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Italian Feelings

von Lisa Summer (Autor:in) Lisa Wüllenweber (Herausgeber:in)
218 Seiten
Reihe: Wo die Liebe hinzieht ..., Band 4

Zusammenfassung

Seit ihre Schwester ausgezogen ist, spürt Nicole vor allem eines: Langeweile.
Kurzerhand beschließt sie, mit dem alten Moped ihres Vaters nach Italien zu fahren und dort den Rest der Semesterferien zu verbringen.
Während eines Sturms gibt ihre Schwalbe kurz vor der Ankunft am Gardasee den Geist auf, doch zu Nicoles Rettung gabelt sie der attraktive Hotelierssohn Diego auf und bietet ihr nicht nur eine Mitfahrgelegenheit, sondern auch einen Schlafplatz an.
Da die Reparatur des Mopeds teurer als geplant ausfällt, schlägt Diego ihr vor, in einem der Hotels seines Vaters auszuhelfen. Nicole nimmt den Job an und steckt plötzlich in der Zwickmühle, denn nicht nur Diego macht ihr schöne Augen, sondern auch Kids-Club-Animateur Giulio. Schon bald muss sie erfahren, dass der sonnige Schein in der Hotellandschaft trügt.

Seine Stimme ist nur noch ein sinnlicher Hauch, als er seine Lippen erneut auf meine legt. Vorsichtiger. Gefühlvoller ...

Jeder Teil der "Wo die Liebe hinzieht ..." Reihe kann unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden.

Band 1: British Love
Band 2: Swedish Kisses
Band 3: French Desire
Band 4: Italian Feelings
Wo die Liebe hinzieht ... Sammelband (Teil 1-3)

Außerdem von der Autorin erschienen:
Lisa Summer: Ich kann dich verdammt gut riechen (Liebeskomödie)
Lisa Summer: High Seas - Leidenschaft auf hoher See (romantic Thrill)
Lisa Summer: High Seas - Verloren im Paradies (romantic Thrill)
Lisa Summer: Liebspost vom Weihnachtsmann (Weihnachtsromanze)
Lisa Summer: Die Farben meiner Hoffnung (New Adult Dystopie)
Lisa M. Louis: Observe - Die neue Welt (YA-Dystopie)
Lisa M. Louis: Observe - Die andere Seite (YA-Dystopie)
Lisa M. Louis: Observe - Sammelband

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

È tutto troppo pericoloso.

Nicole

 

»Schatz, kommst du bitte?«

»Gleich, Mama.« Die Schraube fällt auf den Boden, rollt an meinem Turnschuh vorbei und unter das Auto hinter mir. »Verdammt«, fluche ich und drehe mich um. Auf dem Boden tastend, lege ich mich auf den Bauch und greife blind unters Auto. Wo ist das blöde Ding nur?

»Nicole, wo bleibst du denn? Das Essen wird kalt.«

»Ja, warte. Gleich ...«, murmle ich und spüre die metallene Spitze zwischen meinen Fingern. Ich hab’ sie. Vorsichtig rolle ich das kleine Ding zu mir und hebe sie auf. »Da bist du ja.« Bevor ich sie erneut verliere, stecke ich die Schraube in eine leere Tupper-Dose und stelle sie auf den Sitz meines Mopeds. Die alte Simson meines Vaters erstrahlt endlich wieder in neuem Glanz.

»Nicole, wo bleibst du denn?« Mein Vater steckt den Kopf durch die Garagentür und sieht mich mit zusammengezogenen Brauen an. Dann runzelt er die Stirn und ein anerkennender Blick tritt in sein Gesicht. »Wow, so gut sah Jessy zuletzt vor dreißig Jahren aus.« Seine Hand gleitet über den ledernen Sitz und er lächelt.

»Jetzt müsste nur noch der Motor anspringen«, sage ich und werfe einen skeptischen Blick auf mein Maschinchen.

»Wenn ich dir helfen soll, brauchst du nur Bescheid geben.«

»Danke, Papa. Aber wenn ich Fragen habe, dann skype ich mit Lars.«

Papa zuckt die Schultern. Klar würde er gerne mehr Zeit mit mir verbringen und die Simson in Schuss bringen, aber ich weiß auch, dass gerade eine größere Wirtschaftsprüfung in seiner Firma ansteht, die genug auf Trab hält. Da soll er sich nicht verpflichtet fühlen, hier zu sein, nur, weil ich sonst gerade niemanden habe.

Ich gehe mir die Hände waschen und folge ihm ins Esszimmer, wo meine Mutter bereits wartet.

»Sorry, mir ist eine Schraube unters Auto gerollt. Die wollte ich noch vorkramen.«

Mutter seufzt. »Es ist dein letzter Sommer, Schatz und du verbringst ihn in der Garage. Die Sonne scheint, wieso rufst du nicht jemanden an und ihr geht ins Freibad?« Wenn das nur so einfach wäre ...

»Du weißt, dass niemand hier ist.«

»Papperlapapp«, antwortet sie. »Was ist mit Christina?«

»In Australien, seit drei Wochen schon. Wir haben uns doch zusammen die Fotos angeschaut, die sie geschickt hat.«

»Stimmt. Die Soße nur über die Kartoffeln?«

Ich nicke. »Ja, bitte. Und ruhig mehr Salat.«

Mama reicht mir den Teller und ich setze mich neben meinen Vater an den Tisch.

»Und die anderen aus deiner Klasse? Die können doch nicht alle zu den Kängurus spaziert sein.«

»Nein, nur Christina und Michelle. Laura ist als Betreuerin im Ferienlager im Harz, Nick und Markus müssen arbeiten und die anderen sind fast alle im Urlaub oder schon wegzogen. Vielleicht hätte ich auch irgendwo im Osten oder Westen studieren sollen, statt in Bayern zu bleiben. Na ja, immerhin muss ich so nicht ausziehen und spare mir die Miete. Die hätte ich mir in München sowieso nicht leisten können.

»Nun ist aber gut. Du kannst doch deswegen nicht den ganzen Tag drinnen hocken und Trübsal blasen«, meint Mama und legt ihr Besteck zur Seite. »Du bist ja schlimmer als deine Schwester. Die hat nicht ständig gejammert, als sie alleine nach Schweden gezogen ist.«

Automatisch bildet sich eine tiefe Falte auf meiner Stirn. Nicht gejammert? Da habe ich aber andere Erinnerungen an sie. Na ja, immerhin ist sie bald wieder hier. Wenn alles klappt, kann Thore bei uns promovieren. Ich hoffe zumindest, dass es klappt. In den letzten Wochen ist sie mir schließlich genug damit auf die Nerven gegangen, wie sehr sie ihn vermisse. Dabei waren die nur das Sommersemester über getrennt.

»Also, wie sieht dein Plan aus?«, fragt Mama schnippisch und Papa wirft ihr einen verwirrten Blick zu.

»Mama, ich bin neunzehn und studiere bald. Wenn ich Leute kennenlernen will, dann kriege ich das schon hin. Mach dir nicht so viele Sorgen um mich.«

»Du kannst dir ja die Simson schnappen und eine Tour durch die Alpen machen, da bin ich früher oft lang gefahren.«

Mama bekommt plötzlich Schnappatmung und schaut entsetzt zu Dad. Würde ihr recht geschehen, so wie sie mich aktuell betüddelt.

»Du spinnst wohl, Richard. Meine Tochter fährt bestimmt nicht alleine durch die Alpen.«

Ich schaue gespannt von ihr zu meinem Vater, doch er kontert nicht. Mum ist schon ganz rot vor Wut.

»Warum eigentlich nicht, ich könnte zum Gardasee fahren. Dann kann ich endlich noch mal ein bisschen Italienisch sprechen. Du meintest doch selbst, dass man eine Sprache auch sprechen muss, wenn man sie nicht verlernen will.«

Oh, oh. Der Vorschlag ging zu weit. Meine, sonst immer so lockere, Mutter krallt die Nägel in die Serviette und reißt die Augen auf. Jetzt hat sie die Anmut eines Drachen und nicht mehr die einer Eidechse.

»Beruhig dich, war doch nur ein Scherz«, sage ich beschwichtigend und zerdrücke die Kartoffeln mit meiner Gabel. Langsam löst sich die Anspannung in Mums Gesicht und sie schiebt sich ein Stück Rosenkohl in den Mund. Als ich es ihr gleichtue, verbrenne ich mir prompt die Zunge. Das war dann wohl ihre Rache.

Eine halbe Stunde später liege ich wieder auf dem Boden der Garage und starre von unten auf das Moped. Irgendwie gefällt mir die Idee einer längeren Spritztour immer besser.

 

 

Nicole

 

»Vergiss es!«

»Aber warum? Das war doch deine Idee.«

»Ich habe Nein gesagt!«

»Mann, Papa! Ich bin neunzehn, du kannst mir das nicht verbieten!«

»Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst ...« Ich verdrehe die Augen, ist das wirklich sein Ernst? Papa sieht mich streng an.

»Clara darf mal eben so nach Schweden ziehen, aber wenn ich nur eine kleine Spritztour in die Berge machen will, wird es mir gleich verboten.« Mit verschränkten Armen stehe ich vor ihm und schaue ihn patzig an. Erst schlägt er mir den Ausflug vor und jetzt, wo ich eine konkrete Planung für die Route vorgelegt habe, ist er auch wieder nicht zufrieden.

»Clara ist viel älter als du.«

Meine Augenbraue wandert nach oben. »Fünf Jahre, das ist doch nichts. Als würdest du Ja sagen, wenn ich schon vierundzwanzig wäre. Ich bin volljährig, Dad. Also, was soll die Diskussion?«

Papa zuckt mit den Schultern. »Du hast gefragt, und ich habe Nein gesagt. Basta. Deine Mutter würde es sowieso nicht dulden. Das weißt du ganz genau.«

»Sie muss es ja nicht erfahren«, schlage ich vor.

Dieses Mal ist es mein Vater, der die Brauen hochzieht und mich skeptisch ansieht. »Und wie willst du das anstellen? Was ist außerdem mit den Pferden? Ich werde sie nicht täglich ausreiten!«

Ich zucke mit den Schultern und spiele mit dem Verschluss des alten Helmes, den mir mein Vater zusammen mit der Simson vererbt hat. »Ich kann ja sagen, dass ich Freunde in Nürnberg besuche. Das sind bloß zweihundert Kilometer, die wird sie hoffentlich erlauben. Und um die Pferde kann sich Tamara kümmern. Muss sie, wenn ich bald zur Uni gehe und Prüfungen habe, ja auch.« Tamara ist die Reitbeteiligung, die sich, seit Clara ständig in Schweden ist, mit um unsere Lieblinge kümmert. Sie ist zwar erst dreizehn, macht das aber klasse.

»Hmm«, brummt mein Vater und seine Sorgenfalte auf der Stirn tritt hervor. Mit Daumen und Zeigefinger reibt er sich über seinen Dreitagebart. »Ich weiß nicht. Die Kiste fährt doch noch gar nicht richtig. Das ist alles viel zu gefährlich.«

»Ach Papa«, seufze ich. »Wenn du nicht willst, dass ich sie fahre, wieso hast du sie mir dann zum Abitur überlassen? Du kannst doch nicht davon ausgehen, dass ich jetzt die ganzen Ferien daran herumbastle, nur um sie anschließend in der Garage stehen zu lassen.«

Papa kräuselt die Lippen und presst sie zusammen. »Na gut«, sagt er schließlich, »aber bevor du auch nur einen Meter mit ihr fährst, mache ich die Endkontrolle. Und ich will die genaue Route kennen. Und … und such’ dir eine gute Ausrede für deine Mutter aus. Wenn sie spitzkriegt, wo es wirklich hingeht, reißt sie uns den Kopf ab. Und sollte sie jemals etwas davon erfahren, weiß ich von nichts! Deal?«

Ein breites Lächeln tritt in mein Gesicht und ich falle Papa um den Hals und drücke ihm einen dicken Schmatzer auf die raue Wange. »Du bist der Beste.«

»Erinnere mich daran, wenn deine Mutter hiervon Wind bekommt und du den Rest deines Lebens Hausarrest bekommst.« Trotz seiner ernsten Stimme lächelt er. Im nächsten Moment stößt er jedoch einen tiefen Seufzer aus und streichelt den Sitz der Simson. »Also, wo hakt das Schätzchen denn noch?«

Ich zeige auf die Blinker, die neben uns auf der Werkbank liegen. »Die muss ich anbringen, außerdem sind neue Bremsbacken nötig, Öl muss auch aufgefüllt werden und der Motor macht beim Start manchmal ein komisches Geräusch. Aber vielleicht kommt das auch vom fehlenden Öl.«

Dad nimmt die Blinker in die Hand und betrachtet sie genau. »Na komm, bis Montag kriegen wir das hin.«

»Und dein Auftrag? Mama meinte, du hättest jede Menge zu tun.«

Papa zuckt mit den Schultern und beginnt, im Werkzeugkasten nach irgendetwas zu suchen. »Hab’ ich auch. Aber manchmal geht Familie einfach vor. Außerdem wer weiß, wie oft ich noch die Chance haben werde, ein ganzes Wochenende mit dir zu verbringen, jetzt wo die Uni bald startet und du flügge wirst.«

»Du bist der Beste«, wiederhole ich und betrachte die losen Kabel, an die die Blinker angeschlossen werden sollen. Dann ziehe ich eine Zange aus dem Werkzeugkoffer und beginne, die Isolierung ein Stück zu lösen, damit Papa gleich alles verkabeln kann. Ich genieße es, mit ihm zusammenzuarbeiten und wahrscheinlich hat er sogar recht. Nach den Ferien war es das vermutlich. Jetzt muss ich nur noch einen Weg finden, Mama zu überzeugen.

 

Es ist Sonntagnachmittag und wir haben es geschafft. Aufgeregt setze ich den Helm auf, während Dad das Garagentor hochschiebt. »Bereit?«, fragt er mich und ich nicke.

»Bereit.« Ich schwinge mich auf die hellblaue Simson, drehe den Schlüssel um und lasse meinen Fuß auf den Kickstarter sausen. Der Sitz unter mir beginnt zu vibrieren und der Motor rattert los. Vor mir lächelt mich Dad zufrieden an und reckt den Daumen nach oben. Das ist mein Zeichen, dass ich vorsichtig Gas geben und mich in die Einfahrt rollen lassen soll.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Mum die Gardine des Küchenfensters zur Seite schiebt und kurz winkt. Dann öffnet sie das Fenster ganz und streckt den Kopf heraus. »Da habt ihr ja ganze Arbeit geleistet«, ruft sie über den lautstarken Motor hinweg und Papa antwortet ihr irgendetwas. Ich drehe den Gasgriff ein Stück weiter und sause den Bordstein runter und um die Kurve, bis zum Ende der Straße. Dort drehe ich und fahre gemütlich an der verdutzt dreinblickenden Nachbarin vorbei und zurück zu unserem Haus. Dad wartet bereits auf mich und nimmt mich in Empfang.

»Ein wunderbarer Sound«, sagt er und nimmt mir den Helm ab, nachdem ich abgestiegen bin.

»Lässt sie sich noch genauso gut lenken wie damals?«

»Ich denke«, antworte ich zögernd. Immerhin saß ich gerade zum ersten Mal auf ihr. In jedem Fall fährt sie genauso geschmeidig wie mein alter Roller, nur, dass sie nicht so stark gedrosselt ist und der Motor einen besseren Sound von sich gibt.

»Das sah ganz schön gefährlich aus«, gibt Mama zu bedenken, während sie uns und Jessy vom Fenster aus betrachtet.

»Ach Quatsch«, verteidigt mich Papa und ich schaue ihn überrascht an. Jetzt muss ich Mama nur noch von meinem angeblichen Scheinausflug nach Nürnberg überzeugen, und dann geht es auf nach bella Italia.

 

Nicole

 

Am Abend sitzen wir gemeinsam am Tisch und essen die Reste vom Mittag. Ich genieße den Sonntagsbraten, denn wenn jetzt alles klappt, werde ich mich die nächsten drei Wochen von Pizza, Pasta und Tramezzini ernähren.

Papa sieht erschrocken auf, als ich mich räuspere. Er weiß genau, was ich nun fragen will. Ich wische mir die plötzlich verschwitzten Hände an der Hose ab und schaue zu meiner Mutter, die mein Räuspern offenbar gekonnt überhört hat. Egal. Ich zieh das Ding jetzt durch. Sarah-Marie, eine alte Schulkameradin die eine Stufe über mir war, weiß bereits Bescheid und wird im Notfall Mama alles vorlügen, was geht.

»Mama«, sage ich vorsichtig und bin selbst über meine piepsige Stimme überrascht.

Meine Mutter sieht endlich auf und lächelt mich an. »Ja, Schatz?«

»Ich hab’ gestern mit Sarah-Marie geschrieben, du weißt schon, die Tochter von Ursula, die auch auf dem Max-Born war. Sie studiert jetzt in Nürnberg und hat gefragt, ob ich sie nicht besuchen kommen will. Ihr Mitbewohner ist bis zum Ende der Ferien vereist und ich könnte so lange in seinem Zimmer schlafen.«

»Wenn du magst«, antwortet Mama überraschend. »Ich denke, du bist alt genug, um mit dem Zug nach Nürnberg zu fahren und ein paar Tage dort zu schlafen. Der Alex fährt ja durch, soviel ich weiß. Oder brauchst du Geld fürs Bayernticket?«

Ich schiele zu Papa, der leicht die Schultern zuckt, während Mama wieder auf ihre Gabel schaut. Ein Glück hat sie unseren Blickaustausch nicht bemerkt. »Also ...«, ergreife ich das Wort, »Ich wollte eigentlich mit Jessy fahren.«

»Wer ist Jessy? Jetzt sag nicht, du willst mit irgendeinem Typen dorthin fahren.«

Ich schaue zu Papa, der sich die Hand vor den Mund hält und aussieht, als würde ihm der Rotwein gleich aus der Nase schießen. Mama bemerkt meinen Blick und starrt Papa nun ebenfalls an, der plötzlich losprustet.

»Was ist so komisch?«, fragt meine Mutter trocken und nimmt Papa das Glas Wein aus der Hand, dessen Inhalt bereits bedächtig hin und her schwappte hat.

»Jessy ist die Simson«, kläre ich sie auf und ihre Stirn kräuselt sich.

»Ich weiß nicht ...«, sagt sie ruhig und stellt das Glas vor Papa ab. »Ist das denn sicher?« Sie schaut fragend von Papa zu mir, der sich langsam wieder einzukriegen scheint.

Papa nimmt einen großen Schluck, dann nickt er. Seine Wangen sind ganz rot geworden vom Lachen und die braunen Augen wirken feucht. »Liebling, lass sie ihre Erfahrung machen. Bis Nürnberg sind es knapp zweihundert Kilometer, dass wird mein Mädchen schon schaffen. Ich bin schon viel weitere Strecken mit Jessy gefahren.«

»Hmm.« Wirklich überzeugt sieht Mama noch nicht aus.

»Ich melde mich auch immer wieder zwischendurch, versprochen.«

»Und dein Gepäck? Du kannst schlecht einen Koffer aufs Moped schnallen.«

Papa verdreht die Augen, ohne dass Mama es mitbekommt. Am liebsten würde ich es ihm bei dieser dummen Frage gleichtun, doch ich will es mir nicht mit meiner Mutter verscherzen. Also greife ich stattdessen ihre Hand und antworte ganz lieb: »Ihr habt mir doch vor zwei Jahren den tollen Bergsteiger-Rucksack für den Wanderausflug in die Sächsische Schweiz geschenkt. Den würde ich einfach mitnehmen.« Papa nickt neben ihr und lächelt mich an. Offenbar war das die richtige Wortwahl.

Mama stößt einen tiefen Atemzug aus, dann nickt sie. »Na gut. Aber du meldest dich jede Stunde. Du wirst ja eh öfters tanken müssen.«

»Danke, Mama«, sage ich und beuge mich quer über den Tisch, sodass meine langen braunen Haare nur knapp an der offenen Sauciere vorbeifallen.

Ganz glücklich sieht meine Mutter noch immer nicht aus, als ich mich wieder zurücklehne. Hoffentlich kann Papa ihr die letzten Bedenken nehmen, ehe es in wenigen Tagen losgeht. Morgen will ich mir noch eine Powerbank fürs Handy und eine Halterung fürs Lenkrad holen, damit ich mein Smartphone als Navi nutzen kann. Außerdem brauche ich einen kleinen Schlafsack, falls ich in einer der vielen Alpinhütten übernachten muss. Ein bisschen kompaktes Werkzeug, Flicksachen und reichlich Proviant, sollen auch mit.

Als ich später am Abend noch einmal ins Wohnzimmer komme, sitzt Papa alleine auf der Couch und schaut Formel 1. Mama scheint so lange duschen zu sein. »Meinst du, Mama findet es heraus?«, frage ich leise und setze mich im Schneidersitz neben meinen Vater.

Dad hebt die Schultern und schaltet den Fernseher etwas leiser. »Wahrscheinlich nicht. Weiß denn diese Sarah-Marie Bescheid.«

»Ja, und ihrer Mutter will sie auch erzählen, dass ich komme. Nur für den Fall, dass Mama sie mal fragt.«

»Ist das die Ursula, die den Frisör Salon hat?«

»Ja, genau. Deswegen. Nicht, dass Mama mal zu ihr geht und sie alles auffliegen lässt.«

Papa legt den Arm um meine Schulter und ich lehne mich an ihn. Ich glaube, es ist Jahre her, dass wir das letzte Mal gemeinsam so auf der Couch saßen. »Und, traust du dir die Reise wirklich zu? Ich hab’ mir die Route angeschaut. Fünfhundert Kilometer sind viel mit der Schwalbe. Unterschätze das nicht. Und nimm einen kleinen Kanister Gemisch mit, wenigstens einen Liter, nur für den Notfall. Wenn du willst, bringe ich dir morgen von der Tanke etwas Benzin mit und mische es dir mit Öl zusammen. Irgendwo in der Garage müsste noch ein kleiner Kanister rumliegen. Und schick mir über WhatsApp deinen Standort, damit ich wenigstens halbwegs beruhigt schlafen kann«, ergänzt er mit einem Zwinkern.

»Dann schau aber, dass Mama nicht an dein Handy geht. Die kriegt einen Herzinfarkt, wenn sie mich Richtung Brenner statt Nürnberg fahren sieht.«

Papa stößt ein leises Glucksen aus und gibt mir einen Kuss auf den Schopf. »Das krieg ich hin«, antwortet er und dreht die Fernseher-Lautstärke wieder auf.

Ich schließe die Augen und lasse die Geräusche aus dem Fernseher auf mich einrieseln, bis Mama irgendwann reinkommt und mich ins Bett schickt. Ich hatte ganz vergessen, wie geborgen man sich in Papas Armen fühlen kann.

 

Kapitel 2

Non va. Mi sento sorvegliato.

Nicole

 

Es geht los.

Ich hätte mir kaum besseres Wetter für den Antritt meiner Reise wünschen können. Die Sonne lacht mich an, als ich früh am Morgen das Garagentor öffne und ein frischer Wind meine Nase kitzelt. Mama kommt zur Tür und hilft mir, den schweren Rucksack, der von meinem Steißbein bis über meinen Kopf hinaus reicht, überzulegen. Ich ziehe den Hüft- und Brustgurt fest, sodass nichts mehr wackelt, setze den Helm auf und schiebe Jessy in den Hof.

Mama drückt mich fest und küsst mich auf die Wange. »Melde dich regelmäßig, bitte. Ganz egal, wie alt du inzwischen bist, für mich wirst du immer mein kleines Mädchen sein.«

»Weiß ich doch. Aber auch kleine Mädchen werden irgendwann erwachsen und wollen auf Abenteuersuche gehen.« Oh nein, jetzt werden ihre Augen feucht. Ich will nicht, dass sie meinetwegen weint und nehme sie rasch in den Arm. »Es wird alles gut gehen, Mama. Ich werde dir stündlich schreiben und wenn ich in Nürnberg bin, rufe ich fix an. Aber denk dran, beim Fahren muss ich mich konzentrieren, also warte bitte immer, bis ich schreibe, okay?«

»In Ordnung, mein Schatz. Pass auf dich auf. Und hier, vielleicht brauchst du die. Fürs Tanken oder so.« Sie drückt mir einen Fünfzig-Euro-Schein in die Hand und lächelt mich an. Das ist so typisch meine Mutter – erst gegen die Fahrt sein und dann den Sprit zahlen wollen.

»Dankeschön«, sage ich und umarme sie noch einmal. Dann stecke ich das Geld rasch in die Brusttasche meiner Lederjacke, das einzige Taschenfach, an das ich durch den Rucksack noch gut drankomme, und schwinge mich auf die Schwalbe. Zum Abschied winke ich kurz, dann rolle ich aus der Einfahrt und düse zur Aral, um den Tank mit Benzin und Öl für die erste Wegstrecke zu füllen. Hoffentlich krieg ich das mit dem Mischen richtig hin. Bevor ich es vergesse, schicke ich meinem Vater noch rasch meinen Standort, ehe es los nach Italien geht.

Mein erstes Ziel ist Garmisch-Partenkirchen vor der österreichischen Grenze. Dort will ich etwas essen, ehe es weiter Richtung Brenner und dann daran vorbei über Landstraßen geht. Vielleicht schaffe ich es heute noch bis Bozen, ansonsten werde ich mir ein Zimmer bei Innsbruck suchen.

Ich schwinge mich auf Jessy und düse los. Immer in Richtung Süden soll es gehen. Zum Glück ist das Wetter heute voll auf meiner Seite, für morgen sind die Aussichten dagegen nicht so rosig. Ab Mittag soll es in der Tiroler Gegend regnen, aber vielleicht habe ich Glück, und bin dann längst angekommen. Im Moment überlege ich noch, ob ich nicht doch weiterfahren soll. Vielleicht bis runter an die Küste Richtung Genua oder sogar bis Cannes in Frankreich. Letztens war eine Freundin dort und hat sich total blamiert, weil sie es immer wie »Kannee« aussprach und das keiner von uns kannte. Zum Schluss erklärte ihre fünfjährige Schwester dann, dass es »Kann« hieße. Dann wussten wir auch endlich, wo Tanja im Urlaub war. Die Bilder von da sahen jedenfalls klasse aus. Aber wahrscheinlich kosten die Übernachtungen dort ein Heiden Geld und ich weiß nicht, ob ich genug habe. Am Gardasee werde ich dagegen sicherlich eine günstige Schlafmöglichkeit finden.

Ich fahre gemütlich durch die vielen kleinen bayrischen Dörfer und bin es spätestens nach der dritten Landstraße gewohnt, überholt zu werden. Beim Gasthof in Schöffau halte ich kurz an. Irgendwie dachte ich, dass ich schneller vorankommen würde. Bis nach Italien werde ich es heute wahrscheinlich doch nicht mehr schaffen, dass wird mir beim Mittagessen klar. Kurz überlege ich, ob ich nicht hierbleibe und den Tag am Staffelsee verbringe, entscheide mich dann aber doch für die Weiterfahrt. Ich war jetzt schon so oft mit meinen Eltern hier, dass mich die Fünfseenlandschaft nicht mehr wirklich reizt. Also schicke ich meiner Mutter bloß eine kurze Nachricht, dann fahre ich weiter und halte sicherheitshalber noch schnell an der nächsten Tanke.

Die Sonne steht hoch über mir, während die Alpen vor mir immer näher rücken und einen fließenden Übergang zum blauen Himmel bilden. Die Lederjacke habe ich ausgezogen und in meinen Rucksack gesteckt. Es ist so warm, dass mich der Wind nicht wirklich stört. Bis nach Garmisch sind es noch fünfundzwanzig Kilometer, der Tank ist noch ausreichend voll und es wird nicht mehr lange dauern, dann kann ich die österreichische Grenze überschreiten.

Trotzdem tun mir langsam die Finger vom Gas geben weh und ich überlege, es für heute gut sein zu lassen. Nach Garmisch müsste irgendwann ein ziemlich steiler Pass kommen, vor dem es mir jetzt schon graut und ich weiß noch nicht, wie ich ihn umfahren kann.

Inzwischen ist es Nachmittag geworden und ich beschließe, kurz hinter Garmisch eine Pause zu machen und meine Mutter anzurufen und ihr zu erzählen, dass ich gut in Nürnberg angekommen bin. Mama atmet hörbar erleichtert aus und wünscht uns einen schönen Abend. Kaum, dass sie aufgelegt hat, klingle ich bei Dad durch, der noch im Büro sein dürfte.

»Papa?«

»Ist alles okay? Bist du gut durchgekommen?« Mein Vater hört sich unnötig besorgt an.

»Ja, die Fahrt lief super. Ich bin jetzt kurz hinter Garmisch.«

»Erst?«, fragt er verdutzt und ich muss lachen. Er hat die Stecke wohl genauso unterschätzt wie ich.

»Ja, ich habe zwischendurch einige Pausen eingelegt. Jetzt tun mir einfach nur noch die Hände weh. Da hättest du mich ruhig mal vorwarnen können.«

Papa lacht laut in den Hörer, während ich die Finger meiner freien Hand strecke und wieder zu einer Faust führe. »Wart nur ab. Bis du in Italien bist, kommt sicherlich noch Muskelkater vom angespannten Sitzen dazu.« Na super.

»Papa, wenn wir mit dem Auto nach Italien gefahren sind, dann gab es doch diese extrem steile Straße ...«

»Ja, die B2 hinter Garmisch.«

»Genau. Kann ich die umfahren?«

»Hmm. Du kannst an Leutasch vorbeifahren. Das ist gleich hinter der Grenze. Dann kommst du auch wieder in Seefeld an. Das sind so dreißig oder vierzig Kilometer. Bis wohin willst du denn heute noch fahren? Soll ich dir ein günstiges Zimmer in Seefeld raussuchen?« Vierzig Kilometer sollte ich in einer, maximal zwei Stunden schaffen, wenn es sich nicht wieder zwischendurch staut.

»Ja, das wäre super. Danke Papa.«

»Hast du dich schon bei Mama gemeldet?«, fragt er und ich sehe förmlich vor mir, wie er die Stirn runzelt.

»Ja, eben erst. Für sie bin ich gut in Nürnberg angekommen.«

»Prima«, antwortet er durchs Handy. »Dann fahr du jetzt weiter und ich schaue, dass ich etwas Günstiges für dich finde.«

»Danke, Papa. Du bist der Beste.«

»Ich weiß«, sagt er trocken und ich muss lachen. Wir verabschieden uns, dann lege ich auf und schaue, wo das Navi mich entlangleiten will. Ich bin, nach dem es mich gleich zu Beginn auf eine Bundesstraße leiten wollte, die zwischendurch immer wieder mehrspurig wird, in den Fahrradmodus gewechselt. Das hat bisher ganz gut funktioniert. Siebenunddreißig Kilometer soll ich nun vor mir haben, das schaffe ich locker, ehe es Zeit fürs Abendessen wird.

Es dauert nicht lange, und ich sehe während der Fahrt eine Nachricht von Dad aufblinken. Dann hat er wohl ein Zimmer für mich gefunden. Jetzt, wo ich besser einschätzen kann, wie lange ich brauche, werde ich heute Abend die Tour für die nächsten zwei Tage raussuchen und schauen, wo ich übernachten kann.

Ich fahre kurz rechts ran und schaue aufs Display. Vierzig Euro die Nacht in einer kleinen Pension und Frühstück ist auch inklusive. Perfekt. Das ist wirklich günstig für die Gegend. Ich drücke schnell auf reservieren, zahlen kann ich vor Ort, dann fahre ich weiter.

 

Nicole

 

Ich mag Seefeld. Vom kleinen Balkon meines Zimmers aus habe ich einen herrlichen Blick über die Alpen, deren weiß-graue Zipfel anmutig in den Himmel ragen. Ein bisschen fühle ich mich wie Heidi, nur das Läuten der Ziegen- und Kuhglocken fehlt.

Das Zimmer gehört zu einer privaten Pension, deshalb war es auch so günstig. Sonst zahlt man hier, mitten vor den Alpen, wesentlich mehr. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und strecke mich kräftig aus. Langsam weiß ich, was Papa meinte. Mir tut alles weh: Rücken, Po, Oberschenkel und die Finger – vor allem an der Gashand. Vielleicht hilft ein heißes Bad und Latschenkiefer-Salbe. Bestimmt haben sie hier irgendwo einen kleinen Laden, in dem ich welche bekomme. Bewegung wird mir sicherlich guttun, außerdem brauche ich dringend etwas zum Abendessen. Also ziehe ich mich wieder an und gehe eine Runde durch den Ort, zwischen all seinen typischen, südbayrischen und österreichischen Hütten, spazieren. Im Winter wimmelt es hier durch die Skigebiete bestimmt nur so von Touristen, aber jetzt im Sommer lässt es sich ganz gut aushalten. In der gemütlichen Innenstadt finde ich ein hübsches Cafè vor einer Kirche mit Spitzturm und bestelle mir einen Eiskaffee und eine Minipizza.

Ich will gerade in meine Pizza beißen, da fällt mir ein Kerl auf der anderen Straßenseite auf. So eine Mischung aus einem jungen Al Pacino, einem Bank Manager und Leonardo diCaprio in Wolf of Wallstreet – sexy und verrucht zu gleich und nicht der Typ Mann, mit dem man sich abgeben sollte. Deshalb wende ich meinen Blick ab und konzentriere mich auf den Eiskaffee.

Es geht nicht. Ich fühle mich beobachtet.

Dabei steht der Kerl vermutlich nur rum, raucht und spielt an seinem Handy. Eben so, wie die meisten Typen in meinem Alter, wenn sie alleine unterwegs sind.

Mit einem eigenartigen Kribbeln in der Magengegend drehe ich mich um und … er ist weg. Was hatte ich auch erwartet? Dass er mich mit seinen eisigen Augen beobachtet, während ich die Sahne vom Kaffee löffle? Wohl kaum. Trotzdem bin ich mir sicher, dass er mich angestarrt hat und das macht mich nervös.

Als ich schließlich bezahle, ist es fast sieben Uhr und die wenigen Geschäfte im Ort schließen bald. Wenn ich noch irgendwo eine Salbe gegen meinen Muskelkater finden will, muss ich mich beeilen. In einem Reformhaus werde ich schließlich fündig und mache mich auf den Weg zurück zur Pension.

 

 

Nicole

 

Wann hört das endlich auf? Am liebsten würde ich die Polizei rufen. Muss so ein Krach mitten in der Nacht sein und wieso tut die Vermieterin nichts? Völlig genervt drücke ich mir das Kissen auf die Ohren und drehe mich zur Seite. Jetzt reicht‘s! Ich springe auf und ziehe mir eine Jogginghose an, damit ich nicht nur im Schlafshirt raus muss. In den weißen Hotelpuschen schlüpfe ich durch meine Tür und gehe schwer atmend die Treppe runter. Ich bin müde, verdammt müde und sauer. Morgen will ich weitere dreihundert Kilometer hinter mich bringen und dafür brauche ich meinen Schlaf!

Am Fuß der Treppe bleibe ich abrupt stehen. Nanu. Vor mir kauert eine Frau auf dem Boden. Ihr langes, schwarzes Haar verdeckt dabei ihr Gesicht, doch ich glaube, ich weiß, wer das ist.

»Frau Martin?«, frage ich ruhig und trete näher an sie heran.

Die ältere Dame blickt zu mir auf; ihr Gesicht ist total verheult; die Schminke verschmiert und ganz feucht. Kein Wunder, dass sie nichts gegen die Unruhestifter unternommen hat. So zerstört würde wahrscheinlich niemand vor die Tür wollen und sich einer Bande Idioten gegenüberstellen.

»Was ist denn los?«, frage ich die Vermieterin. »Wer sind die Leute da draußen?« Meine Stimme ist ganz ruhig, obwohl ich innerlich koche.

Frau Martin zuckt heftig zusammen, als etwas mit Karacho gegen eine der Fensterscheiben klatscht. Im nächsten Moment sehe ich, dass es ein rohes Ei war. Der Dotter läuft an der Scheibe herunter und hinterlässt einen schmierigen Film. Seufzend schaue ich von ihr zur Tür. Das muss ein Ende nehmen.

Mir ist es gerade scheißegal, dass ich nicht viel mehr als meine Schlafsachen anhabe. In meinen weißen Puschen trete ich zur Tür. Sie ist abgesperrt. Frau Martin hält mir kommentarlos den Haustürschlüssel hin. Die arme Frau wirkt völlig entkräftet, wie sie mit ihren Pandaaugen und in den Morgenmantel gehüllt dasitzt.

Ich will gerade den Schlüssel entgegennehmen, da umschließt sie meine Hand mit ihrer und sieht mich flehentlich an. »Dankeschön.« Ihre Stimme klingt ganz zittrig.

Nickend entferne ich mich von ihr und gehe zur Tür, um sie aufzuschließen.

Draußen erwartet mich ein chaotisches Bild. Es qualmt und stinkender Nebel quält meine Augen. Der Krach muss von irgendwelchen Böllern gekommen sein. Vor mir stehen ein paar Männer, einer von ihnen sieht mir direkt ins Gesicht. »Verschwindet, oder ich rufe die Polizei«, sage ich deutlich und hoffe, dass meine Stimme nicht so zittrig klang, wie sie mir vorkam.

»Ach ja?« Ein bulliger Typ mit kurzem Stoppelhaaren, wie man sie bei Bundeswehrsoldaten oft sieht, stapft auf mich zu.

»Ja«, antworte ich und trete einen Schritt zurück, sodass mein Ellbogen die Wand berührt.

In dem Moment sehe ich ihn, wie er aus der Dunkelheit auftaucht. Er hat etwas Einschüchterndes an sich: den Kragen seiner Lederjacke hochgestellt, die dunklen Haare, der starre Blick. Ich schlucke. Sein Weg führt geradewegs auf mich zu und ich spüre den rauen Putz im Rücken. Der gutaussehende Kerl von heute Mittag bleibt direkt vor mir stehen. Ich raffe meine Arme näher an mich und reibe sie, in der Hoffnung, die Gänsehaut, die sich gerade auf mir ausbreitet, loszuwerden. Mit der Hand stützt sich der Kerl an der Wand hinter mir ab und beugt sich vor. Sein Atem streift dabei warm meine Haut. Ich kann jedes Detail seines Gesichts erkennen, die feinen Poren auf seiner Nase, die glatte Haut um sein Kinn, die dunklen Ringe unter seinen strahlenden Augen und das braune Harr, dass ihm rebellisch in die Stirn fällt. Das Licht, das durch das Fenster neben uns scheint, fällt genau auf ihn und taucht eine Hälfte seines Körpers in den Schatten, während es die andere beleuchtet.

Ein süffisantes Grinsen tritt auf seine Lippen. Plötzlich stößt er sich von mir weg und ruft laut: »Alles okay?«

Ich nicke.

Er dreht sich um und schaut dem bulligen Typen von eben in die Augen. »Verpiss dich und nimm dein Pack mit. Ihr habt es bei uns nicht geschafft, und ihr werdet es hier nicht schaffen.«

Die anderen, die mit einem Mal innegehalten haben, als ich rauskam, lassen ihre Hände sinken und nicken ihm zu. Von der aggressiven Haltung von vor einer Minute ist nichts mehr zu sehen.

Von Irgendwo her höre ich einen Motor aufheulen, dann fährt im nächsten Moment ein getunter Pickup hervor und die Schläger verschwinden mit ihm. Aus der Ferne ertönt eine Sirene und ich sehe eine Streife mit Blaulicht entgegenkommen.

»Danke«, flüstere ich und Mr. Ehrfürchtig blickt mich wieder an. Seine Augen mustern mich von oben bis unten und ein listiges Lächeln tritt auf seine Lippen.

»Geh rein, die kommen nicht wieder.«

Wieder nicke ich nur. Er wendet sich von mir ab und geht die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen, bis er in der Dunkelheit verschwindet.

Mit zitterndem Körper stoße ich die Tür auf und gehe zurück ins Warme. »Wer waren die?«, frage ich atemlos, bevor Frau Martin zu Wort kommt.

Sie zuckt die Schultern und streift sich eine lose Strähne aus dem Gesicht und hinters Ohr. »Die wollen das Haus und glauben, sie könnten mir so die Kundschaft vergraulen.« Jetzt, wo es aufgehört hat, wirkt sie viel gefasster.

»Wieso haben Sie denn nicht gleich die Polizei gerufen? Das Theater ging doch bestimmt schon eine viertel Stunde lang.« Ich runzle die Stirn und setze mich zu ihr auf die Treppe. Mir schwirrt der Kopf.

Frau Martin sieht mich flehentlich an. »Habe ich. Tue ich jede Woche. Aber da außer ein bisschen Ruhestörung und verschmutze Wände nie etwas passiert ist, nehmen sie es offenbar nicht mehr sehr ernst.« Sie nickt Richtung Tür und ich sehe das Blaulicht der Streife durchs Fenster leuchten. »Aber jetzt sind sie ja da.«

Ich öffne der Polizei und höre Frau Martin hinter mir schluchzen.

Als ich fast zwei Stunden später zurück ins Bett gehe, bin ich eigentlich überhaupt nicht mehr müde. Die Polizei hat mich und Frau Martin lange befragt. Sie vermutet, dass eine Hotelkette ihre kleine Pension aufkaufen und sie so rausekeln will. Belegen kann sie jedoch nichts. Ich weiß nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. In jedem Fall verstehe ich jetzt, wieso mein Zimmer so günstig war. Anders, glaubt Frau Martin, würde sie sonst überhaupt keine Kunden mehr bekommen. Tatsächlich fiel mir heute Abend auf, dass ich trotz der vielen Zimmer der einzige Gast im Hof war. Für eine Touristengegend wie diese ist das wirklich ungewöhnlich. Wenn die tatsächlich regelmäßig so einen Auflauf veranstalten, wundert mich das jedoch nicht. Die arme Frau Martin, sie wirkte völlig verzweifelt heute.

Mit gemischten Gefühlen lege ich mich hin und versuche zu schlafen. Dabei will mir der Typ von eben einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ob er auch die Polizei geholt hat? In jedem Fall sah er nicht wie ein Hotelierssöhnchen aus, auch wenn es so klang. Am liebsten würde ich noch ein oder zwei Nächte länger hierbleiben, um der Sache weiter auf den Grund zu gehen, doch ganz behaglich bei der Sache ist mir wahrlich nicht.

 

Kapitel 3

Se aveva paura quando è uscita nella notte.

Diego

 

Was für ein Weib. Sie kam mir unglaublich bekannt vor, als ich sie eben sah. Irgendwo muss sie mir schon einmal begegnet sein. Ich klappe den Laptop zu und drehe mich zur Seite, um ihn auf den Nachttisch zu stellen. Die Jungs sind heute einen Schritt zu weit gegangen und beinahe hätten sie sich erwischen lassen. Karl sah so aus, als wollte er dem Mädel etwas antun. Sein Blick hat mir gar nicht gefallen. Ich muss dringend mit meinem Vater darüber reden. So kann das nicht weitergehen.

Mein Blick fällt auf den Wecker neben mir. Diese Idioten haben selbst mich heute aus dem Bett gerissen. Als ich runter bin, beschwerten sich sogar einige unserer Gäste bei Tina. Die Arme hat an der Rezeption wieder alles abbekommen, was mein Vater verbockt hat. Wenn ich übermorgen in Molveno ankomme, werde ich mir einen Termin mit ihm geben lassen müssen.

Seufzend stehe ich auf und gehe ins Bad, klatsche mir eine Hand voll Wasser ins Gesicht und stelle mich anschließend ans Fenster meines Zimmers. Bei Frau Martin brennt nur noch ein Licht in den Gästezimmern. Das muss sie sein, die hübsche Brünette. Ich stütze mich am Fensterbrett ab und sehe, wie sie einmal am Fenster vorbeihuscht. Der Großteil wird leider von den schweren Vorhängen bedeckt, doch ihre Silhouette war deutlich zu erkennen. Ob sie Angst hatte, als sie heute Nacht heraustrat? Sie wirkte recht zierlich.

Das Licht erlischt. Vielleicht sollte ich auch langsam schlafen gehen, bevor ich mir ihretwegen und wegen meines Vaters die ganze Nacht lang den Kopf zermartere. Aber irgendwo habe ich sie schon mal gesehen und es ist noch nicht lange her. Wenn sie morgen noch da ist, frage ich sie vielleicht.

 

 

Nicole

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist es fast Mittag. Da niemand geklopft hat, um mir zu sagen, dass ich das Zimmer räumen muss, scheint die verspätete Abreise für Frau Martin kein Problem zu sein. Ich springe rasch unter die Dusche und mache mich fertig, dann packe ich meinen Rucksack und laufe die Treppen runter. Die Scheibe, die gestern vom Ei getroffen wurde, ist inzwischen wieder sauber. An der kleinen Empfangstheke drücke ich dreimal kurz auf die Klingel und kurze Zeit später steht Frau Martin, etwas angeschlagen aussehend, vor mir und lächelt mich freundlich ein.

»Tut mir leid, ich hab’ total verschlafen«, nuschle ich entschuldigend und halte ihr den Zimmerschlüssel hin.

Frau Martin winkt ab. »Ach Kind, das ist nach dieser schrecklichen Nacht überhaupt kein Problem. Ich habe mir das schon denken können. Nun ziehen Sie den Rucksack aus und essen Sie noch rasch etwas. Sie hatten doch Frühstück mitgebucht. Ich hab’ ihnen alles im Speisesaal hingestellt. Packen Sie sich ruhig noch eine Brotzeit ein, es ist genug für ein paar Schnitten da.«

»Das ist wirklich nett, Frau Martin.«

»Da fällt mir ein, der junge Herr Mancini war heute früh hier und hat nach Ihnen gefragt. Ich habe ihm gesagt, Sie seien noch am Schlafen nach der anstrengenden Nacht und dass Sie heute abreisen. Ich hoffe, dass war richtig.«

Mancini, das muss Mr. Einschüchternd sein. »Alles gut, Frau Martin. Hat er auch ein Hotel hier, es klang gestern so.«

»Ja, sein Vater besitzt einige Hotels hier, in der Schweiz und in Italien. Sein Sohn ist öfters in Seefeld zu Besuch. Netter Junge, geriet zwischendurch aber mal auf die schiefe Bahn. Zu Beginn dachte ich sogar, er wäre für die Krawalle verantwortlich, doch seine Gäste trafen die Unruhen ja auch. Das Hotel schräg gegenüber gehört ihnen.« Sie nickt Richtung Fenster. Dann zeigt sie mir den Weg zum Speisesaal, der sich als ein kleiner Aufenthaltsraum entpuppt: mit einem Bücherregal und zwei Sessel davorstehend, vier quadratischen Tischen mit alten Holzstühlen und karierten Tischdecken und einer kleinen Theke, auf der eine Kaffeemaschine, ein Wasserkocher und eine Teebox stehen. Frau Martin führt mich an einen der Tische, dann verschwindet sie kurz und kommt eine Minute später mit einem großen Tablett, auf dem alles zu finden ist, was man für ein leckeres Frühstück braucht, wieder. Sie stellt die Sachen auf meinem Tisch ab und legt mir Besteck und Geschirr hin, dann geht sie zu der Theke und fragt, was ich trinken möchte.

»Ein Kaffee wäre super, mit Milch bitte.«

»Ich kann Ihnen auch einen Cappuccino machen«, erwidert sie freundlich.

Ich grinse. »Das klingt noch besser.« Hauptsache, ich werde davon halbwegs wach, denke ich mir und bediene mich am Brötchenkorb. Er ist also tatsächlich ein Hotelierssöhnchen. Das passt irgendwie überhaupt nicht zu seinem machomäßigen Auftreten. Kurz überlege ich, nach dem Frühstück zu ihm rüber zu gehen und mich zu bedanken, doch nach einem Blick auf die Uhr weiß ich, dass das heute nicht mehr drin ist.

Frau Martin kommt mit zwei Tassen in der Hand wieder und stellt eine davon vor mir ab, dann setzt sie sich zu mir. »Ich wollte mich noch einmal für deine Unterstützung gestern Abend bedanken. Das war sehr mutig von dir, raus zu gehen. Und ich muss mich entschuldigen, dass ich dich nicht davon abgehalten habe. Mein Gott, dir hätte sonst was passieren können. Wie konnte ich nur so töricht sein?« Ganz unvermittelt ist sie zu einem mütterlichen Du übergegangen.

Doch darauf habe ich keine Antwort. Im Grunde weiß ich selbst, dass es nicht sonderlich schlau von mir war, auch wenn es letztlich seinen Zweck erfüllt hatte.

»Alles gut, Frau Martin«, sage ich daher nur und bitte sie noch, Mr. Unwiderstehlich von mir zu grüßen.

Als ich endlich wieder auf meiner Jessy sitze, ist es bereits zwei Uhr. Damit kann ich es vergessen, weiter als bis nach Bozen zu fahren. Sonst hätte ich es vielleicht noch bis zum Gardasee geschafft.

Die Straße, die ich heute langfahre, führt um Innsbruck herum und dann lange Zeit direkt am Brenner und an der Autobahn vorbei. Wie oft haben wir dort als Kinder im Wohnwagen gesessen und im Stau gestanden … Eine Weile lang sind wir fast in jeden Ferien, außer über Weihnachten, nach Italien gefahren und haben eigentlich immer die gleiche Strecke genommen.

 

Als ich eine Tankstelle anfahre, ist es fast Abend. Obwohl ich wirklich gut vorangekommen bin, habe ich immer noch sechzig Kilometer vor mir, dann wartet in Bozen ein gemütliches Zimmer auf mich, dass ich gestern Abend noch reserviert habe.

Erleichtert komme ich gegen acht am Hotel an. Ich bin immer noch total geschlaucht von der Nacht und bete, dass es heute ruhig sein wird, denn schon morgen Mittag will ich am Strand liegen. Wenn es denn das Wetter zulässt. Der erwartete Sturm bleib unterwegs aus, doch ganz trocken bin ich dennoch nicht geblieben. Zum Ende hin zog es sich immer mehr zu, bis es schließlich zu nieseln begann. Jetzt, nachdem ich eingecheckt und die grünen Fensterläden geschlossen habe, höre ich den Wind immer wieder außen am Haus vorbeizischen und die Läden gegen die Scheibe schlagen. Na mal schauen, ob das mit der ruhigen Nacht etwas wird.

 

 

Nicole

 

Morgens um acht sitze ich bereits gut gelaunt am Frühstückstisch, beiße in mein Croissant und schlürfe meinen Milchkaffee. Besser hätte der Tag nicht starten können. Trotz des Gewitters am Abend bin ich ziemlich rasch eingeschlafen, ohne noch einmal aufzuwachen.

Nach dem Frühstück gehe ich in mein kleines Zimmer, das gemütlich, aber nicht sonderlich modern, eingerichtet ist und bereite mich auf die restliche Fahrt vor. Würde ich direkt bis Peschiera durchfahren, würde ich wohl spätestens am frühen Nachmittag da sein. Doch dann fiel mir heute früh ein Artikel ein, den ich vor kurzem in irgendeiner Klatschzeitschrift zu Hause auf dem stillen Örtchen gelesen habe. Da ging es um die Schönheit der Natur um Molveno, nördlich des Gardasees. Das ist nur knapp neunzig Kilometer von mir entfernt, also dürfte ich gegen Mittag dort sein.

Ich schwinge mich samt Rucksack auf mein Mädchen und rolle aus der Tiefgarage. Das Hotel liegt oberhalb einer steilen Seitenstraße. Ich hätte keine Ahnung, wie ich als Autofahrer aus der engen Einfahrt herauskommen sollte. Mit der Schwalbe ist es zum Glück kein Problem.

Laut meinem Navi muss ich der holprigen Straße eine ganze Weile folgen, ehe es auf eine der vielen Bergpässe geht, die mitten durch die Alpen führen. Um mich herum weht ein lauter und kalter Wind, der trotz des Sonnenscheins heute Morgen an meinen Gliedern zerrt. Ich halte kurz am Straßenrand, um den Hüftgurt des Rucksacks zu öffnen und meine lederne Jacke zu schließen.

Trotz des immer mieser werdenden Wetters kann ich gar nicht genug von der wunderschönen Landschaft unterwegs bekommen. Hier kann man sich so richtig frei fühlen. Die Landstraße, über die ich fahre, liegt weitestgehend frei vor mir und schlängelt sich zwischen Wäldern und Wiesen vor den Bergspitzen der Alpen hindurch. Im Winter soll man hier wunderbar Ski fahren können. Jetzt im Sommer herrscht dagegen eine ruhige Idylle.

Es beginnt zu regnen, kurz, bevor ich an meinem Ziel angekommen bin. Ich hasse Regen beim Fahren. Genervt rolle ich Jessy an die Seite und steige ab. Irgendwo in den tiefen meines Rucksacks habe ich den Regenponcho, den ich gestern eigentlich schon gebraucht hätte, verstaut. Ich ziehe ihn aus einem Fach am Boden und stülpe ihn mir über. Auch der Rucksack bekommt einen Regenschutzüberzug verpasst. Fünf Minuten später sitze ich wieder auf der Schwalbe und rolle gemütlich um die Kurve. In der Ferne kann ich bereits den Lago di Molveno, einen kleinen See, direkt vor der Ortschaft, sehen.

Ich düse gerade um eine Kurve, als ich den Himmel hell werden sehe und es gleich im nächsten Moment heftig über mir scheppert. Die Tropfen, die auf mich niederprasseln, werden immer mehr und heftiger. Inzwischen hat sich eine richtige Wasserlache in meinen Schuhen gebildet. Während über mir die Welt untergeht, stößt der Motor ein eigenartiges Geräusch aus. Eins von der Sorte, die man nicht hören will, wenn man mitten durchs Nichts fährt und das Ziel noch einige Kilometer vor einem liegt. Ein weiteres Ruckeln und Jessy wird leise. Na super!

Über mir prasselt der Regen auf mich herab und Jessy mag nicht mehr. Das kann ich gerade so gar nicht gebrauchen. Mit zittrigen Händen steige ich von der Schwalbe und schiebe sie zum Wegrand, wo das Wasser in einem Rinnsal, an meinen durchweichten Turnschuhen vorbei, ins Tal läuft.

»Danke, Gott«, schreie ich laut und fange an zu lachen. Ich ziehe mein Smartphone aus der Handyhalterung am Lenkrad und schaue auf das Display. Kein Empfang, doch immerhin hält die Handyhülle dicht. Laut ausatmend kicke ich einen Stein zur Seite und schiebe Jessy weiter den Berg hinunter. Hoffentlich hält auch der Regenschutz für den Rucksack, was er verspricht. Sonst habe ich später ein Problem.

Über mir wird es immer dunkler und die Zeit scheint nur so dahin zu rennen. Ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt noch auf dem richtigen Weg bin und will auch nicht mehr groß das Handy nutzen, da der Akku fast leer ist. Zwar habe ich irgendwo im Rucksack eine Powerbank, doch an die komme ich gerade nicht ran, ohne, dass all meine Klamotten nass würden. Also muss ich mir so weiterhelfen. Im Grunde ist es auch nicht sehr schwer, ich sehe den See schließlich immer noch in der Ferne vor mir liegen. Es sieht bestimmt toll aus, wenn der Regen so stark aufs Wasser platscht. Ich stelle mir vor, wie ich jetzt irgendwo gut geschützt, im Warmen und Trockenem, mit einer heißen Tasse Kakao in der Hand, am Fenster eines Hauses am Ufer sitze und das Unwetter beobachte. Doch stattdessen beobachte ich es nicht nur, sondern bin mittendrin. Jessy macht nach wie vor keine Anstalten, anzuspringen. Das ist schlecht, verdammt schlecht. Denn ohne sie komme ich nicht nur nicht zum Gardasee, sondern auch nicht mehr zurück nach Hause. Ein teures Bus- oder Flugticket kann und will ich mir so spontan nicht leisten.

Motorengeräusche und der Sound von schnell rollenden Reifen auf nassem Untergrund ertönen hinter mir und ich drehe mich um. Ein Bulli rollt auf mich zu, wird langsamer und bleibt schließlich ein paar Meter vor mir stehen. Erleichtert atme ich aus. Vielleicht hat er ja Platz für mich und meine Jessy, die lasse ich nämlich nicht zurück.

Jemand öffnet ein Fenster und schaut durch den regennassen Wettervorhang zu mir. Ich glaub‘, ich spinn. Nein – er schaut zu mir. Dasselbe süffisante Grinsen wie vorgestern Abend taucht auf seinem Gesicht auf und er lacht laut in die Dunkelheit, die uns dank der tiefhängenden Wolken umhüllt hat, hinein. »Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Wagen und Geleit Ihr anzutragen?«

Ich kann nicht anders und muss lachen. »Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet weitergehen«, antworte ich und schiebe Jessy vor mir her.

»Hab’ dich nicht so. Es soll heute nicht mehr aufhören.«

Ich blicke mich um und tatsächlich ist in keiner Himmelsrichtung auch nur ein Fünkchen blauer Himmel zu sehen. »Ich fahre nicht mit Fremden mit«, sage ich deutlich und Mr. Badboy hebt die Schultern. Dann verschwindet sein Kopf wieder im Fenster und der Bulli beginnt davonzurollen. Verdammt! Mir ist kalt und ich muss mich umziehen, wahrscheinlich werde ich mir eine dicke, fette Grippe einhandeln, wenn ich nicht bald ins Warme komme.

»Warte«, rufe ich mit zitternden Lippen, hebe meine Hand und drücke den Poncho mit der anderen an mich, während Jessy an meiner Hüfte lehnt. Der Bulli stoppt sofort, dann legt er ruckelnd einen Rückwärtsgang ein und parkt genau vor meiner Nase.

Wieder geht das Fenster runter und Mr. Mancini grinst mich schief an. Meine Güte, was mache ich hier nur?

Der Typ springt aus dem Wagen, und hält sich eine Regenjacke über den Kopf. Dann höre ich, wie die Seitentür zur Seite geschoben wird und er meine Jessy in den Wagen hebt. Als die Tür wieder zufällt, laufe ich um den Wagen herum und bleibe unschlüssig, ob ich wirklich einsteigen soll, vor der Beifahrertür stehen. Im Grunde habe ich sowieso keine Wahl mehr, jetzt wo Jessy hinten drin liegt.

Wir öffnen beide gleichzeitig unsere Türen und er sieht mich kurz finster an, als ich einsteigen will. Ich schlucke.

»Warte«, sagt er und kramt etwas hinter seinem Sitz hervor. Instinktiv greife ich unter den Poncho an meine Hosentasche und spüre die beruhigende Wölbung der Pfefferspraydose in ihr. Es ist jedoch nur ein Handtuch, das er mir im nächsten Moment vor die Nase hält. »Leg das auf den Sitz. Den Rucksack kannst du nach hinten tun. Und zieh das Regendings aus.« Er zeigt zwischen den Sitzen hindurch.

Der Bulli ist, außer meiner Jessy, hinten komplett leer. Nicht einmal weitere Sitze gibt es.

Ich nicke zaghaft und schwinge den schweren Rucksack von meinen Schultern, dann schmeiße ich ihn etwas zu unachtsam zwischen den Sitzen hindurch und verziehe den Mund. Hoffentlich habe ich gerade nichts kaputt gemacht. Den Poncho streife ich mir als nächstes ab und werfe ihn rüber auf Jessy, während ich auf den Sitz rutsche und die Tür etwas zu heftig zuziehe.

»Das ist ein Bulli, kein LKW«, sagt Mr. Macho und sieht mich erneut vernichtend an. »Schnall dich an.« Was hab’ ich ihm bitte getan? Er wollte mir doch helfen, ich habe ihn ja nicht gezwungen, sich raus in den Regen zu stellen.

Ich nicke rasch und ziehe den Gurt über meine Schulter. »Ich bin Nicole«, versuche ich das Gespräch zu beginnen. Mir wird immer unbehaglicher neben ihm. Eben scherzt er noch so rum und macht einen auf Goethe und jetzt stiert er die Straße an. Er sollte sich mal entspannen, finde ich. Seine Handknöchel treten schon weiß hervor, so stark umfasst er das Lenkrad; als müsse er den Bulli um eine Schlucht herum manövrieren, dabei regnet es nur ein bisschen. Okay, ein bisschen viel.

»Aha«, antwortet er auf meine Vorstellung und mir läuft erneut ein kleiner Schauer über den Rücken.

Wir schweigen uns an, während meine Hand unter der Sicherungskappe des Pfeffersprays ruht. Was sagte Frau Martin? Er sei mal auf die schiefe Bahn geraten. Das kann ich mir ja gerade überhaupt nicht vorstellen ...

Die Straße runter zum See schlängelt sich vor uns dahin. Wieso bauen die Italiener so kompliziert und nicht einfach mal nur geradeaus? Der Regen prasselt so stark gegen die Windschutzscheibe, dass der Scheibenwischer kaum hinterherkommt und man immer nur kurz die Straße aufblitzen sieht.

Ich schaue nach links und beobachte Mr. Unheimlich dabei, wie er konzentriert auf die Straße, oder besser gesagt den Bach unter uns, starrt. Von der Straße selbst ist nämlich nicht mehr viel zu sehen. Seine dunklen Haare haben sich durch die Nässe leicht gekräuselt und tropfen ihm ins Gesicht. Immer wieder wischt er sich die Tropfen vom Nasenrücken. In der kurzen Zeit, in der er draußen war und Jessy einlud, ist er ganz schön nass geworden. Jetzt runzelt er die Stirn und sieht mit einem Schlag viel älter aus. Plötzlich ruckelt es und er reißt das Lenkrad rum. Unter uns quietschen die Bremsen lautstark über den prasselnden Regen hinweg, während wir uns schlitternd auf der Flussstraße drehen. Ich packe den Angstgriff über der Tür und halte mich fest, während Jessy mit voller Wucht von hinten gegen meinen Sitz prallt. Der Wagen wird endlich langsamer und bleibt schließlich mitten auf der Wiese stehen.

Ich reiße die Augen auf und schaue meinen Rallye fahrenden Begleiter an, der hechelnd über dem Lenkrad hängt und sich die schweißnasse Stirn mit seinem ledernen schwarzen Jackenärmel abwischt. Erst jetzt merke ich, wie verdammt schnell mein Herz rast und lege meinen Kopf in den Nacken. »Scheiße, was war das denn?«, frage ich mit geschlossenen Augen.

Statt einer Antwort höre ich die Fahrertür aufgehen, ein lautes Fluchen und das dumpfe Knallen eines Trittes gegen die Karosserie. Dann steigt mein Fahrer wieder ein – und lächelt? Wieso lächelt er? »Diego.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Aha«, antworte ich trocken.

Nun sieht er mich fragend an. Erst, als er mir die Hand hinhält, wird mir klar, dass Diego kein italienischer Fluch bei Autounfällen, sondern sein Name ist.

Seine Hand ist nass, aber warm. Und sie ist rau, als würde er in seiner Freizeit Bäume fällen.

»Fährt der Wagen noch?« Der Regen trommelt nach wie vor gegen das Auto und ein kräftiger Wind lässt es wackeln. So lange es so stürmt, können wir nicht raus und ins Tal zum See laufen.

»Nein, ein Ast hat sich in der Achse verkeilt. Wir warten, bis der Sturm nachlässt, dann ziehen wir ihn raus und fahren weiter.« Seine Stimme klingt tief, hat durch den sanften italienischen Akzent aber etwas Schmeichelndes an sich, ganz anders als bei den Österreichern.

Mein Kopf sinkt gegen die Scheibe. Das stetige Trommeln der Tropfen macht mich müde. Es hat beinahe etwas Hypnotisierendes an sich. Ich raffe die Lederjacke, die am Kragen feucht geworden ist, näher an mich und ziehe die Beine an.

Diego dreht derweil am Radioknopf herum und springt von Sender zu Sender. Bei einem schnellen italienischen Song bleibt er hängen und lehnt sich zurück.

»Also?«, sagt er irgendwann und reißt mich aus meiner Beobachtung heraus. Die Straße ist inzwischen total überschwemmt und ein einziger Matschfluss geworden.

»Was also?«, frage ich müde und gähne. Wir sitzen seit fast einer halben Stunde hier und allmählich wird es kalt im Wagen. Da der Motor nicht läuft, haben wir auch keine Heizung.

»Ich find’s lustig. Ständig laufen wir uns über den Weg. Vor der Pension, jetzt ...«

»Vor dem Cafè in der Stadt«, werfe ich ein und er klatscht in die Hände.

»Wusste ich es doch, dass wir uns davor schon begegnet sind.«

Ich nicke und ziehe eine Braue hoch. Seine Stimmungsschwankungen sind kaum auszuhalten.

»Egal«, sagt er plötzlich und wird wieder ernster. »Was machst du eigentlich hier und wo willst du hin?«

»Urlaub, was sonst?«

»Bist wohl schlecht drauf?« Er hat sich mit dem Ellbogen gegen den Sitz gelehnt und stützt nun seinen Kopf ab. Komischer Kauz, sexy, aber komisch.

»Nein«, sage ich schließlich und gähne. »Ich bin bloß müde und mir ist kalt. Ich wollte, bevor die Uni startet, einfach noch mal raus etwas erleben. Also habe ich mir meine Jessy geschnappt«, ich zeige nach hinten, »und wollte zum Gardasee fahren; Peschiera fand ich immer nett oder Salò.«

Diego nickt. »Das da ist aber nicht der Gardasee, dass ist dir hoffentlich klar.«

Ich kann nicht anders, und verdrehe die Augen, während er mich blöd angrinst und seine Grübchen spielen lässt. »Natürlich weiß ich das. Ich wollte mir die Natur und diese Bachwasserfälle um Molveno herum ansehen. So langsam habe ich jedoch genug von Wasser. Kann das nicht endlich aufhören?« Mein Kopf fällt nach hinten gegen die Stütze und ich starre die beige Wagendecke des roten Bullis an.

Diego gibt ein grunzendes Geräusch von sich – Nicht wie ein Schwein, sondern eher wie eine Riesenschildkröte beim Sex.

Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen und er schaut mich überrascht an. »Was?«, fragt er mit höherer Stimme als sonst und gluckst leise.

»Nichts«, antworte ich und merke, wie mir die Röte ins Gesicht schießt. Plötzlich wird es ruhig. »Der Regen lässt nach, wollen wir’s jetzt probieren?«

»Mit dir würd’ ich alles probieren«, sagt er lüstern, fängt aber sofort zu lachen an, als ich die Augen verdrehe. »Nur ein Scherz, mia bella

Ich öffne die Tür und springe heraus in den Matsch. »Ihh«, entflieht es mir, als ich knöcheltief im Wasser stehe. Da es immer noch regnet, nur nicht mehr so stark, überlege ich kurz, ob ich mir den Poncho überwerfen soll. Da sich Jessy beim Herumrutschen im Wagen aber irgendwie in ihm verheddert hat, entscheide ich mich dagegen.

»Puh, das sieht nicht gut aus. Hoffentlich schaffen wir es von der Wiese runter. Aber jetzt muss erstmal der Stock weg. Schau mal auf deiner Seite, ob er sich irgendwo verkeilt hat.«

Ich ziehe am Ast, doch es tut sich nichts. Als ich mich runterbeuge und mein langer Pferdeschwanz mir über die Schulter fällt und das nasse Gras berührt, weiß ich auch, warum. Die Äste sind total im Unterboden und der Achse verkeilt. Ein Zweig hängt sogar zwischen einer Felge. Ich versuche, irgendwie an die Zweige dranzukommen, doch das wird von hier oben nichts. »Warte«, sage ich, als er wieder am Ast rüttelt. Ich laufe – oder besser gesagt wate – zu ihm rüber, öffne die Tür und wir ziehen gemeinsam meinen Poncho aus dem Wagen. Die arme Jessy, erst jetzt sehe ich, dass das Rumgerutsche ihr einen Spiegel gekostet hat.

»Was hast du vor?«, fragt Diego erstaunt, als ich den Regenponcho auf dem Boden ausbreite und mich drauflege. Igitt, fühlt sich das eklig an. Der Boden ist aufgeweicht und kaum, dass ich liege, sickert an der Seite Wasser auf mich zu.

Diego schaut mit anerkennendem Blick zu mir runter, da drücke ich mich auch schon unter den Wagen und beginne, die feinen Äste, die sich überall verkeilt haben, herauszuziehen. Es dauert eine Weile, dann liegt der Wald neben mir und nicht mehr über mir. »Das war’s«, sage ich und klettere steif vor Kälte unter dem Auto hervor und schiebe das Geäst mit meinem Fuß zur Seite. Meine Klamotten sind komplett aufgeweicht und es tropft an mir herunter.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739484501
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Liebesroman Entscheidungen Abenteuer Romance romanticthrill Urlaub Liebeskomödie Italien Urlaubslektüre New Adult Roman Humor Cosy Crime Whodunnit Dark Romance

Autoren

  • Lisa Summer (Autor:in)

  • Lisa Wüllenweber (Herausgeber:in)

Lisa Summer, Jahrgang 92' liest und schreibt im schönen Bayern. Ihre Bücher sind dabei so authentisch wie sie. Lisa liebt das Reisen, die Kunst und zu trashiger 90erjahre-Musik abzutanzen. Ihre Karriere begann sie als Lisa M. Louis, unter diesem Namen schreibt sie Young-Adult Dystopien.
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Titel: Italian Feelings