männer eintreten.


»Das wird nicht klappen! Das wird definitiv nicht klappen!«

»Bei ihm hat es doch auch geklappt!« Der alte Mann, der auf dem mit rotem Samt bezogenen Thron sitzt, rauft sich seine inzwischen grau angelaufen Haare.

»Wie kann man nur so begriffsstutzig sein? Sie haben das Mädchen doch gesehen. Ihr Wille ist viel zu stark. Ich habe sie lange genug beobachtet. Wie wollen Sie das anstellen?« Der jüngere Mann rafft seinen Laborkittel enger an sich und schaut den König kopfschüttelnd an.

»Lassen Sie das meine Sorge sein. Notfalls zwingen wir sie«, erhebt der König seine Stimme und der Laborant verstummt.

Andrieu räuspert sich von der Tür aus und die beiden Männer wenden sich ihm und Emur zu. Der Laborant schreitet aufgebracht an ihnen vorbei auf die Flügeltür zu und zieht sie mit einem Ruck erneut auf. »Natalie! Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du zu meinen Arbeitszeiten hier nichts zu suchen hast. Geh und schick deinen Vater her. Sofort!«, schallt es vom Laboranten, der das Mädchen hinter den beiden Jungs wütend anstarrt.

Das Mädchen senkt ihren Kopf, zieht das blaue Kleidchen ein Stück herauf und macht einen leichten Knicks. »Ja, Sir.« Mit wehenden, blond gelockten Haaren, läuft es den langen Flur des Palastes zurück.

Andrieu blickt auf Emur herab. »Hast du deine Schwester hinter uns bemerkt?«, fragt er ihn flüsternd. »Nein, aber sie schleicht dir doch ständig hinterher.«

Jetzt wendet sich der Laborant wieder an den König: »Ich werde mich um alles kümmern, Sire. Machen Sie sich keine Sorgen.« Sein Blick fällt auf Andrieu. »Vielleicht kann Ihr Neffe sie zur Vernunft bringen, er hat da seine ganz eigenen Methoden.«

»Ich kenne seine Methoden.« Der alte Mann nickt Andrieu zwinkernd zu. »Morgen sind die Verhandlungen zu Ende und du kannst sie in die Suite im Nordflügel bringen. Freunde dich mit ihr an, vielleicht kommt sie dann von alleine zur Vernunft.«

»Jawohl, Eure Lordschaft.« Andrieu verbeugt sich vor dem alten Herrn und weicht ein paar Schritte rückwärts von ihm zurück, ehe er den Thronsaal gemeinsam mit Emur und dem Laboranten wieder verlässt.


Freiheit


Tag fünfunddreißig. Er ist nicht anders als Tag sechzehn oder Tag sieben auf dieser Seite. Draußen geht langsam die Sonne am Horizont unter und ich zeichne einen weiteren Strich mit dem abgebröckelten Kreidestein auf die Fensterbank und setze meine Maske auf, ehe ich den Griff packe und mein Tor zur Außenwelt öffne. Das Fenster quietscht, während ich es mit einem Ruck aufreiße. Der Wind weht mir sanft entgegen und bringt einen Hauch des Kohlegestanks der Fabriken an der Westfront mit sich. Ich drücke die Maske näher an mein Gesicht und schwinge mich auf den Fensterstock. Mein Rücken sackt seitlich gegen den Rahmen und ich schließe die Augen.

Ich dachte, jetzt, wo wir hier sind, wo Jane tot ist, wären wir frei.

Der Wind wird stärker und treibt mir Tränen in die Augen, obwohl er mich durch die Maske kaum berührt. Ich weiß, was das bedeutet; gleich kommt der saure Regen runter und der Alarm warnt die Stadt, die Häuser nicht zu verlassen. So ist es häufig.

Als wir hierher kamen, bekamen wir alle einen Filter in die Nase gesetzt, der uns vor dem Feinstaub schützen sollte. Je mehr wir uns der Stadt näherten, desto dichter wurden die feinen Partikel in der Luft. Kann man überhaupt noch von Feinstaub sprechen? Es gibt Tage, da kann man vor lauter Smog kaum seine eigene Hand vor Augen sehen. Heute war jedoch ein schöner Tag, der Wind wehte stark gen Westen und trieb die Abgase raus auf die Ländereien und ließ so endlich etwas Sonne durch.

Ich muss husten und beschließe, das Fenster wieder zuzustoßen und reiße mir die Maske vom Gesicht. Hier in der Stadt reicht der Nasenfilter nicht mehr. Ohne Maske verlässt niemand das Haus.

Rückwärts lasse ich mich aufs Bett fallen und strecke mich. Gleich ist es sieben Uhr. Dann wird der Alte mit den grauen Haaren wieder klopfen und fragen, wie es mir geht. Ich werde ihm nicht antworten, sondern fragen, wann ich endlich gehen darf. Er wird nur den Kopf schütteln und eine junge Frau wird mir mein Abendessen bringen. So wie die letzten Tage und Wochen auch. Ich werde ein paar Bissen probieren und warten, bis der junge Mann mit den dunklen Locken es abholt.

Ich lehne mich an die Wand und warte auf das Klopfen. Drei Minuten vergehen, dann vier, fünf… Ich schaue auf die Uhr über der Tür, es ist bereits zehn nach sieben. Wollen die mich jetzt verhungern lassen?

Mein Magen gibt ein leises Knurren von sich. Es ist das erste Mal, dass ich nichts zum Essen erhalte. Das erste Mal, dass sie nicht pünktlich kommen.

Als es um kurz nach neun klopft, ist die Sonne längst untergegangen. Die Straßen werden nur noch vom schwachen Licht des Halbmondes und dem Flackern der goldenen Straßenlaternen beleuchtet.

Ich blicke müde auf und bin überrascht, nicht die junge Frau mit dem Alten zu sehen. Ich mag die Frau, sie ist immer fröhlich.

Der junge Mann mit den braunen, gelockten Haaren, steht steif in der Tür und schaut mich streng an. Normalerweise sieht er netter aus, wenn er mein Tablett abholt. Als mir klar wird, dass er kein Essen dabei hat, ertönt ein lautes Gurren aus meiner Bauchgegend. Einen winzigen Millimeter bewegen sich seine Lippen nach oben, als er es hört.

Jetzt guckt er wieder mürrisch und räuspert sich. »Madame Hansens, ich möchte Sie darüber informieren, dass die Verhandlungen zu Ihrem Prozess soeben abgeschlossen wurden. Sie werden aller in ihrer Heimat begangenen Taten freigesprochen. Ich ...«

Ich unterbreche ihn mit einer stoppenden Bewegung. »Es gab einen Prozess?«, frage ich verwirrt. Niemand berichtete mir von einer Verhandlung. »Was ist mit den anderen? Meinen Freunden?«

»Ihre Prozesse laufen noch. Ich bringe Sie jetzt in ihre neue Suite. Dort wartet bereits das Abendessen auf Sie. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten am heutigen Abend. Es war nicht unsere Absicht, Sie hungern zu lassen.« Er blickt dabei auf meinen abgemagerten Oberkörper. »Der Prozess dauerte etwas länger als erwartet. Aber gut, folgen Sie mir jetzt bitte. Ich bin ab heute Ihr Ansprechpartner. Wenn Sie Fragen haben, lassen Sie einfach nach mir rufen.«

»Wie heißen Sie denn?«

»Oh, verzeihen Sie mir bitte. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Nennen Sie mich Andrieu. Ich bin der Neffe des Königs.«

Ich nicke und folge ihm hinaus in den weitläufigen Flur. Andrieu … Was für ein wohl klingender Name. Jeden Tag kam Andrieu bei mir vorbei und ich habe ihn nie danach gefragt, wie er heißt.

Vom Flur aus biegen wir nach rechts ab in einen weiteren, jedoch breiteren Gang. Ich komme mir wie in einer Ahnenhalle vor. Zu beiden Seiten reihen sich Portraits in den schönsten Rahmen aneinander. Andrieu geht neben mir. Als er meinen staunenden Blick bemerkt, bleibt er stehen.

»Das sind die Gemälde unserer Vorfahren. Den Herrschern unseres Landes.« Er zeigt auf ein Bild links von mir. »Dieses dürfte Ihnen bekannt vorkommen.«

Ich schaue genauer hin. Ein glatzköpfiger Mann mit weißen Augenbrauen und rundlichem, aber dennoch fahlem Gesicht, schaut mir entgegen. »Das ist Präsident Nikischoff«, stelle ich fest.

Andrieu nickt und setzt seinen Gang über den dunkelroten Teppich fort.

Ich kenne Nikischoffs Gesicht aus dem Fernsehen. Er war bereits zwanzig Jahre lang im Amt gewesen, als vor knapp 500 Jahren der Krieg mit den Talmeniern ausbrach, in dessen Zuge auch mein Land zerstört wurde. Ich frage mich, wann aus der Demokratie eine Monarchie wurde.

Wir bleiben vor einer großen, vergoldeten Flügeltür stehen, hinter der sich eine breitgefächerte Treppe aus feinstem, weißem Marmor befindet. Meine Hand gleitet über das goldene, mit Stuck verzierte Geländer. Ich komme mir vor wie eine Königin, als ich die Treppe hinabschreite. Am Ende der Treppe erstreckt sich ein breiter Saal vor mir. Dunkle Vorhänge aus karmesinrotem Stoff verhängen die Fenster. Meine Schuhe klackern, trotz des gummierten Absatzes, auf den polierten Fliesen. Über mir erstrecken sich Gemälde königlicher Eleganz, beleuchtet von zahlreichen Kronleuchtern in glitzerndem Gold. Ich klappe meinen Mund wieder zu und beschleunige meine Schritte, um Andrieu einzuholen. Er hat nicht bemerkt, dass ich zwischenzeitlich kurz stehen geblieben bin, um mich in meinem fiktiven Ballkleid übers Parkett zu drehen.

Als ich ihn eingeholt habe, wird er langsamer. Wir gehen durch eine weitere prunkvoll verzierte Tür. Nach wenigen Metern bleibt er stehen und drückt auf einen kleinen Knopf vor einer schmalen, ebenhölzernen Doppeltür. Ich bin überrascht, als ich erkenne, dass sich hinter ihr ein einfacher, in Spiegeln gehüllter Fahrstuhl befindet. Wir steigen ein und fahren einige Stockwerke abwärts. In einem dunklen Gang steigen wir aus.

Seit der Ahnengalerie hat Andrieu kein Wort mehr mit mir gewechselt und auch jetzt schaut er sich nur stumm um, bis er den Lichtschalter findet. Wir stehen in einem hell erleuchteten weißen Gang, mit blau-grauer Decke und Türen in derselben Farbe.

Andrieu zeigt auf die Tür gegenüber von uns und gibt einen vierstelligen Code neben der Klinke ein. Anschließend legt er seine linke Hand auf den Scanner über dem Tastenfeld. »Kommen Sie her«, befiehlt er. »Legen Sie die Hand auf.«

Ich stelle mich neben ihn und spreize meine Finger so, wie er es eben getan hat, ehe ich meine Handinnenfläche auf das schwarze Glas drücke. Ein kurzer Piepton und das Klacken eines Schlosses ertönt.

»Sie sind jetzt im System gespeichert und können Ihre Suite jederzeit durch die einfache Auflage ihrer rechten Hand auf den Scanner betreten.«

»Danke«, sage ich und folge ihm durch die Tür.

Nicht schlecht, denke ich mir und blicke in den hellen und modernen Raum. Vor mir erstreckt sich ein langer Esstisch aus fein geschliffenem Mangoholz. In der Mitte steht eine Vase, in der eine einzige, prächtig blühende, rote Rose schlummert. Davor steht das übliche, silberne Tablett mit meinem Essen drauf.

Ich zucke zusammen, als über mir eine liebliche, weibliche Stimme ertönt.

»Meister Andrieu, willkommen. Ich habe Sie lange nicht mehr in meinem Hause gesehen.«

Er grinst, während ich immer noch die Frau, die gesprochen hat, suche.

»Zentja, schön dich zu hören. Ich bringe dir einen neuen Gast mit. Zentja, aktiviere Stimmerkennung.« Andrieu schaut zu mir herüber. »Sagen Sie Ihren Namen.«

»Kimberley San- eh Hansens«, stotterte ich. So ganz habe ich mich noch nicht daran gewöhnt, dass ich inzwischen Martins Nachnamen trage, auch wenn er nicht mehr unter uns weilt.

»Willkommen Kimberley Sanehansens«, sagt die Stimme und mir wird endlich klar, dass es sich um einen Computer handeln muss.

»Nein, nur Kimberley Hansens«, erwidere ich. »Ach, nennen Sie mich einfach Kim.«

»Okay, Einfachkim.« Ich rolle genervt mit den Augen und höre, wie Andrieu das erste Mal an diesem Abend laut lacht.

»Sie veräppelt Sie nur«, sagt er und grinst mich an. Mit lachenden Augen wirkt er viel freundlicher. »Zentja, das ist Kim, sorgst du dich gut für mich um sie?«

»Natürlich, Meister Andrieu.«

»Miss Hansens, Sie sind jetzt in besten Händen. Ich werde Sie nun verlassen. Wir sehen uns morgen früh beim Frühstück. Zentja wird Ihnen ab jetzt zur Seite stehen.«

»Sie können mich gerne Kim nennen. Ich mag meinen Nachnamen nicht mehr besonders. Es hängen zu viele schmerzliche Erinnerungen an ihm.«

»Das verstehe ich. Gute Nacht, Kim. Geruhen Sie wohl.«

»Dankeschön, Sie auch.«

Andrieu verbeugt sich leicht vor mir, so dass sein roter Umhang an seinen Beinen flackert. Er dreht sich um und schließt die Tür hinter sich.

»Wofür steht Zentja«, frage ich in den Raum hinein, ehe ich mich an den Tisch setze und zu essen beginne. Das Essen ist überraschenderweise noch warm.

»Wie meinen Sie das?«, fragt mich die alles umgebene Stimme.

»Ich dachte, KIs kriegen immer irgendwelche Abkürzungen als Namen.«

»Dann müsste ich CGHIS heißen. Computergesteuertes hochintelligentes System. Das klingt nicht sehr schön«, erwidert sie kühl.

»Hascht du dir deinen Nomen selbst auschgedacht?«, nuschle ich mit vollem Mund.

»Ich verstehe Sie nicht.«

Ich schlucke den Braten runter und stöhne leise auf. »Ob du dir deinen Namen selbst ausgedacht hast?«

»Nein, meine Entwicklerin gab ihn mir. Sie gab uns allen einen Namen.«

Ich lecke mir über die Lippen und kratze den Rest Soße von meinem Teller. Es ist das erste Mal seit einem Monat, dass ich alles aufgegessen habe.

»Gibt es noch mehr von dir? Also KI-Systeme?«

»Natürlich. Jeder Besitzer hat sein eigenes.«

Ich nicke. Das klingt logisch. Ich stehe auf und schaue mich um. »Wo ist die Küche?«

Neben mir fährt eine hellgrau melierte Wand zur Seite und offenbart die fantastischste Küche, die ich jemals gesehen habe.

In der Mitte steht ein in Marmor eingelassenes Kochfeld, umgeben von einer Wand aus mehreren Schränken, Öfen und Geräten, die ich nicht kenne. Ich gehe zur Spüle hinüber, um mein Tablett hinein zu stellen. Kaum stehe ich vor ihr, öffnet sich eine Klappe über dem Wasserhahn und Zentjas Stimme ertönt aus meinem Rücken.

»Sie brauchen nicht abzuwaschen. Stellen Sie das Tablett bitte einfach in die vorgesehene Lade. Die Bediensteten werden sich heute Nacht darum kümmern.«

Ich hebe das Tablett an und schiebe es in die Wand hinein. Kaum hat der Rand des Tabletts den Rand der Fläche berührt, schließt sich die Klappe wieder und verschwindet unsichtbar in der Wand.

Ich muss gähnen und halte mir die Hand vor den Mund.

»Wo steht mein Bett?«, frage ich müde. Es muss schon nach zweiundzwanzig Uhr sein.

»Sie sollten zuerst duschen gehen. Ihr Haut-Scan ergibt ein negatives Bild Ihrer Poren. Es ist mir zwar nicht möglich zu riechen, doch der angespannten Atmung von Meister Andrieu eben nach zu urteilen, müffeln Sie.«

Ich vermute, dass ich erröte. Zumindest dürfte mein Gesichtsausdruck dem eines Mädchens gleichen, das sich während ihres ersten Dates mit Schokoladeneis bekleckert hat. Ich versuche ganz langsam, meinen Kopf zu meinen Achseln zu drehen und an meinem Shirt zu schnuppern. Puh …

»Wo ist das Bad?«, frage ich und kaue peinlich berührt auf meinen Lippen herum.

»Am anderen Ende des Esszimmers«, sagt Zentja und ich stelle mir vor, wie sie innerlich vor Lachen zusammenbricht.

Ich sehe mich um und laufe längs am Tisch vorbei auf die weiße Tür zu. Der Geruch von Chlor sticht mir in die Nase, als ich sie öffne. Das Bad wurde erst kürzlich geputzt. Mein Umriss spiegelt sich in den polierten schwarzen und goldenen Fliesen an der Wand. Nicht ein Staubkorn entdecke ich auf den weißen Bodenfliesen.

»Zentja, ich brauche Handtücher und Seife«, sage ich deutlich und warte darauf, dass sich ein versteckter Schrank öffnet, aus dem ein Handtuchhalter und alles rausfährt. Stattdessen höre ich Zentja, die eine Art Schnauben von sich gibt. Können Computer überhaupt schnauben?

»Dreh dich um und bück dich, Liebes«, sagt sie belustigt.

Erst jetzt sehe ich das kleine Regal neben der Tür. Ich nehme mir die Shampooflasche und einen Schwamm heraus und steige in den Whirlpool, dann erst lasse ich das heiße Wasser einlaufen. Es ist mein erstes Bad seit gut einer Woche. Ich habe keinen Sinn darin gesehen, mich regelmäßig zu waschen, solange ich eingesperrt war. Jeder Tropfen auf meiner Haut erinnerte mich an mein trostloses Zimmer unter der Kuppel. An die ersten Tage in der neuen Welt, wo ich gleich neben Janes Büro wohnte. Neben Jane, die Martin erschoss.

Das Wasser plätschert auf meine Beine. Langsam spüre ich, wie der Wasserpegel steigt und meine Haut von der Hitze errötet. Ich drehe das heiße Wasser ab und den Hahn fürs kalte voll auf. Die eisigen Tropfen auf meiner Haut lassen mich kurz erschauern und Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus.

Als ich untertauchen möchte, merke ich, dass ich das Medaillon meiner Mutter immer noch um den Hals trage. Ich lege es ab, damit es nicht nass wird.

Ich streiche mir durch meine schulterlangen Haare. Ich vermisse es, sie mir zu flechten oder zu einem Zopf zu binden. Bei dem Gedanken an Cloe, die sie mir vor gut zwei Monaten geschnitten hatte, werde ich traurig. Was mag wohl mit ihr sein? Wieso sind sie und Logan noch nicht frei? Und wo sind sie untergebracht?

»Zentja«, rufe ich und meine Stimme hallt durch das Bad.

»Was wünschen Sie, Kim? Möchten Sie die Whirl-Funktion einschalten?« Ich bedecke meinen Schambereich mit Schaum, als ihre Stimme ertönt.

»Ja, bitte.« Sofort spüre ich ein herrliches Blubbern unter meinem Po, im Nacken und an den Beinen.

Ich lasse mich weiter ins Wasser sinken und schließe meine Augen. Beinahe vergesse ich, was ich eigentlich fragen wollte.

»Zentja, weißt du, was mit Cloe und Logan passiert ist?« Meine Stimme klingt trocken.

»Cloe van Hagen, Gefangene 17B43 und Logan Reese, Gefangener 17B44, ihr Prozess endet in 13 Tagen, 12 Stunden und 47 Minuten.«

Okay, sie sind also vermutlich irgendwo hier im Gebäude. Und in zwei Wochen kann ich sie wiedersehen. Wenn ich freigelassen wurde, dann werden sie es sicherlich auch.

»Was ist mit Sit, Dan und Pat?« Das sind meine Freunde aus dem Wald, einer kleinen Rebellen-Gruppe, die aus gezüchteten Kindern besteht.

»Sit und Dan Matthiew, Pat Szornitz. Gefangene Nummer 18C20, 18C21 und 18C22, keine Freigabe. Auskunft nicht möglich.«

Ich halte kurz die Luft an. Nie haben sie erwähnt, dass sie Geschwister sind. Und wieso bekomme ich keine Auskunft?

»Was soll das heißen? Auskunft nicht möglich? Sie sind doch genauso Gefangene wie Cloe und Logan.«

»Ich wiederhole: Auskunft nicht möglich, keine Freigabe!«

Na toll! Ich verschränke meine Arme, lasse mich weiter in die Wanne rutschen und stelle mit meinem Fuß das Wasser ab. Wie kann das denn bitte sein?

»Wofür steht der Buchstabe in den Gefangenennummern?«, hake ich nach.

»Für den Korridor, in dem der Gefangene während seines Arrestes lebt«, antwortet Zentjas ruhige Stimme prompt.

»Okay, und wo liegen B und C?« Hoffnungsvoll starre ich zur Decke und versuche den Ort, an dem ihre Stimme stets erklingt, ausfindig zu machen.

»Auskunft nicht möglich, keine Freigabe«, sagt sie erneut und ich atme schwer aus. Ich wasche meine Haare fertig und steige aus der Wanne.

Dieses Bad war für mich so erkenntnisreich wie der Anblick einer Schuhsohle. Ich trockne mich auf dem Weg zum Schlafzimmer ab und falle nackt ins kühle Bett. Ich schließe die Augen und sehe Martin vor mir, wie er mich angrinst und auf etwas zeigt, was ich nicht erkennen kann. Dann wird mein Körper schwerer und schwerer, ehe er ganz im Traum versinkt.





Moslava


»Guten Morgen, Miss Hansens.«

Es dauert eine Weile, bis ich registriere, dass ich es bin, die die körperlose Stimme aus den versteckten Lautsprechern anspricht. Und eine weitere, bis ich endlich reagiere und ein mürrisches Brummen meiner Kehle entflieht. »Grrr, Morgen Zentja. Wie spät ist es?«

Ich wälze mich zur Seite und ziehe die Bettdecke dabei mit, um nicht völlig nackt vor ihr zu liegen. Warte! »Zentja, werde ich eigentlich nur von dir oder noch von anderen die ganze Zeit beobachtet?« Immerhin bin ich gestern Abend einfach nackt ins Bett gefallen und auch während meines Bades hat sich Zentja mit mir unterhalten.

»Ich beobachte Sie nicht«, antwortet sie mir ruhig und ich lehne mich erleichtert zurück und lasse meinen Kopf im Kissen versinken. »Ich analysiere Sie lediglich. Und es ist sieben Uhr fünfzehn. Meister Andrieu erwartet Sie in dreißig Minuten zum Frühstück.«

Mir entfährt ein leises Stöhnen. Es ist doch noch mitten in der Nacht. Und was bitte meint sie mit analysieren? Niemand hat mich zu analysieren!

»Und wie kannst du, ohne zu beobachten, mich analysieren?«, frage ich schnippisch und schlüpfe, die Bettdecke um meine Hüften gewickelt, aus dem Bett und gehe ins Bad. Ihre Stimme verfolgt mich dabei von Raum zu Raum.

»Ich sehe Sie nicht, aber ich analysiere Ihre Körpertemperatur, ihre Hormonausschüttung und dergleichen, ihre Stimmlage und andere für Sie unscheinbare Dinge. Ich sehe nur, wo Sie sich befinden, nicht aber, was Sie machen. Früher war dies leichter, als noch überall Kameras im Palast angebracht waren. Ich vermisse diese Zeit.«

Ich starre kopfschüttelnd zur Zimmerdecke. Ein Computer, der Kameras im Gebäude vermisst - verrückt! Ich schlüpfe aus der Decke heraus und in die Dusche rein. Das kalte Wasser spritzt mir auf die Schulter und fließt meinen abgemagerten Körper entlang. Jeder Spritzer lässt meine Haut erglühen. Ich atme tief durch, steige aus der Dusche und wickle das Handtuch um meine Brust.

»Zentja?«

»Ja, Miss Hansens?« Jedes Mal, wenn sie mich so nennt, verspüre ich einen heftigen Stich in meinem Herzen.

Ich seufze. »Du sollst mich nicht siezen! Nenn mich bitte einfach Kim. Nur Kim, okay?«

»Natürlich, entschuldige. Dein Puls steigt jedes Mal an, wenn du diesen Namen hörst. Er wühlt dich auf.«

Ich nicke zaghaft, auch wenn sie es nicht sieht und blicke hinunter zu meinem Handgelenk, als könnte ich meinen Puls dort mit dem bloßen Auge pochen sehen.

»Was möchte Meister Andrieu von mir?«, wechsle ich das Thema und ziehe mir ein geblümtes Kleid an, dass vor mir auf einer Ablage liegt. Ich bin erstaunt, dass es mir steht. Seit meiner Hochzeit hatte ich kein Kleid mehr an. Ich streiche über den samtenen Stoff und spüre, wie meine Augen langsam feucht werden. Meine Hochzeit … Ich vermisse Martin einfach so sehr. Meine Finger zittern so stark, dass ich es kaum schaffe, die drei vorderen Knöpfe des Kleides zu schließen.

»Ich lasse dir ein Glas Wasser mit ein paar Tropfen Baldrian-Essenz anrühren«, sagt Zentja und ich lächle dankend, bis ich mich daran erinnere, dass sie mich nicht sehen kann.

»Danke«, sage ich leise.

»Um zu deiner Frage zurückzukehren«, unterbricht sie die kurze Stille, während ich in die Küche gehe, wo bereits das besagte Glas Wasser steht, »Meister Andrieu möchte dich kennenlernen und ist erpicht darauf, dir die Stadt zu zeigen.«

»Woher weißt du das?« Ich schaue stutzig zu der Ecke, aus der ihre Stimme kam. »Seid ihr auch miteinander verbunden?«

»Nein. Kataya hat es mir mitgeteilt. Sein KI-Assistent.« In Zentjas Stimme liegt eine leichte Bitterkeit. So, als mochte sie diesen KI-Assistenten nicht. Aber kann ein Computer überhaupt fühlen?

Ich setze mich an die lange Tafel im Vorraum und trinke mein Wasser, während ich die Rose vor mir betrachte und darauf warte, dass Andrieu eintritt. Ich muss grinsen, als ich mich daran erinnere, dass auch ich ihn eben »Meister« genannt habe. Wie affig! Er wirkte gestern ziemlich aufgeblasen auf mich. Er war zwar freundlich, aber auch hochmütig und arrogant in seiner Art.

Es dauert einen kurzen Moment, dann klopft es. Ich drehe mich zur Tür und sehe auf den kleinen Bildschirm neben ihr, auf dem sein Gesicht erscheint.

»Möchtest du, dass ich ihn hereinlasse?«

»Ja bitte, Zentja.« Ein leises Klacken ertönt und Andrieu, in einen weißen Anzug mit roter Schärpe um die Schulter gekleidet, tritt ein und verbeugt sich leicht vor mir. Sein dunkles Haar fällt ein Stück weit in sein markantes, gutaussehendes Gesicht und er schenkt mir ein kurzes Lächeln. Ich stehe auf und mache einen kleinen Knicks vor ihm. Ich komme mir ziemlich komisch dabei vor, aber ich vermute, das gehört sich so. Und desto höflicher ich ihm gegenüber bin, desto wahrscheinlicher wird es sein, dass er mir Auskunft zu meinen Freunden gibt.

Hinter ihm tritt eine stattliche Dame ein und drängelt sich, einen kleinen Essenswagen vor sich herschiebend, an ihm vorbei und tischt die Köstlichkeiten für unser Frühstück auf der Tafel auf. Der Geruch von frisch aufgebackenem Brot steigt mir in die Nase und ich muss sofort an meine Mutter und meine Kindheit denken. Instinktiv greife ich an meinen Hals und erschrecke kurz, als ich ihr Medaillon mit den Bildern der Familie nicht spüre. Es muss noch auf dem kleinen Regal im Bad liegen. Hin- und hergerissen blicke ich mich um und entscheide mich für die höfliche Variante und nehme Andrieu gegenüber Platz, der mir einen Stuhl zuweist. Das Medaillon dürfte im Badezimmer sicher aufbewahrt sein. Es gibt keinen Grund, deswegen noch nervöser zu werden.

Ich schaue neugierig zu Andrieu und warte darauf, dass er Gebären macht, dass wir mit dem Essen beginnen können. Seine eisig blauen Augen blicken in meine braunen. Das Gefühl von Überlegenheit spiegelt sich in ihnen wider.

Die Haushälterin rauscht genauso unsanft heraus, wie sie hereinkam. Erst, als sich die Tür hinter ihr schließt, beugt Andrieu sich vor und reicht mir den Brotkorb. Dankend nehme ich mir eine dicke Scheibe des Holzofenbrotes heraus und bestreiche es ordentlich mit Butter und Himbeermarmelade. Dieses Frühstück ist viel besser als der klägliche Hafer-Müsli-Mix, der mir täglich während meiner Gefangenschaft hier aufgetischt wurde.

»Haben Sie gut genächtigt?« Seine Augen durchlöchern mich während jeder Bewegung, die seine Lippen beim Sprechen ausführen. Ich schlucke meinen Tee runter und verhasple mich beinahe beim Antworten, weil ich mir die Zunge verbrannt habe.

»Ja, das Bett ist sehr weich und es ist schön ruhig hier.«

Er mustert mich immer noch.

»Und Sie?«

»Vermutlich nicht im Mindesten so gut wie Sie. Möchten Sie noch eine Scheibe Brot?« Er hält mir erneut den Korb hin und als ich ablehne, nimmt er sich selbst eine Scheibe heraus und beißt in das trockene Brot.

»Hat Sie etwas wachgehalten?«, frage ich unverblümt.

»Ja, der Bürgerkrieg, der weit hinter unseren Grenzen tobt; es ist schwer, die Bewohner in Schach zu halten bei so wenig Personal. Aber davon möchten Sie bestimmt nichts wissen.« Er hört nicht auf, mich unverhohlen anzustarren, als analysiere er jedes Zwinkern von mir.

»Ich wusste nicht, dass wieder Krieg herrscht«, sage ich ehrlich. Von der politischen Situation der Länder habe ich, seit ich eingefroren wurde, kaum etwas mitbekommen. Mit Ausnahme natürlich der Rebellenangriffe in Antwasa, an denen ich selbst beteiligt war.

Andrieu schluckt seinen letzten Bissen herunter, steht auf und streicht sein Jackett glatt. Er klopft die restlichen Krümel von seiner Schärpe und erhebt seine Stimme: »Wären Sie so freundlich, sich heute von mir durch die Stadt führen zu lassen? Ich möchte Ihnen das wunderschöne Moslava zeigen, damit Sie sich ein wenig besser in dieser unseren Welt zurechtfinden.«

Er hält mir den Unterarm hin und wartet offensichtlich darauf, dass ich mich bei ihm einhake, oder wie auch immer ich das nennen soll. Unsicher lege ich meine Hand auf seinen Arm und sehe ein kurzes, gewinnendes Lächeln über seine Mundwinkel huschen. Welchen Plan auch immer er mit mir verfolgt, für ihn scheint er aufgegangen zu sein.

Er öffnet meine Apartmenttür und geleitet mich hinaus auf den weitläufigen Flur. Von der Treppe aus gehen wir heute in eine andere Richtung als jene, aus der wir gestern gekommen sind. Wir schreiten schnellen Schrittes über rubinrote Teppiche, die überall in diesem Palastteil ausgelegt zu sein scheinen. Es wirkt fast, als wären wir auf der Flucht.

Genervt von seinem unnötigen Tempo bleibe ich abrupt stehen und zupfe an seinem Ärmel. »Können wir bitte etwas langsamer gehen? Ich würde mir gerne die Schönheit dieses Palastes anschauen.«

»Oh natürlich, verzeihen Sie mir. Ich gehe immer sehr schnell. Ich bin nicht daran gewöhnt, von Damen begleitet zu werden«, stammelt er vor sich hin und geht nun langsamer vor mir her.

Aus den bodentiefen Fenstern im nächsten Gang kann ich bereits die prachtvolle Kathedrale, die gleich vor dem Eingang zum Palast steht, erkennen. Das Gold der Zinnen und Zwiebeltürme und die rötlichen Wandmalereien an ihren Wänden strahlen im Sonnenlicht einen besonderen Glanz aus.

Als wir am großen Flügelportal der Eingangshalle ankommen, reicht eine Wache uns zwei der Schutzmasken, ohne die man die Gebäude nicht mehr verlassen darf.

»Steht uns heute wieder ein Sandsturm oder ähnliches bevor, Mister?«, fragt Andrieu die Wache und weist nach draußen, auf die inzwischen geöffnete Tür hin.

»Nein Meister Andrieu, Sie und Ihre Begleitung können ungehindert hinausgehen.«

Andrieu nickt der Wache zu und zieht mich nach draußen. Dafür, dass es nicht mehr lange bis zum Wintereinbruch ist, ist die Luft heute trocken und angenehm warm. Dennoch bin ich froh um die Maske. Immer wieder weht der Wind die trockene Erde um uns auf und die wenigen Fahrzeuge, die uns begegnen, ziehen Staubwolken hinter sich her. Dabei war ich mir gestern sicher, dass es in der Nacht noch regnen würde.

»Willkommen auf dem Blauen Platz von Moslava«, sagt Andrieu und zeigt begeistert um sich. Die rötliche Kathedrale und der goldschimmernde Palast stechen eindeutig aus den umliegenden Fachwerkhäusern, die in den letzten tausend Jahren vermutlich immer wieder neu aufgebaut und restauriert wurden, hervor.

»Die blauen Dächer, die seit einem viertel Jahrhundert die Häuser hier schmücken, gaben dem Platz seinen Namen. Und das da vorne«, er zeigt auf die alte Kathedrale, »ist eines der bedeutendsten Wahrzeichen unserer Stadt. Die Kathedrale der heiligen Katharina.«

Es muss sehr teuer sein, all diese alten Gebäude in Stand zu halten, denke ich mir, während wir über den verlassenen Platz gehen.

»Wie haltet ihr es hier mit der Religion?« frage ich neugierig. Unter der Kuppel hatte sie schließlich keine Bedeutung mehr.

»Wir sind nicht religiös, falls Sie das meinten. Für uns ist Religion Kultur, und Kultur sollte erhalten werden. Deswegen werden wir noch einige Kirchen und dergleichen zu Gesicht bekommen.«

Ja, das klingt einleuchtend. Für mich bedeuten diese alten Gebäude Heimat, auch wenn ich sie nur von früher aus der Zeitung oder dem Fernsehen kenne.

Während wir weiter gehen, bleibt Andrieu immer wieder stehen und zeigt auf ein Gebäude, eine Statue oder einen Platz und erzählt mir etwas über ihre Geschichten. Es ist bereits mittags, als wir die Adria, den kleinen Fluss, der mitten durch die Stadt fließt, entlang gehen und mein Magen ein lautes Knurren von sich gibt. Andrieu bleibt stehen und lacht laut auf. Dann zeigt er auf der anderen Seite der Adria auf ein kleines Lokal und das erste Mal an diesem Tag begegne ich dem einheimischen Volk. Die Straßen waren bisher wie ausgestorben. Hin und wieder kam ein Transporter vorbei oder man hörte eine Sirene aufheulen. Ganz selten sah man mal eine ältere Dame ihren Hund Gassi führen oder hörte ein Kind hinter einem Fenster schreien. Doch dieses Lokal, das beinahe einer Kantine gleicht, ist voll von Männern und einer Hand voll Frauen in dunklen Anzügen.

»Wieso sind die alle hier?«, frage ich etwas unbehaglich. Wenn man seit Wochen kaum jemandem begegnet ist, fühlt man sich in solchen Menschenmassen nicht unbedingt wohl.

»Es ist Mittagszeit, sie werden Hunger haben«.

Ich verdrehe die Augen. »Das ist mir klar, aber wieso hier. Gibt es keine andere Kantine in der Stadt?« Was von außen schlicht und klein wirkte, entpuppt sich von innen als riesiges Selbstbedienungsrestaurant.

»Ach so. Doch, doch, aber hier essen die gehobenen Klassen. Das hier sind alle Beamten des Staates«, verkündet er und nickt einem älteren Mann im Vorbeigehen zu.

Als wir uns durch die Menge an Tischen hindurchschlängeln, beginnen die ersten Beamten, uns zu bemerken. Ein paar stehen auf und salutieren vor Andrieu, andere verbeugen sich oder nicken ihm zu. Es ist mir fast schon unangenehm, an seiner Seite zu sein. Denn auch mir wird die Aufmerksamkeit der Männer und Frauen teil. Es dauert nicht lange, bis jemand aufspringt und uns seinen Platz anbietet. Ich setze mich widerwillig hin. Andrieu winkt einer der Küchenfrauen hinter der Theke zu und diese kommt ganz selbstverständlich zu unserem Platz. Ich mag es nicht, besser behandelt zu werden, als die anderen, nur weil ich mit jemandem aus dem Königshaus unterwegs bin.

»Ich hätte mich auch angestellt«, flüstere ich Andrieu zu, ehe die Kantinenfrau vor uns steht.

Andrieu schüttelt den Kopf. »Madame Masquise«, liest er von ihrem Namensschild ab, »bringen Sie uns doch bitte Ihr Tagesgericht und ein Stück Kuchen als Nachspeise« .

Madame Masquise knickst vor ihm ein und schenkt ihm ein liebliches Lächeln.

»Lassen Sie das doch bitte meine Sorge sein«, wendet er sich an mich. »Ich möchte Ihnen noch einiges heute zeigen, da möchte ich unsere Zeit nicht mit Anstehen verschwenden.«

Ich verschränke die Arme und warte mit knurrendem Magen auf das Essen. Als es endlich kommt und mir der Duft von fettigem Schweinebraten in die Nase steigt, schlage ich ohne zu zögern zu.

Als wir wieder draußen sind, lehne ich mich an die Wand eines schlichten Gemäuers und blicke die Adria hinunter. Das Wasser rauscht mit einem rasanten Tempo an uns vorbei, als hätte jemand kürzlich eine Schleuse geöffnet. Die Sonne steht inzwischen hell über uns und die Bäume in der Straße werfen tanzende Schatten im Wind. Ich fummele ein wenig an meiner Maske herum, die ich zum Essen abgesetzt habe und die jetzt nicht mehr richtig sitzt. Andrieu lehnt sich gegenüber von mir an das Geländer des Adriaufers und betrachtet mich stumm. So stehen wir uns eine Weile gegenüber. Keine einzige Person, geschweige denn ein Vogel oder eine Katze streift derweil unser Blickfeld.

»Wo sind die ganzen Menschen?«, durchbreche ich die Stille zwischen uns.

Andrieu lacht laut auf.

»Ist es dir noch nicht aufgefallen?« Ich bin verwundert, dass er plötzlich zum Du gewechselt ist, habe jedoch nichts dagegen.

»Was, was meinst du?« Ich blicke mich verwirrt um. Schaue von den prunkvollen Häusern mit vergoldeten Zwiebeltürmen und roten und blauen Dachschinden zu den alten Bauwerken flussabwärts.

»Das dort drinnen waren praktisch alle, Kim.« Er beginnt, einen Stein trostlos vor sich her zu kicken und setzt sich in Bewegung. Ich folge ihm die Straße hinunter. Die Stimmung um uns herum wird mit jedem Schritt in diese Richtung bedrückter.

»Moslava ist längst nicht mehr die prachtvolle Stadt, die du zu deiner Zeit erlebt hast.«

Ich habe Moslava nie besucht, doch ich kenne sie genügend aus Filmen und Bildern. Die prunkvollen Alleen, der Palast, die Märkte. Es herrschte ein reges Leben.

»Es ist beinahe eine Geisterstadt. Was glaubst du, wieso wir so oft angegriffen werden? Wieso alle Welt uns einnehmen will? Wir sind reich, ja. Wir haben Gold ohne Ende, so viel, dass wir selbst unsere Dächer vergolden, um sie vor dem sauren Regen zu schützen. Und wir haben Öl, wir sitzen quasi auf dem Zeug. Doch wir haben keine Menschen, das, was einen Stadtstaat ausmacht. Unsere Bevölkerung besteht nur noch aus ein paar tausend Mann, die für die Regierung arbeiten. Die Handwerker, Soldaten, sie alle hat es längst hinaus verschlagen, in die günstigen Provinzen. Zu viele wurden abgeworben, durch andere Staaten, zu viele starben an Krankheiten, die längst als ausgestorben galten. Was meinst du, wie froh wir waren, als eure Kuppel fiel. Endlich neue Bewohner, die unsere Stadt bereichern sollten!«

Ich bleibe mit geweiteten Augen vor ihm stehen. Deswegen wurde ich freigelassen und werde so gut behandelt. Sie brauchen Menschen, sie können keinen Gast verschwenden. Dennoch verstehe ich das alles nicht.

»Wieso? Also ... wieso wollen die Menschen hier nicht wohnen. Ich meine jene, die nicht für die Regierung arbeiten.«

Andrieu zeigt die Straße hinab. »Siehst du das? Das ist das Armenviertel Moslavas. Wer nicht für die Regierung arbeitete, zog hierher. Und niemand will hier wohnen. Ich kenne den König schon lange und er ist ein guter Mann. Als er jedoch beschloss, jene, die nicht direkt für den Palast arbeiteten, aus den guten Vierteln auszuschließen, da hat er sich selber ins Bein gebissen. Er war noch jung damals, vielleicht so alt wie ich. Und er wollte Reichtum für seinen Staat, Steuern von jenen, die sowieso schon nichts hatten. Er muss viele Familien ruiniert haben. Heute will niemand mehr hier wohnen und erst recht nicht für ihn in den Krieg ziehen. Wir bräuchten dringend eine Armee.« Sein Blick wandert zum Boden.

»Lass uns zurückgehen«, sage ich betreten und er führt mich zurück zum Palast.

»Was ist mit der Asris, Janes Armee? Werden sie sich euch anschließen?« Ich denke zurück an die uniformierten Massen, vor denen ich mich in den letzten Monaten so oft versteckt hatte.

»Ja, aber das wird nicht genügen. Sie haben genug zu tun und müssen ihre eigene Stadt aufräumen und dort für Ordnung sorgen. Viele Menschen waren nicht begeistert von euren heldenhaften Taten, sie mochten Jane und ihre Art zu regieren. Diese Leute protestieren nun und versuchen, sich uns in den Weg zu stellen.«

»Ich verstehe.« Tatsächlich verstehe ich längst nicht alles.

Als wir endlich am Palast ankommen, gebe ich meine Maske am Eingang ab und lasse mich von Andrieu zu meiner Suite führen.

»Bleibst du noch?« Ich möchte mehr erfahren, über den König, meine Freunde, über alles.

»Kann ich leider nicht, der König erwartet mich. Aber wenn du es wünschst, komme ich später am Abend noch einmal vorbei.«

»Es würde mich freuen.« Andrieu ist eine hervorragende Ablenkung vorm Einsamsein. Wenn er da ist, denke ich weniger über die Vergangenheit nach, weniger an Martin. Jeder Gedanke an ihn bedeutet immer noch einen Stich in mein Herz.

Andrieu schenkt mir ein Lächeln und offenbart sein strahlend weißes Gebiss, ehe er auf dem Absatz kehrt macht und mich alleine vor meiner Tür stehen lässt.

Ich lege meine Hand auf den Scanner auf und warte auf das kurze Summen und Klacken des Schlosses, ehe ich eintrete und mir einen Tee kochen lasse. Zentja ist unglaublich neugierig, wie mein Tag mit Andrieu war und zwingt mich, ihr alles zu erzählen, sonst würde sie die Raumtemperatur auf unter null Grad stellen.


Angriff um Mitternacht


Ich schaue müde auf die Uhr; es ist beinahe Mitternacht und Andrieu war immer noch nicht da.

»Zentja?«, frage ich scheu in die Dunkelheit in meinem Zimmer hinein. Keine Antwort. Das ist komisch.

Ich schleiche vor zur Wand und taste nach dem Lichtschalter. Als ich ihn drücke, höre ich zwar ein leises Klicken, doch der Raum bleibt dunkel. Ein Stromausfall. Na super! Das fehlte mir gerade noch. Als ich mich vor ein paar Stunden bettfertig gemacht habe, da ging noch alles.

Ich öffne die Tür und taste mich vor in die Küche. Vielleicht würde ich in einer der Schubladen Streichhölzer oder eine Taschenlampe finden. Meine Hand gleitet über die glatten Oberflächen der Hochglanzschränke, die vor mir mit der Wand verschmelzen. Ich drücke gegen die Schubladen, nichts passiert. Okay, ich habe nicht damit gerechnet, dass selbst die Schränke hier einen elektrischen Impuls benötigen, um sich zu öffnen. Ich bin bereits auf dem Weg zu meiner Apartmenttür, als mir klar wird, dass auch sie sich nur durch meinen Handscan öffnen wird, oder wenn ich Zentja darum bitte.

Ein lautes Gähnen entweicht meinem Mund und ich krieche zurück ins Bett. Morgen wird bestimmt alles besser werden und ich werde meine Antworten von Andrieu bekommen.


Ein lautes Rumsen und Donnern reißt mich aus dem Schlaf. Schlagartig sitze ich aufrecht im Bett, die Augen trotz der Müdigkeit weit aufgerissen und suche hektisch nach dem kleinen Schalter meines Nachtlichtes. Ich spüre den Plastikhebel zwischen meinen Fingern. Während ich panisch auf ihm herumdrücke, wird mir klar, dass der Strom immer noch nicht da ist.

Aus dem Esszimmer dringen gedämpfte Laute zu mir durch. Ich höre Schritte und das Flüstern eines Mannes.

Instinktiv springe ich vom Bett, hebe die Tagesdecke, die ich beim Schlafengehen einfach auf den Boden geworfen habe, auf und schmeiße sie über das Bett. Es sieht nicht wirklich sauber aus. Hoffentlich reicht es, um die Leute vor der Tür zu täuschen. Ich packe meine Klamotten vom Vortag und rolle mich mit ihnen unter das Bett.

Die Schritte draußen verstummen, dafür sehe ich Licht durch den Spalt unter meiner Schlafzimmertür dringen. Sie stehen direkt vorm Raum und warten auf irgendetwas. Ein leises Rauschen, wie aus einem Funkgerät, dringt zu mir durch, doch ich kann die Stimme, die spricht, nicht verstehen. Mit angehaltener Luft sehe ich zu, wie sich die Türklinke senkt und jemand die Tür öffnet. Es sind drei Leute in eindeutig militärischer Uniform. Die schweren schwarzen Stiefel des Vordermannes stehen direkt vor dem Bett: Unmittelbar vor mir. Mein Herz pocht so laut, dass ich Angst habe, dass es mich verrät.

Der Schein der Taschenlampe schwenkt durch den Raum und streift dabei mein hastig gemachtes Bett.

»Leer«, dringt eine tiefe, männliche Stimme zu mir durch.

»Ich hätte schwören können, dieses Gästeapartment wäre bewohnt. Auf der Liste steht eine Kimberley Hansens.« Die zweite Stimme stammt von einer Frau.

»Gut so«, schnauft die tiefe männliche. »Hab eh kaum noch Munition übrig. Abzug.«

»Warte, wir hätten sie eh nicht töten dürfen. Ihr Name ist markiert«, sagt die Frau und ich sehe, wie die Taschenlampe nach oben schwenkt. Vermutlich zeigt sie auf ihre Liste.

»Hmpf«, grummelt der Mann.

Ich atme erleichtert aus und verharre noch einige weitere Minuten unter dem Bett. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, doch ich muss hier raus. Und ich will wissen, was los ist. Was meinte er mit ›kaum noch Munition übrig‹? Gab es etwa eine Schießerei? Und wieso darf ich nicht getötet werden? Wer sind diese Leute?

Ich krieche unter dem Bett hervor und ziehe mich so schnell es geht um. Sollte ich noch einmal auf diese Leute stoßen, dann will ich nicht im Nachthemd vor ihnen stehen.

Ich streiche meine Bluse glatt und trete hinaus in das dunkle Esszimmer. Als ich die aufgebrochene Eingangstür im Schein der rötlichen Notausgangbeleuchtung erblicke, beginnt plötzlich eine Sirene aufzuheulen. Das durchdringende Geräusch lässt die feinen Haare auf meinen Armen zu Berge stehen. Dann wird es hell. In der ganzen Wohnung und in dem weitläufigen Flur ist das Licht angegangen. Ich muss die Augen zusammenkneifen, damit es mich nicht blendet. Es dauert eine Weile, bis ich mich an die grelle Helligkeit gewöhnt habe.

»Zentja?«, frage ich vorsichtig.

»Kim, sind Sie in Ordnung?«, erklingt ihre sanfte Stimme.

»Ja, was ist passiert?« Ich setze mich auf einen Stuhl und warte begierig auf ihre Antwort. Ich bin angespannt; mein Fuß zuckt nervös auf und ab. Es dauert einige Sekunden, bis sie antwortet. Vielleicht muss sie selbst erst mit Informationen gefüttert werden oder ihr System ist noch nicht ganz hochgefahren.

»Es gab einen Angriff auf die Stadt. Der König sollte gestürzt werden. Vierundneunzig Tote, siebenundzwanzig Verletzte im Palast. Über die Außenlage liegen noch keine Informationen vor«, rattert sie runter.

Ich schlucke. Jetzt weiß ich, wofür die Munition draufging.

»Alle Sicherheitsmaßnahmen reaktiviert«, erklingt Andrieus Stimme aus den Lautsprechern und die Sirene verstummt.

Tief durchatmen, Kim! Plötzlich durchfährt es mich eiskalt. Ihnen ist bestimmt nichts passiert. Und wenn doch?

»Zentja«, beginne ich mit zittriger Stimme. Mein ganzer Körper bebt. Ich hatte gedacht, die ganze Aufregung der letzten Monate, diese ständige Angst, sie würde hier enden. Ich wäre jetzt frei und würde nicht gleich in den nächsten Tumult geworfen. »Was ist mit Logan und Cloe und meinen anderen Freunden? Sind sie in Ordnung? Leben sie?« Bei den letzten Worten bricht meine Stimme weg. Ich streiche mir meine verschwitzten Haare von der Stirn. Mir war bis eben gar nicht bewusst, wie nervös ich war.

Wieder dauert es kurz, bis Zentja antwortet. »Alle Gefangenen sind in Ordnung. Sie sind nicht bis zu ihnen vorgedrungen«, sagt sie schließlich und ich spüre, wie die Anspannung von mir abfällt.

Meine Knie sind immer noch wacklig, als ich aufstehe und zum Spülbecken vorlaufe, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Laut der Uhr über der Tür, die wieder leuchtet, ist es kurz nach vier Uhr morgens.

Als hätte Zentja meinen Blick bemerkt, sagt sie im mütterlichen Ton, ich solle mich wieder hinlegen und noch etwas schlafen. Wir seien alle wieder in Sicherheit.

Ein herzhaftes Gähnen entweicht mir und ich versuche, die schwere Tür, die meinen Wohnraum sonst schützt, zu schließen, doch sie klemmt.

»Es wird sich jemand um die Tür kümmern, gehen Sie jetzt schlafen. Sollte jemand Ihr Apartment betreten, wecke ich Sie.«

»Okay.« Meine Stimme ist brüchig und müde. Ohne mich erneut umzuziehen, lege ich mich ins Bett. Ich bekomme nicht einmal mit, wie Zentja das Licht im Raum erlöschen lässt.


Als Zentja mich weckt, ist es bereits zehn Uhr. Die Tür zu meiner Wohnung ist repariert und geschlossen und auf dem Esstisch steht ein ausgewogenes Frühstück. Ich schlinge es begierig herunter und verlasse nach einer ausgiebigen Dusche das Apartment mit gemischten Gefühlen. Ich will mir die Stadt ansehen und schauen, was passiert ist. Vorher muss ich jedoch Andrieu finden. Ich will Antworten erhalten!

Der lange Flur ist in ein schummriges Licht getaucht, als hätten einige der Lampen einen Sprung bekommen. Die Palastarbeiter scheinen bereits einiges getan zu haben, um die Verwüstungen rückgängig zu machen. Dennoch stolpere ich über gesplitterte Holzrahmen und höre immer wieder das Knirschen von Glas unter meinen Schuhen. Es sieht aus, als wären alle Türen in diesem Gang aufgebrochen worden. Die meisten sind zwar wieder geschlossen, doch bei einigen zeichnen sich deutliche Dellen, Einschusslöcher und tiefe Kratzer ab. Eine Tür wurde sogar aufgesprengt. Der ganze Rahmen und Teile des Flurs und des Raumes dahinter sind kohlschwarz. Es ist ein Bild der Zerstörung. Der Geruch nach verbranntem Holz und Plastik sticht mir in die Nase und ich gehe schneller.

Je tiefer ich in den Palast eindringe, desto widerlicher werden die Gerüche. Als ich am Ende eines weiteren Ganges ankomme, wird mir klar, wieso. Ich stehe vor dem riesigen Raum mit den dunkelroten Vorhängen, durch den ich vorgestern auf dem Weg zu meinem Apartment mit Andrieu gelaufen bin. Letztes Mal faszinierte mich der Saal und ließ mich tanzen. Jetzt muss ich meine Nase zuhalten, um nicht zu erbrechen. Der einstige Ballsaal wurde in eine Leichenhalle verwandelt.

Ich will gerade den Blick abwenden und umkehren, als der Alte, der mir früher immer das Essen brachte, vor mich tritt. Tiefe Sorgenfalten umkreisen seine Stirn.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?« Seine Stimme klingt müde und sanft.

»Ich glaube, ich habe mich verlaufen, Sir. Ich suche Meister Andrieu«, sage ich ehrlich.

Der alte Mann nickt, dreht sich um und winkt jemanden am anderen Ende des Saales zu.

Andrieu kommt mit schnellen Schritten zu uns. Sein Blick ist starr auf mich gerichtet, als versuche er, sich unter keinen Umständen im Saal umzuschauen.

Vor dem alten Herrn bleibt er stehen und verbeugt sich leicht. »Eure Majestät.« Sein Blick ist gesenkt.

Als mir bewusst wird, was er da gerade gesagt hat, werden meine Wangen ganz heiß. Ein leises »Oh« entweicht mir und ich mache augenblicklich einen Knicks vor dem König. Ein fast unmerkliches Lächeln zuckt über seine Lippen, ehe er zu sprechen beginnt:

»Miss Kimberley wünscht Sie zu sprechen. Ich denke, Sie sollten sie über die Vorfälle in dieser Nacht aufklären. Ich muss mich derweil mit den Ministern zusammensetzen. Stoßen Sie bitte zu uns, wenn Sie die Zeit finden.« Er lässt den Gehstock, den ich erst jetzt wahrnehme, kräftig auf den Boden knallen, so dass ein lautes Klacken von den hellen Fliesen widerhallt und dreht sich um.

»Komm bitte mit. Es dürfte das Beste sein, wenn wir nach draußen gehen. Ich bezweifle zwar, dass es dort viel besser aussieht als hier drinnen, aber zumindest dürfte es an der frischen Luft angenehmer riechen. Vorher sollten wir uns jedoch etwas Wärmeres anziehen.«

Andrieu reicht mir seinen Unterarm und führt mich weg von den zahlreichen Toten durch eine weitere endlose Zahl von Gängen. Überall im Palast, egal wo wir hingehen, hört man aufgeregtes Getuschel und hastiges Geraschel. Die Aufräumarbeiten werden sicherlich noch einige Zeit in Anspruch nehmen, schießt es mir durch den Kopf.

Vor der Treppe, die zu dem Korridor führt, in dem ich wohne, bleiben wir stehen.

»Wir treffen uns hier in zehn Minuten. Draußen weht ein ziemlich kräftiger Wind. Zieh dich entsprechend an. Bis gleich.« Er dreht sich auf dem Absatz um und läuft den Korridor zurück, den wir gerade gekommen sind, während ich die Treppen zu meinen Räumen hochsteige.


»Warst du schon draußen? Ist es schlimm?«, frage ich Andrieu etwas später und versuche, mit seinem raschen Tempo Schritt zu halten. Dabei wickele ich mir meinen Schal um den Hals und knöpfe meinen Mantel zu.

»Nur kurz. Sie haben das westliche Ende der Stadt angegriffen und eine der Fabriken in Brand gesteckt, um unsere Armee vom Palast wegzulocken. Die wenigen Wachen, die hier blieben, hatten heute Nacht kaum eine Chance.«

Ich schlage mir die Hand vor den Mund. Wieso haben sie das getan?

Ich trete mit ihm hinaus unter den regenverhangenen Himmel und lege mit zittrigen Fingern meine Maske an. Eine düstere Stimmung liegt über dem Platz vor dem Palast. Vereinzelnd stehen Panzer und andere Kampfmaschinen auf dem Vorplatz. Mein gestriges Bild dieses ruhigen Ortes ist zerstört.

Wir laufen quer durch die lädierte Innenstadt und bleiben immer mal stehen, um das Ausmaß des Angriffes zu betrachten. Hier und da müssen letzte Nacht Schüsse gefallen sein und es gab wohl einige Einbrüche, doch alles in allem ist dieser Teil der Innenstadt gut davongekommen. Ich bin überrascht, dass ich von den Außenangriffen nichts mitbekommen habe. Der Palast muss besser geschützt und gedämmt sein, als ich annahm.

»Das eben war der König, oder?« Ich bin mir sicher, dass ich wieder erröte. Einen König, dessen Land mir gewissermaßen das Leben gerettet hat, nicht zu erkennen, ist aber auch peinlich!

»Ja, mein Onkel ist der König.«

»Oh!«, entweicht es mir. »Ich wusste nicht, dass ihr verwandt seid.«

»Das wissen nur die wenigsten.« Er bleibt mitten auf einer Straße stehen und sieht sich um. »Hier lang. Dahinten ist es.« Er zeigt auf eine schmale Treppe, die hinunter zum Fluss führt.

»Was ist dort?«

Andrieu beginnt zu lächeln. »Ein Schutzbunker. Ich muss sehen, ob es jemand hineingeschafft hat und den Menschen Entwarnung geben.«

Ich nicke und steige mit ihm die Treppen hinab. Er stemmt sich gegen den Hebel der rostigen Eisentür. Würde ein Kind alleine in den Bunker wollen, hätte es keine Chance, diese Tür ohne Hilfe zu öffnen, denke ich traurig.

Andrieu muss sich mit seinem ganzen Oberkörper gegen die Tür fallen lassen, um sie aufzuschieben. Dann zieht er eine kleine Taschenlampe aus seinem Umhang hervor und leuchtet in den kerkerähnlichen Raum hinein.

»Er ist leer«, stelle ich ernüchternd fest.

»Ja. Das ist komisch. Die Leute wissen, dass sie bei einem Angriff hier rein sollen. Sie werden die Angreifer doch sicherlich gehört haben.«

»Vielleicht hat sie schon jemand anderes herausgeholt«, schlage ich vor.

»Ja … Vielleicht. Ich werde das prüfen lassen. Lass uns weitergehen, ich mag diesen muffigen Geruch nicht.«

Andrieu verschließt den Raum und wir steigen wieder zur Straße hinauf.

»Hast du das gehört?« Ich bleibe abrupt stehen. Aus einem der Häuser ertönt ein leises Wimmern.

Andrieu nickt mir zu und tritt zu einem Haus vor und lauscht an der Tür. Dann schüttelt er den Kopf und geht zur nächsten. Er winkt mich zu sich und ich laufe zu ihm.

Mein Herz schlägt immer schneller, als ich vor dem alten Gebäude stehen bleibe und mein Ohr an die kalte Tür lege. »Es kommt von hier«, stelle ich fest. »Sollen wir anklopfen?«

Andrieu runzelt die Stirn und schaut mich unsicher an. Es dauert eine Weile, bis er nickt. Er beugt sich vor und lässt seine Handknöchel laut auf die hölzerne Haustür des in die Jahre gekommenen Einfamilienhauses schlagen. Das Wimmern im Inneren verstummt kurz, ehe es erneut einsetzt. Ich drücke meinen Finger auf die Klingel. Stille. Die Klingel ist kaputt.

»Wir müssen da rein. Vielleicht ist jemand verletzt.« Meine Stimme ist angespannt und mein Hals trocken. Ich schlucke und warte darauf, dass Andrieu Anstalten macht, die Tür zu öffnen.

Er klopft noch einmal, dann zieht er ein schmales Messer aus seinem Gürtel und beginnt, im Türschloss herumzustochern. Als ich sehe, wie leicht er es aufbekommt, wird mir klar, dass die Hausbesitzer ziemlich arm sein müssen. Der Palast ist mit modernster Technik ausgestattet, während man hier wie im Mittelalter lebt.

Andrieu stößt die Holztür auf. Der kleine Flur ist dunkel. An der Seite steht eine alte, rostige Truhe, gegenüber ist ein schmaler Treppenaufgang, der nach oben führt. Andrieu zeigt auf mich, dann auf die Treppe. Er selbst schleicht den Flur bis zum Ende entlang.

Die Treppenstufen knarzen unter meiner Last, während der vergilbte und staubige braune Teppich meine Schritte dämpft. Mein Herz pocht mit jedem Schritt schneller. Ich wische meine schweißnassen Hände an der Hose ab, damit sie nicht am glatten Geländer wegrutschen. Dieses Haus könnte genauso gut eines der Gespensterhäuser aus meiner Kindheit sein, von denen uns in den Gruselgeschichten bei Übernachtungspartys immer erzählt wurde. Ich komme mir vor wie in einem Horrorfilm. Wir hätten uns nicht trennen dürfen! Wer weiß, welcher Axtmörder hinter der nächsten Tür lauert.

Doch da ist keine Tür mehr. Die Treppe endet vor einem großen, offenen Raum. Ein Kinderzimmer. Spielsachen, viele davon kaputt und dreckig, stapeln sich an den Wänden. An einer Seite steht ein dreistöckiges Hochbett, dessen Matratzen löchrig sind. Auch die Bettwäsche scheint von Motten zerfressen worden zu sein. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie hier noch eine Familie wohnen kann. Wie Kinder in diesem Zimmer schlafen können? Ob der König weiß, in welchen Zuständen sein Volk lebt, während er täglich Braten und Fasan aufgetischt bekommt?

»Kim, Kim! Ist alles in Ordnung?« Andrieus Stimme klingt weit weg, wie aus einer anderen Zeit. Ich bücke mich und greife nach einer Puppe. Ihr fehlt ein Auge. Mein Daumen streicht über ihr schmutziges Gesicht.

»Ja, alles gut. Hier oben ist niemand.« Ich sehe mich ein letztes Mal um und lasse die Puppe wieder fallen, ehe ich die Treppe hinabsteige.

Andrieu steht unten vor dem Eingang und hält ein Kind im Arm. Die Augen des Mädchens sind gerötet; es hat geweint. Ihr Kopf liegt seitlich auf Andrieus Schultern, als schliefe sie. Sie wirken beide erstaunlich vertraut, wie Vater und Tochter oder Bruder und Schwester.

Ich will an ihnen vorbeigehen und schauen, ob noch mehr Kinder hier sind, doch Andrieu hält mich zurück.

»Das willst du nicht sehen.« Trauer und Sorge schwingen in seiner Stimme mit.

Ich schlucke, doch meine Kehle ist wie ausgetrocknet.

»Was ist geschehen?«, flüstere ich und blicke dabei in die kleinen Kinderaugen des Mädchens. Eine einzelne Träne läuft ihre Wangen hinab.

»Sie, sie haben sie mitgenommen. Mama, Papa, Thomas und Kathi. Und, und Mark, ich habe seine Schreie gehört. Ich konnte mich im Bettkasten verstecken. Er, er ist …« Ihre Stimme wird von einem heftigen Schluchzer erstickt.

Andrieus Blick streift die Tür zum anderen Zimmer. Mark muss dort drin liegen, er hat es nicht überlebt.

»Komm, wir bringen sie in den Palast. Vielleicht kann sie in der Küche helfen.«

»Das ist Kinderarbeit«, flüstere ich und öffne die Tür nach draußen.

Andrieu straft mich mit einem wütenden Blick. »Besser, als sie hier zu lassen«, antwortet er und trägt sie raus.

»Meinst du, sie sind in alle Häuser eingedrungen?«

»Wahrscheinlich. Ich werde nachher ein paar Wachen schicken. Sie sollen hier nach Überlebenden suchen.«

Während wir hinausgehen, greife ich die Hand des Mädchens und halte sie den gesamten Weg über, den wir schweigend bestreiten. Ich verstehe das alles nicht. Wieso entführen sie die Anwohner? Ich dachte, sie wollen den König stürzen. Der Palast war doch das Ziel. Das ergibt alles keinen Sinn!

Als wir im Palast ankommen, übergibt Andrieu das Mädchen an eine Wache und führt mich hoch zu seinen Gemächern, wie er sie nennt.


»Setz dich. Möchtest du etwas trinken?« Er weist auf einen ledernen Sessel hin und verlässt kurz den Raum, um mit einer Karaffe Wasser wiederzukommen.

Andrieu reicht mir ein Glas, das ich dankbar annehme und hastig austrinke. Ich fühle mich, als wäre ich die letzten Stunden durch die Wüste gelaufen.

»Was glaubst du, haben sie mit den Menschen gemacht? Wo haben sie sie hingebracht? Und wieso?« Die Fragen sprudeln nur so aus mir heraus. In meinem Kopf schwirren die Gedanken wie Fliegen umher und keiner will sich richtig festsetzen. Keiner klingt wirklich plausibel für mich.

Andrieu zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber den Talmeniern ist alles zuzutrauen. Sie wollen unser Land schwächen. Wir haben das Öl, das sie brauchen. Und so lange wir ihnen nicht geben, was sie wollen, werden sie uns weiter angreifen. Sie wissen genau, dass wir längst nicht mehr die Macht haben, zurückzuschlagen. Heute haben sie die westliche Grenze angegriffen und die Leute in der Innenstadt entführt. Beinahe wäre es ihnen gelungen, den König zu stürzen. Das war ein wirklich kluger Schachzug von ihnen, auch wenn ihr Plan ganz offensichtlich nicht aufgegangen ist. Aber der König wird schwächer, er wird alt. Und das weiß er auch. Ich frage mich, wie lange er den Druck noch aushalten kann. Es wäre so viel einfacher, wenn er mir den Thron überlassen würde. Aber ich glaube, er hofft immer noch, dass seine Frau ihm einen Sohn gebärt. Sie ist ebenfalls nicht mehr die jüngste. Ich denke nicht, dass sie es noch schafft.« Andrieu geht vor mir auf und ab. Sein Blick ist schleierhaft. Er sieht nicht einmal auf, während er mit mir spricht. »Ich bin inzwischen unsicher, ob der König sich noch richtig verhält. Was wollen wir mit all dem Öl, wenn das Land ausstirbt. Nur deswegen greifen sie uns doch an. Wir sind so verwundbar wie nie. Wir brauchen eine Armee. Wir müssen uns endlich zur Wehr setzen. Wir könnten uns auch mit anderen Staaten verbünden. Unsere Technologie und unsere Ressourcen, vereint mit ihren Soldaten.« Andrieu reibt sich aufgeregt die Hände. Seine Stimme wird mit jedem Satz höher und seine Schritte werden schneller.

»Glaubst du wirklich, eine Armee würde helfen? Wieso teilt ihr nicht einfach eure Ressourcen? Es könnte den Menschen so viel Leid ersparen.«

Andrieu schüttelt den Kopf. »Leid«, er rümpft die Nase. »Was ist schon ein bisschen Leid, gegenüber all der Macht, die man haben kann?«

Ich schaue ihn mit geweiteten Augen an. Ist das etwa sein Ernst?

»Was bringt einem Macht, wenn man kein Volk mehr hat?«

Er bleibt vor mir stehen und sieht mich überrascht an. Dann beginnt er erneut, durch den Raum zu schreiten. »Vielleicht hast du Recht. Deshalb muss eine Lösung her, mit der wir beides behalten können. Unser Volk und unsere Macht.« Er atmet schwer aus und lässt sich mir gegenüber in einen weiteren Sessel fallen.

»Wo warst du gestern Abend? Du wolltest doch noch bei mir vorbeischauen«, unterbreche ich die aufkommende Stille und muss mir eingestehen, dass ich mich ziemlich einsam ohne ihn gefühlt habe.

»Im Bunker. Die erste Bombe fiel kurz nach Sonnenuntergang. Als aktueller Thronnachfolger wurde ich gemeinsam mit dem König in Sicherheit gebracht. Tut mir leid, ich hätte dir durch Kataya Bescheid geben lassen sollen. Du wolltest noch etwas mit mir besprechen, oder?«

Ich nicke. Langsam fällt die Anspannung von uns beiden ab. Andrieu legt seine Hände gefaltet vor sich, so wie ich es auch getan habe und lehnt sich weiter zurück.

Ich schließe die Augen und seufze leise. Dieser Tag war viel anstrengender als gedacht und obwohl es erst Mittag ist, bin ich schon wieder müde. Mein Magen gibt ein leises Knurren von sich. Als hätte Andrieus KI dies gehört, verkündet er, dass das Mittagessen bereit steht. Wir setzen uns an die gläserne Tafel im Nebenraum, während eine hübsche junge Frau uns Nudeln mit einer Pilzsoße serviert.

»Entschuldigen Sie bitte die einfache Mahlzeit, das Küchenpersonal hat es heute Nacht besonders schwer getroffen.« Mit einer Verbeugung verschwindet die Dame aus unserem Blickfeld.

»Es gab viele Tote unter ihnen. Wesentlich mehr als bei den letzten Angriffen«, erklärt Andrieu. »Aber lass uns das Thema wechseln und die Mahlzeit genießen. Was wolltest du mich fragen?« Sein Blick streift meine zitternde Hand, die bereits auf dem Tisch lag, als die Küchenfee die Toten erwähnte. Er greift über den Tisch hinweg nach ihr.

Ich spüre seine warmen Finger über meinen Handrücken gleiten. Ich überlege kurz, sie wegzuziehen. Doch diese einfache, tröstende Geste fühlt sich so gut an. Stattdessen überkommt es mich und ich beginne zu weinen. Träne um Träne fließt meine Wangen hinab und ich schluchze mehrmals laut auf.

Andrieu springt auf und eilt um den Tisch herum, um mich in seine Arme zu nehmen. Ich lasse es mit einem beklemmenden Gefühl im Herzen zu und lehne mich an seine Brust.

»Ich, ich … Es tut mir leid. Das ist einfach alles zu viel! Ich wollte doch nur in Freiheit leben und jetzt stecke ich mitten in einem Kriegsland, meine Freunde sind nicht da, mein Mann ist tot und ich weiß nicht, was gerade alles passiert. Ich verstehe das alles nicht«, sprudelt es aus mir heraus und Andrieu zieht mich näher an sich. Der herbe Duft von Ebenholz zieht von seinen Händen zu mir herüber, als er mir über die Wangen streicht und meine Tränen wegwischt.

Einen kurzen Moment sieht es aus, als würde er mich küssen wollen. Das wäre ziemlich perfide, schließlich trauere ich gerade um meinen Mann. Andrieu scheint sich noch rechtzeitig zu fassen und verharrt lediglich in seiner Umarmung. Ich höre sein Herz schnell und rhythmisch durch sein seidenes Hemd schlagen und bleibe noch einige Minuten an ihn gelehnt sitzen. Erst als sich mein Hunger wieder meldet, schaffe ich es, mich zusammenzureißen.

Er lässt mich los und setzt sich mir gegenüber hin. Wir essen beide in Ruhe weiter und ich versuche so zu tun, als wäre nichts gewesen. Ich mag es nicht, mich vor jemand Fremden auf diese Weise zu entblößen, ihm meine schwache Seite zu zeigen.

Ein bisschen hat mich das alles eben an James erinnert, meinen Psychologen, der mich betreute, nachdem ich aus der Kryostase erwacht war. Aber es war anders mit ihm. Es war eher, als läge ich in den Armen eines Vaters, und nicht von jemandem, der vielleicht auf mich steht.

Nach einer Weile steht Andrieu auf und schaut auf die Uhr über seiner Tür. »Wenn du fertig bist, muss ich leider schon los und an den Ratssitzungen teilnehmen. Aber wenn du möchtest, können wir heute Abend wieder zusammen essen. Dann hole ich dich um halb sieben ab.«

Ich lege mein Besteck zur Seite und streiche meine Kleidung glatt. »Ja, das klingt sehr gut.« Ich versuche gefasst zu klingen, bin mir aber nicht sicher, ob es mir gelungen ist.

Andrieu begleitet mich noch bis zu meinen Räumlichkeiten und ich beschließe, erst einmal ein paar Stunden Schlaf nachzuholen.


Wir sitzen in Andrieus Kinozimmer und starren auf die Bildfläche. Mir ist ein wenig schwindelig, weil die Sitze sich ständig drehen und vibrieren oder Dinge in rasantem Tempo auf uns zu fliegen. Der ganze Raum ist die Leinwand. Es ist atemberaubend. Früher war ich oft im Kino, das letzte Mal mit Martin. Damals wurde gerade die Virtual-Reality-Technik eingeführt, aber so gut wie hier war es lange nicht.

Mein Sitz beginnt immer heftiger zu wackeln und ich zucke zusammen, als ein Schwert auf mein Gesicht zu zischt. Ich spüre den Windzug der Klinge und greife instinktiv nach Andrieus Hand, um ihn wegzuziehen, als der nächste Schlag ihm gilt. Die Sitze drehen sich und ich muss ihn loslassen; dann drehen sie sich wieder und wir blicken uns in die Augen und sehen dabei zu, wie unser Gegenüber beinahe von einem Krieger erstochen wird. Ein Pfeil schießt an uns vorbei und trifft den Krieger ins Gesicht. Wir wurden gerettet. Wieder schwenken die Sitze und die Szene wechselt. So geht es knapp zwei Stunden lang weiter.

Andrieu hatte mich wie verabredet pünktlich um halb sieben abgeholt. Dieses Mal sind wir jedoch nicht zu ihm, sondern in den großen Speisesaal des Königs gegangen und haben dort mit ihm und seiner Frau gegessen. Ich hatte mich noch einmal für mein Verhalten am Morgen entschuldigt. Woher sollte ich auch wissen, wer dort vor mir steht. Der König hat es mit Humor genommen.

Andrieu sah die ganze Zeit ziemlich angespannt aus. Ich bin mir nicht sicher, ob es an dem Umstand lag, dass wir mit der Königsfamilie aßen, oder ob bei der Ratssitzung zuvor etwas Unerfreuliches gesagt wurde. Aber was könnte ihn in diesen schrecklichen Zeiten noch schocken?

Ich selbst zwirbelte die ganze Zeit über nervös an meinen Haaren herum. Erst, als die Königin sich mir zuwandte, konnte ich den Abend genießen. Sie ist unheimlich nett.

Nach dem Essen führte Andrieu mich in den Kino-saal. Ich glaube, es war die Idee des Königs, mich hierher zu bringen.

»Wie fandst du den Film?« fragt Andrieu und hilft mir aufzustehen. Meine Beine sind wie Wackelpudding und können mich kaum halten.

»Die Special-Effects waren nicht schlecht«, antworte ich vollkommen monoton und wir brechen beide in Gelächter aus. »Im Ernst, ich habe so etwas noch nie erlebt. Selbst die 4D-Kinos im Freizeitpark früher können hier nicht mithalten.«

»Wollen wir noch in meine Gemächer gehen und etwas trinken?«

Ich überlege kurz, ihm abzusagen. Ich habe die seltsame Situation von heute Mittag nicht vergessen. Ich schaue in seine blauen Augen. Sie blicken liebevoll in meine, so weich, als spiegele sich der Himmel in ihnen. Generell sieht er viel entspannter aus, als noch vor wenigen Stunden. Mir wird klar, dass ihm diese Treffen auch sehr gut tun. Ich glaube nicht, dass er viel Freizeit hat. Kim, reiß dich jetzt zusammen und sei nicht so spießig! Geh mit dem armen Jungen noch etwas trinken! Ich schaue das kleine Teufelchen auf meiner Schulter belustigt an, nicke Andrieu zu und hake mich bei ihm ein.


»Darf ich dir ein Glas moslavischen Wein einschenken?«

»Wenn er nicht zu trocken ist.«

Wir sitzen in seinem Lesezimmer auf der breiten Couch und ich starre nervös auf die Wände voller Bücherregale.

»Hast du die alle gelesen?« Es müssen mehrere hundert Bücher in diesem Raum sein. Ein Traum für einen Bücherwurm wie mich.

Andrieu nippt an seinem Glas und beobachtet mich. »Den Großteil«, sagt er endlich und weist auf ein Regal links neben mir. »Diese muss ich in diesem Jahr noch studieren.« Müssen ..., das klingt nicht so, als würde es ihm Spaß machen.

»Jetzt bist du dran«, unterbricht er meine Gedanken. »Ich habe das Gefühl, dass wir immer nur über mich sprechen. Dabei ist deine Geschichte doch viel interessanter.« Andrieu lehnt sich zur Seite und stützt seinen Kopf mit der Hand ab. Mit der anderen berührt er vorsichtig mein Knie.

Ein feines, leichtes, sorgloses Kribbeln durchwandert meinen Körper von der Stelle aus, die seine Finger streifen. Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, könnte ich schwören, er wäre noch ein Stück näher an mich heran gerückt. Mir geht das alles zu schnell und ich lehne mich weiter in die Armlehne hinein. Er fängt an, laut zu lachen. »Willst du mit der Lehne verschmelzen?«, fragt er frech und lehnt sich ebenfalls zurück, sodass zwischen uns wieder ein guter Meter Platz ist.

Ich strecke ihm die Zunge raus und flüstere ein leises »Blödmann!«

Er boxt mich sachte gegen die Schulter. Es tut nicht weh, dennoch ist es unangenehm. Vielleicht, weil Martin das während unserer Studienzeit immer gemacht hat, wenn ich beim Lernen unkonzentriert war.

»Ich meine es ernst. Erzähl mir bitte etwas über dich. Über deine Zeit, deine Freunde, und die letzten Monate in dieser Zeit.«

Wir sprechen über meine Familie und ich zeige ihm das Foto in meinem Medaillon, das wieder an meinem Hals baumelt. Ich erzähle ihm von Martin, Logan und Cloe, von Jane und James sowie den Rebellen aus dem Wald. Davon, wie wir die Kuppel gestürzt haben und wie Jane Martin erschossen und James dann Jane umgebracht hat. Ich muss immer wieder abwechselnd weinen und lachen und werde mit jedem Schluck Wein aufgeschlossener. Es tut so verdammt gut, sich alles von der Seele zu reden. Andrieu ist ein toller Zuhörer. Er ist aufmerksam und macht an den richtigen Stellen »Oh!« und »Ah!« und tröstet mich, wenn ich es brauche.

Ich frage ihn nach Logan und Cloe; er geht davon aus, dass sie freikommen werden. Zu Sit, Dan und Pat kann er mir aber keine vernünftige Auskunft geben. Er wisse auch nur, dass sie in einem anderen Teil des Gebäudes gefangen gehalten werden. Angeblich hat er nicht die Freigabe, mir mehr erzählen zu dürfen.

Irgendwann schweigen wir. Andrieu hat eine ruhige Musik angemacht. Mein Kopf sinkt müde auf seinen Schoß und er beginnt, mir über das Haar zu streicheln. Meine Gedanken fahren Achterbahn vom vielen Alkohol. So schlafen wir später ein.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist Andrieu bereits weg. Er hat mich zugedeckt. Ein Tablett mit einem Croissant und Kaffee steht auf dem kleinen Tisch vor mir. Kataya richtet mir aus, dass Andrieu zu einer Sondersitzung berufen wurde und frühzeitig los musste.

Als ich in meine Suite komme, will Zentja wie immer alles wissen. Wie kann eine KI so neugierig sein? Dabei bin ich mir sicher, dass sie sich längst mit Kataya ausgetauscht hat. Die hängen doch alle am selben Netzwerk!


Das Medaillon


Ich stehe in der Küche und warte darauf, dass sich die kleine Klappe in der Wand öffnet und mein Pfefferminztee zum Vorschein kommt. Irgendwie ist das alles total lächerlich. Da habe ich so viele Geräte und Schränke vor mir und weiß nicht einmal, wo der Wasserkocher steht, geschweige denn, wie man ihn in dieser Zeit benutzt. Stattdessen bekomme ich alles, was ich möchte, über die Klappe in der Wand oder durch eine der Küchenfeen geliefert. Ein Wort an Zentja genügt und die Klappe öffnet sich wenige Sekunden später. Lediglich den Wasserhahn habe ich schon einige Male benutzt und wo die Gläser stehen, weiß ich inzwischen auch.

Ich greife in die Klappe und balanciere die heiße Tasse zum Küchentisch. Es ist schon lange nach Mitternacht und ich müsste eigentlich müde sein. Doch ich bin viel zu aufgeregt, um zu schlafen. Morgen früh um acht Uhr soll Cloes und Logans Urteil verkündet werden. Wenn alles so wird, wie Andrieu es mir prophezeite, werden sie ebenso frei sein wie ich. Sie sollen sogar hier im Palast, wahrscheinlich auch in diesem Korridor, leben.

Irgendwie habe ich immer noch nicht ganz verstanden, wieso alle so freundlich zu mir sind. Wieso ich eine ganze Suite für mich alleine bekomme, im Palast leben darf und sogar schon mit der Königsfamilie speisen durfte. Ich frage mich, was sie Besonderes in mir sehen, was mir selbst bisher entgangen ist. Wenn sie mir wenigstens einen Job zugeteilt hätten, irgendetwas, mit dem ich mich im Palast nützlich machen könnte. Doch bisher scheint meine einzige Aufgabe darin zu bestehen, mich hin und wieder mit Andrieu zu treffen und ihn zu unterhalten. Oder ist es seine Aufgabe, sich um mich zu kümmern?

Ich nippe am Tee. Verdammt, ist das heiß!

Ich springe auf, um zum Wasserhahn zu laufen und stoße dabei gegen den Tisch. Meine abgestellte Tasse wackelt. Das gibt garantiert einen blauen Fleck am Knie. Ich sehe nach unten und kann nicht mehr verhindern, dass einige der Teetropfen auf meinem Nachthemd landen. Ich zucke zusammen, als das heiße Wasser durch den dünnen Stoff meine Haut berührt. Heute Abend ist wirklich der Wurm bei mir drin. Ich stöhne laut auf und raufe mir die Haare. Wie ich solche Nächte hasse. Geht etwas schief, geht alles schief! Mit konzentrierterem Blick gehe ich ins Bad, um meinen Mund unter den Wasserhahn zu halten und versuche, meine Zunge zu kühlen, was jedoch nicht wirklich viel bringt. Mein nasses Hemd streife ich ab und schmeiße es in die Wäscheklappe. Morgen früh wird es sicherlich wieder sauber und gebügelt in meinem Ankleidezimmer liegen. Als ich in den Spiegel sehe, merke ich, dass mein Medaillon nicht mehr um meinen Hals hängt. Wie kann das sein?

Meine Hände zittern, als ich mich im Badezimmer umschaue. Ich ziehe sogar den Stöpsel aus dem Waschbecken, um nachzusehen, ob es irgendwo im Rohr hängt. Selbst in der Toilette sehe ich nach. Ich bin mir absolut sicher, dass ich es eben noch anhatte. Todsicher! Denn als ich aus dem Wasserhahn getrunken habe, habe ich es vorher zurück unters Hemd gesteckt, damit es nicht herunterbaumelt und nass wird. Das Hemd! Ich schlage mir mit der Hand vor die Stirn. Natürlich! Es muss sich darin verfangen haben, als ich es ausgezogen habe. »Bitte«, flehe ich, »lass es noch in der Klappe hängen!« Bei meinem Pech ist die Klappe natürlich leer.

Ich laufe ins Ankleidezimmer und streife mir eine Jogginghose und ein einfaches Shirt über. »Zentja, bist du wach?«

»Ich schlafe nie«, antwortet sie mir. »Was kann ich für dich tun? Möchtest du noch einen Tee?«

»Nein. Ich habe mein Medaillon verloren, es muss in der Wäscherei gelandet sein. Kannst du mir sagen, wie ich dorthin komme?«

»Es ist fast zwei Uhr nachts. Ich glaube nicht, dass dies die richtige Zeit ist, um durch den Palast zu schleichen.«

»Bitte, Zentja! Das Medaillon ist das Einzige, was ich noch von meiner Familie besitze. Ich muss es wiederhaben.« Ich bin kurz davor, loszuheulen. Versteht sie denn nicht, wie wichtig mir dieser Anhänger ist?

»Hmm«, macht Zentja, als würde sie erst darüber nachdenken müssen.

»Ich kann in der Wäscherei Bescheid geben lassen, aber es kann dauern, bis die Nachricht empfangen wird. Unten ist es so laut, dass es unwahrscheinlich ist, dass mich jemand hört. Aber ich kann eine Nachricht an den Pager schicken.«

»Danke, aber ich würde trotzdem gerne selbst nachschauen. Sie dürfen das Medaillon auf keinen Fall mitwaschen!« Mein ganzer Körper zittert inzwischen. Mein Herz rast schneller als bei einem Bungeesprung. Wieso sagt sie mir nicht endlich, wo die verdammte Wäscherei ist?

»Gut. Ich werde ihnen schreiben, dass sie deine Wäsche nicht anrühren sollen und du zu ihnen kommst.«

Ich atme erleichtert aus. »Danke Zentja, du hast etwas gut bei mir. Wo finde ich die Räume?«


Ich laufe einen Korridor in den unteren Stockwerken entlang. Wenn ich alles richtig verstanden habe, müsste ich gleich bei der Wäscherei sein.

Der Duft nach Rosenblüten und Waschpulver dringt in meine Nase. Je näher ich der Wäscherei komme, desto lauter werden die Geräusche um mich herum: Harte Gegenstände an den Kleidern, die gegen die Trommeln schlagen, das Gebrumme der Industrietrockner und das Schleudern der Waschmaschinen. Dazwischen das leise, melodische Summen einer Frau, die mit großen Schritten auf mich zukommt.

»Du musst Kim sein«, stellt sie fest. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, um ihr in die Augen sehen zu können. Ihre Beine sind so lang, dass ihr Oberkörper erst da beginnt, wo bei mir der Bauchnabel liegt und dabei würde ich mich nicht als sonderlich klein bezeichnen.

Sie wirft ihr schulterlanges, leicht gelocktes, dunkelblondes Haar nach hinten und lächelt mich an. »Ich bin Anni. Es hieß, du suchst ein Medaillon? Ich habe die Nachricht gerade erst gelesen, aber die Wäsche noch nicht angerührt.«

»Ja genau. Zeigst du mir, wo die Wäsche landet?«

»Natürlich. Komm mit.« Ich folge ihr in einen der hinteren Räume. Als wir einige Treppenstufen zu einer seitlichen Tür hinaufsteigen müssen, fällt mir auf, dass sie zwei verschiedene quietschbunte Wollsocken trägt, was mich unweigerlich zum Lachen bringt.

»Was ist so witzig?«, fragt sie und dreht sich zu mir um, so dass ihr offenes Haar über ihre Schulter nach vorne fällt.

»Nichts«, lüge ich.

Sie zuckt mit den Schultern und ich folge ihr in den Raum. Hier hinten ist es viel leiser, als im Gang.

Anni zeigt auf einen der Wäscheberge. »Das sind die Sachen aus deinem Korridor. Soll ich dir bei der Suche helfen?«

Ich greife nach dem Nachthemd, das zum Glück ganz oben auf dem Wäscheberg liegt und spüre gleich das Medaillon unter dem samtenen Stoff. Vorsichtig stülpe ich das Hemd um und ziehe die Kette mit dem Anhän-
ger, der sich an einem der innenliegenden Bänder verfangen hat, heraus.

»Nein, hier ist es. Es ist zum Glück noch heil.«

»Warte«, sagt Anni und nimmt mir die Kette aus der Hand, um sie mir umzuhängen.

»Danke. Musst du die ganze Nacht hier unten arbeiten?«

Anni legt den Kopf schief. »Nein, nur noch eine Stunde, dann ist Schichtwechsel. Wenn du willst, kannst du mir so lange Gesellschaft leisten. Ich habe sowieso nichts zu tun. Die Maschinen habe ich eben erst alle frisch beladen.«

Da ich sowieso nicht schlafen kann, bleibe ich noch etwas hier. Außerdem ist es wirklich angenehm, mich mit ihr zu unterhalten. Anni kennt eine ganze Palette Witze und bringt mich im Minutentakt mit ihrer erfrischenden Art zum Lachen.

»Arbeitest du schon lange im Palast«, frage ich sie kurz vor dem Schichtwechsel, während sie sich umzieht und mir auffällt, dass ihre Füße unterschiedlich groß zu sein scheinen.

»Ja, ich wurde hier geboren. Ich kenne nur das Leben im Palast.«

»Oh«, entweicht es mir. »Und bist du glücklich hier, also in der Wäscherei?«

Sie schaut mich nicht an, als sie mir antwortet, doch ihre Stimme klingt bedrückt. »Ja, schon. Ich kenne ja nichts anderes. Manchmal würde ich lieber draußen arbeiten. Im Garten. Ich mag es, in der Erde rum zu buddeln und den Pflanzen beim Wachsen zuzusehen. Leider obliegt diese Entscheidung nicht mir. Als Palastgeborene bin ich Eigentum der Königsfamilie.«

»Das klingt wie Sklaverei«, entfährt es mir.

Anni dreht sich um und schaut mich mit geweiteten Augen an. Dann schüttelt sie den Kopf und ihre Miene wird sanfter. Offenbar habe ich etwas Falsches gesagt.

»Nein, nein«, beschwichtigt sie mich, oder vielleicht auch nur sich selber, »ich werde ja dafür bezahlt und habe sogar zehn Urlaubstage im Jahr. Und ich darf im Palast wohnen. Das ist viel mehr, als ich anderswo erwarten könnte. Die Zeiten sind nicht leicht und die Welt da draußen ist hart. Es gibt nicht viele Arbeitsplätze für ungelernte Frauen wie mich, oder generell für Frauen. «

Ich beschließe, mit Andrieu darüber zu sprechen, vielleicht kann er den König überreden, sie als Hilfskraft im Garten einzustellen. Aber das verrate ich ihr nicht. Ich möchte nicht, dass sie enttäuscht ist, wenn es doch nicht klappt.

Mit meinem Medaillon um den Hals und einer neuen Freundin im Herzen mache ich mich auf den Weg zurück zu meiner Wohnung. Da Annis Zimmer in der entgegengesetzten Richtung zu meinen liegen, trennen unsere Wege sich bereits hinter dem Wäscherei-Korridor.

Ich muss mich konzentrieren, um auf dem Heimweg durch den Palast nicht falsch abzubiegen. An jeder Gabelung bleibe ich stehen und versuche mich daran zu erinnern, wie ich auf dem Hinweg gelaufen bin. Das ist gar nicht mal so einfach. Als ich gerade um eine Ecke biegen will, bleibe ich überrascht stehen. Aus einem der Zimmer im nächsten Korridor dringen deutlich Stimmen hervor.

Erst erkenne ich den Mann, der spricht, nicht. Dann kann ich die rauchige Stimme eindeutig dem Berater des Königs zuordnen. Beim Abendessen mit der Königsfamilie kam er kurz hereingeplatzt und flüsterte der Majestät ein paar Worte zu, ehe er sich verabschiedete und wieder verschwand. Die Stimme, die nun antwortet, ist mir dagegen unbekannt. Sie klingt deutlich jünger als die des Beraters. Und dann spricht noch ein dritter Mann, der ebenfalls etwas älter zu sein scheint.

Ich schaue um die Ecke. Die Tür zu dem Raum, aus dem die Gesprächsfetzen klingen, ist angelehnt. Durch den Türspalt sehe ich zwei Männer in weißen Kitteln stehen, der ältere gestikuliert wild mit seinen Händen, als wolle er seinen Standpunkt nochmals unterstreichen. Das daneben muss der jüngere sein, der eben kurz gesprochen hat.

Die Stimme des Älteren wird lauter und er fuchtelt noch mehr mit seinen Händen vor sich herum. Würde er mit mir so reden, hätte ich ihn längst festgehalten. Selbst von hier aus geht mir sein Gefuchtel auf die Nerven.

»Sie verstehen das nicht«, brüllt er jetzt und ich habe Angst, dass er jeden Moment aus der Tür stürmt und sieht, wie ich sie belausche. »Das Montgommery-Projekt ist gescheitert! Es funktioniert einfach nicht. Jane hat ihre Gene so verkrüppelt, dass es absolut unmöglich ist, sie gewinnbringend zu züchten.«

Warte, was? Jane? Die Jane? In meinem Kopf rattert es. Montgommery-Projekt, davon hab ich doch schon einmal gehört. Denk nach, Kim! Und dann fällt es mir ein. Sit hatte mir davon erzählt, als wir mal alleine waren. Sit und Dan, sie alle waren Teil dieses Projektes. Sie waren gezüchtete Kinder. Ich muss die Luft anhalten, um nicht auszuflippen. Was geht hier vor und was stellen sie mit ihnen an?

»Dann bringen Sie sie eben um. Sie haben ja offenbar keinen Nutzen mehr für uns.« Das ist der Berater des Königs. Er kam mir schon damals falsch vor. Jetzt bestätigt sich mein Eindruck nur noch mehr.

»Sir«, meldet sich nun der jüngere im ruhigen Ton. Er hat eine ausgesprochen angenehme Stimme. »Wir sollten nichts überstürzen. Unsere Versuchsreihe ist noch nicht beendet und auch wenn sie nicht die Kontrolle über die Züchtungen haben wie der Junge, können wir dennoch von den Ergebnissen profitieren.«

Ich atme erleichtert aus und kratze mir die Stirn. Welchen Jungen sie wohl meinen?

Ich beiße mir auf die Lippen und will mich gerade umdrehen, um weiter zu gehen, als die Stimme des Älteren erneut erklingt. »Mein Assistent hat Recht. Ob wir sie heute oder in einem Monat beseitigen, das macht doch keinen Unterschied und bis dahin werden wir solange an ihren Köpfen schrauben und an ihrer DNA basteln, bis wir wissen, was bei ihnen genau schiefgegangen ist.«

Ich starre vollkommen ungläubig auf die Tür. Was um alles in der Welt treiben die mit ihnen? Was müssen Sit, Dan, Pat, die kleine Clara, dieses hilfsbereite, zierliche Mädchen, das einst meine Wunden versorgte, durchmachen? Ich laufe los. Ich will nur noch weg von diesem Ort, weg von diesen Monstern, die mit meinen Freunden experimentieren. Jetzt weiß ich, wieso mir Andrieu nichts über sie verraten wollte. Wieso Zentja mir keine Auskunft geben durfte.


Das Wiedersehen


»Kimberley.«

Ein leises Flüstern dringt in meinen Kopf ein.

»Kimberley!«

Die Stimme wird lauter, sie verfolgt mich und ich versuche, vor ihr wegzurennen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739446998
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Liebesroman Jugendbuch Young-Adult Jugendliche Machtspiel Dystopie Gentechnik Klonen Spannung Science Fiction Kinderbuch

Autoren

  • Lisa M. Louis (Autor:in)

  • Lisa Summer (Autor:in)

Lisa M. Louis schreibt und liest am liebsten Bücher für Jugendliche und junge Erwachsene. Ihre Leidenschaft steckt sie vor allem in das Schreiben von spannenden Dystopien und humorvollen Liebes- und Alltagsgeschichten. Lisa wuchs in Düren auf und studierte später Lehramt in Dresden, heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter bei München.
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