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Observe

Sammelband: Observe - Die neue Welt und Observe - Die andere Seite

von Lisa M. Louis (Autor:in) Lisa Summer (Autor:in)
640 Seiten
Reihe: Observe, Band 3

Zusammenfassung

Zwei Dystopien zu einem Preis.
Observe - Die neue Welt:

Alle, die sie liebte, sind tot. Niemand überlebt so lange.
Kim und Martin erwachen knapp fünfhundert Jahre zu spät aus dem kryogenen Schlaf.
Das Land hat sich verändert.
Die neue Welt ist faszinierend und Furcht einflößend zugleich.
Verfolgt von der machthungrigen Jane schließt sich Kim den Rebellen an, um das System zu stürzen.
Wird ihr der Plan gelingen?
Und wem wird sie ihr Herz schenken, dem jungen Rebellen Logan oder ihrem alten Freund Martin?
___________________________

Observe - Die andere Seite:
Kim und ihre Freunde sind endlich frei, doch diese Freiheit währt nicht ewig.
Sie werden immer weiter in einen Strudel aus Lügen und Intrigen gezogen, die nur ein Ziel haben: Macht!
Und dann gerät ihre Welt auch noch komplett aus den Fugen, als jemand Totgeglaubtes vor ihnen steht.
Kims Entscheidungen sind wichtiger denn je.
Wird sie den androhenden Krieg verhindern können
und kann sie dem geheimnisvollen, jungen Mann, der in ihr Leben tritt, widerstehen?


Beide Teile sind in sich abgeschlossen. Der Sammelband enthält die völlständige Observe-Dilogie.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Observe – Die neue Welt

 

Image

Späte Ankunft

 

Eine Wolke trägt mich davon. Ich gleite durch die Dunkelheit, leicht wie eine Feder. Aus der Ferne ertönen ein melodisches Summen und Piepen. Die Melodie endet abrupt. Das Kassettenband geht in ein stetiges Rauschen über. Es verbreitet sich, umgibt mich. Doch das Knacksen am Ende des Bandes bleibt aus.

Ich werde schwerer. Mit jeder Sekunde sinke ich. Bin ich etwa tot? Ich will mich umsehen, mich drehen; Ich kann es nicht. Ich bin gefangen!

Ein grelles Licht blendet mich. Das Licht ist so hell, dass es selbst mit geschlossenen Augen unangenehm ist. Bunte Flecken tanzen um den weißen Punkt vor mir. Ist das vielleicht der Himmel?

Ich drücke meine Lider so fest aufeinander, wie es mir möglich ist, um dem Schmerz des Scheins zu entgehen. Es ist nicht fest genug!

Das Rauschen verwandelt sich langsam in andere Geräusche, menschliche Laute, Gesprochenes.

Ich spitze die Ohren, möchte mich umdrehen, den Geräuschen folgen, doch es klappt nicht. Mein verdammter Körper will einfach nicht so wie ich.

Tief ein- und ausatmen. Entgegen all meinen Instinkten, versuche ich zu zwinkern und einen Blick in das Licht zu werfen.

Lediglich einen kleinen Spalt und nur für kurze Zeit schaffe ich es. In dieser Sekunde nehme ich die verschiedensten Bewegungen und Silhouetten um mich herum wahr.

Plötzlich verdunkelt sich das Licht über mir und ich spüre den Hauch warmen Atems meine Wangen streifen. Jemand hebt meinen linken Arm an und legt mir eine Blutdruckmanschette um. Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut, mein Arm wird abgeschnürt.

Dann vernehme ich die Stimme einer Fremden: »Ihr Blutdruck ist gestiegen und stabil. Ich glaube, sie wacht auf.«

Ich registriere, wie sich die Stimme der Frau an mich wendet. Sie klingt melodisch und jung, so ruhig und liebevoll.

»Kannst du mich hören? Du bist vermutlich noch sehr benommen, aber wenn du wach bist, dann gib mir bitte ein Zeichen.«

Nun, wo mich das Licht nicht mehr so blendet, will ich nochmals die Augen öffnen. Aus dem runden Etwas vor mir formt sich langsam ein Kopf. Eine junge Frau lächelt mich an. Grau-grüne Augen blicken in meine braunen. Sie sieht nett aus, kleine Grübchen umspielen ihre Mundwinkel, aber es wirkt nicht ehrlich; es sieht so gestellt aus.

»Sie ist wach! Nummer 17 ist aufgewacht«, ruft sie den anderen Menschen aufgeregt zu.

Ich will meinen Kopf drehen und mich umsehen, den Geräuschen Körper geben. Es gelingt mir einfach nicht. Verdammt! Es ist, als läge ich in einer Zwangsjacke, man will sich bewegen, will frei sein, aber nichts gelingt.

Trotz allem ist mir klar, dass ich mich nicht mehr in einer Kapsel, sondern in einem Bett befinde. Der Raum ist ebenfalls ein anderer. Der Bunker U37 bestand aus kahlen, fensterlosen Betonwänden, dessen dunkle Eintönigkeit einem die Luft nehmen konnte. Ganz anders ist es hier. Dieser Raum wirkt durch das helle Weiß und das grelle Licht absolut steril und kühl. Um mich herum wirbeln lauter Menschen. Ich sehe ihre weißen Kittel an mir vorbeirauschen, höre das Rascheln verschiedenster Instrumente und das leise Rauschen und Piepen von Maschinen.

»Ich bin Jane, willkommen zurück. Nennst du mir bitte deinen Namen?« Die Frau blickt auf mich herab.

Ich will ihr antworten, aber mein Mund fühlt sich so ausgetrocknet an, dass er nichts weiter als ein fürchterliches Krächzen und Husten hervorbringt.

Jane bemerkt dies. Sie hebt meinen Kopf an und flößt mir Wasser ein. Die Flüssigkeit fließt meinen trockenen Rachen herunter und benetzt meine Lippen. Herrlich! Langsam fühle ich mich wieder normal.

»Ich bin Kimberley«, krächze ich.

»Willkommen, Kimberley, willkommen. Wenn du etwas brauchst, dann melde dich bitte. Du wirst dich in nächster Zeit sehr schummrig fühlen; wenn man bedenkt, wie lange du eingefroren warst, ist dies jedoch nicht verwunderlich.«

»Man sagte uns, dass die fünfundvierzig Tage ein paar Spuren hinterlassen würden, aber ich kann mich überhaupt nicht mehr bewegen«, flüstere ich heiser.

Jane schüttelt verwirrt den Kopf und legt ihn schräg. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie ihre Hände reibt, als ringe sie mit sich selbst. Ich schaue sie weiterhin fragend an. Endlich setzt sie zu einer Erklärung an, doch sie bringt keinen Ton heraus. Sie wirkt beinahe traurig.

Oh mein Gott, bestimmt bin ich querschnittsgelähmt. Vielleicht kann ich nie wieder laufen. Ich will mich bewegen, meine rechte Hand zur Faust ballen. Wieder nichts. Verdammt, verdammt, verdammt!

»Bin, bin ich gelähmt?« Ich schlucke schwer.

Jane lächelt, ihr Blick ist ganz weich, einfach herzlich.

»Nein Kimberley, das ist es nicht. Vielleicht ist es besser, du ruhst dich noch etwas aus, ehe ich dir alles erkläre.«

Jetzt bin ich verwirrt. »Wie … wie meinen Sie das? Was müssen Sie erklären? Ich, ich verstehe nicht«, stottere ich und Jane reicht mir erneut etwas Wasser.

Sie atmet laut aus und wirkt noch nervöser, als ich es bin. »Es ist wohl etwas schiefgegangen, bei der Kryostase. Du warst keine fünfundvierzig Tage eingefroren, sondern vierhundertachtundsechzig …«

»Was?«, unterbreche ich sie. »Aber, dann hab’ ich ja ein ganzes Jahr verpasst.«

Jane beißt sich auf die Lippen. »Nicht Tage - Jahre…«

Noch während ich das Jahr errechne, wird mir schwindelig und ich schließe meine Augen. Es sind knapp fünfhundert Jahre vergangen. Sie sind alle tot. Alle! Martin – Martin und Jeff. Ob sie es wenigstens geschafft haben? Ich traue mich kaum zu fragen. Tränen rinnen mir die Wangen herunter und meine Hände fangen stark zu zittern an. Mein Herz rast und ich merke, wie Jane mir eine Nadel in den Arm schiebt. Das Beruhigungsmittel wirkt so schnell, dass ich es nicht einmal schaffe, ihr noch diese letzte Frage zu stellen. Ich hoffe, sie wurden auch geweckt.

 

Obwohl ich weich liege, spüre ich den Lattenrost unter der Matratze, doch das stört mich nicht. Es zeigt mir, dass es ein richtiges Bett ist, keines dieser fahrbaren Klinikbetten mit Stahlrahmen.

Ich öffne die Lider. Durch den Vorhangspalt dringt trübes Morgenlicht auf mein Gesicht. Dieses Zimmer ist angenehmer, riecht jedoch etwas muffig, als wäre es lange nicht genutzt worden.

Die Fenster sind bereits gekippt und es weht eine feine, stetige Brise herein. Mit ausgestreckten Armen setze ich mich auf. Laut dem Wecker auf dem Nachttisch ist es 7:45 Uhr am Morgen. Wahrscheinlich habe ich erneut einen Tag verschlafen, aber was macht das schon. Bei fast fünfhundert verpassten Jahren kommt es darauf auch nicht mehr an.

Ein letztes Mal gähne ich und stehe auf. Erst als ich schwanke, wird mir klar, dass ich mich wieder bewegen kann. Genüsslich strecke ich mich in alle Richtungen. Ich muss aussehen, wie ein Hampelmann und kippe dann auch noch beinahe vornüber. Ich kralle mich in die Matratze hinter mir und ziehe mich zurück. Eine Weile bleibe ich auf dem Rücken liegen und starre die weiße glatte Decke an. Kim, reiß dich zusammen!

Als ich mein Gleichgewicht weitestgehend wiederfinde, wanke ich zum Fenster hinüber und ziehe die schweren, grauen Vorhänge zur Seite, um die Sonnenstrahlen zu genießen. Ans Fensterbrett gelehnt, sehe ich mich im Raum um. Ein gemütliches Zimmer, mit einem schweren Echtholzkleiderschrank, einem dazu passenden Schreibtisch, einem gemütlichen Bett und einer Kommode, wird mir geboten. Durch die große Fensterfront ist es trotz der dunklen Möbel schön hell.

Das ist doch alles wie in einem schlechten Film! Wahrscheinlich starren gerade tausende Augen auf mich. Man will uns testen, und das hier ist nichts weiter als ein Hotelzimmer. Man wird uns wohl kaum fünfhundert Jahre vergessen haben.

Mein Blick schweift aus dem Fenster. Bestimmt bin ich im Hotel vor dem neuen Kino. Starlight In oder so. Die Umgebung vor dem Fenster ist anders, als ich es gewohnt bin. Aber es ist eindeutig das Campusgelände, das weiß ich, das Grundgerüst ist noch das alte.

Ich erkenne nur wenige Züge wieder, alles wirkt fremd, doch ich fühle, das hier ist mein altes Zuhause. Und dennoch, dort sind so viele Gebäude, die gar nicht da sein dürften, die Luft riecht komisch, der Himmel ist trüber. Ich kann es kaum beschreiben. Mein Kopf sinkt gegen die kühle Fensterscheibe. Er pocht, jetzt kriege ich auch noch Kopfschmerzen, na super...

Während ich hinaus starre, bewegt sich etwas hinter mir. Der Wind hat einen Zettel vom Schreibtisch geweht, der mir bisher nicht aufgefallen war. Ich fange ihn aus der Luft und betrachte ihn. Er ist mit Jane unterschrieben. Sie hat eine schöne Schrift, beinahe makellos.

 

Liebe Kimberley,

entschuldige bitte, dass ich dich gestern Nachmittag einfach ruhiggestellt habe. Deine Werte gerieten in einen kritischen Bereich und du warst kurz davor, einen Schock zu erleiden. Ich habe dich in dein vorläufiges Zimmer verlegen lassen, ich hoffe, dass du dich hier besser einleben kannst. Im Kleiderschrank hängt neue Kleidung für dich und im Bad dürfte alles liegen, was du brauchst. Sobald du dich bereit fühlst, würde ich dich gerne sprechen. Mein Büro ist den Gang rechts runter, Zimmer 407. Klopf einfach, dann erkläre ich dir unsere Welt.

Bis später,

Jane

 

Ich gehe zum Kleiderschrank und betrachte meine neuen Klamotten. Sie sehen alle gleich schlicht aus, überwiegend graue, schwarze und blaue Farben. Ich schnappe mir eine blaue Hose mit einem dazu passenden Poloshirt und frischer Unterwäsche und verziehe mich ins Badezimmer.

Das Bad befindet sich hinter einer Tür gleich neben dem Zimmereingang. Es ist ziemlich klein, hat aber alles, was ich brauche.

Eigentlich fühle ich mich dreckig, unrein. Aber zum Duschen ist jetzt keine Zeit, ich möchte endlich mit Jane reden, um Antworten zu bekommen; also werde ich mich nur schnell waschen und umziehen. Mein weißes Nachthemd schmeiße ich in die Ecke. Es muffelt genauso wie ich.

Als ich in den Spiegel über dem Waschbecken blick, erkenne ich mich kaum. Das Gesicht ist schmaler und eingefallen. Ränder umrahmen meine einst strahlenden, braunen Augen. Jetzt sind sie nur noch leer und kalt. Mutter sagte immer, dass die Augen die eigenen Gefühle widerspiegeln würden. Deswegen wüsste sie auch immer, wenn es mir mal schlecht ginge. Heute verstehe ich, was sie meint. Meine ganze Familie ist tot, wie könnten sie da noch strahlen?

Meine Familie ... Es kann einfach nicht wahr sein! Das will ich nicht glauben.

Ich klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht, wieder und wieder. Aber ich erwache nicht. Es ist kein verdammter Traum.

Die Frische tut gut, trotzdem wirke ich immer noch um Jahre älter, dabei ist für mich nur eine Nacht vergangen. Ich flechte mir meine Haare zu einem seitlichen Zopf zusammen, in der Hoffnung, meiner einstigen Jugend so etwas entgegen kommen zu können.

Als ich hinaus auf den weitläufigen Flur trete, bemerke ich, dass ich keinen Schlüssel für mein Zimmer habe. Was soll’s. Ich besitze sowieso keine Wertgegenstände.

Jane sitzt auf einer dunkelroten Couch an der Seite ihres Büros und hält ein Buch in ihrer Hand. Als sie aufblickt, kann ich sie das erste Mal richtig betrachten. Sie scheint doch nicht so jung zu sein, wie ich sie gestern eingeschätzt hatte. Jetzt, so früh am Morgen, wirken ihre Haut fahler und ihre Augen älter, aber auch freundlicher. Graue Strähnen zieren ihr schwarzes, schulterlanges Haar.

Sie gibt mir einen Wink, mich neben sie zu setzen. Die Couch ist bequem. Ich wickle die Arme dicht um meine angezogenen Beine, während ich zum Fenster starre.

Vor dem Fenster steht ein großer, schwerer Schreibtisch, genauso einer stand früher in meinem Zimmer, stelle ich schmerzlich fest. Großvater hatte ihn einst für meinen Vater angefertigt, nach seinem Tod bekam ich ihn dann. Bei dem Gedanken an ihn muss ich mir einige stumme Tränen mit dem Ärmel abwischen. Aber bestimmt wird Jane mich jetzt aufklären, mir endlich sagen, dass alles nur ein dummer Scherz war, den sich die Uni erlaubte...

Mit verschleiertem Blick schaue ich auf die Wand gegenüber; zwei große, dunkle Regale voller Bücher und Aktenordner zieren sie. Ich bin bereits dabei, mich zu erheben, um die goldenen und verschlungenen Titel der Buchrücken zu lesen, als Jane plötzlich aufsteht.

»Möchtest du auch etwas Tee?«

Ich halte in meiner Bewegung inne und lehne mich wieder zurück. Gefasst blicke ich in Janes unergründliche Augen und nicke ihr zu.

»Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Wie fühlst du dich heute Morgen?«

Sie klingt freundlich, diesmal scheint ihr Lächeln mehr durchzudringen. Vielleicht war es der Stress gestern, der sie so angespannt wirken ließ.

Die Stärke in ihrer Stimme treibt meine Kopfschmerzen an. Ich fasse mir unweigerlich an die Schläfen und vergrabe meinen Kopf in den Händen. Betreten und entmutigt blicke ich zu Boden.

»Es ging mir schon besser«, nuschle ich mitleidig.

»Das kann ich mir vorstellen. Vielleicht solltest du heute Nachmittag mit einem unserer Psychologen reden. Das könnte dir gut tun. Vorher möchte ich dir aber noch einiges zu unserem Land sagen; es hat sich vieles verändert; die Welt, die du kennst, gibt es nicht mehr. Aber erzähle mir bitte erst von dir. Vieles konnte ich mir aus den gefundenen Daten zusammenreimen, jedoch nicht alles. Wie bist du in die Kryokapsel gekommen?«

Puh, das wird jetzt eine lange Geschichte …

Ich berichte ihr von Professor Doktor Fletching, wie er an die Uni kam und uns von seinen Fortschritten in der Kryonik, dem Einfrieren von Zellen, erzählte. Nachdem es seinen Forschern gelang, Tiere unbeschadet einzufrieren und später wieder aufzutauen, wollte er dies endlich an Menschen testen.

»Und du warst eine von ihnen?«, unterbricht mich Jane.

»Ja. Ich hatte mich, wie einige von uns, des Geldes wegen beworben. Wir waren so viele zu Beginn. Es war unsere Chance auf eine bessere Zukunft. Zu der Zeit lebten die meisten längst am Rande der Armut. Seit sich der Krieg mit Husania ausbreitete, wusste keiner, wie lange er sein Leben noch wie bisher weiterführen konnte«, erkläre ich ihr. »Ich hatte selbst meine Mutter mitzuversorgen und wusste kaum, wie ich mein Studium weiter finanzieren sollte.«

»Wie wurdet ihr ausgewählt?«

Diese Frage habe ich bereits erahnt und so oft, wie ich sie schon meinen Freunden erzählt habe, muss ich mich zurückhalten, um sie nicht in einem Zug herunterzurattern. Natürlich gelingt mir das nicht.

»Es gab einen Haufen Tests«, sage ich. »Zuerst mussten wir nur einen einfachen Gesundheitstest bestehen. Es wurde uns Blut abgenommen und wir wurden an ein EKG angeschlossen, um die elektrischen Aktivitäten unserer Herzmuskelfasern zu prüfen. Im nächsten Schritt stand ein Fitnesstest an. Dafür wurden wir auf ein Gelände des Militärs gebracht und sollten dort verschiedenste Kraft- und Ausdauerübungen absolvieren. Bei den Mädchen schnitt ich sogar am besten ab«, werfe ich stolz ein. Die waren nämlich verdammt anstrengend.

»Nach diesem Test gab es nur noch hundertfünfzig Teilnehmer. Später füllten wir einen Fragebogen aus und die, die danach noch nicht ausgemustert waren, zogen in das Universitätstestzentrum ein. Dort bekam ich mein eigenes Zimmer und ging regelmäßig zu psychologischen Gesprächen und Untersuchungen. Ich hatte auch verschiedene Reaktions- und Stresstests auszuführen. Der letzte war wirklich hart.« Beim Gedanken an diese Prüfung läuft es mir eiskalt den Rücken runter. »Wir bekamen ein Halluzinogen gespritzt und eine Illusionsbrille aufgesetzt, die uns in die verschiedensten Szenarien schickte und unsere Reaktionen maß. Danach blieben nur noch wir fünfundzwanzig übrig.«

Jane hört mir die ganze Zeit über aufmerksam zu und weist mich anschließend noch einmal auf den Tee vor uns hin, der beinahe kalt geworden ist. Dankend nehme ich ihre Geste an und schlürfe ihn durstig. In Gedanken versunken halte ich inne und blicke auf meine Vergangenheit zurück. Es ist alles so unwirklich. Jane macht keine Anzeichen, dass irgendetwas hier nicht real ist. Mit einem Schlag wird mir mein Verlust bewusst.

»Sie sind tot, sie sind alle tot. Niemand überlebt so lange«, flüstere ich vor mir her.

Jane springt erschrocken auf. Vor mir liegen die Scherben der weißen Porzellantasse, die ich gerade noch in den Händen hielt. Ohne es bemerkt zu haben, ließ ich sie fallen. Jetzt zittert mein ganzer Körper, während ich auf die Bücherwand gegenüber starre. Jane wischt hektisch die Teepfütze vom dunklen Parkettboden auf. Jedoch beachte ich sie kaum.

Mein Blick ist auf Jules Farmers Bis zum Ende und zurück gerichtet. Dass es hier steht, hier, in dieser Welt, all die Jahre überdauernd, haut mich um. Wie kann es überlebt haben und sonst niemand? Wie kann es dort stehen und draußen hat sich alles verändert?

Jane legt mir eine Decke über die Schultern und den Rücken. Sie ist warm und ich raffe sie näher an mich, ziehe die Beine dicht an den Körper und wiege mich vor und zurück. Das ist alles nicht echt!

Ich bin wieder elf Jahre alt, sitze auf dem Schoß meines Vaters, in einer ebenso warmen Decke wie diese eingekuschelt. Er liest mir die letzten Zeilen dieses wunderbaren Werkes vor. Ich bin traurig, ich will nicht, dass es zu Ende geht. Betrübt schaue ich in seine liebevollen, dunklen Augen. Er schlägt das Buch zu und legt es zur Seite. Ich springe auf und laufe vorne weg zur Tür. Ich will sie ihm versperren, damit er weiterliest. Immer weiter und weiter. Mamas Stimme hallt bereits durch den langen Flur und der Duft einer köstlichen Kürbissuppe dringt in meine Nase …

»Hast du Hunger? Unten ist eine Kantine. Wir können uns dort etwas holen und anschließend hier oben weiterreden«, reißt Jane mich aus der Erstarrung. Sie betrachtet besorgt mein Gesicht.

»Du siehst bleich aus«, bemerkt sie.

»Darf ich das haben?«, frage ich und zeige auf den Roman.

Als ich das Werk endlich in meinen Händen halte, lässt die Schockstarre langsam nach und weicht den Tränen. Ich schluchze laut auf. Dicke Tropfen laufen meine heißen Wangen herunter und fallen auf den weißen Einband des Buches. Instinktiv wische ich sie weg, ich will dieses kostbare Stück Erinnerung nicht beschmutzen.

Jane nimmt mir das Buch vorsichtig aus den zittrigen Händen und legt mir stattdessen ein Taschentuch hinein. Trompetend schnäuze ich hinein und greife erneut nach dem Buch, während ich die Tränen wegwische. Ich blicke Jane an, wünsche mir, dass sie mich in den Arm nimmt, doch sie tut es nicht. Sie hält mir nur ein weiteres Tuch hin und fragt mich noch einmal, ob ich etwas essen möchte.

Mein Magen knurrt laut. Jetzt erst merke ich, wie hungrig mich das ganze Erzählen und Heulen gemacht haben.

Ich nicke und folge ihr stumm hinaus, das Buch fest an meinen Bauch gedrückt. Während wir nach unten laufen, zeigt sie mir verschiedene Gänge des Gebäudes und erklärt, wo ich den Psychologen, die Krankenzimmer und die Bibliothek finde. Das Gebäude muss riesig sein. Durch die hohen, mit Stuck verzierten Decken wirkt es anmutig und bedrückend zugleich.

Ich war noch nie in diesem Teil der Universität, wahrscheinlich gab es ihn vorher überhaupt nicht. Unsere Uni bestand bloß aus drei viereckigen Kästen, die wie ein U zueinanderstanden. Heute wirkt es eher wie ein riesiges Schloss, ein Irrgarten aus Gängen und Treppen.

 

Das Essen ist eintönig, noch langweiliger als ich es gewöhnt bin: Kartoffelpüree, etwas Gemüse und wenig Fleisch. Ich vermisse die Mahlzeiten bei meiner Mutter. Sie kochte mit so viel Liebe. Das hier schmeckt wie Chemie.

Beim Essen reden wir kaum, aber ich bekomme endlich die Gelegenheit, sie nach meinen Freunden Jeff und Martin zu fragen.

Jane zieht eine Liste aus ihrer Tasche, ich erkenne sie wieder: Es ist eine Kopie der eingeschweißten Teilnehmerliste, mit Name, Geburtsdatum, der Kapselnummer und irgendwelchen Blutwerten der Teilnehmer, die an der Tür der Kryohalle hing.

»Hmm«, murmelt Jane und ich befürchte keine allzu positive Antwort.

»Jeff Markson war die Nummer zwölf?«

Ich nicke.

»Tut mir leid. Er hat das Auftauen nicht überlebt. Martin Hansens, Nummer 15; er war der Erste, den wir auftauen konnten.«

Unweigerlich huscht mir ein Lächeln über die Lippen, als ich seinen Namen höre. Martin hat es geschafft, er lebt und atmet und wird schon bald wieder lachend seine Runden mit mir ziehen. Und doch ist Jeffs Tod ein Shock für mich. Obwohl ich damit gerechnet hatte, kralle ich meine Nägel tief in den Einband meines neuen Erinnerungsschatzes, bis meine Finger schmerzen. Die Knöchel scheinen bereits weiß und bleich hervor. Es hilft mir, die Trauer und Wut zu unterdrücken.

Meine Hände beginnen zu zittern. Jeff … Der starke, unerschütterliche Jeff. Für mich war er immer ein Kämpfer. Ein Ritter in der Gestalt eines jungen, bärtigen Mannes. Ich erinnere mich daran, wie wir gemeinsam Fußball auf dem Sportplatz hinter der Uni spielten, wie wir uns gegenseitig Filmzitate an den Kopf schmissen oder ich ihm beim Bogenschießen nach der Uni zu sah. Ihm hätte ich diesen Kampf, diese Reise viel eher zu getraut - viel eher als mir. Alle sind sie weg. Meine Familie, meine Freunde, einfach weg. Ich bin alleine und hilflos. Tränen fließen erneut über die Wangen, aber das ist mir egal. Dieses Mal lasse ich sie einfach laufen. Soll diese beschissene Welt doch wissen, wie sehr sie mich ankotzt.

Schwer atmend vergrabe ich meinen Kopf in den Händen und möchte nur noch alleine sein. Ich brauche Zeit für mich und gleichzeitig sehne ich mich mehr als nach allem anderen nach Martin.

»Kann ich ihn sehen? Martin?«, flüstere ich kaum hörbar. Ich brauche ihn, seine Nähe, seine Wärme und sein Lachen, das selbst dem traurigsten Tag noch etwas abgewinnen kann.

Ich wische über mein nasses Gesicht und schaue Jane an. Hoffnung keimt in mir auf, als sie mir verständnisvoll zulächelt.

Um uns herum wird es immer lauter; Menschen in Kitteln und Anzügen rücken auf Stühlen hin und her, Geschirr klappert und alle Reden durcheinander. Mit meinem verheulten Gesicht fühle ich mich unwohl in dieser Menge. Bedrückt greife ich zur Serviette und wische auch die letzten Tränen von meinen bestimmt glühend roten Wangen.

»Tut mir leid, er wurde zwar aufgetaut, liegt aber noch im Koma. Wenn du möchtest, kann ich dich heute Abend zu ihm bringen, vielleicht helfen ihm deine Stimme und Anwesenheit, zurückzukehren.«

»Was ist mit den anderen? Wir waren doch so viele?«

»Seit wir euch vor vier Jahren in der Halle entdeckt haben, probieren wir es regelmäßig. Die ersten Versuche sind leider alle missglückt. Dein Freund Martin war der Erste, bei dem es funktionierte. Heute wollen wir Nr. 18 auftauen, eine Marissa Lengfeld. Kennst du sie?«

Ich überlege. »Ja, flüchtig, sie war in einer der Kapseln neben mir. Jedoch hatten wir nie viel miteinander zu tun.« Um ehrlich zu sein, mochte ich sie nie wirklich. Sie gehört zu der Kategorie neunmalklug und ist zudem ein totales Plappermaul. Wie sie für das Experiment ausgewählt werden konnte, frage ich mich immer noch.

»Wieso haben sie uns erst so spät gefunden?«

Jane schaut mich nachdenklich an. »Alles war verschüttet und zerstört. Es war ein Zufall, dass wir bei Bauarbeiten für einen neuen Flügel auf den Bunker stießen. Aber jetzt lass uns hochgehen. Hier wird es zur Essenszeit immer so ungemütlich.«

Ich weiß, was sie meint. In der Mensa ist es mittlerweile so voll und laut geworden, dass ein Gespräch kaum mehr möglich ist. Wir stehen von unserem Tisch auf und bringen die Essenstabletts zur Abgabe.

Das Buch klemmt unter meinem Arm. Obwohl ich mir vornahm, diesen Schatz wie meinen Augapfel zu hüten, sieht es jetzt schon ziemlich lädiert durch meine Tränen und das Herumtragen aus. Jane beäugt es misstrauisch. Ich glaube, sie bereut bereits, es mir überlassen zu haben. Wir gehen gemeinsam zurück in den vierten Stock in ihr Büro.

»Kim, setz dich am besten hin, du wirst jetzt einiges zu verkraften haben. Die Welt hat sich verändert! Unglaublich verändert.«

Sie reicht mir ein Glas Wasser und ich nehme dankend einen Schluck zu mir. Ich werde endlich erfahren, was für ein abgekartetes Spiel hier läuft. Nervös tipple ich auf der Couchlehne und wippe mit dem Knie. Ich versuche, mich zusammenzureißen, ruhig zu bleiben. Das wird schwierig...

Während sie zu erzählen beginnt, umklammere ich das kalte Glas fest mit meinen aufgeregt zittrigen Fingern. Das Wasser schwappt mäßig hin und her.

»Als du eingefroren wurdest, stand der Krieg bereits kurz bevor. Du hattest unglaubliches Glück gehabt, dass du an dem Experiment teilnehmen durftest, ansonsten wäre diese Woche wohl deine letzte gewesen. Kaum, dass ihr sicher eingefroren wart, machte Husania seine Drohungen war. Sie haben das ganze Land mit Atombomben und Raketen zerstört. Diese Stadt traf es besonders hart, fast alle waren sofort tot.«

Mein ganzer Körper bebt und in meinen Ohren beginnt es wieder zu rauschen. Kim, konzentrier dich!

Jane zieht ein hauchdünnes, weißes Tablet, sie nennt es Screenflat, aus einer Schublade hervor und zeigt mir verschiedene Luftaufnahmen, welche nach dem Angriff entstanden sind.

Alles ist grau in grau und von Asche bedeckt. Am Rand sieht man noch die Umrisse eines riesigen Kraters, dort, wo die Bombe einschlug. Auf einem anderen Bild erkenne ich ein paar der Ruinen wieder, Teile der neuen Stadtbibliothek, des Opernhauses und der Universität, sowie eines der hohen Wirtschaftsgebäude. Aber alles liegt in Schutt und Asche. Alles ist tot. Kontaminiert, von der Druckwelle zerstört. Ich frage mich, was dann passiert ist, dass es wieder besiedelt werden konnte. Ich wische mir die Tränen, die mein Gesicht erneut befeuchten, mit meinem Ärmel weg und höre Jane weiter zu. Ich muss jetzt stark sein!

»Nicht nur unser Land gab es nicht mehr. Zahlreiche Staaten der äußeren Bezirke wurden angegriffen. Husania war danach neuer Weltherrscher. Die meisten Städte konnten sich auch nach Jahrzehnten nicht erholen. Während Husania in Saus und Braus lebte, brachen in den anderen Ländern immer wieder kleinere Bürgerkriege aus. Menschen starben, verhungerten und verdursteten, da die Flüsse und Seen radioaktiv verseucht waren. Täglich kam es zu Raubüberfällen und die Gefängnisse erreichten ihre volle Kapazität. Also wurden neue gebaut, mehr und mehr; die meisten in den nördlichen Ländern, da dort, durch die bisherige Minderbevölkerung, der Platz am größten war. Die Gefangenen wurden schiffsweise herüber gebracht. Es gibt noch einige Tagebücher aus dieser Zeit, die mitgebracht worden sind, nur deshalb kennen wir die Geschichten überhaupt. Unsere Kommunikationsreichweite ist heute leider sehr begrenzt, aber dazu komme ich noch.«

Sie macht eine Pause und trinkt etwas. »Ende der achtziger Jahre deines Jahrhunderts kam es zu mehreren Überflutungen der Küstenstädte, da die Polkappen durch die nukleare Veränderung der Erde schneller als zuvor schmolzen. Man suchte nach einer neuen Lösung für Wohnraum. Zwar konnten die zerbombten Gebiete wieder weitestgehend betreten werden, den Wiederaufbau empfanden sie jedoch als zu langfristig, hinderlich und gefährlich. Daher überlegten sie sich etwas Anderes. Sie nutzten die Gefängnisse als neuen Wohnraum, davon gab es schließlich zahlreiche. Man verfrachtete die Insassen hierher, nach Antvasa. Das Land war natürlich eine absolute Katastrophe. «

»Wie hielt man die Gefangenen davon ab, wieder zu flüchten?«, frage ich neugierig.

»Das, meine liebe Kimberley, ist der entscheidende Punkt, der bis zu diesem Tag unser aller Leben bestimmt. Denn über das ganze Land war, so wie es auch heute noch ist, eine riesige Plasmakuppel gelegt worden. Keiner in dieser Kuppel hat jemals etwas anderes als dieses Land gesehen. Niemand!«

Sie macht eine Pause.

Es ist also wahr. Es ist alles wahr. Ich spüre, wie mein Herz aufgeregt gegen den Brustkorb schlägt.

Während Jane erneut ihr Screenflat herauszieht und eine Karte öffnet, blicke ich aus dem Fenster und meine, einen leichten Schimmer am Himmel wahrzunehmen. Eine Kuppel, das war es, was ich heute Morgen als so unbeschreiblich befremdlich empfand.

»Wir wissen mittlerweile, wie das Plasmafeld aufgebaut ist, von innen kann man es jedoch nicht stürzen«, setzt Jane erneut an.

»Hunderte der Gefangenen starben bereits bei dem Versuch, darunter viele Wissenschaftler. Man hielt es damals für menschlicher, die Gefangenen hier einzusperren, anstatt sie umzubringen. Ob das wirklich so menschlich war, bin ich mir nicht sicher. Die Menschen hatten nichts«, sagt sie verächtlich. »Aus den Gefängnissen waren sie an drei Mahlzeiten täglich und warme Räume gewöhnt. Hier gab es nichts als unfruchtbaren Boden und zahlreiche, zerstörte Gebäude. In den Anfangsjahren starb beinahe die Hälfte der Leute; wenn nicht durch die restliche Strahlung, dann durch Hunger und Gewalt. Es heißt, ein junger Mann startete eine Revolte und versuchte, die Menschen neu zu organisieren.«

»Wie hat er es geschafft, das Land wieder zu bewirtschaften? Es war alles verstrahlt, außerdem waren es Verbrecher? Wie konnte er die vereinen, ohne neue Aufstände und Straßenkämpfe anzuzetteln?«, frage ich neugierig, mein Frust ist vorübergehend verschwunden. Ich verstehe das alles nicht.

»So genau kann ich dir das auch nicht beantworten. Die schlimmsten Gesetzesbrecher brachten sich zum Teil gegenseitig um, viele starben von alleine. Das ganze Land fasste schließlich nicht mehr als zweihunderttausend Einwohner. Außerdem nutzte man die natürlichen Begebenheiten der Orte. Man passte sich einfach den Umständen an. Ebenso wurden viele der Häuser bereits zuvor neu belagert und wiederaufgebaut. So wie nach der ersten dunklen Zeit.«

Die dunkle Zeit. Sie war das Geschichtsthema in der Schule. Überall brachen damals Unruhen aus. Leute schlachteten ihre Nachbarn ab oder händigten ihre Familien aus. So muss es auch hier gewesen sein.

»Jedenfalls hat man es geschafft, das Land neu zu erschaffen. Vasarisch wurde als neue Landessprache eingeführt und jeder musste einen Fragebogen ausfüllen, um dann, den eigenen Fähigkeiten entsprechend, den einzelnen Berufen zugeteilt zu werden. So wurde das Land neu organisiert. Die Leute hatten Spaß an ihrer neuen Arbeit und alle halfen mit. Bezahlt wurden sie in Rationsmarken und egal, welche Arbeit man verrichtete, jeder bekam den gleichen Zuschuss«, erzählt sie mir stolz.

»Wo kam das Essen her und wie werden die Leute heute in die Berufe eingeteilt?«

Jane legt sich zurück, ihr Gesicht wirkt angespannt und müde.

»Die ersten Rationen bekamen die Menschen durch die Macher der Kuppel. Sie lieferten alles mit, was man zur Rekreation der Wirtschaft brauchte. Doch dann kam es zu einer schweren Pockenepidemie, fast siebzig Prozent der Kinder starben vor hundertfünfzig Jahren.« Mit hängenden Schultern und trüben Augen sieht sie zu mir auf, ehe sie weiterspricht. »Man hatte schon damals eingeführt, dass alle Kinder ab sechs Jahren von ihren Eltern getrennt hier in der Universitätsstadt auf Internaten aufgezogen werden. Nur so konnten sich die Eltern vernünftig auf ihre Arbeit und den Wiederaufbau konzentrieren. Mit zwölf Jahren entscheiden sich die Schüler für eine Berufsrichtung und werden vor Ort weitergebildet. Im Regelfall bleiben sie ein Leben lang nahe ihrer Ausbildungsstätte. Anders ergibt es schließlich keinen Sinn. Was wollen wir schon hier in der Stadt mit Kohlearbeitern oder Landwirten.«

Ich schüttele den Kopf. Einen Teil meines Lebens bin ich selbst ohne Vater aufgewachsen. Eine Kindheit ganz ohne Eltern muss noch schrecklicher sein.

»Die Kinder werden mit sechs Jahren den Eltern weggenommen? Das ist doch bekloppt!«

Jane wischt meine Antwort mit einer Handbewegung weg.

»Ich sagte doch, es klingt hart. Aber die Kinder hier kommen gut damit zurecht. Das System funktioniert! Außerdem können die Eltern sie während ihres Urlaubes besuchen«, betont sie deutlich. Gleichgültigkeit liegt in ihrer Stimme.

Ich finde das System schrecklich. Gerade so schaffe ich es, mich zusammenzureißen. Meine Hände ballen sich zu Fäusten und ich presse meine Lippen aufeinander, um nichts zu sagen, was ich später bereuen könnte.

»Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen muss? Ansonsten würde ich mich gerne etwas ausruhen«, frage ich kühl, die Hände zu Fäusten geballt.

Doch Jane bleibt ganz ruhig, als bemerke sie meine Anspannung gar nicht, vielleicht ignoriert sie sie aber auch bewusst.

»Nur noch eines, Kimberley. Wie ich eben sagte, starben damals viele Kinder. Das Land stirbt aus! Viele sind unfruchtbar, Teile des Landes sind immer noch leicht verstrahlt oder es ist genetisch bedingt. Daher hat meine Mutter, als sie dieses Land noch führte, das einzig Logische getan. Mittlerweile müssen alle Jugendlichen zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren zu einem Gen- und Fruchtbarkeitstest, anschließend wird man mit dem kompatibelsten Partner verheiratet. Eine andere Möglichkeit gibt es leider nicht, um das Leben aufrecht zu erhalten. Nur durch eine korrekte, genetische Übereinstimmung gezielter Paare können wir durch den Paarungsprozess das Land vor dem Aussterben retten.«

»Wehren sich die Leute denn nicht dagegen?« Ich starre sie fassungslos an.

Jane schüttelt den Kopf. »Nein, nicht wirklich. Manche verweigern die Hochzeit, dafür erhalten sie jedoch starke Rationskürzungen, die kaum jemand in Kauf nehmen will. Kim, das Leben hier ist sehr reguliert! Anders geht es nicht. Wir müssen das Land komplett selbst bewirtschaften. Wir wären ohne diese Maßnahmen nie so weit gekommen. Versteh das bitte.«

Sie pausiert kurz, um ein paar bunte Kärtchen aus ihrer Schublade zu ziehen.

»Hier sind ein paar Rationsmarken für dich. Die blauen sind für Lebensmittel, die roten für Kleidung, die orangen für Haushaltsartikel und alles für den täglichen Bedarf. Du kannst dir damit ein paar neue Sachen für dein Zimmer und dich holen. Bewahre sie gut auf.«

Jane gibt mir einen ganzen Stapel der verschiedenen Marken, die ich in meine Hosentasche stecke.

»Ruhe dich etwas aus«, sagt sie im mütterlichen Ton. Ausruhen, dazu kreisen meine Gedanken gerade viel zu sehr umher ...

»Wenn du heute noch zu Martin willst, dann komm bitte um achtzehn Uhr in mein Büro und wir gehen gemeinsam zu ihm. Anschließend halte ich es für sinnvoll, wenn du mit einem unserer Psychologen sprichst.« Hoffentlich ist der etwas einfühlsamer als Jane. Sie wirkte so liebevoll und jetzt reagiert sie nur noch kalt.

Mit dem Buch in der Hand drehe ich mich um und verlasse stumm ihr Büro. Noch eine Sekunde länger bei ihr und ich hätte vermutlich das Büro zerlegt.

Frustriert und wütend auf diese freiheitsraubende Welt und den vermaledeiten Krieg stapfe ich den Flur entlang zu meinem Zimmer. Die Tür schließe ich mit einem lauten Knallen. Ich schmeiße mich auf das von irgendwem frisch gemachte Bett und schließe die Augen.

Wieso konnte ich nicht einfach sterben, wie alle anderen auch?

Ich schlafe unruhig mit dem Buch in der Hand ein.

 

Begegnungen

 

Den Schlaf über begleiten mich zahlreiche Albträume. Ich sehe immer wieder das zerstörte Land vor mir. Meine Mutter, wie sie nach mir schreit, meine Freunde, wie sie tot auf der Asche ihrer Häuser ruhen.

Als ich aufwache, bin ich schweißgebadet. Ich habe mir extra den Wecker gestellt, um pünktlich bei Jane sein zu können. Ich steige unter die Dusche und wasche den Dreck dieses Albtraums von mir, dann ziehe ich mich an und gehe zu ihr. Dieses Mal sitzt sie an ihrem Schreibtisch und tippt etwas auf ihr Screenflat ein.

»Komm rein, ich bin gleich so weit!« Sie hebt ihren Blick und schaut mich freundlich an.

Ich nicke und setze mich auf die Couch, dann steht Jane auch schon auf und bittet mich, ihr zu folgen.

»Martin liegt unten auf der Krankenstation im ersten Stock. Seine Werte sind nach wie vor stabil, dennoch wird er vermutlich noch etwas brauchen, bis er aufwacht. Erschrick dich bitte nicht, wenn du ihn gleich siehst, er wird künstlich ernährt und ist ziemlich blass«, erklärt sie mir.

Ich schlucke und nicke erneut, obwohl ich weiß, dass sie es nicht sehen kann, da sie vor mir geht.

»Wie lange liegt er schon im Koma?«, frage ich mit einem Kloß im Hals.

»Knapp zwei Wochen.«

»Was ist mit Marissa, hat sie es geschafft?«

»Ja, aber sie ist ebenfalls noch nicht erwacht.«

In gewisser Weise habe ich gar nichts dagegen, sie wird vermutlich eh nur nerven, wenn sie aufwacht.

Auf der Krankenstation laufe ich direkt auf Martins Bett zu. Es scheint derselbe Raum zu sein, in dem ich am Vorabend kurz aufgewacht bin.

Jetzt sehe ich auch sie. Neben Martin liegt Marissa. Beide schlafen friedlich. Fast schon wünschte ich, ich könnte ihnen die grausame Realität ersparen. Alle, die sie liebten, sind tot, und sie selbst sind nun in einer Welt gefangen, in die sie nicht hineingehören. In die ich nicht hinein gehöre.

Ich nehme Martins Hand und streichle sie sanft. Ich mag Martin, sehr sogar. Während des Testverfahrens haben wir viel miteinander unternommen. Obwohl ich nie mehr für ihn empfunden habe, ist sein Anblick das Einzige, was mir gerade Halt geben kann. Ich wünsche mir so sehr, dass er aufwacht. Ich brauche ihn, ich brauche ihn jetzt und hier. Er soll mich in den Arm nehmen, mich drücken, mir Halt geben. So, wie er es auch früher getan hat. Er soll jetzt für mich da sein!

Aber er wacht nicht auf, er liegt einfach nur da, ohne zu wissen, dass es unsere Welt nicht mehr gibt.

Während ich ihm sein wildes, blondes Haar vorsichtig aus dem Gesicht streiche, rinnen mir wieder Tränen über die Wangen. Allmählich mutiere ich zur Heulsuse. Ich versuche, mit ihm zu reden, doch ich bringe nur wenige Worte über die Lippen. Also summe ich stattdessen ein Lied, das meine Mutter mir immer vorgesungen hatte, wenn ich krank war.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe. Doch als ich aufstehe, tut mir mein Po vom Stahlrahmen der Bettkante weh. Ich werfe einen letzten Blick auf meinen Freund und wende mich, so gefasst wie möglich, Jane zu.

»Wir können jetzt zum Psychologen«, sage ich monoton. »In welchen Raum muss ich? Den Weg finde ich bestimmt selber.«

Jane lächelt verständnisvoll. Sie merkt, dass ich alledem aus dem Weg gehen möchte, dass ich ihr nicht traue. Ich sehe es in ihren Augen, an der Art, wie sie mich anschaut, mich immerzu beobachtet.

»Gleich hier um die Ecke, Raum 103«, antwortet sie freundlich.

Wie schafft sie es nur, nach unserem Gespräch heute früh so locker zu bleiben?

Ich drehe mich nicht um, als ich die Tür schließe. Mein Magen krampft sich zusammen; ich reibe die Hände und stelle mir vor, es wären immer noch Martins in meinen. Ich schüttele mich heftig, während ich den spärlich beleuchteten Gang hinunterlaufe; Martins Bildnis in den Gedanken.

Vor einer schweren, schwarz gestrichenen Tür bleibe ich stehen und atme tief ein und aus. Als ich die Türnummer und das Schild Therapiezimmer darunter betrachte, versuche ich, mich zu beruhigen. Dann klopfe ich leise an. Eine freundliche, tiefe Männerstimme ruft mir ein »Herein!« entgegen.

 

Der Psychologe ist jünger, als ich erwartet hatte. Und er sieht ziemlich gut aus; seine dunkelblonden, leicht lockigen Haare liegen gewollt wild durcheinander und sein athletischer Körper springt einem durch sein eng anliegendes, rot kariertes Hemd geradezu in die Augen. Er erinnert mich an den Schauspieler, dessen Namen ich immer vergesse.

»Hallo, ich bin Kimberley, aber Sie können mich Kim nennen. Jane meinte, ich solle mit Ihnen reden«, stelle ich mich mit verlegener Stimme vor und strecke ihm meine Hand entgegen.

Er lächelt mir freundschaftlich zu und nimmt sie an. Sein Lächeln wirkt ehrlicher, wirklicher als Janes.

»Hallo, Kim, Jane meinte, dass du noch vorbeischauen wolltest. Setz dich bitte.«

Er zeigt zu einem Platz auf seiner ledernen Couch.

»Mein Name ist James Fonder, es reicht, wenn du mich James nennst. Wir duzen uns hier alle. Vorab, alles, was du mir erzählst, ist selbstverständlich vertraulich«, erklärt er mir und ich setze mich. »Also, Kim, wie fühlst du dich? Diese Zeit ist bestimmt ganz anders als die, die du verlassen hast.«

Ich lehne mich zurück und überlege, wie ich ihm antworten soll. Er scheint sehr nett zu sein. Sein Lächeln wirkt warmherzig und echt. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob er Jane nach unserem Gespräch nicht doch Bericht erstatten wird.

»Bist du nervös?«

Ich schaue auf. Anscheinend schweige ich bereits länger als beabsichtigt.

»Ja, etwas. Ich traue dem Ganzen noch nicht. Ist das verwunderlich?«

Er schüttelt den Kopf.

»Nein, eigentlich nicht. Es ist sogar ziemlich nachvollziehbar.«

»Ich fühle mich verlassen, einsam«, erzähle ich ihm mit gesenktem Blick. »Alle sind verstorben und der einzige Freund, den ich noch habe, liegt im Koma. Außerdem fühle ich mich fremd. Alle starren mich an. Die Leute auf der Krankenstation, die Kantinenfrau und selbst Sie. Blinzeln Sie eigentlich nie?«

Ich meine es ernst. Der Mann hat kein einziges Mal woanders hingeschaut, kein Blinzeln, nichts! Nichts, seit ich in diesem Raum bin und ihm gegenübersitze.

James muss lachen. Ha, jetzt hat er doch einmal weggeschaut. Langsam gewöhne ich mich an seine Art.

»Was erwartest du, Kimberley? Natürlich schauen die Leute dich an. In gewisser Weise bist du die Attraktion des Instituts«

Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir:

---KIM, 500 JAHRE AUF EIS, ENDLICH ERWACHT---

Na super …

»Aber lass uns bitte ernst bleiben«, sagt James jetzt zu mir.

»Also, wie fühlst du dich? Erzähl mir mehr über dich!«

Was gibt es da schon groß zu sagen? Mein Leben ist vorbei, ich bin alleine, ich bin praktisch knapp fünfhundert Jahre alt, ohne einen Funken gealtert zu sein. Ich hatte ein tolles Leben, mein Studium hatte gerade erst begonnen und ich gehörte bereits zu den Besten. Ich hatte Freunde oder zumindest Menschen, denen ich vertraute und die mir Halt gaben. Hier ist derzeit niemand, der diese Kriterien für mich erfüllt.

»Was möchten Sie denn hören?«, frage ich ihn. »Ich bin verzweifelt und mir gefällt diese Welt nicht. Ich habe Angst. Angst davor, was passiert, wenn ich es nicht schaffe, meinen Platz in dieser Zeit zu finden. Es ist so viel neu. Wie soll ich mir das alles merken? Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Was darf ich, was darf ich nicht? Was passiert mit denen, die die Regeln brechen? Nehmen sie mir diese Rationsmarken ab? Muss ich dann verhungern? Wie sieht meine Zukunft hier aus? Werde ich in zwei Monaten mit irgendeinem fremden, dicklichen Macho verheiratet sein?«

Ich werde immer wütender, während ich den angesammelten Frust des Tages herauslasse. Meine Stimme wird lauter als beabsichtigt, bis ich James fast anbrülle. Dann muss ich weinen. Die Tränen fließen beinahe wie eine reißende Strömung übers Gesicht. Ich schmecke das Salz auf den Lippen und das Schlucken schmerzt.

James setzt sich direkt neben mich und nimmt mich in den Arm. Ich heule einfach weiter und lasse den ganzen Frust, meine Angst, meinen Hass auf diese beschissene Welt und dieses System und den Krieg mit jeder Träne heraus. Ich hyperventiliere, bekomme kaum noch Luft. Ruhig bleiben, Kim! Japsend schaffe ich es, durchzuatmen.

James’ Wärme tut mir gut. Es ist so beruhigend, dennoch schaffe ich es nicht, aufzuhören. Wir sitzen einfach nur da, schweigend, stumm. Nur mein Gejammer und das Ticken der Uhr an seiner Wand sind zu hören.

Nach zwanzig Minuten habe ich mich weitestgehend entspannt, sodass James mir ein Glas Wasser reichen kann. Der Hals tut höllisch weh, außerdem brummt mein Kopf. Als ich James ansehe, muss ich lachen. Sein fein gebügeltes Hemd ist klitschnass.

»Tut mir leid«, sage ich entschuldigend und zeige auf sein Hemd, meine aber auch meinen Wutanfall.

»Ist nicht schlimm«, erwidert er, »Geht es dir etwas besser?«

»Ja, danke. Ich hoffe, ich habe die anderen Mitarbeiter nicht aufgeschreckt.«

»Ich denke nicht, und wenn, dann sind sie Schlimmeres gewöhnt. Immerhin hast du keine Sachen durch die Gegend geworfen.«

Wir lachen. Ich mag ihn, und vielleicht kann ich ihm sogar vertrauen.

»Wenn du möchtest, kannst du jetzt gehen. Ich würde mich aber freuen, wenn du mich bald wieder besuchst.«

»Ja, das werde ich«, verspreche ich.

»Okay. Das freut mich. Bezüglich deiner Ängste, schau mal in Die Geschichte der Kuppelgesellschaft, dort dürftest du alles zu unseren Regeln und dem Ausbildungssystem erfahren. Ansonsten kannst du mich natürlich auch fragen.«

Zwei Fragen schwirren mir tatsächlich durch den Kopf, aber ich weiß nicht, ob ich sie stellen soll.

»Sind Sie glücklich hier? Mit Ihrem Leben, Ihrer Frau, dem System?«

An der Art, wie er mich ansieht, kann ich die Antwort bereits erahnen. Dennoch spricht er sie nicht aus. Er schüttelt nur verbittert den Kopf.

»Kann ich Jane vertrauen?«, frage ich und bin mir der Gefahr durchaus bewusst.

»Besser nicht«, sagt er nur. »Lies das Buch. Es wird dir helfen, das alles zu verstehen. Versuch, dich an die Regeln zu halten. Und, Kim,« ich schaue jetzt direkt in seine ernsten, blauen Augen, »du solltest hier niemandem vertrauen. Vertraue nur dir selbst!«

»Kann ich Ihnen vertrauen?«

»Finde es heraus.«

Ich nicke und gehe zurück in mein Zimmer. Mir steht eine schlaflose Nacht bevor.

 

Heute ist mein siebter Tag in der neuen Welt, wie die sie nennen. Die ganze Woche habe ich mich in meinem Zimmer verkrochen, und mich ganz Jules’ Werk hingegeben.

Das Dasein hier ist immer noch unerträglich für mich, meine einzige Hoffnung ist Martins Erwachen, doch bis jetzt gibt es keinen Fortschritt. Man lässt mich auch nicht mehr zu ihm. Angeblich sei ich zu aufgewühlt danach gewesen. So ein Quatsch! Ich vermisse ihn einfach nur; sein Lächeln, die feinen Grübchen, die seine Mundwinkel umspielen, wenn er einen Witz macht, seine Wärme, wenn er mich schützend in den Arm nimmt. Er war mein bester Freund und gleichzeitig so viel mehr, wird mir bewusst.

Dafür war ich gestern wieder bei James und er riet mir erneut, endlich das Buch auszuleihen. Ich kann und will nicht weiter hinter verschlossenen Türen schmollen, davon ändert sich schließlich auch nichts. Müde stehe ich vor einem Regal der riesigen Bibliothek. Bücher aus meiner Zeit sehe ich kaum, vermutlich stehen sie in einer anderen Reihe. Schwaches Licht scheint durch die bunten Fenster herein und taucht den Saal in eine bedrohliche und gleichzeitig anmutige Atmosphäre. Der schwere, schwarze Teppich dämpft jeden meiner Schritte, die ich bei meinem spärlichen Versuch, das Buch zu finden, unternehme.

»Kann ich dir helfen?«

Ach du heilige Scheiße! Ich mache einen Satz nach hinten und springe dem Jungen dabei direkt in die Arme. Mein Herz rast, während ich mich vor Lachen kaum noch einkriegen kann, und ernte dafür einen verdatterten Blick.

»Ähh, hey, alles okay? Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Logan.«

Er hält mir die Hand hin und ich schüttele sie. Seine Finger sind weich und warm, definitiv keine Arbeiterhände. Logan schaut mich freundlich an. Also lächele ich zurück.

»Kim«, erwidere ich nur und versuche mich zu beruhigen. Zittrig vom Schreck stemme ich die Hände in die Knie und atme schnell.

»Ich suche ein Buch!«, ergänze ich so geistesgegenwärtig, wie ich kann.

Er grinst mich dumm an.

»Ja, das dachte ich mir. Und welches genau? Ich helfe hier aus, vielleicht kann ich es mit dir suchen. Wir führen knapp dreißigtausend Bücher, da verliert man schnell den Überblick.«

Verdammt, ich komme mir beinahe trottelig vor. Wie hieß dieses blöde Buch nur? Der Junge mit dem netten Lächeln hat mich total aus dem Konzept gebracht.

»Ähm, irgendetwas zu der Geschichte der Kuppel oder so«, stammle ich.

»Die Geschichte der Kuppelgesellschaft vielleicht? Die steht dahinten.«

Er zeigt auf ein Regal am anderen Ende des Raumes, gleich neben einem der großen Buntglasfenster.

»Bist du neu hier? Ich habe dich noch nie in diesem Gebäude gesehen.« Seine Stimme ist ruhig und neugierig zu gleich, während wir zu dem Regal hinüber gehen und er auf eine der schiebbaren Leitern steigt, die am Regal anlehnen. Er wirkt konzentriert. Seine Augen folgen den dunklen Umschlägen der vielen Büchern, bis sein Blick an einem haften bleibt und er sich nach vorne streckt, so dass sein schlanker, muskulöser Bauch unter seinem Shirt hervorlugt. Ein Grinsen huscht über meine Mundwinkel und ich fahre mit mit den Zähnen über meine Lippen. Er reicht mir das Buch, während ich mir nicht sicher bin, ob ich ihm die Wahrheit sagen soll. Er ist wirklich nett. Innerlich hoffe ich, dass wenigstens er sich das Anstarren verkneift.

»Ich bin erst seit einer Woche wirklich hier. Ehrlich gesagt, war ich bis vor kurzem noch eingefroren …«

»Echt? Du bist also eines dieser Kryokids.«

Na super, er starrt mich an … Ich verdrehe die Augen.

»Soll ich dir die Stadt zeigen? Du hast hier bestimmt noch nichts gesehen.«

Er hat recht. Es muss sich alles verändert haben und ich habe mich bisher kaum vor die Tür getraut. Trotzdem ist er ein Fremder und langsam glaube ich, dass man nicht jedem einfach so sein Vertrauen in dieser neuen Welt schenken sollte.

Logan lächelt mich schief und mit geweiteten Augen wie ein Hundewelpe an. Na gut. Diesem Blick kann vermutlich niemand widerstehen.

»Klar, wieso nicht? Ich will nur erst das Buch ausleihen.« Ich lasse die Seiten durch meine Finger gleiten. Das Buch ist schön, es wirkt so alt in seinem schwarzledernen Einband. Als würde es überhaupt nicht in diese moderne Welt passen.

Zwanzig Minuten später stehen wir an einer Ampel. Obwohl kaum Autos unterwegs sind, kommen mir die Geräusche unglaublich laut vor. Der Himmel ist heute grau und mit tiefliegenden Wolken verhangen - die Sonne will sich nicht zeigen.

Während wir darauf warten, dass das Ampelsignal wechselt, betrachte ich Logan genauer. Er sieht nett aus, sticht aber nicht besonders hervor. Seine Kleidung ist schlicht und weniger ordentlich, als ich es von den Leuten hier gewöhnt bin. Dunkle Haare hängen ihm ins Gesicht und verdecken eine kleine Narbe an der Schläfe. Seine Augenfarbe kann ich nicht definieren, sie sind weder braun noch grün oder grau.

Da ich ihn nicht anstarren möchte, schaue ich schnell weg, wobei mir wieder sein Lächeln auffällt, welches er noch keine Sekunde hat fallen lassen. Ich liebe dieses Lächeln jetzt schon.

Die Ampel schlägt auf Grün um und wir überqueren die Straße.

»Möchtest du etwas Bestimmtes sehen?«, fragt er mich.

»Ich weiß nicht. Was gibt’s denn hier so Schönes? Ich kenne doch noch gar nichts.«

»Hmm, ich kann dir den großen Park zeigen.«

Der Park ist tatsächlich riesig, aber auch leer. Man sieht keine Kinder, Radfahrer oder Jogger. Dabei würde sich das wirklich anbieten. Über die weitläufige Wiese erstrecken sich mehrere hundert Bäume und Büsche. Alle erstrahlen sie in ihrer schönsten Sommerpracht, dennoch fehlt dem Park das Lebendige. Er ist anmutig und eintönig zugleich.

Bis auf das stetige laute Zwitschern der Vögel hört man in diesem Teil des Parks nichts. Selbst der Autokrach wird von den dicht bewachsenen Baumkronen und Büschen, die uns umgeben, verschlungen.

Wir setzen uns auf eine der Bänke und schauen einem Eichhörnchen zu, wie es auf einen der Bäume klettert und dann von Ast zu Ast springt.

»Was machst du in der Universität?«, frage ich Logan.

»Ach, dies und das. Meistens arbeite ich in der Bibliothek und sortiere die Bücher ein oder katalogisiere sie. Manchmal muss ich auch welche neu verleimen. Oft werde ich als Mädchen für alles missbraucht; darf für die Leute im Kreis springen, Sachen kopieren und einscannen, Kaffee kochen, Post verteilen oder Nachrichten übermitteln.«

Irgendwie klingt er teilnahmslos, als er mir das erzählt.

»Du magst deinen Job wohl nicht sonderlich? Wieso hast du ihn dann gewählt?«

»Von gewählt kann nicht die Rede sein«, sagt er.

»Verstehe ich nicht. Jane meinte zu mir, die Kinder suchen sich mit zwölf Jahren alleine ihren Beruf und so aus.«

Jetzt hält er mich bestimmt für ein naives Mädchen.

»Jane? Unsere tolle Präsidentin? Die redet immer sehr viel, wenn der Tag lang ist. Ne ne, wir füllen ein paar Fragebögen aus, machen einen Gesundheitstest, einen IQ-Test und dann wird noch ein psychologisches Analysebild erstellt. Drei Wochen später hängt dann eine Liste mit unseren neuen Anstellungen im Klassenraum aus. Klar gibt es eine Frage nach dem Motto ›In welche Richtung möchtest du ausgebildet werden?‹, jedoch wird diese zumeist ignoriert.«

»Was hättest du denn gerne gelernt?«, frage ich ihn.

Er zuckt mit seinen Schultern: »Ach, keine Ahnung. Wen interessiert das jetzt noch?« Er blickt betreten zu Boden.

»Mich interessiert es«, antworte ich ihm ehrlich.

»Hmm … Ich wäre gerne Künstler geworden. Aber das ist Schnee von gestern. Was hast du gemacht, bevor du eingefroren wurdest?«

»Ich habe studiert, hier an der Uni. Geschichte und Pädagogik. Es hat Spaß gemacht!« Ich vermisse das Studium, das Abhängen in den Freistunden, die lustigen Anekdoten der Professoren, die Vergünstigungen und nicht zu vergessen, die tollen Feten. Doch selbst wenn es mich nicht in diese Zeit verschlagen hätte, wäre das alles vorbei gewesen. Nach so einem grausamen Krieg gäbe es keine Partys mehr und die Dozenten würden auch bestimmt keine Witze mehr erzählen.

»Wieso hast du dann an diesem Experiment, oder was es war, teilgenommen? Mit deinem Studiengang scheint es ja nichts zu tun zu haben«, fragt er mich und ich erzähle ihm meine Geschichte, so, wie ich sie auch schon Jane erzählt habe.

Es ist angenehm, mit Logan zu sprechen, obwohl er sehr viel nachfragt. Aber das ist in Ordnung, es zeigt wenigstens, dass er an mir interessiert ist und zu hört.

Als wir fertig sind, gehen wir weiter durch den Park. Mir wird langsam kalt, ich zittere und streiche mir über meine nackten Arme. Logan scheint es bemerkt zu haben, denn er bietet mir sofort seine Sweatshirt Jacke an. Ich nehme sie dankend entgegen und kuschele mich in ihr warmes Futter hinein. Sie duftet nach ihm, süß und herb zugleich, wie die Bücher in der Bibliothek.

Dann fällt mir eine Frage ein, die ich ihm noch stellen will. Eine wichtige. Eigentlich ist sie nicht wichtig, doch für mich schon, obwohl ich gar nicht weiß, wieso es mich gerade so brennend interessiert. Vielleicht ist es sein Duft, der mich plötzlich wirr werden lässt.

»Bist du verheiratet? Jane meinte, alle werden zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren verheiratet«, platze ich heraus.

Logan wird ganz rot im Gesicht. Als er spricht, schaut er weg. »Ja, ja natürlich, mit Natascha. Wieso fragst du?« Er hebt eine Augenbraue und sieht mir wieder direkt in die Augen. Ich zucke mit den Schultern. »Aber wir haben nur wenige Gemeinsamkeiten. Sie hat auch einen anderen Freund.« Er wirkt traurig und beißt sich auf die Lippen. »Das darf niemand wissen«, sagt er plötzlich und greift nach meinem Arm. Ich schaue ihn verwirrt an. »Ich finde es okay. Ich habe nie wirklich etwas für sie empfunden und sie nicht für mich.« Seine Stimme klingt jetzt brüchig. Ich komme mir vor wie ein Eindringling. Ein Eindringling in seine Privatsphäre. Ich bin so dumm, neugierig und dumm.

Sein Blick ist ernst und seine Stimme gefasster, als er weiterspricht. »Das muss unser Geheimnis bleiben! Sie könnte sonst große Schwierigkeiten bekommen und das möchte ich nicht. Seit wir zusammenwohnen, ist sie wie eine Schwester. Wir unternehmen viel gemeinsam und haben einen ähnlichen Freundeskreis, aber eben auch nicht mehr.«

Er macht eine kurze Pause und wir atmen beide schwer aus. Erst jetzt spüre ich, dass der Griff um meinen Arm fester geworden ist. Offenbar bemerkt er meinen Blick, denn er lässt mich wieder los und lässt seine Schultern hängen. Weiß er überhaupt, wie krank dieses System ist? Er kennt ja nichts anderes. Niemand hier kennt etwas anderes, für die muss es doch ganz normal sein.

»Und du? Hast du einen Freund gehabt?«

Jetzt schaut er ganz verträumt und neugierig, irgendwie süß. Dieses Mal sehen seine Augen klarer aus. Sie sind definitiv grün, jetzt bin ich mir sicher.

»Nein. Also, ich hatte natürlich schon mal einen Freund, aber nicht, seit ich auf die Uni gegangen bin. Es gab ein paar Jungs, die ich nett fand, doch es wurde nie etwas Ernstes draus.«

Ich frage mich insgeheim, ob das die Antwort war, auf die er gehofft hatte.

»Passiert das häufig hier? Dass die Leute mit jemanden zusammen sind, von denen niemand etwas wissen darf?«, versuche ich, das Thema umzulenken.

»Na ja, ja schon, denke ich. Aber es ist schwierig. Man steht überall unter Beobachtung, da muss man sehr vorsichtig sein«, gesteht er.

»Wie meinst du das?«

Je mehr ich über diese Welt erfahre, desto mulmiger wird mein Gefühl ihr gegenüber. Kontrollieren sie nicht nur die Eheschließung und die Berufswahl, sondern wirklich alles? Logan unterbricht meine Gedanken.

»Hier sind überall Kameras. In den Geschäften, in allen möglichen Räumen der öffentlichen Gebäude und auch in einigen Wohnungen. Bei uns überwachen sie den Hausflur, um zu schauen, wer uns besucht.«

Ich gucke mich sofort um und halte Ausschau. Ich sehe zuerst nichts, bis mir eine kurze Lichtspiegelung in einem der Bäume auffällt. Logan scheint meinen Blick bemerkt zu haben, auch er schaut jetzt zu der kleinen Kamera hinauf. Anscheinend hat sie uns entdeckt, denn sie dreht sich langsam in unsere Richtung.

»Geh einfach weiter. Hier draußen können sie uns zum Glück nicht hören. Dafür ist es zu laut«, drängt er, ohne mich dabei anzuschauen.

Logan nimmt vorsichtig meine Hand und führt mich so unauffällig wie möglich aus dem Park heraus. Seine Hand ist wunderbar weich und warm, dennoch bemerke ich ein gewisses Verlangen in seinem Händedruck. Als er loslässt, spüre ich, wie er sanft, beinahe unmerklich, über meinen Handrücken streift. Plötzlich tanzen Schmetterlinge in meinem Bauch und mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Ich verstehe selbst nicht, was gerade mit mir los ist. Das ist doch alles total absurd! Ich kenne ihn schließlich gar nicht. Kim, reiß dich zusammen! Nur weil du 500 Jahre im einsamen Tiefschlaf lagst, musst du jetzt nicht den erst Besten anschmachten.

Logan sieht mich verstohlen an, als könne er meine Gedanken lesen.

Während wir zurück in Richtung Universität gehen, erzählt Logan mir von den Widerstandsaktionen gegen die Kontrollverordnungen. Als ich mich wieder auf seine Stimme konzentriere, fühle ich mich wie in diesem Roman, gefangen in einer durch und durch kontrollierten Welt. Mein Vater hatte das Buch in seinem Regal stehen und meinte oft, dass das auch bei uns einmal der Zustand werden wird. Wie recht er hatte, habe ich nie geahnt. Zwar gab es auch damals schon viele Kameras an öffentlichen Stellen, aber es war anders. Sie dienten zur Vorbeugung, nicht zur Bespitzelung wie hier.

Vor der Uni bleiben wir stehen und ich schließe ihn in eine flüchtige Umarmung ein. Sofort versteift er sich und nickt rüber zu einem Mann in Uniform, der nicht weit von uns entfernt vor einem Gebäude steht und zu uns sieht.

»Tschuldigung«, murmle ich und ziehe meine Hände schnell wieder von seinem Körper zurück und stecke sie in meine hinteren Hosentaschen. »Danke für den schönen Tag.«

Ich ringe mir ein verlegenes Lächeln ab und mache Anstalten, zu gehen, als Logan mich noch einmal zurück hält und nach meinem Arm greift, sodass meine Hand aus der Tasche gleitet. »Pass auf dich auf«, sagt er eindringlich und lässt mich wieder los. Meine Finger entgleiten seinem Griff und ich nicke ihm zu. Logan ist so anders, als alle jungen Männer, die ich kenne. Er ist wirklich nett und ich bin irgendwie gespannt, wie es mit uns weitergehen wird. Bei dem Gedanken daran, ihn wiederzusehen, beginnt mein Herz erneut heftig zu rumoren. Er ist genau die Ablenkung, die ich jetzt brauche.

Ich gehe die Treppen hoch in den vierten Stock in mein Zimmer. Eigentlich bin ich müde vom vielen Laufen, finde aber, dass es noch zu früh zum Schlafen ist. Auf meinem Schreibtisch liegt erneut ein Zettel. Janes Handschrift:

 

Martin ist aufgewacht. Er ist in seinem Zimmer, Nr. 409. Jane

 

Tests und Seitenstiche

 

Ich springe sofort auf und laufe den Flur hinunter. Vor der Tür bleibe ich stehen und hole tief Luft, dann klopfe ich an. Von innen ist nichts zu hören. Vielleicht schläft er. Ich bin zu aufgeregt, um länger zu warten. Ich will ihn endlich wiedersehen, sein Lachen hören, seine Finger auf meiner Haut spüren, sein Haar verwuscheln, seiner Stimme lauschen …

Beinahe geräuschlos trete ich ein. Martin sitzt an seinem Schreibtisch, den Kopf in seinen verschränkten Armen vergraben. Die blonde Mähne hängt ihm wild über die Stirn. Für einen kurzen Moment steht mein Herz still. Als er sich umdreht und aufsieht, sehe ich in feuchte Augen. Ich gehe auf ihn zu und knie mich vor ihm hin, sodass wir auf Augenhöhe sind, um ihn in den Arm zu nehmen. Sein Herz schlägt unregelmäßig, er ist genauso nervös, wie ich es war – immer noch bin. Ich lege meinen Kopf an seine warme Brust und er zieht mich fester an sich. Sein Duft, seine Wärme, sie sind wie eine Droge für mich, die ich mit letzter Kraft aufsauge. Ich genieße jede Sekunde in seinen starken Armen. Meinetwegen könnten wir ewig so verweilen. Nur er und ich – beste Freunde, die so viel mehr verbindet als die Zeit, aus der wir kommen.

Ich weiß nicht, wie lange wir Arm in Arm dort saßen, aber irgendwann tun mir meine Knie so weh, dass ich aufstehen muss. Ich setze mich auf sein Bett und Martin zieht sich daneben. Erst jetzt erkenne ich, dass er in einem Rollstuhl sitzt. Mit dem Fuß schiebt er ihn ein Stück zur Seite, sodass seine Beine genügend Platz vor der Matratze haben.

»Wie lange bist du schon hier?«, fragt er mich. Seine Stimme ist kratzig und rau, ganz anders, als ich es gewohnt bin.

»Seit einer Woche. Ich bin die Erste, die aus dem Koma erwacht ist.« Ich nehme seine Hand in meine und umspiele seinen Handrücken mit meinem Daumen. »Hat dir Jane schon alles über diese Welt erzählt?« Jetzt klingt meine Stimme beinahe genauso kratzig wie seine.

Er zuckt fast unmerklich mit den Schultern, nickt dann aber.»Ja, ich glaube schon, was hältst du von ihr?«

»Dieser Welt hier oder Jane?«, frage ich und beiße mir auf die Lippe. Ich verachte beide. »Von beiden nicht viel. Lass uns besser nicht drinnen reden, zieh dir eine Jacke an und wir gehen ein bisschen spazieren.«

Er nickt. Ich gehe zum Kleiderschrank und werfe ihm einen Parka über.

»Was ist mit deinen Beinen?«, frage ich, als ich wieder zurück komme und ihm in den Rollstuhl helfe. Er nimmt die Geste nur ungerne an, das sehe ich sofort an seinem verzerrten Gesichtsausdruck. Martin war immer wie ein Held für mich, ein Fels in der Brandung. Er war nicht so ein Bär wie Jeff, seine Stärke kam von innenheraus.

»Muskelabbau«, antwortet er knapp. »Jane meint, in zwei, drei Tagen dürfte es wieder gehen. Ich bin bloß ein paar Mal umgeknickt heute Morgen.«

»Ja, ging mir ganz ähnlich.« Ich schiebe ihn aus dem Zimmer und den Flur entlang zum Aufzug. Endlich habe ich meinen Martin wieder, endlich!

 

Wir spazieren die Straße vor der Uni entlang. Das heißt, ich schiebe ihn, während er gemütlich die Beine hochlegen kann.

Jetzt, wo ich es weiß, fallen mir tatsächlich immer mehr Kameras auf, beinahe an jeder Ecke hängen welche; Logan hat nicht übertrieben. Da der Feierabendverkehr gerade begonnen hat, ist es jedoch zu laut, als dass man uns groß belauschen könnte. Ich kenne mich immer noch nicht wirklich in der Stadt aus, also gehen wir einfach kreuz und quer durch ein paar kleine Gässchen, jedoch nie zu weit weg von der Hauptstraße entfernt. Mehrfamilienhäuser in eintöniger Aufmachung reihen sich Wand an Wand. Es ist alles ganz anders, als gewohnt. Ein paar der Straßen gibt es noch, sie tragen sogar dieselben Namen wie früher. Nicht weit von hier dürfte unser erstes Haus gestanden haben, ehe wir ein Stück weit nach Außerhalb gezogen sind. James meinte, dort stände schon seit seiner Kindheit eine kleine Fabrik.

Martin erzählt mir, wie er aufgewacht ist. Ich genieße es, ihm zuzuhören und für ihn da zu sein. Offensichtlich ist er schon einige Stunden wach. Jane stritt sich gerade mit einem Mann, Martins Beschreibung nach könnte es James gewesen sein, als er die Augen öffnete. Jane wollte ihn direkt auf sein Zimmer schicken, doch dann ist er gestürzt und man übergab ihm den Rollstuhl. Inzwischen scheint er es zu genießen, herumgeschoben zu werden. So hätte ich ihn gar nicht eingeschätzt. Immer wieder legt er den Kopf in den Nacken und lächelt den abendlichen Sonnenstrahlen, die auf seine blasse Haut fallen, entgegen. Sein Gesicht ist ähnlich eingefallen wie meines. Hätte ich gewusst, wie scheiße man sich nach so einer Kryostase fühlt, hätte ich den ganzen Mist wohl gelassen.

Wir steuern geradewegs auf ein Eiscafé zu. Ich habe einen Riesenhunger nach dem vielen Gelaufe und hole mir eine extra große Portion mit einer meiner Rationsmarken. Kokos und Pistazie, da könnte ich drinnen baden, so gerne esse ich das. Wobei es sicherlich nur künstliche Aromen enthält. Ich glaube nicht, dass sie südländische Nüsse hier anbauen können. Martin möchte keins. Die Kryostase und das Koma nahmen ihn mehr mit als mich. Kein Wunder, dass er so erschöpft ist, er musste viel länger künstlich ernährt werden.

Als wir weitergehen, erzähle ich ihm von Logan und den unglücklichen Pärchen, die heimlich andere, richtige Beziehungen führen müssen, und von den Kameras. Ich kenne und vertraue Martin, ich weiß, dass er niemandem etwas sagen wird. Es tut so gut, ihn wieder an meiner Seite zu wissen - seine Grübchen beim Lachen anzusehen und einfach jemanden zum Reden zu haben.

Als wir fertig sind, zeigt er auf eine Sitzbank. Sie steht abseits der Straße neben einer Baustelle. Mit ernstem Blick sieht er mich an, als lodere ein eisiges Feuer in seinen blauen Augen. »Setz dich, ich muss dir etwas zeigen. Hier wird uns wohl keiner hören können bei dem Krach.«

Trotz des Lärms beugt er sich zu mir herüber, sodass ich seinen warmen Atem direkt auf meiner Haut spüren kann. Ein Prickeln breitet sich auf meinem ganzen Körper aus und lässt mich erschaudern. Was kann er an seinem ersten Tag bereits entdeckt haben?

»Ich bin nicht erst heute Morgen aufgewacht, sondern schon vor einigen Tagen das erste Mal«, flüstert er mir aufgeregt zu.

Ich reiße die Augen auf und sehe ihn verwirrt an. Wie meint er das?

Seine Stimme ist nervös und angespannt. Er nimmt meine Hand und führt sie unauffällig zu einer Stelle über seinem Knöchel. Das macht mich wiederum nervös. Seine Haut ist dort ganz kalt, kleine Härchen stellen sich bei der Berührung auf meinem Arm auf. Ich streichle über die Stelle, die er mir zeigt.

»Spürst du das? Ich weiß nicht, was sie mir da genau eingesetzt haben, aber ich glaube, es ist eine Art Chip. Vielleicht zum Orten oder so. Als ich aufgewacht bin, operierten sie mich gerade. Mein Bein war ganz taub. Vor mir hing ein Bildschirm, auf dem ich genau sehen konnte, wie sie mir etwas ins Bein einsetzten. Du hast doch diesen kleinen Knubbel gespürt, oder? Wenn man nicht weiß, dass er da ist, bemerkt man ihn gar nicht.«

Ich beuge mich nach vorne und tue so, als würde ich mir die Schuhe neu schnüren, dabei betaste ich mein Schienbein. Tatsächlich, da ist ein winziger Hubbel. Von außen ist er nicht sichtbar und man fühlt ihn nur ganz leicht. Ich schaue an meinem anderen Bein nach. Dort ist nichts zu finden, alles glatt. Na ja, fast, ich muss mich dringend mal rasieren. Ich hoffe, niemand hat meine Stoppelbeine zu sehen gekriegt.

 

Als wir zwei Wochen später die Treppen zu unserem Stockwerk hochlaufen, krachen wir beinahe mit Jane zusammen.

»Ahh, da seid ihr beide ja. Perfekt! Ich wollte euch gerade zu euren Berufswahltests abholen.«

Hää? Jetzt schon? Martin und ich schauen uns mit großen Augen an. Ist das wirklich ihr Ernst? Jane scheint unsere Reaktion nicht mitbekommen zu haben, denn während wir ihr hinunter in Richtung Krankenstation folgen, plappert sie munter weiter und erläutert das Verfahren.

»Ihr werdet heute Abend nur den obligatorischen Fragebogen ausfüllen. Morgen früh erscheint ihr bitte pünktlich um zehn Uhr auf der Teststation in Gebäude drei, Raum 217. Dort absolviert ihr einen körperlichen Test, anschließend untersuchen wir euch auf einige gesundheitliche Einschränkungen. Da ihr beide für dieses Kryonikprogramm ausgewählt wurdet, gehe ich jedoch davon aus, dass ihr bestens in Form seid. Dennoch besteht die Möglichkeit, dass der kryogene Schlaf kleine, nicht sichtbare Schäden bei euch hinterlassen hat. Nach der Mittagspause erscheint ihr bitte in meinem Büro, wo ich eure Intelligenztests begleiten werde. Den Abend habt ihr natürlich frei.«

Auf der Krankenstation führt uns Jane in einen kleinen Raum, der mich stark an ein Klassenzimmer erinnert. Ich vermute, dass hier entweder kranke Kinder unterrichtet oder die Schwestern ausgebildet werden. An den Wänden hängen mehrere Bilder und Lehrposter und auch die Tische sind wie in der Schule strikt hintereinander angeordnet. Auf den meisten Postern sind Teile des menschlichen Körpers, inklusive ihrer Beschriftungen, abgebildet. Ein Poster befasst sich jedoch auch mit dem Nutzen von Heilpflanzen und ein anderes zeigt verschiedene Erste-Hilfe-Maßnahmen. Ein ganz ähnliches Poster hing damals auch bei uns im Institutsgebäude, direkt neben dem Defibrillator.

Jane bittet uns, uns vorne an zwei der Tische zu setzen. Die Tafel ist eine normale, grüne Schiefertafel, wie sie schon meine Großeltern kannten. Ich bin etwas verwundert über den Mangel an Technologie in diesem Klassenzimmer. So habe ich mir die Zukunft eigentlich nicht vorgestellt. Als sich Jane jedoch an das Pult vor uns setzt, drückt sie einen kleinen Knopf und das Tafelbild ändert sich zu einem weißen Bildschirm, der die Regeln erläutert. Ich überfliege sie:

 

1.      Verhalte dich während des Ausfüllens des Ausbildungsbogens ruhig und verlasse nicht deinen Platz.

2.      Der Ausbildungsbogen darf nur mit dem beigelegten Stift ausgefüllt werden. Solltest du eine falsche Antwort angekreuzt haben, bekommst du auf Anfrage hin einen neuen Bogen. Gib dafür die Seitenzahl des Bogens an. Durchgestrichene Antworten können nicht ausgewertet werden.

3.      Der Ausbildungsbogen wird digital ausgewertet. Achte auf akkurate Kreuze.

4.      Gib ausschließlich deine eigene Meinung und nur Wahres an. Sollte sich herausstellen, dass dein Bogen nicht wahrheitsgemäß ausgefüllt wurde, musst du mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen.

5.      Die Ergebnisse des Ausbildungsbogens werden dir circa drei Wochen nach Abschluss des Intelligenztestes mitgeteilt.

 

Während ich immer noch erstaunt über die verwandelte Tafel bin, lese ich mir die Regeln rasch durch.

Jane tritt vor und gibt jedem von uns einen weißen, dicken Briefumschlag und einen schwarzen Stift.

»Darin sind eure Fragebögen enthalten. Bitte beantwortet alle Fragen wahrheitsgemäß und gewissenhaft, denn auf ihnen wird eure Zukunft aufbauen. Ihr könnt nun eure Umschläge öffnen«, erklärt sie uns förmlich und ohne eine Miene zu verziehen.

Die Fragen überfliege ich. Im ersten Teil geht es um meine Familiengeschichte, im zweiten dagegen um meine bisherigen beruflichen Erfahrungen. Der dritte Teil befasst sich mit meinen Hobbys und Fähigkeiten, im letzten soll ich meine persönliche Wunschausbildung angeben und die Entscheidung durch das Ankreuzen von verschiedenen Begründungen erklären.

Verdammt, in diesem Moment ärgere ich mich richtig, das Buch zur Kuppel noch nicht gelesen zu haben. Bestimmt wurden dort einige Ausführungen zu den einzelnen Ausbildungseinrichtungen und deren Chancen erläutert. Die ganze Zeit schon wartete es oben auf meinem Schreibtisch darauf gelesen zu werden, während ich meine Zeit lieber mit Martin verbracht habe.

Tief durchatmen!. Außerdem weiß ich nicht, für welchen Beruf sich Martin entscheiden wird. Ich kann mir nicht vorstellen, schon wieder von ihm getrennt zu werden. Und dann ist da noch Logan … Noch ehe ich einem Beruf zugeteilt werde, bin ich bereits am Verzweifeln, na super!

Meine Hand schnellt in die Höhe.

»Keine Fragen, Kim!« Jane schaut streng zu uns herüber. Was haben wir ihr denn bitte getan, dass sie plötzlich so unwirsch ist?

Ich schaue zu meinem Bogen herunter und setze die ersten Kreuze. Zur familiären Geschichte gibt es nicht viel zu sagen bei mir, daher kann ich diesen Teil schnell beantworten.

Beim zweiten Teil sieht es ähnlich aus. Während der Schule habe ich nebenbei in einem kleinen Café gejobbt und war babysitten, danach bin ich direkt auf die Universität gegangen, um Geschichte und Pädagogik zu studieren. Auch dort habe ich nebenbei gekellnert und Sportkurse für Kinder geleitet. Also alles nichts Besonderes.

Mit dem dritten Teil des Fragebogens tue ich mich schwerer als gedacht. Früher habe ich viel Sport gemacht, Handball gespielt, bin regelmäßig Laufen gegangen, hatte eine Zeit lang sogar Tanzstunden und habe in meinem letzten Schuljahr bei einer Trampolin AG mitgemacht. Doch anscheinend hält man hier nicht viel von sportlichen Aktivitäten. Zumindest kann ich außer Krafttraining nichts dergleichen ankreuzen, also setze ich meine Kreuze weiter unten bei Lesen und Zeichnen, da ansonsten nichts Passendes dabei ist. Wer gibt schon Blütenblättersammeln oder Kartoffelstempelschnitzen als Antwort an? Manche Möglichkeiten sind wirklich skurril.

Als letztes kommt die Frage aller Fragen und ich habe keine Idee, in welchen Ausbildungsbereich ich am besten passen würde. Da ich früher viel mit Kindern zu tun hatte, beschließe ich, ein Kreuz bei Pädagogik zu setzen. Da die Schul- und Kinderunterbringungsstätten alle in der Nähe sind, hoffe ich, hier bleiben zu dürfen.

Als wir fertig sind, stecken wir die Bögen zurück in die Umschläge und geben sie Jane, die uns noch einmal ermahnt, morgen pünktlich zu sein und uns den Weg zu Gebäude drei erklärt. Erst, als wir aus der Gefahrenzone raus sind, frage ich Martin, was er im letzten Teil angekreuzt hat.

»Na, Naturwissenschaft, was denn sonst? Ich kann doch nichts anderes«, lacht er. »Außerdem kann ich so an der Uni bleiben. Das willst du doch, oder?« Plötzlich liegt Angst in seiner Stimme und ich drücke seine Hand.

»Klar, was denn sonst? Ich finde es total unfair, dass sie uns den Test gleich nach den ersten Wochen machen lassen. Wir kennen hier doch gar nichts.«

»Wahrscheinlich ist es genau das, was sie vorhaben. Sie wollen uns verunsichern. Zumindest bei mir hat dies auch geklappt«, gesteht er und wechselt dann das Thema. »Na ja, ich bin ziemlich müde. Soll ich dich morgen früh zum Frühstücken abholen?«

Wir stehen bereits in unserem Gang. Es muss schon recht spät sein; durch die tiefen Fenster im Treppenhaus dringt lediglich der helle Schein der Straßenlaternen herein.

»Ja gerne, klopf dann einfach, ich versuche, fertig zu sein. Schlaf gut«, verabschiede ich mich von ihm.

»Ich werde es versuchen«, antwortet er grinsend und umarmt mich. Ich nehme die Umarmung dankbar an und ziehe mich mit einem letzten Blick über die Schulter zu ihm in mein Zimmer zurück.

 

In dieser Nacht träume ich wieder schlecht. Ich werde verfolgt und muss um mein Leben rennen. Leute in grauen Uniformen laufen hinter mir her. Überall höre ich Schüsse und Schreie. Plötzlich stolpere ich. Ein Schädel rollt neben mich. Ich erwache mit Herzrasen.

Schweißgebadet stehe ich auf und schleiche nach nebenan. Ich habe keine Ahnung, ob mir das überhaupt gestattet ist, doch ich brauche ihn.

Die Tür öffnet lautlos und ich blicke hindurch. Martin liegt mit dem Blick zum Fenster. Die Vorhänge sind nicht geschlossen und in der Ferne zeichnet sich der schwache Schimmer einiger Sterne ab. »Martin. Psst, Martin? Darf ich bei dir schlafen? Bitte«, flüstere ich ihm durch den Türspalt zu. Er wällst sich kurz herum und murmelt etwas, ehe er offenbar bemerkt, dass ich an der Tür stehe. Dann dreht er sich ganz zu mir um und schlägt die Decke zur Seite. Überrascht stelle ich fest, dass er nicht mehr als eine Boxershorts trägt. Offensichtlich hat er in den letzten zwei Wochen viel trainiert. Sein Oberkörper sieht beinahe genauso makellos aus, wie ich es gewohnt bin.

Martin gähnt: »Klar Süße, leg dich hin, hast wohl schlecht geträumt, hmm?« Er rutscht ein paar Zentimeter zur Seite und klopft auf den frei gewordenen Platz.

»Ja. Dankeschön«, sage ich verträumt, lege mich neben ihn und gebe ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. Ich kuschele mich an ihn und er schlingt seinen Arm um meine Hüfte. Bei ihm fühle ich mich beschützt. Während ich langsam wieder einschlafe, spüre ich noch, wie Martin näher an mich rückt. Diese Geborgenheit tut einfach gut, ich lag lange mit keinem Jungen mehr so da.

 

Gebäude drei ist groß, hässlich und grau. Innen sieht es aus wie eine Raumstation. Die Flure sind mit einem grausigen, grünen Teppich ausgelegt und die Wände gelb und grau bemalt.

Unser Testraum ist da etwas angenehmer anzusehen. Überall stehen in dem fensterlosen Raum verschiedenste Geräte mit tausenden von Displays und Schläuchen herum, während Leute in weißen Kitteln zwischen ihnen herumwuseln und hektische Rufe austeilen.

Neben uns werden noch fünf weitere Jugendliche getestet; sie sitzen auf Fahrrad-Hometrainern oder liegen in komischen Röhren. Einer ist einfach nur an einem Computer angeschlossen und döst vor sich hin.

Eine ältere Frau tritt vor und streckt uns ihre Hand entgegen. Für ihr Alter sieht sie mit ihren lila Haaren viel zu flippig aus, als dass ich sie wirklich ernst nehmen kann.

»Ich bin Felicitas und werde euch beide heute betreuen. Ihr müsst keine Angst haben, die Tests sind eigentlich ziemlich harmlos«, beschwichtigt sie uns mit ihrer fröhlichen Stimme.

Martin und ich ziehen unsere Augenbrauen hoch. Eigentlich ziemlich harmlos? Na da bin ich aber mal gespannt.

Als Erstes drückt Felicitas jedem von uns einen kleinen Plastikbecher in die Hand und weist uns den Weg mit einem »Viel Spaß!« zur nächsten Toilette.

Nach der Pipi-Pause dürfen wir uns direkt sportlich betätigen und sollen auf einem der Hometrainer Fahrrad fahren. Der Sitz ist viel zu schmal für mich und ich muss mich richtig nach vorne beugen, um voranzukommen. Alle zwei Minuten schaltet sich die Schwierigkeitsstufe einen Gang höher, so als würde man einen immer steiler werdenden Berg hinauffahren. Um unsere Herzfrequenz zu messen, kleben sie uns mehrere kalte Elektroden an den Rücken. Ich hasse diese Dinger!

Verdammt, bin ich eingerostet! Nach Luft hechelnd und die Hände in die Seiten drückend, gebe ich nach nur vierundzwanzig Minuten auf. Ich bin so kaputt, dass ich bei Stufe zwölf von zwanzig abbrechen muss. Martin schafft es sogar noch sechs weiter, bis er sich einfach seitwärts vom Sattel kippen lässt. Ich grinse ihn an. Obwohl ich total kaputt bin, tut es mir einfach gut endlich wieder Sport zu treiben, mich noch einmal so richtig auspowern zu können.

Wir blicken erschöpft auf und sehen, wie Felicitas von ihrem Rundgang zu den anderen Testpersonen wiederkommt und uns zu sich winkt. Bitte nicht noch mehr! Ich bin echt fertig mit der Welt.

Eine wirkliche Pause lässt man uns nicht. Wir dürfen lediglich ein paar Schlucke Wasser trinken, dann müssen wir zur anderen Seite des Raumes gehen und einen Kraftzirkel absolvieren. Dieses Mal wird jedoch nur der Puls vor und nach dem Training gemessen und wie viele Einheiten wir jeweils an einer Station schaffen.

Wie immer schlägt mich Martin auch hier in allem. Dennoch glaube ich nicht, dass ich schlecht war. Wer bei diesen Tests gut abschneidet, muss bestimmt zum Militär. Hechelnd grinst Martin mir zu.

»Findest du diese Folter etwa lustig?« Ich starre ihn entrüstet an.

»Ne, aber du siehst echt lustig aus, wenn du dich so abmühst.« Arschloch!

»Jaja, du mich auch.«

Ich lasse mich neben ihn auf die Matte plumpsen. Ich triefe vor Schweiß. Das ist so eklig! Mein Kopf sinkt an sein nasses Baumwollshirt und ich schaue ihm beim Trinken zu. Meine Flasche ist bereits leer, doch wir bekommen nichts Neues. Gleich kommt endlich der entspannte Teil, denn wir werden an den Computer angeschlossen. Der Junge von eben ist derweil in ein Untersuchungszimmer nebenan gegangen.

»Diese Maschine ist ein kleines Multifunktionstalent«, erklärt Felicitas, während sie uns bunte Manschetten um die Hand- und Fußgelenke und sogar eine um den Kopf herum legt.

»Ihr braucht einfach nur ruhig zu liegen und der Computer misst die verschiedensten Dinge bei euch. Er erkennt genau euer Wohlempfinden, filtert euren Mineraliengehalt heraus, erkennt Allergien und jegliche Störungen eures Immunsystems.« Dann muss sie plötzlich laut auflachen. »Wenn das mit den Entwicklungen so weitergeht, sind wir bald alle arbeitslos.«

Es ist wirklich entspannend, einfach mal nichts tun zu müssen. Die Manschetten liegen locker um die Gelenke, tatsächlich spüre ich sie kaum.

Ich schließe die Augen und denke an die Nacht zurück, so nah waren wir uns noch nie. Ob wohl mehr daraus wird? Ich mag es, ihn so um mich zu haben. Mit ihm zu lachen und über alte Zeiten zu reden. Mit Logan kann ich das nicht.

Die letzten zwei Wochen habe ich Logan kaum gesehen. Nur einmal kurz auf dem Flur und da sagte er, er müsse sich beeilen. Abends hatte ich dann einen Zettel auf meinem Tisch liegen, mit einer Entschuldigung. Er meinte, er müsse wieder mit Jane hinausfahren und ihr assistieren. Er glaubt, sie will ihn im Auge behalten. Manchmal vermisse ich die unbeschwerten Stunden mit Logan, vor allem dann, wenn Martin zu James muss und ich nicht bei ihm sein kann.

Mittlerweile ist es ganz ungewohnt für mich, tagsüber alleine zu sein. Martin versucht so viel Zeit wie möglich mit mir zu verbringen, meistens gehen wir in den Park oder erkunden die kleinen Gassen. Ich kenne mich schon ganz gut hier aus und weiß, wo man uns beobachten kann und wo wir für uns sind. Oft habe ich das Gefühl, Jane schnüffelt uns hinterher. Regelmäßig stoßen wir auf sie ohne irgendeinen Grund.

Die Zeit der Ruhe ist viel zu schnell vorbei und wir müssen zur allgemeinen gesundheitlichen Untersuchung.

»Wo wollen wir uns treffen, falls einer früher fertig wird? Vor dem Gebäude am Brunnen?«, frage ich Martin, während uns Felicitas zu den Nachbarräumen führt.

Martin nickt nur, dann tritt er durch die linke und ich durch die rechte Tür.

Drinnen stellt sich mir erneut eine Assistentin vor: Marianna. Marianna dürfte bereits auf die Siebzig zugehen und so dynamisch wie sie sich noch verhält, wäre sie bestimmt toll mit meiner Großmutter klargekommen. Sie bittet mich, Platz zu nehmen, damit sie mir Blut abnehmen kann. Ich bin kein großer Fan von Arztbesuchen und wäre Dr. Fortner damals nicht so freundlich gewesen, wer weiß, ob ich bei all den Testverfahren so fleißig mitgezogen hätte.

Sie trifft direkt die richtige Vene und schickt mich als nächstes auf die Waage. Ich habe abgenommen seit dem letzten Mal, als ich vor knapp fünfhundert Jahren von Dr. Fortner gewogen wurde; fast neun Kilo sind weg, obwohl ich sowieso schon immer recht dünn war. Anschließend wird meine Größe gemessen und ich werde einmal rundum begutachtet.

Danach herrscht ein kurzes peinliches Schweigen meinerseits, als sie mich nach meinem Zyklus und meinem bisherigen Sexualleben fragt. Als ich Marianne frage, ob sie mir nun eine Eizelle zur Untersuchung meiner Fruchtbarkeit entnehmen muss, lacht sie auf. »Kind, wir sind doch nicht mehr in den Siebzigern, das geht heute viel einfacher mit einer Urinprobe.« Erleichterung durchströmt mich.

Die Untersuchung geht letztendlich schneller vorbei als gedacht und ich vergesse während des Plauderns mit Marianna beinahe, worum es bei dem Ganzen eigentlich geht.

Als ich das Gebäude verschwitzt und mit schmerzenden Gelenken verlasse, sitzt Martin bereits vor dem schönen Marmorbrunnen, in dessen Mitte ein steinernes Abbild unseres Sonnensystems steht. Ich gehe zu ihm und setze mich auf den Brunnenrand, ziehe Schuhe und Socken aus und strecke die Füße in das kalte Wasser hinein. Entspannt lehne ich mich zurück und genieße die Sonnenstrahlen, die mein Gesicht erwärmen.

»War gar nicht so schlimm, ne?«, fragt Martin und schaut mich lächelnd an.

»Ja, ging schon. Ich habe es mir anstrengender vorgestellt. Ich wusste gar nicht, dass so viele Muckis in dir stecken«, necke ich ihn.

»Sagt die Richtige. Du hast echt gut mitgehalten!«, kontert er und ich schaue geschmeichelt zum Boden.

Plötzlich schrecke ich auf und greife instinktiv seine Hand. Auf der anderen Seite des Hofes steht ein älterer Herr und sieht uns entrüstet an. Ein lautes »HEY!« geht von ihm aus und er hebt seinen Arm. Ich klammere mich an Martin. Was will der Kerl von uns? Während er auf uns zukommt, stolpert er beinahe über den Krückstock in seiner anderen Hand. »Füße sofort aus dem Wasser! Das ist doch keine Badewanne!« Erleichtert atme ich aus und ziehe erschrocken meine Füße aus dem Brunnen. Der Mann dreht sich wieder um und geht kopfschüttelnd weiter, während Martin bereits in haltloses Gelächter ausbricht. Sein Lachen ist so ansteckend, dass ich mit einsteigen muss.

»Oh Mann, manches wird sich wohl niemals ändern. Komm, zieh dich an, ich hab’ einen tierischen Hunger. Hoffentlich gibt’s etwas Vernünftiges.«

Er springt auf und zieht mich mit hoch. Seine Hände sind weich und warm, gar nicht mehr verschwitzt. Ich könnte den ganzen Tag mit ihm das schöne Wetter genießen, doch nachher steht uns noch eine weitere Aufgabe bevor. Hand in Hand und immer noch grinsend schlendern wir zurück zur Universitätsmensa.

Tatsächlich gibt es heute etwas schön Deftiges zum Mittag, sodass die Anstrengungen des Morgens wie weggeblasen erscheinen: Hirschgulasch mit Spätzle und ein knubbliges Gemüse, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Sieht aus, als würden wir Gehirne essen. Igitt!

Martin muss bei meinem Gesichtsausdruck die ganze Zeit über glucksen, sodass auch ich irgendwann in sein Lachen einstimme; ich sagte ja, ansteckend.

Nach dem Essen suchen wir Jane auf, um unserer letzten Hürde entgegenzutreten. Dieses Mal sitzt sie an ihrem Schreibtisch und tippt hastig etwas auf ihr Screenflat ein. Als wir eintreten, springt sie erschrocken auf und begrüßt uns fast so, als hätten wir sie bei etwas Wichtigem gestört.

»Hallo, ihr beiden. Na, seid ihr bereit für euren letzten Test? Ich werde dafür wieder in das Schwesternzimmer mit euch gehen. Die Tests füllt ihr dieses Mal auf einem unserer Screenflats aus, da bei jeder Frage die Zeit mitgemessen wird. Für die Antworten habt ihr maximal zwei Stunden Zeit. Wenn ihr einmal eine Antwort bestätigt habt, könnt ihr diese nicht mehr korrigieren. Habt ihr das alles verstanden?«, fragt sie uns gestresst und drängt uns den Flur herunter.

Wir folgen ihr in den Klassenraum.

Das Screenflat liegt so leicht und dünn wie Papier in meiner Hand, dass ich beinahe Angst habe, es zu zerbrechen. Jane garantiert mir jedoch, dass dies unmöglich sei.

Um den Test zu starten, müssen wir lediglich unseren Namen und unser Geburtsdatum eingeben, dann geht es los.

Als Erstes müssen wir Zahlenreihen vervollständigen. Bei 2-6-10-14… ist das noch ganz einfach, doch dann wird es immer schwieriger. Bei der letzten Zahlenreihe 2-5-10-17-28-41-… kann ich nur noch raten und schreibe einfach irgendeine Zahl hin.

Danach sind die Würfeltests dran und ich muss mehreren Würfeln die richtigen Seiten zuordnen. Das schaffe ich zum Glück problemlos.

Die nächste Aufgabe lautet Gegensatzpaare bilden und auch das ist kein Problem. Bisher ist der Test genauso aufgebaut wie der, den wir im Kryotestverfahren lösen mussten. Damals hatte ich immerhin siebenundneunzig Prozent richtig, dieses Mal wird es wahrscheinlich nicht so toll aussehen. Bestimmt sind ein paar meiner Gehirnzellen noch eingefroren und überwintern bis zum nächsten Frühling.

Im zweiten Teil wird es schwieriger, da wir dort in »Beruflicher Allgemeinbildung« getestet werden. Hierzu muss ich Kräuter und Pflanzen mithilfe der Abbildungen bestimmen, die verschiedenen Organe und Blutbahnen des Menschen beschriften, die einzelnen Sedimentschichten auf einer Tagebauabbildung bezeichnen und noch sehr viel anderes Zeug bestimmen, von dem ich absolut keine Ahnung habe.

Da ich beinahe fertig bin, genehmige ich mir einen kleinen Blick zu Martin herüber. Sein Blick ist angestrengt. Wenn er sich noch mehr konzentriert, wirft seine Stirn bald dauerhaft Falten. Offenbar hat auch er große Probleme mit den berufsspezifischen Fragen.

Nach gut neunzig Minuten gebe ich meinen Test ab und verlasse ruhig den Raum. Martin kommt etwa fünf Minuten später genervt raus.

»Bis auf das mit dem Körper konnte ich keine einzige der Fragen vernünftig beantworten … Wie sah es bei dir aus?« Seine Stimme ist gereizt.

»Genauso. Konntest du die letzte Zahlenreihe lösen? Da habe ich nur geraten.«

»Ja, die war einfach. Man musste einfach nur die Primzahlen dazu addieren. Ist jetzt aber auch egal. Wollen wir noch etwas auf mein Zimmer gehen?«, fragt er mich freundlicher.

Auf die Primzahlen hätte ich auch kommen können, das ärgert mich jetzt wirklich.

Martin sieht mich gestresst und müde an, sein Lachen ist verschwunden, offenbar verbraucht vom anstrengenden Tag.

»Ehrlich gesagt bin ich ziemlich müde. Der Tag war doch recht anstrengend und mir tut alles weh. Wenn du willst, können wir uns morgen treffen. Du kannst ja klopfen, wenn du wach bist«, schlage ich ihm vor.

Als ich in meinem Zimmer stehe, fällt mein Blick irgendwann auf Logans Jacke, ich hatte sie heute morgen aus dem Schrank geholt und über den Stuhl geschmissen, um sie ihm heute Abend wiederzugeben. Jetzt, wo das Testverfahren durch ist, wäre der perfekte Zeitpunkt dafür. So habe ich auch endlich mal ein bisschen was zu erzählen. Sonst redete er die meiste Zeit.

Leise schleiche ich runter in die Bibliothek, in der Hoffnung, Logan dort wiederzusehen.

 

Geheimnisse am See

 

In der Bibliothek ist niemand, nicht einmal die Bibliothekarin. Ich setze mich mit einer Ausgabe von der Geschichte der Kuppelgesellschaft in einen der gemütlichen Sessel und beginne, im Inhaltsverzeichnis zu stöbern. Ich hätte dieses Buch wirklich schon eher lesen sollen, dann hätte ich gewusst, dass neben den Intelligenzfragen auch berufsspezifische drankommen würden.

Auf einer der Seiten erblicke ich die gleiche Karte, die mir Jane bereits auf dem Screenflat gezeigt hatte. Auf der nächsten Seite ist dieselbe Karte zusammen mit Eisenbahnlinien eingezeichnet. Züge fahren hier also auch. Ich stelle sie mir hochmodern vor, bestimmt fahren sie viel schneller als unsere damals. Vielleicht sind es sogar Magnetschwebebahnen und gar keine richtigen Loks mehr.

Weiter hinten im Buch stehen Angaben zur Kuppel selbst. Sie besteht aus einem von außen generierten Plasmafeld, das wahrscheinlich von der husanischen Regierung in Auftrag gegeben wurde. Manchmal soll man die Plasmafelder sogar erkennen können, wenn die Sonnenstrahlen in einem bestimmten Winkel auf diese fallen.

Weil man die Kuppel so schlecht erkennt und ihre Stromschläge tödlich enden, ist sie durch eine Mauer von den Straßen abgegrenzt. So kann niemand versehentlich in sie hineinlaufen.

Außerdem ist der gesamte Luftverkehr innerhalb der Kuppel gesperrt. Vernünftig, wie ich finde. Außerhalb der Kuppel wurden jedoch schon einige Flugzeuge gesichtet. Ich vermute, dass sie eine spezielle Technik besitzen, um nicht mit dem Plasmafeld zu kollidieren.

Interessant finde ich auch, dass anscheinend alle nicht festen Stoffe problemlos durch das Plasma dringen können. Keine Ahnung, wie das funktioniert.

Als ich weiterblättere, erklingt leises Gelächter hinter mir. Logan und die Bibliothekarin müssen das sein. Ich drehe mich um.

»… und sie hat ihn wirklich angeschrien?«, fragt die rüstige Bibliothekarin Logan und lässt ein kurzes Lachen erschallen.

»Ja! Richtig laut. Ich habe sie schon oft gereizt erlebt, wenn ich ihr nicht schnell genug den Kaffee gebracht habe, aber so? Ich frage mich, was er angestellt hat. Bestimmt nur irgendetwas Belangloses. Jane ist in letzter Zeit sowieso total gestresst. Ich vermute ja, dass sie Stress von der Inneren bekommt.« Die beiden beginnen hämisch zu lachen.

»Ja, das kann schon sein. Es heißt, viele seien unzufrieden mit ihr. Man befürchtet eine Revolte, vielleicht sogar einen Putsch. Aber so, wie ich die alte Jane kenne, wird sie schon die Richtigen finden, die sie bestechen kann«, sagt die Bibliothekarin ernst und fängt dann doch wieder an zu kichern.

»Hey, Kim, suchst du mich?«, fragt Logan, als er mich endlich entdeckt.

»Ja, ich wollte dir von unseren Tests berichten«, sage ich aufgeregt und halte ihm die Jacke hin. Mein Herz macht beim Gedanken daran, alles gut überstanden zu haben und endlich wieder Zeit mit Logan verbringen zu können einen kleinen Hüpfer.

Er grinst der Bibliothekarin zu, setzt sich zu mir auf die Sessellehne und legt mir die Hand auf die Schulter. Ein kleiner Schauer läuft mir bei seiner Berührung über den Rücken.

»Unseren?«, fragt er mich mit verwirrtem Blick. Dann fällt mir ein, dass er noch gar nichts von Martin weiß. Wie wird er wohl auf ihn reagieren?

»Ja, erzähle ich dir gleich. Wann hast du hier Schluss?«

»Maxime, kannst du den Rest des Tages für mich übernehmen?«, ruft er über seine Schulter hinweg der Bibliothekarin entgegen und sie streckt ihm zuzwinkernd den Daumen nach oben.

»Perfekt«, sagt er grinsend. »Ich muss nur noch schnell ein paar Bücher zurückstellen.« Hoffentlich verstehen sich die beiden, irgendwann werden sie sich ja unweigerlich kennenlernen müssen. Ein bisschen graut es mir davor, mit beiden zeitgleich Zeit zu verbringen, während sie mein Herz doch beide flattern lassen und Schmetterlinge durch meinen Körper jagen, ohne dass ich selbst es wirklich verstehe.

 

Draußen ist es kalt geworden und ich raffe meine Kleidung enger an mich. Dieses Mal gehen wir nicht in den Park. Stattdessen setzen wir uns an einen künstlich angelegten Bach und beobachten die vielen, kleinen Steinbeißer, die in ihm herumwuseln.

»Als Kind habe ich die immer gefangen«, erzähle ich Logan. »Wir hatten einen kleinen Bach, der in einen Weiher mündete, neben der Schule. Im Sommer haben wir dort immer gegrillt und gespielt. Einmal habe ich zwanzig Stück von ihnen mit nach Hause gebracht. Mutter wollte sie braten, doch Vater meinte nur, dass ihr Tod keinen Sinn hätte, sie haben so wenig Fleisch an sich, da würden wir eh nicht von satt werden. Also schmiss er sie in einen großen Bottich, der unter unserer Wasserpumpe im Garten stand. Erst im Winter, als wir die Pumpe kaum noch nutzten und das Wasser im Bottich gefror, musste ich sie wieder zurück in den Bach geben. Ich mochte sie als Haustiere und selbst Vater und Mutter hatten Spaß, sie beim Schwimmen zu beobachten.« In Gedanken an unser kleines Gartenaquarium versunken, blicke ich auf den Schwanz eines besonders großen Exemplars, der unter einem mit Algen belegten Stein herausschaut.

»Die gibt es noch gar nicht so lange hier. Aber das ist bei ganz vielen Tierarten so. Man hat sie alle wieder züchten müssen. In den Anfangsjahren wurde deswegen strengstens verboten, Fleisch zu essen. Bis auf die wenigen Tiere, die das Land nach dem Angriff besiedelt haben, gab es hier keine. Mittlerweile züchten und klonen wir sie einfach.«

Das erklärt, warum alles so künstlich schmeckt. Logan sagt immer alles so locker, als wäre das etwas ganz Normales. Aber wahrscheinlich ist es das auch für ihn. Er kennt es nicht anders. Ich finde die Vorstellung pervers und eklig. Genmanipulierte Tiere, pfui!

»Wie liefen deine Tests?«, fragt er mich, während ich die Natur genießend meine Hand durch das flache Wasser, vorbei an kleinen Algen und scharfen Steinkanten, gleiten lasse.

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, bei den berufsspezifischen Fragen habe ich total versagt. Aber das war auch vorhersehbar. Bei Martin lief es genauso. Er ist auch erst vor kurzem aufgewacht. Du wirst ihn bestimmt mögen.«

Logan zuckt nur mit der Schulter und murmelt ein »Ja, vielleicht« vor sich hin.»Warst du deswegen die ganze Zeit unterwegs? Ich habe dich überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen«, wirft er mir nach einer Weile des Schweigens vor.

Verwundert über den plötzlichen Stimmungswechsel schüttele ich verwirrt den Kopf. Eigentlich hat er recht, gestehe ich mir ein. Wie soll ich es nur schaffen, mit beiden so innig befreundet zu sein, ohne den anderen zu enttäuschen?

»Na ja, Martin kennt doch auch niemanden hier, da wollte ich ihm die Eingewöhnung erleichtern, so wie du mir«, versuche ich, die Situation zu retten und füge nach einer kurzen Pause hinzu: »Außerdem habe ich mehrmals in der Bibliothek vorbeigeschaut, aber Maxime meinte jedes Mal, du seist für Jane unterwegs.«

»Ja, die hat mich wieder durch die halbe Prärie geschickt. Aber erzähl mir mehr von dir. Hast du dir die Stadt noch ein bisschen angeschaut?«

»Hmm, ja. Aber so besonders ist sie nicht. Ich habe mir das alles viel futuristischer vorgestellt«, gestehe ich und flitsche einen flachen Stein über den Bachlauf zur anderen Seite.

Wir schweigen uns eine Weile einfach nur an.

Logan will schon wieder aufstehen, als ich erneut das Wort ergreife. »Martin meint, sie haben uns einen Chip unter die Haut gesetzt. Direkt über dem Knöchel, hier am Schienbein. Weißt du etwas darüber?«

Ich ziehe die Hand aus dem Wasser und streiche über die Stelle. Kalte Tropfen lassen meine Hand in der Sonne glitzern. Dann nehme ich seine warme Hand und führe sie zu meinem Bein.

Logan tastet vorsichtig mein Schienbein ab und schaut mir dabei interessiert in die Augen. Der Themenwechsel hat offensichtlich funktioniert; er sieht nun weniger mürrisch drein.

Er schüttelt erst den Kopf, antwortet dann aber: »Hmm, nichts Genaues. Wir vermuten so etwas schon lange. Es gibt Gerüchte, dass sie den Kindern während ihrer Einschulungsuntersuchung einen einsetzen, jedoch konnte sich noch nie ein Kind daran erinnern. Bei uns ist definitiv keiner eingesetzt, sonst hätten wir alle schon ganz schöne Probleme bekommen«, lacht er, als wäre es nichts Ernstes.

Wer ist uns? Ich schaue ihn fragend an, doch er ignoriert meinen Blick einfach. Ich bin mir nicht sicher, was ich von seiner Antwort halten soll und beschließe, das Thema erst einmal zu verschieben. Außerdem gibt es noch so viel mehr Fragen, die ich ihm stellen möchte.

Verträumt halte ich meine Hand wieder ins eiskalte Wasser und genieße den Wind, der verspielt um uns herum weht.

»Gibt es hier Züge? Ich habe eine Karte mit Bahngleisen in dem Kuppelbuch entdeckt«, unterbreche ich die aufkommende Stille.

Logan schaut mich schräg an, als hätte ich gerade die dümmste Frage überhaupt gestellt.

»Natürlich gibt es Züge. Womit sollten wir sonst unsere Waren so schnell durch das Land transportieren?«, antwortet er schnippisch.

Ich zucke mit der Schulter. War ja nur eine Frage. Ich verstehe einfach nicht, wieso er jetzt so missgelaunt ist. Dabei gibt es doch nur eine Möglichkeit. Er muss eifersüchtig sein. Auf Martin. Wieso auch immer; wir waren seit jeher nur gute Freunde. Klar haben wir mal miteinander geflirtet, aber mehr ist nie passiert. Es war mehr ein gegenseitiges Necken, wie beste Freunde das eben tun.

»Kannst du mir die Züge zeigen?«, bitte ich ihn mit einem verschmitzten Lächeln.

»Hmm, heute nicht mehr. Es ist schon spät, gleich beginnt die Ausgangssperre.«

»Es gibt eine Ausgangssperre?« Das ist mir neu. Wieso erzählt mir niemand so etwas Wichtiges?

»Ja, hat dir das niemand gesagt? Um neun Uhr müssen alle, die keine spezielle Genehmigung haben, in ihren Gebäuden sein. Normalerweise ist dann nur noch die Asris unterwegs.«

»Die Asris?«, frage ich.

»Ja, sie ist sozusagen unsere Polizei, unsere Kampftruppe.«

»Wofür braucht ein Land, dass nach außen hin abgeschlossen ist, eine Kampftruppe?«

Logan zuckt mit den Schultern. »Sie helfen, Janes Macht zu halten. Es gab sie auch nicht immer, zumindest nicht in der Form. Janes Mutter war es, die sie erschuf. Vorher hatten wir auch nur einfache Polizisten.«

Wir schweigen eine Zeit lang. Jane ist viel machthungriger, als ich es geahnt hatte. Dabei kam sie mir einmal so nett vor. Na ja, jedenfalls dachte ich nicht, sie sei der Teufel in Person.

»Geht ihr denn abends nie feiern? In die Disco oder so?«, unterbreche ich die Stille und tauche meine Hand zurück ins Wasser.

»Was ist eine Disco?«, fragt er mich mit schräg gelegtem Kopf und ich muss lachen. Ist das sein Ernst? Wie haben die Leute hier eigentlich Spaß? Keine Disco, kein Sport … Fünf Jahre hier und ich sterbe an chronischer Langeweile.

»Da läuft Musik und man tanzt«, erkläre ich ihm.

»Hier tanzt niemand und Musik gibt es nur im Radio. Komm, wir gehen jetzt. Wir haben nur noch dreißig Minuten.«

Ich mag diese plötzlich aufgetretene Kälte von ihm ganz und gar nicht. Ich hatte mich wirklich auf das Treffen mit ihm gefreut, jetzt komme ich mir nur noch verarscht vor. Da hätte ich den Abend genauso gut mit Martin verbringen können.

Betreten gehen wir beide weiter durch die Dämmerung. Vor einem der zerfallenen Hochhäuser bleibt er stehen und guckt mir in die Augen. Erst denke ich, er will mich etwas fragen, da sein Mund leicht offen steht, doch dann klappt er ihn einfach wieder zu, bereit sich umzudrehen und weiterzugehen. Ich greife ihn perplex an seiner Schulter.

»Logan?«

»Ja?«

»Kann ich dich mal zu Hause besuchen kommen? Ich möchte wissen, wie du lebst. Ich will einfach mehr über dich erfahren.«

Jetzt lächelt er endlich wieder. Ich hasse es, wenn er die ganze Zeit so ernst und bockig reagiert. »Ja gerne. Ich hol dich am Freitag ab. Vorher schaffe ich es leider nicht. Jane hat irgendeinen speziellen Auftrag an der südlichen Grenze, da soll ich sie begleiten.«

»Kein Problem«, antworte ich ihm freudig. Ich bin echt gespannt, wie er lebt. Bisher kenne ich schließlich nur die Universitätsräume. Auch freue ich mich, Natascha kennenzulernen. Bisher ist sie nur ein Name ohne Gesicht.

Wir biegen um eine Hausmauer herum. Bis zur Uni sind es nur noch wenige Meter.

Logan bleibt stehen und schaut mich liebevoll an. Ich kann mich an seinen grünen Augen und den Fältchen, die sich immer bilden, wenn er mich anlacht, gar nicht genug sattsehen. Vorsichtig berührt er meinen Oberarm und legt seine Hand auf meine Schulter.

Ich trete einen Schritt näher zu ihm heran und lege meine Arme um seine Hüften. Jetzt zieht auch er mich in einer Umarmung an sich. Mein Herz pocht so laut und schnell, das sich Angst habe, dass er es durch unsere Klamotten hindurch spürt. Eng ineinander verschlungen stehen wir einfach da. Es ist eine warme, herzliche Umarmung. Eine, die einem Kraft gibt, mit ganz viel Gefühl. Sein warmer Atem streift meinen Hals, als er seinen Kopf in meiner Schulter versinken lässt. Ich halte ihn fest und bette mich ebenfalls an seine Schulter. Wie in Trance sauge ich seinen Geruch ein. Er riecht so toll und frisch, während ich nach dem harten Training nicht einmal unter der Dusche war.

So stehen wir mindestens eine Minute rum, ehe wir uns in die Augen blickend voneinander lösen. Meine Finger zittern und ich kaue auf meiner Lippe herum.

Meine Hände gleiten hinunter zu seinen. Hand in Hand stehen wir dort und schauen uns einfach nur an, dabei rückt die Sperrstunde immer näher. Das Zittern lässt nach, jetzt ist es nur mein Herz, das bebt.

»Gute Nacht. Ich werde dich vermissen«, flüstert er mir zu und gibt mir einen sanften Kuss auf die Wange.

»Ich dich auch«, sage ich mit geschlossenen Augen, davon träumend, dass seine Lippen noch ein Stück weiter nach links wandern.

Stattdessen werde ich jäh aus meinem Traum gerissen, als er mich einfach loslässt und sich umdreht. Er geht, während ich die Welt nicht mehr verstehe.

Ich streichle über meine glühenden Wangen und sehe auf, in der Hoffnung, dass auch er sich mir zuwendet. Doch er schaut nicht zurück.

Während ich im Aufzug stehe, denke ich über eben nach. Mir gefällt dieses Spiel nicht, erst ist er total unhöflich und dann verabschiedet er sich so von mir? Ich werde einfach nicht schlau aus den Jungs. Immerhin, das ist etwas, was sich in den vergangenen knapp fünfhundert Jahren ganz offensichtlich nicht verändert hat.

 

Es sind bereits sechs Tage vergangen, seit Logan und ich uns das letzte Mal gesehen haben. Dafür hatte ich endlich Zeit, mir das Geschichtsbuch durchzulesen. Diese Welt ist wirklich erstaunlich, aber auch grausam. Hätte ich die Wahl, würde ich hier sofort verschwinden. Aber das geht nun einmal nicht und damit habe ich mich abgefunden; oder zumindest versuche ich, hiermit zurechtzukommen. Immerhin versucht man uns einzugliedern, auch wenn ich auf die Tests gerne verzichtet hätte.

Gestern war ich wieder bei James. Ich bin gerne bei ihm. Er hat mir viel über Jane erzählt. Ich weiß nun, dass sie vor einigen Jahren einen schweren Autounfall hatte, bei dem ihre zwei Kinder und ihr Mann starben. Seitdem lebt sie alleine. Irgendwie habe ich Mitleid mit ihr, auch wenn mir ihr Führungsstil ganz und gar nicht passt. Mich ängstigt die Kontrolle, die sie über uns hat, über uns alle.

James sagte mir, dass er letztens einen Riesenkrach mit Jane hatte. Sie wollte, dass er ihr ein Protokoll unserer Sitzung schreibt. Er weigerte sich natürlich. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass er einer der wenigen ist, denen ich hier vertrauen kann.

Jane steht dagegen ganz unten auf der Liste. So nett ich sie am Anfang auch fand, desto tyrannischer kommt sie mir mittlerweile vor. Ich versuche, ihr derzeit gezielt aus dem Weg zu gehen, aus Angst, Dinge zu sagen, die ich vielleicht bereuen werde. Da ich mein Zimmer nur noch zum Essen und für die immer selteneren Besuche bei James und Martin verlasse, ist das jedoch recht einfach.

Die Gespräche mit James tun mir gut. Es beruhigt mich, wenn er mir zuhört. Martin kann das nicht. Es ist anders, wenn ich mit ihm spreche. Generell sehen wir uns nur noch selten. Seit Logans Kuss schotte ich mich von ihm ab.

Ich bin immer noch zu verwirrt, um meiner Gefühle vernünftig Herr zu werden. Es ist, als wäre ich wieder vierzehn. Mitten in der Pubertät und das erste Mal verliebt. Dabei war ich doch so froh, die Lach- und Heulphase endlich hinter mir zu haben.

Vorgestern ist auch Marissa aufgewacht. Das macht die ganze Sache aber nicht leichter. Man hat uns gleich zu ihr gebracht, damit sie ein bekanntes Gesicht sehen kann. Mir wurde damals nur Jane vorgehalten …

Ich weiß nicht, wie ich mich Marissa gegenüber verhalten soll. Wir hatten früher eigentlich nichts miteinander zu tun. Wir grüßten uns, mehr nicht. Jetzt versucht sie plötzlich, einen auf beste Freundin zu machen, dabei weiß sie überhaupt nichts über uns. Gleich am ersten Tag stand sie vor meiner Türe und umarmte mich freudig. Sie ist so überdreht, einfach unauthentisch freundlich. Vorher konnte sie sich nicht einmal meinen Namen merken.

Martin scheint sie zu mögen. Er besucht sie ständig, auch diesbezüglich sorge ich mich. Ich vermisse meinen Martin. Ich weiß, dass ich es bin, die ihm in letzter Zeit ausweicht, trotzdem gehört er an meine und nicht an ihre Seite. Ich hasse mich selbst für diesen Gedanken. Traurig lasse ich meinen Kopf in meine Knie sinken. Seit ich bei ihm übernachtet habe, geht auch er anders mit mir um. Er ist fast so verhalten wie ich, da macht Marissas Anwesenheit es eben nicht gerade besser.

Morgen soll Logan endlich wiederkommen. Er ist mir beinahe genauso wichtig geworden wie Martin. Vielleicht ist es bei Martin und Marissa auch so. Schließlich habe ich Logan auch erst vor knapp einem Monat kennengelernt.

Je mehr ich über alles nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass ich die ganze Sache völlig falsch angegangen bin. Ich fühle mich richtig mies, Martin so wenig Beachtung geschenkt zu haben.

 

Ich bin müde und es ist spät. Während ich im Bett liege, denke ich nicht mehr an Martin, sondern an Logan. An den Kuss, an seine Berührung. Eigentlich war es gar kein richtiger Kuss. Mit neunzehn Jahren hatte ich natürlich schon genug Küsse. Aber dieser war anders, er war besonders.

Ich schließe träumend die Augen. Wir stehen in einem Wald und es duftet nach Moos und nassem Laub. Die Sonne geht langsam unter. Gras kitzelt meine nackten Füße, während wir uns tief in die Augen schauen. Dann nimmt Logan mich wieder in den Arm und drückt seine weichen Lippen liebevoll und leidenschaftlich auf meine. Ich lasse meine Lider geschlossen, um das Bild beim Einschlafen vor mir zu behalten. Ich träume von ihm und Martin. Es sind nur schöne Träume. Aber ich weiß nicht, was sie bedeuten. Wie soll ich mit diesem Hin und Her umgehen? Wieso träume ich immer von beiden?

 

Es ist fast Mittag, als Logan plötzlich vor dem Bett steht. Meine Augen sind total verklebt und ich habe das Gefühl, fürchterlich zu müffeln, ganz zu schweigen von meinem Atem.

»Na, Sonnenschein, ich bin seit sieben Stunden auf den Beinen und du liegst immer noch faul im Bett. Also wirklich!«

Er geht zum Fenster und reißt die Vorhänge zur Seite. Ich halte mir augenblicklich die Hand vor die Augen und verkrümle mich unter meiner Bettdecke. Wieso platzt er einfach in mein Zimmer? Und das mitten in der Nacht? Versteh einer diese Frühaufsteher …

»Morgen«, antworte ich mürrisch. »Seit wann bist du wieder da?« Ich schaue ihn kurz an und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Es ist viel zu schnell viel zu hell geworden. Außerdem ist mein Bett viel zu kuschlig zum Aufstehen. Seine Antwort höre ich nur noch gedämpft durch die dicke Decke.

»Ach, erst seit einer Stunde. Ich bin nur noch schnell essen gegangen und dann direkt hoch zu dir. Ich konnte schließlich nicht ahnen, dass du Faulpelz noch im Bett liegst. Du bist doch nicht krank, oder?«

Ich luge unter der Decke hervor.

Er schaut mich ganz sorgenvoll an.

Ich ziehe als Antwort meine Decke ein Stück weiter herunter und schüttele meinen Kopf. »Nein, mir geht es gut. Warte, ich geh schnell ins Bad duschen und dann kannst du mir alles erzählen.«

Gequält schlüpfe ich aus meinem warmen Traumreich und ziehe die Decke hinter mir her, dann lasse ich sie jedoch vor der Badezimmertür fallen. Für kuschlige Bettdecken ist das Bad einfach zu klein.

Die Dusche tut unheimlich gut und ich fühle mich sofort viel wacher. Heute trage ich eine hellblaue, enge Jeans und ein blaues Shirt; langweilig, aber komfortabel, wie fast alle meine Klamotten hier.

Logan begleitet mich nach draußen und wir setzen uns in ein kleines Café. Meinen Cappuccino und das Sandwich kann ich von meinen Marken bezahlen. Ich bin ein bisschen erstaunt, dass es all diese ganz normalen Sachen gibt. Mich hätte es nicht gewundert, wenn man sich nur noch von Cerealienriegeln ernähren würde, die alle wichtigen Nährstoffe und Mineralien beinhalten. Oder, da alles zerstört wurde, nur von Wasser und Brot. Doch das Land hat sich erstaunlich gut entwickelt. Ich kann meinen morgendlichen Cappuccino auch hier schlürfen.

»Was habt ihr die Woche über gemacht?«, frage ich Logan.

»Ehrlich gesagt, keine Ahnung! Ich durfte im Grunde genommen nur Janes Butler spielen. Logan, kopieren Sie mir bitte dies, bringen Sie mir bitte das, oh und halten Sie das hier mal«, äfft er Janes hochnäsige, aber dennoch liebliche Stimme nach. Dabei drückt er seinen Rücken so stark durch, dass er aussieht, als habe man ihm ein Brett an diesen genagelt, und macht dabei huschende Bewegungen mit den Händen.

»Und was hast du gemacht?«

»Nicht viel«, antworte ich ehrlich. »Es ist wieder eine Neue aufgewacht. Marissa.« Ich verziehe das Gesicht. »Ich kann sie nicht sonderlich leiden. Sie ist irgendwie …«, ich überlege kurz … »schleimig. Martin ist auch fast nur noch bei ihr.« Beim Gedanken daran rutscht mir das Herz in die Hose. Ihretwegen entfremden wir uns immer mehr voneinander. Logan scheint es nichts auszumachen. Im Gegenteil, ich habe ihn lange nicht mehr so strahlend gesehen. »Daher war ich meistens alleine. Dafür konnte ich endlich das Buch zu Ende lesen«, setze ich zum Schluss an.

»Das freut mich«, antwortet er. Meint er jetzt, dass ich Martin kaum sehe, oder dass ich das Buch gelesen habe? »Ich hoffe, du verstehst diese Welt jetzt besser und kennst nun die wichtigsten Regeln. Ich fände es nämlich nicht sehr berauschend, wenn sie dich plötzlich holen würden.«

Ich lege den Kopf schräg. »Wie meinst du das, holen?«

»Na, holen halt. Wenn du etwas anstellst, wirst du verhaftet.«

»Ja, aber was soll ich denn bitte schön anstellen? Im schlimmsten Fall missachte ich mal die Ausgangssperre.«

Jetzt liegt es an ihm, mit den Schultern zu zucken.

»Was weiß ich denn. Ich will dich nur nicht verlieren.« Ich spitze die Ohren. Manchmal ist er echt süß. Eigentlich immer.

»Kennst du deine Testergebnisse schon?«, wechselt er das Thema.

»Nee, das dauert doch ein paar Wochen.«

»Na ja, schon. Ich dachte nur, es würde bei euch vielleicht schneller gehen, weil ihr außerhalb der üblichen Testsaison zu Schulbeginn gemustert wurdet.«

Das wäre tatsächlich logisch. Wie lange kann es dauern, unsere zwei Tests zu analysieren? Dann fällt mir ein, dass in der Halle noch andere Jugendliche waren, ihre Tests müssen bestimmt auch ausgewertet werden und Marissa muss ebenfalls geprüft werden.

»Ist es normal, dass Jugendliche auch außerhalb der Testsaison getestet werden?«, frage ich ihn.

»Du meinst, so wie ihr?«

»Ja.«

»Normal nicht, aber es kommt vor. Wenn die Jugendlichen am eigentlichen Testtag aus irgendeinem Grund verhindert waren, wegen Krankheit oder so. Wieso fragst du?«

»Oh, da waren noch ein paar andere Kids. Ich hatte mich nur gewundert, als du von Testsaison sprachst«, erkläre ich.

»Hmm. Ist ja auch egal. Wollen wir spazieren gehen? Ich kann dir die Züge zeigen und heute Abend gehen wir zu mir. Natascha kommt um sechs Uhr von der Arbeit.«

Das klingt gut. Ich stopfe schnell die letzten Reste meines Sandwiches in den Mund und räume mein Tablett in die Ablage.

Man merkt, dass sich der Herbst nähert. Draußen ist es ganz schön kühl geworden. Die ersten Blätter färben sich rot und auch der Wind hat sich merklich aufgefrischt.

Logan führt mich durch eine wunderschöne Allee. Die Straße ist mit riesigen Mammutbäumen gesäumt, zwischen denen kleine, zierliche Beete angepflanzt wurden. Sie wirkt anmutig und berauschend zugleich. Die Baumkronen spannen sich wie ein Domgewölbe über den Weg.

»Komm, gib mir deine Hand, dann helfe ich dir rüber.« Logan reicht mir seine Hand und zieht mich eine kleine Mauer hoch. Wieso lässt mich das schon wieder so zittrig werden? Irgendwann treiben mich meine Emotionen noch ins totale Chaos.

Wir sind am Ende der großen Allee in eine schmale und dunkle Seitengasse eingebogen. Irgendwie gruselig hier. Müllcontainer stehen müffelnd neben uns, während uns die hohen Hausmauern zu ersticken drohen.

»Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zu den Zügen.«

»Wieso gehen wir nicht direkt zum Bahnhof? Das ist doch bestimmt viel bequemer«, frage ich ihn. Logan schüttelt den Kopf.

»Da kommen wir nicht rein. Den Bahnhof darf man nur mit einer Fahrkarte betreten, aus Sicherheitsgründen schätze ich. Von hier aus können wir die Züge auch super sehen.«

Hmm, na gut. Langsam gehen mir die ganzen Regeln auf die Nerven.

»Wieso willst du überhaupt Züge sehen? Gab es die bei euch nicht?«, fragt Logan mit verwunderter Stimme.

»Klar gab es die in meiner Zeit. Die gab es doch sogar schon während des ersten großen Krieges. Aber, hier ist alles so normal. Wie bei uns. Verstehst du, was ich meine? Ich stelle mir die Züge futuristischer als früher vor. Sind sie das?«

»Keine Ahnung! Das sind halt gewöhnliche Züge. Ich weiß nicht, wie sie bei euch aussahen. Bei uns sind sie alle lang, weiß und mit einer Vollverglasung auf Sitzhöhe. Und sie sind schnell. Richtig schnell. Zumindest die Personenzüge. Ich bin das letzte Mal als Kind mit einem gefahren, da haben wir meine Großeltern besucht. Der Zug schwebte praktisch über den Schienen.«

Genau das meinte ich. Damals entwickelten sie bereits diese ultraschnellen Magnetschwebezüge. Die brachten es locker auf sechs oder siebenhundert km/h.

Ahhrrr, ich halte mir die Ohren zu, so laut ist es plötzlich. Vor uns rast ein Zug vorbei. Er ist so schnell, dass ich die Fenster nicht mehr vom Weiß des restlichen Zuges unterscheiden kann. Dabei macht er einen ohrenbetäubenden Krach. Ich muss mich ducken, aus Angst, vom Fahrtwind mitgerissen zu werden. Als er weg ist, stehe ich aus der Hocke auf und blicke auf einen riesigen See, der hinter den Gleisen hervorsticht. Er ist wunderschön und wirkt so unberührt.

»Können wir dahin gehen?«, frage ich Logan und interessiere mich plötzlich überhaupt nicht mehr für den Zug.

Die Landschaft fesselt mich, sie zieht mich in ihren Bann. Die Sonne spiegelt sich auf der bläulichen Oberfläche des Sees wieder. Als das nachhallende Dröhnen verstummt, höre ich überall Bienen summen. Grillen zirpen im Gras und ich sehe einen Frosch aus dem Dickicht springen. Ich glaube, ich habe meinen Lieblingsplatz gefunden.

»Ich dachte mir, dass es dir gefällt.« Logan lächelt mich strahlend an und nimmt meine Hand in seine.

»Nur wenige kennen diesen Ort. Eigentlich sieht man ihn auch nur, wenn man mit dem Zug in eine andere Stadt fährt. Also, falls man so schnell gucken kann. Da hinten ist eine kleine Hütte im Dickicht, dort können wir hin.« Er zeigt zur anderen Seite des Sees und zieht mich mit sich.

Der Weg ist sumpfig und nur schwierig zu begehen. Ich kann gut nachvollziehen, wieso der Ort hier so verlassen ist. Ständig bleibe ich am Gestrüpp hängen und meine Schuhe nässen durch. Bei diesem Ausblick nehme ich das jedoch gerne in Kauf.

»Beobachten sie uns hier nicht?«, frage ich nachdenklich.

»Nee. Wir suchen regelmäßig alles ab. An diesem Ort dürfte uns eigentlich niemand sehen.«

Schon wieder das wir. Wer ist wir? Ich hoffe, er vertraut mir irgendwann so weit, dass er mir alles erzählt.

Die Hütte ist klein, keine sechs Meter lang. Ein winziges Fenster zum See hin ziert die vordere Wand, ein weiteres geht zur rechten Seite hin raus. Um das Holzhäuschen herum wachsen hohes Schilf und dornige Brombeersträucher. Ein kurzer Steg führt direkt zum Wasser. Ich mag die Hütte. Sie ist so einfach, alt und rustikal. Genau so liebe ich es.

Von innen gibt die Hütte nicht viel her. Ein Tisch mit vier Stühlen, eine Klappcouch und ein richtig altes Radio auf einer Holzkommode stehen dort. Das Radio könnte noch meinen Großeltern gehört haben, so wie es aussieht; und wenn ich darüber nachdenke, dann auch der Rest.

Wir setzen uns zusammen auf die Couch und ich lege meinen Kopf auf Logans Schoß, während er mir sanft die Haare aus dem Gesicht streicht.

»Ist das so etwas wie ein Geheimversteck?«, frage ich ihn.

»Ja, so ähnlich. Ich habe es damals mit der Rebellion zusammen gebaut. Wir treffen uns immer sonntags hier.«

Ich horche auf, lasse meine Augen aber geschlossen. Ich mag es, wenn er mich mit seinen warmen Händen berührt.

»Was macht die Rebellion?«

»Na rebellieren. Manchmal stellst du wirklich dumme Fragen, Kim.« Wir müssen beide lachen.

»Im Moment läuft es jedoch nicht sehr gut. Levi, David und Jonas wurden erst vor Kurzem verhaftet. Jetzt sind wir nur noch zu viert. Natascha, ihr Freund Peter, Brian und ich. Derzeit sammeln wir vor allen Dingen Daten über die Regierung, um ihre Machenschaften und ihren Kontrollwahn aufzudecken und Jane endlich zu stürzen. Außerdem glauben wir, dass man über das alte Radio dort Kontakt von der anderen Kuppelseite empfangen kann. Bis jetzt konnten wir jedoch nichts Verständliches erfassen.«

»Wie kommt ihr darauf, dass dort jemand ist? Also, auf der anderen Seite?«, frage ich nervös. Ob Radiowellen wirklich die Kuppel durchdringen können? Das müsste doch längst jemand getestet haben.

»Na, irgendwer muss ja noch da draußen sein, oder glaubst du, wir sind die Einzigen auf diesem Planeten?«

»Das meine ich doch nicht«, sage ich und verschränke meine Finger mit seinen. »Natürlich ist mir klar, dass da noch jemand ist. Aber das Land drum herum ist praktisch ausgestorben, oder nicht? Die nächste Stadt muss doch meilenweit entfernt sein.«

»Ach, das meinst du. Ja, das stimmt schon. Es ist so, manchmal hören wir zwischen dem Rauschen andere Geräusche. Wie eigenartige Musik oder Stimmen. Aber sie sind nie so deutlich, als dass man wirklich etwas verstehen kann.«

»Können es denn keine Radiosender aus der Gegend sein?«

»Nein, wir haben hier nur einen Sender.« Was für eine trostlose Zeit das ist. Er beugt sich zur Seite und schaltet das Radio ein. Die Musik klingt poppig, es ist jedoch nichts, was ich kenne. Dann zieht er mich nach oben und steht auf, die eine Hand immer noch mit meiner verschränkt, die andere auf meine Schulter gelegt.

»Sagtest du nicht, hier tanzt niemand?«, frage ich scherzhaft und greife nach ihm.

»Schon, aber ich dachte, es gefällt dir und du kannst mir zeigen, wie es geht.«

Ich nehme seine linke Hand von meiner Schulter und lege sie an meine Hüfte. Dann drücke ich ihn an mich und beginne, mich vorsichtig mit ihm zu drehen. Unsere Körper sind eng aneinander geschmiegt, während wir im Takt hin und her wippen. Sein Atem kribbelt an meinem Nacken und ich schließe dir Augen, um diesen Moment mit all seinen Gefühlen genießen zu können.

»Siehst du, ganz einfach«, sage ich und wirble mit ihm langsam umher.

Das Lied endet abrupt und es wird ein viel wilderes und rockigeres gespielt. Langsam kommen wir in Fahrt und Logan beginnt, mich durch die kleine Hütte zu drehen, bis wir beide in haltloses Lachen ausbrechen. Ständig stolpert er über meine Füße, doch ich schaffe es jedes Mal gerade noch rechtzeitig, ihn aufzufangen.

Als auch dieses Stück vorbei ist, dreht er mich ein letztes Mal herum und drückt mich leidenschaftlich an die Wand.

Seine Finger in meine verhakt, fühle ich das feuchte Holz an meinen Handrücken, während er näher rückt und sich immer weiter zu mir beugt. Mein Blick verschmilzt in seinen dunklen Augen.

Ich schließe meine Augen und spüre seine weichen Lippen, feucht und warm, auf meinen.

Sein Kuss ist fordernd und sanft zugleich. Immer wieder wandert sein Mund zu meinem Hals, gibt mir Zeit zum Luftholen, ehe ich ihn erneut schmecken darf. Seine rechte Hand verlässt meine und zieht mich stattdessen an der Hüfte gefasst noch näher zu sich. Seine Finger verirren sich unter mein Shirt. Sie tasten sich meinen Rücken entlang bis zum Schulterblatt hoch.

Ein wohliges Kribbeln erfasst meinen ganzen Körper, als ich meine Lippen nicht mehr von seinen lassen mag.

Wir schaffen es kaum, uns zu entknoten, während ich ihn rückwärts Richtung Couch führe. Seine Berührungen sind angenehm, wohltuend, einfach verführerisch. Ich wurde lange nicht mehr so geküsst … und doch kann ich es nicht vollständig genießen. Während ich mich ganz auf Logan konzentrieren will, ist da noch ein anderes Bild, das sich vor mich drängt. Martin, der gerade vielleicht genau das gleiche mit Marissa macht. Ich beginne zu zittern und schüttle den Gedanken ab. Dieser Moment soll nur Logan und mir gehören, niemandem sonst!

 

Unliebsame Erkenntnisse

 

Wir stehen an einer Ecke nahe Logans Haus. Es nieselt, doch das ist nicht schlimm. Ich genieße die kalten Tropfen auf meinen nackten Armen. Meine Haut glüht immer noch von Logans Berührungen. In meinem Kopf spielt gerade alles verrückt und ich fühle mich einfach überfordert mit der Situation. Ich hätte eher gedacht, Martin und ich würden einmal ein Paar werden. Stattdessen habe ich nun eine Affäre mit einem Verheirateten. Na super! Okay, eigentlich sind sie nur zum Schein zusammen. Dennoch, wie immer trete ich von einem Fettnäpfchen ins nächste.

Logan zeigt auf das kleine, heruntergekommene Haus am Ende der Straße. Er erklärt mir, dass allen Verheirateten ein Haus mit drei bis vier Zimmern zusteht, damit ausreichend Platz für zukünftige Kinder da ist. In den Wohnblocks leben dagegen die Alleinstehenden. Miete muss hier niemand zahlen, alles wird einem vom Staat zugeteilt. Das ist endlich mal etwas Positives in dieser Welt.

»Solange wir im Flur sind, darfst du nichts Auffälliges sagen, okay? Die haben uns sowieso schon auf dem Kieker. Sobald wir im Wohnzimmer sind, können wir frei reden. Alles verstanden?«

Ich hatte sowieso nicht vor, heute noch weiter über die Rebellen zu quatschen. Ich nicke und folge Logan zum Haus.

Natascha ist total aufgedreht. Sie springt mir förmlich um den Hals und küsst mich links und rechts auf die Wangen. Erst dann bittet sie mich herein.

Mit fünf Schritten habe ich das Wohnzimmer durchquert und setze mich auf die rote Couch, gegenüber eines kleinen Esstisches, der mit ein paar schlichten Kerzen dekoriert ist, hin und betrachte die wenigen Fotos auf der kleinen, weißen Kommode neben mir.

Natascha hat einen köstlichen Auflauf zubereitet, und während wir essen, schaue ich mir die beiden genauer an. Irgendwie passen sie zusammen. Sie sehen aus wie beste Freunde. Ihr Lachen klingt ähnlich und sie strahlen dieselbe Lockerheit nach außen hin aus.

Sie erzählt mir gerade von ihrer ersten Begegnung mit Logan und wie tollpatschig er sich immer in ihrer Gegenwart verhielt. »Er hatte noch nie vorher ein Mädchen geküsst, du hättest seinen Blick sehen sollen, als wir zusammengeführt wurden und er mich küssen sollte.«

Logan funkelt sie böse an. »Kann ja nicht jeder das Glück haben, sich schon in der Schulzeit zu verlieben«, neckt er zurück.

Dann erzählt sie mir, wie sie Peter bei einer Schulveranstaltung kennenlernte. Sie hatten immer gehofft, dass auch die Regierung ihre Liebe erkennen würde und sie zusammenführe.

»Peter hatte einen Unfall in der vierten Klasse, seitdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass er Kinder bekommen kann. Deshalb darf er nicht heiraten. Sie teilten mich Logan zu. Ich schätze, dass das einer der Gründe ist, wieso wir überwacht werden. Dumm nur, dass wir Verstecke haben, an denen wir uns treffen können«, gesteht sie mir kichernd.

Schnell muss ich in ihr freudiges Lachen einsteigen. Natascha ist wirklich ganz wunderbar. Mit ihren hellroten Locken strahlt sie immerzu Freude und Gelassenheit aus. Ich hoffe, wir werden gute Freundinnen. Eine Frau zum Reden ist schließlich immer noch etwas anderes.

Es tut mir leid für Peter und sie, dass sie ihre Liebe nicht öffentlich zeigen dürfen. Jemandem, der keine Kinder bekommen kann, die Liebe zu verweigern, ist einfach nicht in Ordnung.

Als ich mich von ihnen verabschiede, gibt mir Logan einen kurzen Kuss und auch Natascha umarmt mich höflich.

»Tschüss.«

Ich winke noch einmal und biege dann in die nächste Straße ein. Logan wohnt vielleicht fünfzehn Minuten von der Uni entfernt, dennoch bin ich klitschnass, als ich die großen Flügeltüren passiere. Ich war keine fünf Schritte gegangen, als es richtig zu schütten begann.

 

Kaum, dass ich mich umgezogen habe, klopft es.

»Herein«, nuschle ich mit meiner Zahnbürste im Mund. »Ach du bist es, Martin«, sage ich, als er den Kopf durch die Badezimmertüre steckt und spüle mir den Mund aus.

»Welch freundliche Begrüßung«, antwortet er und grinst mich an. »Wo warst du den ganzen Tag? Marissa und ich wollten mit dir die Stadt erkunden.«Er steht an den Türrahmen gelehnt und betrachtet offenbar meinen weißen Zahnpastabart im Spiegel, den ich mir hastig wegwische.

Ich zucke nur mit den Schultern und spucke die letzten Reste aus. Selbst, wenn ich nicht mit Logan unterwegs gewesen wäre, hätte ich keine Lust auf Marissa gehabt. Ich ertrage ihre grelle Stimme und die ständigen, unterschwelligen Sticheleien einfach nicht, die sie inzwischen an den Tag legt.

Gurgelnd schaue ich ihn kurz an, ehe ich erneut ausspüle und ihm antworte. »Ich war den ganzen Tag mit Logan draußen. Er hat mir seine Frau vorgestellt. Sie ist wirklich nett.«

Martin zieht fragend eine Braue hoch.

Aus irgendeinem Grund wird mir plötzlich schwindelig und ich kralle eine Hand ins Waschbecken. Ich ertrage es einfach nicht mehr, ihn zu sehen, jetzt wo zwischen mir und Logan etwas läuft. Der Gedanke daran, dass er ständig mit Marissa unterwegs ist, treibt mich dabei noch mehr in den Wahnsinn. Ich brauche Abstand, Zeit für mich, um mir endlich klar zu werden, was ich eigentlich will – wen ich will. Seufzend wiche ich mir den Mund ab und lasse das Handtuch in meiner Hand sinken. »Tut mir leid, ich möchte jetzt gerne schlafen gehen; vielleicht bis morgen oder so. Gute Nacht.«

Ich winke ihm kurz zu und schließe die Badezimmertür. Mit dem Rücken sinke ich gegen das raue Holz der Tür und gleite herunter auf die Knie. Was mache ich nur? Wieso tue ich das immer wieder?

Ich habe ihn schon wieder abgewimmelt - schon wieder weggestoßen. Dabei weiß ich doch, dass ich ihn genauso sehr brauche wie Logan, wenn auch auf eine andere Art.

 

Im Bett liege ich ewig wach. Ich mag Logan sehr, aber ob es für mehr reicht? Ich weiß nicht … Und Martin, was ist mit ihm? Ich hatte ihn immer gern. Er gibt mir Halt und ist der Einzige, den ich aus meiner Welt noch habe. Ich hätte ihn nicht so anschnauzen sollen. Das war falsch ... einfach scheiße von mir. Ich möchte ihn nicht verlieren, nicht an Marissa. Wieder gehen die Gefühle mit mir durch. Verdammt, wieso habe ich ihn nur so angefahren?

Wütend über mich selbst schlüpfe ich in meine Hausschuhe und stehle mich leise aus meinem Zimmer. Es ist schon spät und ich bekomme wahrscheinlich riesigen Ärger, wenn mich jemand erwischt.

An Martins Tür bleibe ich stehen. Ob er noch wach ist und auch nicht schlafen kann? Früher haben wir öfters die Nächte durchgefeiert, er war dabei immer der fittere von uns beiden. Meistens war ich es, die irgendwann nicht mehr konnte und einfach in seinen Armen einschlief.

Ich klopfe leise an, keine Reaktion. Hmm. Ich drücke vorsichtig die Klinke herunter, Martin schläft schon. Soll ich ihn wecken? Ich trete langsam an das Bett heran. Heilige Scheiße! Seit wann hat er denn lange, blonde Haare?

Ich schleiche mich rückwärts aus dem Raum heraus, seine Tür schließe ich nicht mehr. Tränenüberströmt renne ich zurück in mein Zimmer und schmeiße mich auf mein Bett, das Gesicht ins Kissen gedrückt.

Wie kann er mir das antun? Gerade sie? Wieso sie? Verdammter Mist! Wieso interessiert es mich eigentlich so? Wann bin ich zu einer eifersüchtigen Zicke geworden?

Ich rolle mich auf meinem Bett zusammen und ziehe mir die Decke bis zum Kinn. Vielleicht ist es gut so, rede ich mir ein. So kann ich mich wenigstens mit Logan treffen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Trotzdem ist es komisch. Seit ich damals die Nacht bei Martin verbracht habe, dachte ich, er würde mehr für mich empfinden. Stumme Tränen rinnen meine Wangen herunter, während ich die Augen schließe und in den Schlaf gleite.

 

Am nächsten Morgen liegt schon wieder ein Zettel auf dem Tisch, natürlich von Jane. Wir sollen um elf Uhr in ihr Büro kommen und unsere Testergebnisse erhalten.

Wie kann sie hier hereinkommen, während ich schlafe? Als würde ich mich nicht schon genug beobachtet fühlen. Bei dem Gedanken, wie sie mir nachts beim Schlafen zuschaut, wird mir ganz mulmig. Ab jetzt werde ich einen Besen oder so vor die Tür stellen, vielleicht wache ich dann auf, wenn er umfällt.

Verdammt, Martin! Als ich an ihn denke, muss ich mir vor Schreck die Hand vor den Mund halten, um nicht aufzuschreien.

Sie hat Marissa bestimmt gesehen, hoffentlich bekommt er keinen zu großen Ärger, schließlich kennt er die Regeln. Aber er ist nicht vermählt, noch kann man ihm keinen Betrug vorwerfen.

Was ist, wenn sie beide füreinander bestimmt werden?

Panik steigt in mir auf und ich lasse mich zurück aufs Bett fallen. Dann hätte ich Martin ganz verloren. Ich will gar nicht erst daran denken! Am liebsten würde ich mich heute in meinem Zimmer einschließen und noch ein bisschen schmollen.

Ich überlege, ob ich mich einfach krank stellen soll, um der Schmach, den beiden zu begegnen, zu entgehen; aber dann finde ich mich doch wieder pünktlich bei Jane im Büro ein.

Marissa und Martin sind bereits da. Während es sich Marissa mittlerweile zur Aufgabe gemacht hat, mich keines Blickes zu würdigen – keine Ahnung, woher der Sinneswandel plötzlich kommt – nickt auch Martin mir nur kurz und steif zu. Ob er mich heute Nacht gesehen hat? Vielleicht ist es meine Abwesenheit und Distanziertheit der letzten Tage, die ihm schmerzen.

Ich sehe verlegen zu Boden, als Jane das Wort erhebt: »Entschuldigt bitte, aber wir müssen noch kurz warten. Es wird noch ein weiterer Gast kommen, bedient euch schon mal am Tee.« Sie weist auf das Tablett neben uns hin.

Martin sieht mir noch immer nicht in die Augen, bestimmt ist er noch sauer. Ich hoffe, es ist etwas anderes.

Ein junger, dunkelhäutiger Mann tritt ein. Er sieht nett, aber auch etwas nerdig mit seiner Riesenbrille, aus. Ich glaube, er ist einer der Jungen, die mit uns die Tests absolvierten. Er reicht allen die Hand und stellt sich als Simon vor, anschließend quetscht er sich neben uns auf die Couch. Er wirkt ziemlich eingeschüchtert und zupft ständig an einem losen Faden seines Overalls herum, während er ruhelos mit dem Fuß wippt.

Das macht mich wiederum nervös und ich überlege schon, ob ich ihn bitten soll, damit aufzuhören, doch dann richtet Jane sich förmlich auf und schaut uns der Reihe nach erwartungsvoll an.

Als sie zu sprechen beginnt, scheint die Luft vor Spannung nur so zu knistern. Denn wir alle wissen, was jetzt kommt. Dass bei Martin, Marissa und mir nur ein weiterer Partner sitzt, kann nur eines bedeuten; entweder Marissa oder ich werden dem Neuen zugeteilt werden. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, bete ich gerade, dass ich es nicht bin.

Er ist zwar nicht hässlich, aber zum einen ist er überhaupt nicht mein Typ und zum anderen könnte ich Marissa niemals den Triumph gönnen. Ich würde sie nur noch mehr verachten, als ich es eh schon tue.

»Wunderbar«, lächelt uns Jane freudig an und ich hänge sogleich erwartungsvoll an ihren Lippen.

»Ich darf euch heute feierlich mitteilen, dass eure Ergebnisse eingetroffen sind. Normalerweise verkünden wir diese immer bei einem großen Bankett zum Schuljahresbeginn. Da ihr jedoch nur zu viert seid, hoffe ich, dass euch der Tee und meine Anwesenheit genügen. Ich freue mich, euch eure zukünftigen Arbeitsstätten und Partner vorstellen zu dürfen.«

Sie macht eine kurze Pause und öffnet dann spannungsgeladen das Couvert in ihrer Hand. Langsam beginnen meine Hände zu zittern, während Simon erwartungsvoll zu mir rüber sieht.

Bitte nicht er, denke ich mir und schäme mich fast schon für meine Oberflächlichkeit in diesem Moment.

»Zuerst einmal darf ich euch mitteilen, dass ihr alle in dieser Stadt bleiben dürft.«

Ich atme erleichtert aus, dabei habe ich gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe. Na immerhin etwas, es wäre schrecklich gewesen, wenn ich Logan und Martin aufgrund eines Ortswechsels nicht mehr sehen könnte.

»Martin, du wirst hier an der Universität als Physiker forschen. Deine Ergebnisse weisen einen sehr hohen IQ auf, daher hoffen wir, dass du unsere Forschungseinrichtung mit deiner Intelligenz und deinem Verstand bereichern kannst.«

Sie übergibt ihm das Schreiben mit seinen neuen Aufgaben und er nimmt es freudig entgegen. Marissa drückt ihm die Hand. Kann sie nicht mal vor Jane die Finger von ihm lassen?

»Kimberley, für dich sehen wir eine Einstellung an einer unserer Schulen vor. Deine Testergebnisse deuten auf eine hohe soziale Kompetenz hin, daher dürfte dieser Job wie für dich geschaffen sein.«

Ich nicke und nehme den Brief an. Lehrerin, hmm, hätte schlimmer kommen können. Ehe ich ihn mir durchlesen kann, richtet Jane das Wort an Marissa.

»Marissa, bei dir werden wir an dein ehemaliges Studium anknüpfen und dich zur Ärztin weiter ausbilden. Herzlichen Glückwunsch.«

Marissa strahlt über beide Ohren.

»Und zuletzt Simon, du wirst ebenfalls hier an der Universität arbeiten, und zwar in unserem Logistikzentrum zur Staatsversorgung.«

Simon sieht mit dieser Entscheidung nicht allzu glücklich aus.

»Nun zu euren neuen Partnern. Wie ihr wisst, müsst ihr eurer Partnerzuschreibung nicht zustimmen. Aber, eure Leben könnten äußerst unangenehm werden, wenn ihr Einspruch erheben solltet.«

Mit dieser Drohung dringt endlich einmal Janes wahres Ich hindurch. Mit zittrigem Blick schaue ich nach vorne. Bitte Martin, bitte Martin, bitte Martin!

»Solltet ihr der Vermählung jedoch zustimmen, werdet ihr unter anderem mit einem eigenen Haus und zusätzlichen Rationsmarken sowie vielen Aufstiegsmöglichkeiten belohnt.«

Wie soll ich als Lehrerin groß aufsteigen? Während ich darüber nachdenke, höre ich meinen Namen, dicht gefolgt von Martins. Und einem »Herzlichen Glückwunsch, ihr beiden«.

Ausatmen! Erleichterung durchströmt meinen Körper und gleitet durch jede einzelne Zelle.

Neben mir sehe ich Marissa, Tränen kullern ihr übers Gesicht.

Simon lächelt dagegen verlegen. Ich glaube, ich wäre ihm lieber gewesen.

Jane scheint Marissas Tränen falsch zu deuten, da sie mit ihrer gespielt freundlichen Stimme weiter spricht: »Mein Mädchen, also solche Freudentränen habe ich schon lange nicht mehr gesehen, ich vermute, Sie alle nehmen die Entscheidung an?«

Wir nicken, wenn auch zaghaft.

Martin und ich. Das wird Logan nicht gefallen. Und ehrlich gesagt bin ich mir jetzt auch gar nicht mehr so sicher, ob es mir gefällt. Ich mag Martin, aber im Moment habe ich nicht das Gefühl, dass er auch für mich so empfindet. Wieso muss das alles so kompliziert sein? Martin oder Logan? Oder keiner? Ist das die Alternative?

 

Man bringt uns in unsere neuen Häuser. Zwei Limousinen stehen vor dem Gebäude, um uns abzuholen. Sonnenstrahlen lassen die schwarze Farbe der Karosserie hell schimmern und glitzern. Noch nie bin ich in einem so luxuriösen und geräumigen Wagen gefahren. Die Fahrt ist nur kurz; das Haus liegt keine fünf Querstraßen von der Universität entfernt. Als wir ankommen, sind alle Habseligkeiten aus unseren Zimmern bereits da. Selbst mein Lieblingsbuch hat es zurück auf meine Kommode geschafft. Unsere Kommode, korrigiere ich mich.

Martin und ich haben während der ganzen Fahrt kein Wort miteinander gesprochen. Stattdessen starrten wir beide nur bedrückt aus dem Fenster. So habe ich mir meine Paarung keineswegs vorgestellt. Ich wusste, dass es nicht leicht werden wird. Martin hat Marissa und ich habe Logan. Aber wieso können wir nicht auch uns haben?

Auch, als wir unser neues gemeinsames Heim begutachten, ändert sich nichts. Wir gehen schweigend durch die drei Zimmer. Sie sind bereits voll eingerichtet. Die Möbel sehen moderner, neuer aus, als Logans, dennoch wird das hier nie mein Zuhause sein.

Ich hatte gehofft, dass es leichter wird, jetzt, wo wir nicht mehr so isoliert leben, aber das ist es nicht. Das Universitätszimmer hatte bei mir immer noch mehr Heimatgefühle ausgelöst als dieses. Bestimmt, weil es mich ein wenig an mein damaliges Wohnheimzimmer erinnerte. Ich vermisse meine Zeit, meine Welt, meine Familie und meine Freunde. Ich vermisse sie alle!

Obwohl Martin bei mir ist, bin ich einsamer als je zuvor. Die Nacht verbringe ich alleine, Martin schläft auf der Couch im Wohnzimmer. Ob aus Frust und Enttäuschung, weil Marissa seine Wahl gewesen wäre, oder aus Wut wegen gestern, weiß ich nicht.

 

Es ist unser erster gemeinsamer Morgen im neuen Haus. Martin sitzt vor mir am eckigen Küchentisch und wir frühstücken gerade.

»Ich bin mit Marissa zusammen.«

Ich blicke erschrocken auf. Nicht wegen dem, was er gesagt hat, sondern einfach nur, weil er etwas gesagt hat. Obwohl wir uns sowohl gestern Abend als auch heute Morgen mehrmals über den Weg gelaufen sind, hatte er weder ein ›Gute Nacht‹ noch ein ›Guten Morgen‹ herausgebracht.

»Das dachte ich mir bereits«, antworte ich ihm ehrlich.

»Was ist mit dir und diesem Logan?«

Er klingt angewidert, als er seinen Namen ausspricht, dabei kennt er ihn doch gar nicht.

»Keine Ahnung. Wir haben uns geküsst. Ich habe ihn wirklich gerne. Aber ... er ist verheiratet, ich weiß nicht, ob ich das kann.«

Mir ist unbehaglich bei diesem Thema.

»Tja, wir sind jetzt praktisch auch verheiratet, oder zumindest verlobt.«

Ich muss schmunzeln, er hat natürlich Recht. Doch dann seufze ich. »Wir hätten zusammen glücklich werden können.« Zumindest dachte ich das immer, auch wenn ich nun Logan habe.

»Glaubst du das wirklich, Kim?«

Er scheint die Frage ernst zu meinen. Das sehe ich ihm an.

»Ja, das tue ich. Hast du nie etwas in dieser Richtung gedacht?«

»Doch, natürlich. Aber du hast dich verändert, seit wir hier sind. Seit du dich mit diesem Logan triffst.«

Klar habe ich das. Ich weiß nicht, wieso er mich jetzt wieder so anfährt. Ich starre ihn wütend an und Tränen steigen mir in die Augen.

»Ich habe mich verändert? Natürlich habe ich mich verändert! Ich habe alles verloren, was ich hatte. Ich versuche doch nur, wieder zu mir zu finden. Einen Sinn in meinem Leben zu entdecken«, schreie ich ihn an.

»Und glaubst du, mir geht es anders?« Er ist aufgesprungen. Die Hände gegen die Tischplatte gepresst, blickt er auf mich herab. »Glaubst du, ich würde nicht leiden? Ich würde nicht jeden Tag an meine Familie denken? Kim, du bist nicht die Einzige, die ihr Leben hinter sich gelassen hat.«

Er hat ja Recht. Ich schluchze auf und senke meinen Kopf. »Tut mir leid. Ich vergesse das manchmal.«

Seine Arme, die Muskeln angespannt, sodass bereits die dicken, blauen Adern hervortreten, zittern unter seinem Gewicht. Er atmet wütend aus und setzt sich wieder hin.

»Reichst du mir die Butter?«, frage ich verlegen und er schiebt sie mir wortlos herüber.

»Versteh mich bitte.« Ich schaue zu ihm auf. »Logan tut mir gut. Ich weiß, dass wir viel Zeit miteinander verbringen, aber das heißt nicht, dass ich dich nicht gerne um mich habe.«

Sein Blick streift meinen und wir sehen uns das erste Mal seit Tagen wieder richtig in die Augen.

»Entschuldige, dass ich dich vernachlässigt habe.«

»Ist schon gut«, murmle ich. »Ich war nicht besser.«

Er reicht mir die Hände über den Tisch hinweg und lächelt mich liebevoll an. Wieder etwas, was ich an ihm zu schätzen weiß. Wir können uns nicht streiten. Er kann sich nicht streiten. Er verliert nie wirklich die Beherrschung. Nicht wie ich, die gerne mal Sachen herumwirft und um sich schlägt.

Ich wische mir die letzten Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht und beiße in mein Brot. Ein paar Minuten lang schweigen wir uns an und essen einfach nur.

»Wie soll es jetzt weitergehen? Wir dürfen das System nicht betrügen, das weißt du. Ab jetzt müssen wir das verliebte Paar spielen. Ich glaube, dass Jane uns sowieso schon beobachtet, wer weiß, ob sie hier nicht auch ein paar Kameras versteckt haben«, unterbreche ich die Stille.

»Ja, du hast ja Recht.«

Ich schaue mich verhalten um.

»Hier ist nichts, hab‘s schon kontrolliert«, gesteht er und steckt sich das letzte Stück Brot in den Mund.

Er legt sein Messer zur Seite und grinst mich frech an. Dann gleitet er vom Stuhl, lässt sich vor mir auf dem Boden nieder und kniet sich hin. Martin nimmt meine rechte Hand in seine.

Ich schaue bedröppelt zu ihm herab. Was hat er denn jetzt vor?

Als er spricht, ist sein Kopf gesenkt. »Ab heute werde ich dir ein guter Ehemann sein, ich werde in unserem Bett nächtigen, ich werde dich bekochen, dir in schweren Zeiten zur Seite stehen und, wenn niemand hinsieht, werde ich mich wegschleichen.«

Er beendet sein Gelöbnis scherzhaft mit einem Handkuss. Jetzt hat er es doch wieder geschafft und mich zum Lachen gebracht. Wie könnte ich nicht mit ihm befreundet sein? Erneut muss ich seufzen, als ich daran denke, mit wem er mich betrügen wird. Das wurmt mich einfach! Reiß dich zusammen, Kim!

»Wie es sich gehört. Dann sollte ich es dir wohl gleichtun«, erwidere ich, schaue dabei aber weniger glücklich, als ich sollte.

»Glaubst du wirklich, wir hätten eine Chance gehabt?«, fragt er nachdenklich, als er wieder auf seinem Stuhl sitzt.

»Ja, Martin, das glaube ich.«

Plötzlich steht er auf und zieht mich mit hoch. Dann schaut er mir tief in die Augen. »Küss mich. Ich möchte es auch wissen. Also, ob da etwas ist oder war. Schenk mir einen Verlobungskuss. Bitte.«

Mit hochgezogenen Brauen starre ich ihn an. »Im Ernst?«

»Nur so können wir herausfinden, ob da etwas ist«, wiederholt er und streicht mir sanft die Haare aus dem Gesicht.

Wieso eigentlich nicht? Logan und ich sind schließlich nicht richtig zusammen. Vielleicht hilft es mir, eine Entscheidung zu treffen. Ich seufze und beuge meinen Kopf zu ihm.

Der Kuss ist feucht und warm. Martin küsst gut, aber es fehlt die Leidenschaft. Da ist nichts. Kein Kribbeln im Bauch, wie ich es bei Logan spürte. Damit ist es wohl klar.

»Und?«, frage ich schüchtern.

»Was denkst du?«, kontert er.

»Hab’ nichts gespürt.« Er streicht mir über die Wange.

»Ich auch nicht«, gesteht er und legt seine Stirn gegen meine. So bleiben wir stehen und genießen den Moment, obwohl es eigentlich nichts zu genießen gibt.

 

Ich muss ständig an Logan denken, ich vermisse ihn. Da heute Sonntag ist, wird er bestimmt nicht arbeiten. Nachmittags schleiche ich mich durch die Allee und die Gasse, klettere über die Mauer und renne über die Gleise ins Gestrüpp, werde unsichtbar im hohen Gras. Die Hütte liegt einsam da, still und irgendwie mystisch. Durch die Hitze und die gleichzeitigen Regenfälle treten überall leichte Nebel über dem See auf. Ich klopfe an und sehe einen Schatten im Fenster.

»Logan?«, frage ich beinahe flüsternd.

Er ist es, ich höre es bereits an seinem Gang, als er zur Türe kommt. Ich falle ihm um den Hals, als er sie öffnet. Sofort spüre ich seine weichen Lippen auf meinen, seine Zunge, wie sie meinen Mund erobert, schmecke seinen süßen Atem. Es ist ganz anders, als bei Martin und mir eben. Bei ihm sind sie da: die Schmetterlinge. Dann erzähle ich ihm alles, auch von dem Kuss, ich möchte ihm nichts verschweigen.

Er ist verständnisvoll, dennoch sehe ich ihn merklich zusammenzucken, als ich Martin erwähne.

Wir kuscheln uns zusammen auf die Couch und warten beim Reden auf die anderen der Rebellion. Er will mich ihnen nachher vorstellen, ich bin jetzt schon ganz hibbelig. Dabei dauert es noch fast zwei Stunden, bis sie eintreffen.

Logan ist erfreut über meine Berufswahl, da sie in der Nähe und ungefährlich ist. Außerdem kann mich Jane in der Schule nicht so gut beobachten wie im Institut.

»Glaubst du, sie werden mich mögen?«, frage ich ihn zaghaft bei der Vorstellung an das bevorstehende Treffen.

»Wer?«

»Na, die Rebellen. Deine Freunde. Wissen sie, dass ich von ihnen weiß?«

»Klar. Du bist jetzt eine von uns.« Mein nervöser Blick scheint ihn nicht zu überzeugen. »Vertrau mir einfach«, flüstert er mir ins Ohr und küsst mein Haar.

 

Irgendwann am frühen Abend treffen die anderen Rebellen ein; bis auf Natascha kenne ich noch niemanden von ihnen.

»Hallo Kim, schön, dich wiederzusehen. Das ist mein Freund Peter und das ist Brian«, begrüßt sie mich und stellt mir die anderen vor.

»Hi, ähm, ich bin Kim. Schön, euch kennenzulernen.« Mann, bin ich schüchtern, so kenne ich mich eigentlich gar nicht.

Brian und Peter schütteln mir die Hände. Peter passt wirklich toll zu Natascha, die beiden wirken wie eins. Ob Logan und ich auch einmal so sein werden? Fehlt nur noch, dass sie ihre Sätze gegenseitig beenden. Ich muss grinsen bei dem Gedanken.

»Kim, wir vertrauen dir. Du darfst heute unserer Sitzung beiwohnen. Solltest du dich dafür entscheiden, uns beizutreten, so werden wir dich beim nächsten Treffen feierlich einweihen.« Peter schaut mich ernst an, als er zu mir spricht.

Wir setzen uns im Kreis auf die Couch und die Stühle. Logan bleibt an meiner Seite. Die gesamte Zeit über sind unsere Finger ineinander verschränkt.

»Wir haben Neuigkeiten!«, beginnt Brian seine Rede. »Wir wissen noch nicht, ob es stimmt, aber einer unserer Informanten hat gehört, dass die Wachen schon zweimal jemanden an der Kuppel gesehen haben wollen.«

Er macht eine kurze Pause, um die Nachricht auf uns wirken zu lassen. Offensichtlich reagieren wir nicht erwartungsgemäß genug. »Auf der anderen Seite der Kuppel!«, verkündet er spannungsvoll und formt mit seinen Händen einen Halbkreis in der Luft.

Ich schaue Logan verwundert an. Was ist so besonders daran? Logan meinte doch selbst, es gebe noch Leute da draußen. »Die Kuppel ist von beiden Seiten Sperrgebiet. Es hat sich ihr ewig niemand mehr genähert«, erklärt er mir im Flüsterton.

Brian schaut uns scharf an. Offensichtlich wird er nicht gerne unterbrochen.

»Ich finde, wir sollten dies überprüfen. Ich schlage vor, wir patrouillieren abwechselnd in Zweiergruppen an unseren üblichen Plätzen. Logan, du gehst mit Kim zum alten Mammutbaum. Natascha, du und Peter, ihr geht zum toten Freizeitpark und ich patrouilliere wie jede Nacht an der Mauer. Seid ihr alle damit einverstanden?«

Wir nicken. Endlich bekomme ich wieder etwas Ablenkung.

»Das ist super. Vielleicht kann einer das Radio mitnehmen; direkt an der Grenze könnten wir Glück haben. Also, hat sonst noch jemand etwas mitzuteilen?«

Wir schütteln alle den Kopf. Es sieht lustig aus, wie wir alle gebannt auf Brian starren. Als wäre er ein Gott oder so. Jemand, dem man unbedingt zuhören muss.

»Gut, dann ist die Sitzung hiermit beendet. Ab heute Abend geht es täglich an die Grenzen. Passt auf euch auf und lasst euch nicht erwischen.«

Wir verabschieden uns voneinander und Logan begleitet mich nach Hause.

»Wie fandest du das Treffen?«

»Kurz«, gestehe ich.

»Ja, Brian übertreibt es manchmal mit seinen ausführlichen Reden.« Als Logan das sagt, bildet er Anführungszeichen mit seinen Fingern. Irgendwie hatte ich mehr erwartet. Eine Diskussion vielleicht oder wenigstens eine Abstimmung.

»Aber so ist Brian halt. Er ist ein wirklich guter Anführer, er kennt sich aus. Er weiß, was er tut.« Logan bleibt vor mir stehen und schaut mich liebevoll an. Seine Augen strahlen im Schein der untergehenden Sonne.

»Ich hol dich heute Abend um zehn ab. Sag Martin einfach, du schläfst bei mir. Und zieh dir lange, warme und dunkle Kleidung an, es ist ziemlich kalt nachts. Taschenlampen, ein Seil und alles andere bringe ich mit. Alles klar?«

»Klar.«

Händchenhaltend gehen wir weiter, entfernen uns vom wunderschönen See, während die Sonne im Horizont versinkt.

Wir bleiben eine Querstraße von meinem neuen Haus entfernt stehen. Der Schein einer Straßenlaterne beleuchtet Logans dunkles Haar und taucht sein Gesicht in einen merkwürdig verzerrten Schatten. Er sieht aus, als wüsste er nicht recht, ob er das Richtige tut.

»Kim?«

»Hmm?«

»Ich glaube, ich habe mich wirklich in dich verliebt.«

Oh. Oh mein Gott. Verdammt. Ähm …

»Oh«, mehr bringe ich nicht raus. Als Quasi-Antwort gebe ich ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund, dann drehe ich mich um und gehe abrupt und verwirrt ins Haus.

Ich bin noch nicht bereit für sowas. Für so etwas Ernstes. Das ist einfach nicht richtig. Dabei kann ich nicht einmal sagen, wieso es nicht richtig ist.

Zu Hause lege ich mich noch ein wenig auf die Couch und hänge meinen Erinnerungen nach.

Als es um Punkt zehn Uhr klopft, schrecke ich müde hoch. Ich muss eingeschlafen sein.

Und dann, als ich die Decke wegschlage und mir klar wird, dass Martin mich zugedeckt hat - in diesem Moment wird mir klar, wieso ich nicht gänzlich bereit für Logan bin. Auch wenn unser Kuss keine Funken sprühen ließ, so kann ich dennoch nicht ohne Martin. Ich kann ohne sie beide nicht. Verwirrt und klarsichtig zugleich, öffne ich die Tür.

 

Verdammt, sind die Nächte hier kalt. Logan rennt mit mir durch einen Park, immer im Zickzack, den Kameras ausweichend. Die Zweige einer Trauerweide klatschen mir ins Gesicht und verdecken die Sicht nach vorne. Hier ist es beinahe stockdunkel. Würde ich Logans Schritte nicht im Gras rascheln hören, ich wüsste nicht, wohin …

»Dort ist der Mammutbaum, von dort aus kann man super über die Grenzmauern gucken. Ich hoffe, du kannst klettern!«, ruft er mir zu.

Ich versuche, etwas im trüben Schein des Mondes zu erkennen. Außer flimmernder Schwärze ist dort nichts.

»Na klar«, sage ich.

Mein Cousin ist früher mit mir in den Bergen klettern gegangen. Logan werde ich es gleich zeigen. Bei der Erinnerung an Tobias wird mir warm ums Herz. Ich vermisse ihn, wie alle aus meiner Familie. Immer, wenn ich an sie denke, drohen mir die Augen überzulaufen. Jetzt peitscht der Wind stark und kalt in mein Gesicht. Ich wische mir eine Träne mit dem Handrücken weg und versuche, mir die Haare aus dem Gesicht zu streifen, um den gigantischen Baum vor mir zu betrachten.

Der Mammutbaum ist wirklich hoch. Ich hätte nicht gedacht, dass es so alte Bäume hier gibt, wo doch alles zerbombt wurde. Als könnte Logan meine Gedanken lesen, erklärt er mir, dass er eine Züchtung des genbotanischen Instituts sei.

Logan drückt mir ein Seil in die Hände, das ich ihm gleich wieder zurückschmeiße. Als könnte ich es nicht alleine mit diesem Ungetüm aufnehmen … Ich gehe einmal um den Stamm herum. Drei Kameras sind in den Ästen versteckt. Auf den Baum selber sind jedoch keine gerichtet. Zumindest kann ich keine entdecken.

Ich analysiere den Stamm, dann nehme ich von rechts Anlauf und springe dem niedrigsten Ast entgegen. Ich kriege ihn gerade so zu fassen und ziehe mich mit aller Kraft hoch. Verdammt, meine Muskeln haben sich ganz schön abgebaut in den letzten vierhundertachtundsechzig Jahren. Dennoch schaffe ich es, mich aufzusetzen.

Logan ist nicht so geschickt wie ich, also wirft er mir sein Seil zu und ich ziehe ihn herauf. Er sitzt noch nicht richtig auf, da habe ich bereits die nächste Ebene erreicht. Die Kameras zu umklettern ist kein Problem für mich. Ich genieße die Zeit hier oben. Ich fühle mich frei, erstmals richtig frei, seit ich in dieser Zeit bin.

Logan braucht eine Ewigkeit, bis er ganz oben neben mir ankommt. Ich habe es mir indes längst gemütlich gemacht und das Nachtsichtfernglas ausgepackt.

»Kennst du die Sternbilder?«, frage ich ihn und lehne mich mit meinem Kopf an seine Schulter an. Er riecht so gut. Verschwitzt, aber immer noch gut. Nach Natur und Sommer. Wie Regen im Sommer, genau.

»Nur wenige«, antwortet er und reißt mich damit aus meiner Träumerei heraus.

»Der da, der wie ein Einkaufswagen aussieht, ist der Große Wagen, und das dahinten ist der Kleine.«

»Genau, und dieser«, ich zeige auf eine Formation, die in Richtung des Polarsterns zeigt, »ist Kassiopeia.«

Es ist wunderbar, die Sterne mit ihm zu beobachten, dennoch sind wir nicht zu unserem Vergnügen hier.

Ich richte mein Fernglas auf die Mauer, die die Straße vom Kuppelrand trennt. An einigen Stellen sieht man das Plasmafeld im Mondlicht flackern. Auf den niedrigen Mauervorsprüngen patrouillieren die Männer der Asris, ihre Gewehrläufe reflektieren das Licht der Straßenlaternen. Ich schweife mit dem Fernglas in die Ferne. Nichts. Nur absolute Dunkelheit. Nicht mal ein Tier ist zu sehen. So geht es eine ganze Ewigkeit.

Als wir gerade aufbrechen wollen, sehe ich, wie sich auf der Mauer links von uns zwei der Asrissoldaten streiten. Sie gestikulieren wild, bis einer von der Mauer fällt. Verdammt! Ob er geschubst wurde, erkenne ich nicht. Als die anderen zu ihm laufen, sehe ich etwas entfernt einen Schatten auf die Mauer zusprinten. Ich stupse Logan an.

»Das ist Brian. Morgan muss absichtlich vom Mauervorsprung gefallen sein, damit Brian rüberklettern kann. Wenn er einmal drüben ist, ist es weniger kritisch, wenn er erwischt wird. Er braucht dann nur zu sagen, dass er etwas gesehen hätte und deswegen runtergeklettert sei. Da Brian Leiter der Asris-Gruppe ist, wird man ihm keine weiteren Fragen stellen. Springt er jedoch grundlos vor ihren Augen, werden sie ihm kaum glauben. Im Moment ist er unser größtes Ass im Ärmel, deswegen ist er auch unser Anführer. Als ehemaliger Ausbilder der neuen Mauertruppen kennt er fast jeden der Patrouille, er hat überall seine Augen und Ohren und kennt die genauen Pläne der Grenzkontrollen.« Logan seufzt. »Wäre er nur ein paar Wochen früher zu uns gestoßen, wären Levi, David und Jonas wahrscheinlich nie verhaftet worden.«

Logan schaut betrübt zu mir rüber. Ich kannte die drei Jungen nicht, doch er muss sie sehr gemocht haben, so, wie er mir manchmal von ihnen erzählt.

Brian scheint etwas gesehen zu haben, er läuft wie ein Irrer zu einer Stelle nördlich unseres Baumes. Tatsächlich, dort in der Ferne steht jemand im hohen Gras. Seine dunkle Kleidung dringt durch das helle, vertrocknete und gelbe Gras hindurch.

»Kann er durch die Kuppel mit ihm reden?«, frage ich Logan, doch noch ehe er mir antworten kann, sehe ich, wie Brian sein Screenflat herauszieht, etwas eintippt und dem Fremden hinhält.

Das helle Licht des Bildschirms dringt bis zu uns herauf und zeichnet sich deutlich von der Dunkelheit ringsum ab. Hoffentlich entdeckt man die beiden nicht.

Der Fremde winkt jemanden zu sich und nimmt ein Blatt von ihm entgegen, oder ist es eine Sie?

Die Schrift ist zu klein, um sie mit dem Nachtsichtfernglas entziffern zu können.

»Was glaubst du, was die beiden besprechen?«

»Keine Ahnung, aber wir werden es sicher morgen erfahren.«

Logans Miniscreen vibriert und er zeigt mir Brians Nachricht.

In einer Stunde auf dem alten Riesenrad, ich habe Neuigkeiten.

»Gut, wir werden es gleich hören. Komm, bis zum Freizeitpark ist es ein gutes Stück. Halt dich immer im Schatten der Häuser und Bäume und bleib dicht hinter mir. Die Asris patrouillieren nördlich vom Park. Wir müssen ziemlich schnell laufen, wenn wir heil ankommen wollen. Auf die nächtliche Ausgangssperre legen sie hier leider recht viel Wert.«

Als ob ich das nicht alles längst wüsste …

 

Als wir endlich am Freizeitpark ankommen, kann ich nur noch hechelnd atmen. Ich habe Seitenstiche und mir tut alles weh. Ein gutes Stück laufen war ein gutes Stück untertrieben!

»Wir treffen uns immer oben in einer der alten Gondeln. Der Freizeitpark ist seit Jahren stillgelegt und es sind kaum Überwachungskameras angebracht, da sich sowieso niemand traut, hierher zu kommen. Siehst du die Gondel mit dem grünen Dach?« Er zeigt in die Dunkelheit.

Meine Augen gewöhnen sich allmählich an das Schwarz. Aber Grün sehe ich nicht. Nur Schwarz und helles Schwarz und nicht ganz so helles Schwarz… Silhouetten, die der Mond in unterschiedlich helles Licht taucht. Die Schlaflosigkeit macht mich ganz wirr im Kopf.

»Das ist unser Treffpunkt. Klettern kannst du ja.« Da hat er wohl Recht.

Wir steigen über den verwitterten Zaun und schlagen uns durch das struppige Gebüsch. Das Riesenrad, das alle Bäume überragt, behalten wir dabei immer im Auge. Hier und da sehe ich Märchenfiguren und übergroße Waldpilzfiguren aus dem Boden herausragen. Sie grinsen uns auf eine verzerrte, gruselige Weise an. Überall ist Farbe abgeblättert und einzelne Teile der Figuren liegen von einer Moosschicht bedeckt auf der feuchten Erde.

Als wir gerade am Kettenkarussell, oder das, was davon übrig ist, vorbeikommen, sehen wir Brian von weitem.

»Da seid ihr ja endlich«, ruft er uns zu. »Ich habe wichtige Neuigkeiten. Bestimmt habt ihr beiden mich gesehen«, sagt er an uns gewandt.

»Vom Mammutbaum ist die Sicht immer super«, erklärt Logan.

Nach einer kurzen Pause fügt Brian stolz an: »Ich hab’ ihn gefunden!«

»Wen?«, werfen Natascha und Peter im Chor ein. Bis gerade hatte ich sie gar nicht gesehen.

»Ganz genau weiß ich das ehrlich gesagt nicht. Er sah wie ein Militärangehöriger aus. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, gehört er zu einem kleinen Team husanischer Militärforscher, die die Kuppel von außen untersuchen. Jedenfalls wollen er und seine Frau sich noch einmal mit uns treffen, um mehr über die innere Gesellschaft zu erfahren. Im Gegenzug wollen sie uns Informationen zur Außenwelt und der Kuppelbeschaffenheit geben. Also, seid ihr dabei? Morgen Nacht um halb drei während des Wachwechsels am Fluss? Ich werde die Truppen so einteilen, dass ich das Gebiet weitestgehend alleine überwache.«

Natürlich sind wir dabei. Wer lässt sich die Chance auf Informationen aus erster Hand schon entgehen? Natascha und Peter sind genauso aufgeregt wie wir.

 

Ich komme müde Zuhause an. Martin schläft tief und fest. Da ich ihn nicht aufwecken will, taste ich mich vorsichtig im Dunkeln ums Bett herum und lege mich neben ihn. Er dreht sich zu mir und öffnet seine Augen einen Spalt breit.

»Schlaf weiter«, flüstere ich und streichle über seine freiliegende Hand neben dem Kopfkissen. Er schließt die Augen und ich höre, wie sein Atem wieder ruhiger wird. Dann schlafe auch ich schnell ein.

Als ich aufwache, ist es bereits früher Nachmittag und die Sonne zieht langsam gen Westen. Mir war gar nicht klar, wie spät es gestern noch wurde.

»Na, auch schon wach? Ich hab’ uns Nudeln gekocht, falls du Hunger hast. Sie stehen im Kühlschrank.«

Mit verklebten Augen stehe ich am Türrahmen angelehnt, gähne herzhaft und beobachte Martin beim Zeitunglesen. Er wirkt immer so konzentriert, und das bei allem, was er macht. Als ginge er alles mathematisch an.

»Kannst du auch etwas anderes als Nudeln kochen?«, frage ich belustigt.

»Nö. Reicht doch.«

Ich schüttele unwillkürlich den Kopf. Typisch Mann, denke ich mir, und muss lachen. Morgen wird es erst einmal ein paar Kochstunden geben, sonst sterbe ich irgendwann vor Eintönigkeit.

Den ganzen Tag über lebe ich nur so vor mich hin. Ich bin so müde! Die gestrige Nacht hat mich geschafft. Und mir graut es bereits vor der kommenden. Um wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen, lege ich mich am frühen Abend im Wohnzimmer auf die Couch. Ich möchte nicht, dass Martin aufwacht, wenn ich losgehe.

 

Logan steht wieder pünktlich vor meinem Haus. Als wir uns auf den Weg machen, kann ich dennoch kaum die Augen aufhalten. Das mit dem Schlafnachholen hat nicht so gut funktioniert, wie ich es gehofft hatte. Ich bin ständig aufgewacht und musste aufs Klo oder hatte einen so trockenen Mund, dass ich aufstehen und zum Wasserhahn gehen musste, um etwas zu trinken.

Obwohl wir meinetwegen nur schleichend vorankommen, sind wir die Ersten am Treffpunkt.

Das Rauschen des Wassers ist so laut, dass ich die Wahl des Ortes jetzt besser verstehen kann. Wir sind hier nicht nur abgelegen, sondern auch sicher vor Lauschangriffen. Außerdem schützen uns die hohen Bäume vor den unerwünschten Blicken der anderen Nachtwachen.

Da der Fluss flach ist, gehen wir unter der Mauer, die wie eine Bogenbrücke über ihn gespannt ist, hindurch. Obwohl ich nur bis zu den Knien im Wasser stehe, bin ich klitschnass. Noch schlimmer hat es Peter getroffen, der kurz nach uns mit Natascha eintrifft und offensichtlich im Wasser ausgerutscht ist.

»Alles in Ordnung bei euch?« Er blickt uns missmutig über sein Ungeschick an. »Brian hat mir gerade geschrieben, dass er in fünf Minuten da ist. Es gab wohl ein Problem mit den Truppenplänen, wir dürften jedoch ungestört sein«, berichtet er uns mit seiner tiefen und rauen Stimme.

Plötzlich höre ich Logan aufgeregt neben mir vor sich hin murmeln, er zeigt auf zwei Schatten außerhalb der Kuppel: »Da, da! Das müssen die beiden sein. Habt ihr eure Screenflats zum Schreiben mit?«

Außer mir nicken alle. Ich besitze immer noch keines.

Von hinten höre ich Brian auf uns zukommen, seine schweren Schritte plätschern im Wasser nieder.

 

Die Frau mir gegenüber zieht eine Art Screenflat heraus, jedoch ist es irgendwie anders als unsere. Jetzt sehe ich es. Es ist gar kein richtiges Screenflat, sondern vielmehr eine Projektion, die aus ihrer Brille zu kommen scheint. Sie projiziert eine weiße Fläche auf die Kuppel. Hoffentlich erspähen die Wachen den hellen Lichtschein nicht.

Brian hat das Radio mitgebracht und schraubt nun an diesem herum. Während er Logan ein altes Funkgerät in die Hand drückt, dreht er wie verrückt an den Knöpfen. Die fremde Frau projiziert eine vierstellige Zahl auf die Kuppelfläche. Brian scheint tatsächlich etwas damit anfangen zu können. Voller Euphorie schaut er uns grinsend an und steht aus der Hocke auf.

»Ich hab’s. Wenn wir alles richtiggemacht haben, können wir mit ihnen reden.«

»Wie, über das alte Radio?«, frage ich ihn.

»Ja, genau. Das Radio dient als Frequenzverstärker. Okay, dann wollen wir mal loslegen, mal schauen, was die uns so erzählen.«

Brian nimmt das Funkgerät zum Mund und stellt uns vor.

»Guten Abend, ich bin Brian und das sind meine Freunde Peter, Natascha, Kim und Logan. Wenn Sie möchten, können Sie uns gerne ein paar Fragen stellen.« Er zeigt dabei auf jeden von uns.

Der husanische Akzent stößt deutlich bei den Fremden heraus. »Vielen Dank. Mein Name ist Doktor Wladislaw Raburitsch und das ist meine Frau Doktorin Sybill Raburitsch. Wir kommen aus Moslava, um die Kuppel zu untersuchen und Informationen über die Leute hier zu sammeln. Unsere Regierung plant, einen Weg zu finden, die Kuppel abzuschalten.«

Wir schauen uns überrascht und freudestrahlend an, nur Peter blickt etwas kritisch drein. »Was soll das heißen? Ihre Regierung war es doch, die diese Kuppel hat entstehen lassen, da müssen Sie doch wissen, wie man sie abstellt«, wirft er verwirrt ein.

»Wir? Nein! Die Talmenier haben sie aufgebaut. Aber mittlerweile sind wir die neuen Herrscher über den Großteil der östlichen Hemisphäre.«

Man sieht ihm den Stolz für sein Land förmlich an. Was für ein Patriot, denke ich mir …

»Diese Kuppel ist einfach faszinierend. Wir wollen sie erforschen, um Ihnen dann zu helfen, sie aufzulösen.«

Er kommt näher an das Plasmafeld heran und streckt seine Hand nach ihm aus, als würde er es streicheln wollen. Ich will schon aufschreien, ihn warnen, als er von selbst zurücktritt und nur noch bedrückt den Kopf schüttelt. »Sagen Sie, wie ist es für Sie, so eingesperrt zu sein? Wie ist ihre Gesellschaft aufgebaut? Wer regiert hier? Wir wollen einfach alles wissen.«

Brian beginnt zu erzählen, seine Worte klingen beinahe wie die, die Jane vor einigen Wochen an mich richtete, als sie mir diese Welt vorstellte. Bei vielen Dingen, wie den Kameras und Janes Namen, zuckt er jedes Mal unweigerlich zusammen. Seine Miene wirkt dann für einen Sekundenbruchteil hasserfüllt. Als Logan das Wort übernimmt, horche ich auf:

»Wie sieht die Welt da draußen aus? Sie sagten eben, Moslava regiere nun über die östliche Hemisphäre. Wie meinen Sie das?«

Wieder spricht der alte Mann voller Stolz über die Erfolge seines Landes.

»Die Welt wurde neu eingeteilt. Wir herrschen über die östliche Hemisphäre, während die Talmenia über die westliche herrschen. Die Kommunikation und Wirtschaft beschränken wir jeweils auf unser eigenes Herrschaftsgebiet. Unsere Gesellschaft profitiert dabei sehr von der letzten technischen Revolution. Haben Sie weitere Fragen?« Er erinnert mich an einen meiner Lehrer, als er das sagt.

Mein ganzer Kopf ist voller Fragen. Bestimmt geht es den anderen genauso.

»Ähm, ja, wieso wollen Sie die Kuppel plötzlich stürzen? Wir sind seit so vielen Jahren hier gefangen, woher der Sinneswandel?«, fragt Logan skeptisch.

»Diese Kuppel ist ein Zeichen für die Unterdrückung durch die Talmenier. Es wird Zeit, dieses Ding zu vernichten! Außerdem erhoffen wir uns, hilfreiche Erkenntnisse aus den Untersuchungen des Plasmafeldes zu erlangen. Des Weiteren sind wir sehr an euren Forschungsergebnissen und eurem Leben, der Isolation, interessiert. Ist es denn nicht in eurem Interesse, diese Kuppel zu stürzen und endlich frei zu sein?«

Frei sein? Was ist das schon, denke ich mir.

»Doch doch, natürlich wollen wir hier raus. Haben Sie bereits einen Plan? Wollen Sie die Kuppel sprengen?«, fragt Peter.

»Sprengen? Herrgott, nein!«, lacht der Husane. »Wir sind noch nicht fertig mit unseren Forschungen. Die Kuppel wird mit Sonnenenergie gespeist. Wir müssen versuchen, die Energie umzupolen.«

Brian schaut den Husanen skeptisch an.

»Irgendwo müssen doch Transformatoren stehen, die die Energie umwandeln.«

Der Husane schüttelt nur den Kopf.

»Sie befinden sich unterirdisch. Da wir ihren Standort nicht kennen, haben wir eine alternative Idee, die Kuppel aufzulösen, entwickelt. Dazu ist jedoch Ihre Hilfe nötig.«

»Natürlich. Sprechen Sie weiter.«

»Wir gehen davon aus, dass es mit zwei EMP-Geräten möglich sein dürfte, wenn sie außen und innen gleichzeitig gezündet werden.«

»EMP?«, frage ich neugierig, doch es ist nicht der Fremde, sondern Brian, der mir antwortet. »Elektro-Magnetischer-Impuls.«

»Genau! Ich denke, wir können unsere Forschungen binnen der nächsten zwei bis drei Wochen abschließen. Anschließend müssten Sie ein sehr starkes EMP-Gerät bauen. Wir werden unseres an der höchsten Kuppelstelle starten. Ihr müsstet es ebenfalls an selbiger Stelle vom Boden aus einschalten. Schaffen Sie es, bis Ende des Monats eines zu bauen?«

»Puh«, sagt Peter. »Ich glaube, wir haben sogar eines.«

Wir drehen uns alle zu ihm um und schauen ihn überrascht an.

»Ein Kumpel hat vor Jahren mal daran geforscht«, spricht er weiter. »Aber es ist sicher verschlossen. Es dürfte schwierig werden, es zu stehlen. Soviel ich weiß, ist es in einem der Universitätsgebäude eingelagert. Aber wir werden das Kind schon schaukeln.« Er zuckt mit den Schultern und schaut wieder nach unten. Anscheinend steht er bei solchen Gesprächen nicht gerne im Mittelpunkt.

»Sehr gut. Es freut mich, das zu hören. Es muss jedoch einen enorm starken Impuls hervorbringen, damit es richtig funktioniert. Ich werde Sie in drei Wochen, sobald wir unsere Forschungen abgeschlossen haben, erneut kontaktieren. Wir sollten nun gehen. Auf ein gutes Gelingen.«

Wir nicken ihm respektvoll zu und machen uns auf den Rückweg.

»Wieso fragen wir nicht einfach Jane, will sie denn nicht, dass die Kuppel verschwindet?«, frage ich, während Logan mir seine Hand reicht, um mich aus dem Wasser zu ziehen. Das Ufer ist so matschig und rutschig, dass ich es gerade so schaffe, zum Weg heraufzuklettern, ohne als nasser Sack zu enden.

Logan zieht die Augenbrauen hoch. »So gern ich dich auch habe, aber manchmal bist du echt naiv. Jane ist wohl die Einzige, die den Kuppelsturz auf keinen Fall wollen würde. Als ob sie außerhalb der Kuppel irgendwo wieder so viel Macht erlangen könnte.«

Während wir im mäßigen Tempo in Richtung Stadt rennen, denke ich darüber nach. Wahrscheinlich hat er Recht. Bei dem, was ich bisher über Jane erfahren habe, ist ihr die Macht am wichtigsten. Sie würde sie vermutlich nicht einmal für die süße Freiheit der weiten Welt aufgeben.

Wir lassen die Dunkelheit des Dickichts um die Grenze herum hinter uns und schleichen durch die heller erleuchteten Straßen des inneren Stadtbezirkes.

Müde und geschafft kommen wir bei mir zu Hause an. Martin ist nicht da, aber das ist in Ordnung. Ich will sowieso einfach nur noch schlafen.

 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739460864
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Young Adult Zukunftsroman Jugendbuch Dystopie Dreiecksbeziehung Romantasy Kinderbuch

Autoren

  • Lisa M. Louis (Autor:in)

  • Lisa Summer (Autor:in)

Lisa M. Louis schreibt und liest am liebsten Bücher für Jugendliche und junge Erwachsene. Ihre Leidenschaft steckt sie vor allem in das Schreiben von spannenden Dystopien und humorvollen Liebes- und Alltagsgeschichten, die sie als Lisa Summer veröffentlicht. Mit ihrem Debütroman "Observe - Die neue Welt", gewann sie auf der Leipziger Buchmesse 2016 den Amazon-Bestseller-Express.
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Titel: Observe