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British Love

Wo die Liebe hinzieht ... 1

von Lisa Summer (Autor:in)
180 Seiten
Reihe: Wo die Liebe hinzieht ..., Band 1

Zusammenfassung

Ich habe es vermasselt.
Ich habe es so richtig versiebt.

Linda hat nur ein Ziel in England: Ihre Schwester finden, um so ihren Vater zu retten.
Doch dann tritt der charmante Jungunternehmer Harvey in ihr Leben und stellt ihre Gefühlswelt komplett auf den Kopf.
Schnell wird klar, die beiden verbindet mehr, als sie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen ahnen.
Doch die Suche nach Lindas Schwester stellt ihre Beziehung auf eine harte Probe;
denn während es zwischen ihnen knistert, läuft Lindas Vater die Zeit davon.

Eine herzerwärmende Geschichte von Familie und Liebe über alle Grenzen hinweg.

***Das Taschenbuch umfasst 284 Seiten***

»Woran denkst du?«, fragt er.
Seine Stimme klingt fest und doch hat sie etwas Sorgendes an sich.
»An alles«, antworte ich und weiß, dass die Antwort absolut nichtssagend ist.
»Gib nicht auf«, haucht er in mein Ohr und ganz automatisch verschränken sich unsere Hände ineinander.

Achtung: Neues Cover (2024), gleicher Inhalt!

Jeder Teil der "Wo die Liebe hinzieht ..." Reihe kann unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden.

Band 1: British Love
Band 2: Swedish Kisses
Band 3: French Desire
Band 4: Italian Feelings

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Linda

Every hour of sunshine I would exchange for an hour more for my sick father.

Linda, du wusstest, worauf du dich einließt, als du nach England gezogen bist, rede ich mir ein. Dieser blöde Matsch! Obwohl Eastbourne die sonnenstundenreichste Stadt Englands ist, hat es die letzten zwei Tage durchgehend geregnet. Ich ziehe meinen Stiefel mit einem kräftigen Ruck aus dem Schlamm und schüttle den Kopf. Nörgeln bringt mich schließlich auch nicht weiter. Seit über einem Monat bin ich bereits hier und habe meine Freunde, Familie und meine Heimat hinter mir gelassen. Doch das ist es mir wert. Jede Sonnenstunde würde ich gegen eine Stunde mehr für meinen kranken Vater eintauschen.

Mit den Händen in den wärmenden Manteltaschen stapfe ich durch den Matsch bis zu meinem Bauwagen. Auch diesen Tag werde ich in der Männerhöhle überleben. Vor dem metallenen Koloss in blau bleibe ich stehen und warte auf Kinnings, der die Baustelle leitet und wie jeden Morgen pünktlich um acht aus seinem Bauwagen kommen dürfte, sich ausgiebig vor mir strecken wird und mir anschließend den Schlüssel zu meinem Büro übergibt. Ich blicke auf meine Uhr, noch ein paar Sekunden, dann …

»Na Ms Baumgardener, bereit für den Tag?«, begrüßt er mich auf Englisch und schenkt mir eines seiner seltenen Lächeln unter dem breiten Schnäuzer. Nanu, was ihn wohl so fröhlich stimmt? Nach gestern Abend sollte ihm eigentlich nicht zum Lachen zu Mute sein.

»Muss ich wohl«, antworte ich.

Meine Hand packt den kalten Schlüssel, den Kinnings mir hinhält und ich drehe ihm den Rücken zu, um zu meinem Bauwagen zu gehen.

»Wenn Sie sich umgezogen haben, kommen Sie doch bitte kurz in mein Büro. Da sind noch ein paar Briefe, die zur Post müssen.«

Ich verharre in meiner Bewegung und verdrehe die Augen. Genau das ist es, was mich so stört. Sehe ich aus wie eine Postbotin? Wofür habe ich fünf Jahre studiert und einen Master als Bauingenieurin? Es würde mich nicht wundern, wenn die Briefe nicht einmal geschäftlicher Natur sind.

»Natürlich«, presse ich hervor, streiche meine Stiefelsohlen am Geländer ab und steige die kleine Treppe zum Bauwagen rauf. Ich bin die einzige Frau hier draußen und bekomme deshalb meinen eigenen Container, um mich dort umzuziehen und arbeiten zu können.

Mit einem letzten Blick auf Kinnings schließe ich die Tür hinter mir und halte so die morgendliche Frühjahrskälte draußen.

Es ist nicht so, dass ich Kinnings nicht mag. Er ist einer der wenigen, der mich nicht täglich anmacht, weil ich die einzige Frau bin, die die Männer tagsüber erblicken. Dennoch lässt auch er mich spüren, dass Frauen auf dem Bau nichts zu suchen haben und das kränkt mich.

Grubers gehört zu den größten Baufirmen Englands. Damit bietet sie mir die beste Chance, mich bei den Kollegen umzuhören, doch wirklich weit bin ich noch nicht gekommen. Niemand hier scheint Sandra Bergmann oder ihre Mutter zu kennen. Wer weiß, ob sie überhaupt noch so heißt.

Ich ziehe den gelben Bauhelm vom Kopf und fahre mir durch das lange, braune Haar. Dann streife ich die schwarzen Sicherheitsschuhe, die mir beinahe bis zu den Knien reichen, ab und wechsele meine Jeans und die Jacke gegen den grauen Overall, den alle bei Grubers tragen.

Meine Schulter lehnt gegen das kalte Metall, während ich aus dem Fenster sehe. Auf der Großbaustelle herrscht bereits reges Treiben. In ein paar Monaten soll an dieser Stelle eine Schwimmhalle entstehen, doch davon sieht man noch nicht viel. Gerade einmal das Fundament ist gelegt und die ersten Seitenwände sind in die Grube eingelassen.

Ich trete vor zur Kaffeemaschine, um die erste Kanne aufzusetzen. Als Frau bin ich zur Versorgerin der Arbeiter erkoren worden. Im Grunde ist es nicht schlecht. Ich bin nicht hier, um Karriere zu machen, sondern einzig und alleine, um meine Schwester Sandra zu finden. Wenn die Männer um zehn zum Frühstücken vor meinen Wagen kommen, ist es die Gelegenheit für mich, um mich diskret bei ihnen umzuhören.

Der Duft von gemahlenem Kaffee steigt in meine Nase und ich fülle ein paar Löffel in die obere Kammer der Maschine. Gibt es etwas Besseres als einen starken Kaffee mit einem Schuss Milch am Morgen? Während ich dem Gluckern der Kaffeemaschine lausche, dringt ein lautes Donnern zu mir durch, das die eisernen Wände des Bauwagens vibrieren lässt. Ich schaue auf und schiebe die Gardine an meinem Fenster zur Seite.

Chris steht klopfend vor der Tür und winkt mir durch das geschlossene Fenster zu. »Hey Linda. Na, ausgeruht?«

»Ach du. Immer doch. Kaffee?«

»Wie immer.«

»Schwarz?«

»Wie meine Seele.«

Ich lächle ihn an und werfe meine Haare nach hinten. »Stimmt es, dass es gestern Abend Probleme beim Verladen einer Bodenplatte gab?« Meine Braue wandert nach oben und ich sehe ihn mit schräg gelegtem Kopf an.

»Erwähn das besser nicht vor Kinnings. Du hättest ihn sehen sollen. So schlimm habe ich ihn noch nie ausrasten sehen. Er war wie ein explodierender Vulkan.«

Ich stelle mir meinen dickbäuchigen Chef mit hochrot angelaufenem Kopf vor und muss unwillkürlich lachen.

»Eben war er gut drauf. Was ist denn genau passiert? Marc hatte mir gestern eine kurze Nachricht geschickt. Als ich eben an der Baugrube vorbeigegangen bin, sah doch alles ganz gut aus.«

Chris reibt sich mit zwei Fingern über seine blonden Bartstoppeln. »Wir haben Mist gebaut, Marc und ich. Ziemlichen Mist. Wir haben die Platte nicht richtig befestigt und als ein Windstoß kam, riss eine Halterung und die Platte knallte gegen den kleinen Betonmischer, der aufs Fundament kippte.«

Ich ziehe die Luft scharf durch die kleine Zahnlücke zwischen meinen Vorderzähnen ein. »Ach Mist. Ist der Schaden groß?« Meine Hand greift zur Kaffeekanne und ich schütte uns beiden eine Tasse ein.

»Er hält sich in Grenzen. Danke.« Er nimmt einen kräftigen Schluck und verzieht sein Gesicht.

»Muss ich dich wirklich jedes Mal daran erinnern, dass der Kaffee heiß ist, wenn er aus der Maschine kommt?« Ich drehe mich um und ziehe eine Flasche Wasser aus dem Kasten unter meinem Schreibtisch hervor. »Hier.«

Er nimmt sie mit einem Nicken entgegen. Ein Zischen ertönt, als er sie öffnet und einen Schluck daraus trinkt. »Schon besser.«

Ich nehme ihm die Flasche ab und stelle sie neben seine Tasse auf das kleine Regal neben dem Fenster. Dabei fällt mein Blick auf Kinnings, der wildgestikulierend mit Marc vor der Grube steht.

Chris dreht sich um und zieht die Gardine zur Seite. »Meinst du, er feuert ihn wegen gestern?«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Er ist ein guter Maurer. Ich kenne seinen Lebenslauf.« An meinem ersten Arbeitstag bin ich alle Akten meiner Kollegen durchgegangen, um herauszufinden, ob einer von ihnen der Mann ist, mit dem Sandras Mutter vor all den Jahren durchgebrannt war – Fehlanzeige.

Kinnings schaut zu uns, nickt und stapft auf meinen Wagen zu.

»Na dann, ran an die Arbeit, heißt es wohl.« Ich klatsche in die Hände, ziehe mir meinen Helm auf und geleite Chris hinaus. »Bring die Tasse wieder, sobald sie leer ist«, rufe ich ihm zu, als er schon fast bei der Baugrube ist.

»Mache ich, bis nachher.« Er hebt seine freie Hand zum Gruß und geht rüber zu Marc, der an der Grube steht.

»Alles in Ordnung, Mr Kinnings?«

Er sieht verwirrt aus. »Ja, ja. Hat uns ein bisschen zurückgeworfen, der Unfall gestern. Mr Gruber kommt nachher mit seinem Gutachter vorbei, um den Schaden zu betrachten. Ich hatte sowieso einen Termin mit ihm, da bot sich das an. Vielleicht können Sie kurz bei Valerie vorbeischauen und ein paar Scones für nachher mitbringen. Eventuell beruhigt ihn das.« Oh je, ich kenne Mr Gruber nicht persönlich und wenn selbst Kinnings Angst vor seinem Urteil hat, möchte ich ihn auch erst gar nicht kennenlernen. Beworben habe ich mich direkt bei Kinnings. Gruber kenne ich nur von einem Foto auf seiner Webseite. Ein streng blickender, grauhaariger Mann hatte mir damals entgegen geschaut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er genauso wenig von Frauen in seinem Arbeitsbereich hält wie Kinnings und war erstaunt, dass ich die Stelle überhaupt bekommen habe.

Kinnings reibt sich am Kinn. »Ach, und warten Sie, ich schreibe Ihnen noch eine kurze Liste. Dann können Sie die Sachen auch gleich besorgen.«

Ein paar Minuten später mache ich mich genervt auf den Weg. Der Briefkasten ist nicht weit von der Baustelle entfernt. Ich schmeiße die Briefe hinein und biege zur Strandpromenade ab. Bevor ich zu Grubers kam und nach Eastbourne zog, konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass es in England Strände mit Palmen gibt.

Ich betrete den kleinen Laden an der Ecke und ziehe mir die nasse Kapuze von den Haaren. Kaum hatte ich die Baustelle verlassen, begann es zu tröpfeln. Hoffentlich regnet es jetzt nicht wieder den ganzen Tag. Gerade gibt es schließlich mehr als genug auf der Baustelle zu tun. Sobald ich zurück bin, werde ich den Schaden genauer begutachten müssen. Das heißt, sich in die Baugrube stürzen und die Wände nach Rissen abtasten.

Kinnings` Liste ist zum Glück nicht sehr lang. Vermutlich wird es die Tage Braten bei ihm geben. Ich schleiche durch die Gänge, packe alles in einen kleinen Korb und gehe zur Kasse. Der Boss hat mir fünfzig Pfund in die Hand gedrückt. Hoffentlich reicht es. Viel wird sicherlich nicht mehr für die Scones vom Bäcker übrigbleiben.

Nicht weit von hier entfernt gibt es eine gemütliche Patisserie, die ganz wunderbares Gebäck hat. Als ich gerade nach Eastbourne gezogen bin, lud Chris mich dort auf eine Tasse Tee mit Milch und den besten Scones, die ich jemals in England gegessen habe, ein.

Damals wurde ich das Gefühl nicht los, dass Chris etwas von mir will. Er und Marc sind auch die einzigen, mit denen ich mich von Anfang an super verstanden habe. Sie sind anders als die anderen und trauen mir mehr zu, behandeln mich wie eine von ihnen und nicht so, als gehöre ich bloß hinter den Herd. Inzwischen weiß ich jedoch, dass Chris nur freundlich sein wollte.

Ich laufe die Terminus Road entlang und betrete die kleine Patisserie. Bei Valerie ist es um diese Zeit noch nicht sehr voll und ich beschließe, selbst noch ein wenig hier zu verweilen und eins der köstlichen Törtchen in der Auslage zum Frühstück zu verspeisen.

Als ich auf dem Rückweg bin und sich die grauen Wolken langsam verziehen, bemerke ich erst, wie spät es ist. Seit Kinnings mich losschickte, ist bereits eine Stunde vergangen. Meine Schritte werden größer, damit ich noch vor der Ankunft von Gruber da bin.

Als ich auf der Baustelle ankomme, hört es endlich auf zu nieseln. Ich schreite geradewegs auf Kinnings Container zu, um ihm seine Einkäufe zu bringen.

Er sitzt nicht wie erwartet hinter seinem Schreibtisch.

Mit Blick auf das Fenster hieve ich die Tasche vor den Kühlschrank und räume die Sachen ein. Die Scones stelle ich oben drauf.

»Vielen Dank, Ms Baumgardener.«

Kinnings steht hinter mir und ich schrecke hoch.

»Kein Problem«, sage ich schüchtern und streife meine Jacke glatt. »Ich gehe jetzt zur Baugrube und sehe mir den Schaden an. Oder haben Sie eine andere Aufgabe für mich?«

»Nein, das passt schon.«

Ich drücke mich an ihm vorbei und ziehe meine Handschuhe aus der Tasche. Jetzt heißt es auf ins Abenteuer. Die Streben zur Grube klettere ich hinunter und kraxle durch den schlammigen Boden hin zu der beschädigten Wand. Von hier unten sieht man die feinen Risse sofort. Das wird ein langer Tag werden. Ein ganzer Stapel statischer Berechnungen wird durch den Unfall auf mich warten.

 

Einige Messungen später sitze ich hinter meinem Schreibtisch und rechne drauf los.

Die Zeit vergeht und langsam verschwindet die Sonne hinter den Backsteinhäusern der Stadt. Ich lege die neuen Berechnungen zur Seite und verlasse meinen Container. Die Risse werden uns sicherlich einige Tage zurückwerfen.

Auf der anderen Seite der Baustelle sehe ich Kinnings inmitten einer Traube von Leuten in Anzügen stehen. Wie kommen die Herrschaften nur darauf, dass eine Baustelle der richtige Ort für ihre Designeranzüge ist?

»Mr Kinnings, haben Sie die Kollegen nicht darauf hingewiesen, dass auf einer Baustelle Helmpflicht besteht?«, frage ich scherzhaft, als ich an ihnen vorbei auf die Ausfahrt zu gehe.

Kinnings sieht mich mit zusammengezogenen Brauen an. »Scheren Sie sich um Ihre eigenen Probleme. Haben Sie die statischen Berechnungen ausgeführt?«

Ich sehe ihn stirnrunzelnd an. Welche Laus ist ihm denn über die Leber gelaufen?

»Ja, natürlich, Sir. Sie liegen auf Ihrem Schreibtisch.«

»Gut so, dann verschwinden Sie jetzt. Und seien Sie morgen pünktlich da.«

Kopfschüttelnd gehe ich an den Anzugträgern vorbei. Kinnings muss eine ganz schöne Standpauke gehalten bekommen haben. Als ich ihn das letzte Mal sah, stand er noch lachend neben dem Kranführer.

Einer der Anzugträger, der mit Abstand jüngste unter ihnen, zwinkert mir zu und ich ringe mir ein kurzes Lächeln ab. Keine Ahnung, ob er es gesehen hat und ob sein Zwinkern überhaupt mir galt.

 

Harvey

Should I simply say hello? No, that is somehow uncool. I have to be self-confident.

 

Manchmal ist es nur ein Augenblick, ein kurzer Satz, den jemand sagt oder ein Schritt, den jemand geht und man ist hin und weg von ihm. Ich kann nicht anders und muss der jungen Dame zuzwinkern. Sie hat recht, absolut.

»Kinnings, auf ein Wort«, sage ich und er folgt mir zu seinem Bauwagen.

»Was ist denn nun schon wieder?« Seine Stimme klingt wie ein Grunzen, so hat er sich schon lange nicht mehr mir gegenüber aufgeführt. Irgendwann muss nun aber Schluss sein. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass er oder seine Kollegen Mist bauen.

»Joseph, wie lange kennen wir uns schon? Warst du es nicht, der mich, als ich fünf war, vorne auf die Baggerschaufel gesetzt und mit mir über die Baustelle gefahren ist? Was ist aus diesem Mann geworden? Ist dir der Erfolg, seit du die Baustellen in diesem Bezirk leiten darfst, über den Kopf gestiegen? Seit wann geht man so mit seinen Mitarbeitern um? Das war Ms Baumgardener, nicht wahr? Sie ist wirklich taff und vor allem hatte sie vollkommen recht. Vielleicht war es die falsche Entscheidung von mir, sie in deine Obhut zu übergeben.«

Kinnings Schnäuzer zuckt unter seiner Nase. »Du nennst es taff, ich nenne es frech.«

Ein Seufzer entweicht mir. »Sei nicht so stur! Sie ist eine gute Ingenieurin, das hast du mir selbst bei unserem letzten Gespräch gesagt. Es kann nicht sein, dass du mit meinen Angestellten rumspringst, wie es dir gefällt. Du weißt ganz genau, wie wichtig mir ein gutes Klima in der Firma ist. Das gilt nicht nur in meinem Büro, sondern auch auf den Baustellen! Du kannst deinen Frust nicht an ihnen auslassen! Vater hätte das vielleicht geduldet, doch ich bin nicht er. Bei mir herrschen andere Prinzipien! Du wirst dich morgen bei ihr entschuldigen, das ist mein letztes Wort.« Ich bin von mir selbst überrascht, dass ich plötzlich so laut werde. Ich kenne Kinnings mein Leben lang, früher war er einer der besten unter Vaters Führung: intelligent, zuverlässig, fleißig, streng, aber auch humorvoll und fair. Ich hoffe, er besinnt sich wieder darauf. Ich weiß, dass er eine kleine Anfuhr vertragen kann. Vermutlich tut es ihm sogar ganz gut, wenn ihm hin und wieder mal jemand die Meinung geigt, abgesehen davon hat Ms Baumgardener seine Anfuhr absolut nicht verdient. »Tu mir einfach den Gefallen und schau, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt«, sage ich ruhiger.

Kinnings grunzt. War das jetzt eine Zustimmung?

Als ich wenig später mit meinen Kollegen im Auto sitze, geht mir die junge Frau nicht mehr aus dem Kopf. Ich scrolle auf meinem Handy, bis ich ihre Akte in unserer Datenbank entdeckt habe. Linda Baumgärtner. Ich habe keine Ahnung, wie man den Nachnamen richtig ausspricht. Die Deutschen und ihre komischen Sonderbuchstaben … Auf ihrem Bewerbungsfoto wirkt sie zerknirscht, als hätte sie tagelang kein Auge zugedrückt gehabt. Eben sah sie viel besser aus. Die dunklen Haare trägt sie inzwischen auch kürzer. Ein Lächeln beschleicht mich und wärmt mich von innen auf, während es draußen schon wieder regnet und die Tropfen hart gegen die Scheibe platschen.

»Lasst mich am Grand raus«, beschließe ich spontan.

»Sicher?« Daniel, einer meiner Statiker, wirft einen Blick über seine Schulter und schaut mich fragend an. »Wir wollten heute alle zurück nach London.«

»Schon gut, ich leihe mir morgen einen Wagen. Ihr könnt mit diesem fahren.«

Er schaut zurück auf die Straßen und wendet kurz darauf das Auto, um in die andere Richtung zum Grand Hotel zu fahren. Dort verabschiede ich mich von ihnen und checke ein.

Während die Kollegen zurück zu ihren Familien fahren, stehe ich am Fenster meiner Suite und blicke hinaus auf den trüben Himmel. Ob sie irgendwo dort oben ist und über mich wacht? Die junge Miss hat mich ein bisschen an sie erinnert. Die Art, wie sie mich angelächelt hat. Außerdem hatte Mum vor all den Jahren mal fast den gleichen Satz zu Joseph und meinem Vater gesagt. Sie und Ms Baumgärtner hätten sich sicherlich gut verstanden. Verdammt, Harvey! Vergleichst du sie gerade wirklich mit deiner toten Mutter? Das darf doch nicht dein Ernst sein.

Trotzdem kann ich nicht anders, ziehe mein Portemonnaie aus meiner Gesäßtasche und krame das verblichene Foto von Mum und mir heraus, das wir mal in einer dieser Fotoautomaten auf der Kirmes gemacht haben, als ich sechs oder sieben war. Sie war eine wunderschöne Frau. Ich würde alles dafür tun, um dieses warmherzige Lächeln noch einmal zu sehen oder sie lachen zu hören.

Mein Blick fällt auf das Kärtchen, das über ihrem Foto steckt. Eine alte Clubkarte des Cameos. Ich dachte, ich hätte sie längst weggeschmissen. Vielleicht habe ich Glück und mir kommt bei einem Ale die Idee, wie ich die hübsche Miss für mich gewinnen kann, ohne morgen allzu plump zu klingen, wenn ich noch einmal auf der Baustelle auftauche.

Ein Taxi holt mich vor dem Hotel ab und bringt mich zum Nachtclub. Hier war ich ewig nicht mehr. Laute Musik und angetrunkene Leute sind eigentlich nicht mein Ding. Heute mache ich jedoch eine Ausnahme. Drinnen schlägt mir bereits der rhythmische Bass der Musik entgegen. Zum Tanzen kriegt mich jedoch keiner, mein Ziel ist die Bar. Geradewegs steuere ich auf sie zu und bleibe abrupt stehen, als mein Blick am schulterlangen Haar der Frau vor mir hängen bleibt. Das kann doch nicht sein! Sie – hier? Na super! Ich schaue zurück zur Tür und reibe meine Hände ineinander. Soll ich es wirklich wagen, sie einfach so anzusprechen? Man Harvey, Junge, reiß dich zusammen! Das ist doch nicht das erste Mal, dass du eine Frau ansprichst.

Ich beiße mir auf die Lippen und mache einen Schritt nach vorne – und noch einen und noch einen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. In meinem Hinterstübchen rattert es. Soll ich einfach Hallo sagen? Nein, das ist irgendwie uncool. Ich muss selbstbewusst auftreten. Was ist, wenn sie glaubt, ich stalke sie? Innerlich den Kopf schüttelnd verscheuche ich den Gedanken und bleibe hinter ihr stehen. Jetzt heißt es Zähne zusammenbeißen, cool und lässig wirken.

 

Linda

I look at Harvey, who rubs his index finger over the fine hair on his chin. »I know that. I stood in the shadow of the others for a long time myself. It took me a while to get accepted by the company.«

 

»Na, Sie haben ja Courage – alle Achtung. Die Demütigung so auf sich sitzen zu lassen und darüber zu stehen.«

Ich verharre in meiner Bewegung und bleibe regungslos stehen. Ich kenne die Stimme nicht, doch als ich mich umdrehe, wird mir klar, dass es der junge Anzugträger von eben ist, der mir gegenüber steht. Was macht er hier?

»Sagen wir, ich lebe noch.« Er setzt sich neben mich auf den Barhocker und ich gebe dem Kellner ein Zeichen, zu uns zu kommen.

»Was möchten Sie trinken?«

»Whisky Cola.« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Fremde neben mir eine Augenbraue hebt – steht ihm, der skeptische Blick.

»Und Sie?«

»Ein Ale, bitte.« Er nimmt die Flasche Ale entgegen und lässt seine Mundwinkel nach oben steigen. »Sie sind ganz schön taff«, sagt er trocken und dreht sich zu mir hin. Den Anzug von eben hat er zwischenzeitlich gegen ein schwarzes, enganliegendes Shirt und eine dunkle Jeans getauscht.

Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was das heute war. Normalerweise ist Kinnings nicht so.«

Sein Kopf hebt und senkt sich im Rhythmus der dröhnenden Musik im Hintergrund, während sein Bein auf und ab wippt – das macht mich ganz nervös. Ich konzentriere mich auf die langen Wimpern, die seine grünen Augen umrahmen. Solche Wimpern hätte ich auch gerne.

»Wir waren nicht gerade erfreut, über Mr Kinnings‘ Sorglosigkeit. Er vergisst manchmal, dass jeder Schaden, den er durch seine laienhafte Arbeit verursacht, auf die Firma zurückfällt.«

»Also war das nicht das erste Missgeschick unter seiner Leitung?«

Seine Augen ruhen einen Moment zu lange auf meinem Gesicht. Er zuckt lässig mit den Schultern und reibt sich über den Drei-Tage-Bart. »Lassen Sie uns doch das Thema wechseln. Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Wo kommen Sie noch gleich her?«

»Beantworten Sie jede Frage mit einer Gegenfrage?«

Er grinst und seine makellos weißen Zähne treten zum Vorschein. » Tue ich das?«

Ein Schmunzeln überkommt mich. »Ich bin aus Deutschland«, antworte ich laut über das Dröhnen der Musik hinweg und nehme einen Schluck aus dem Whiskeyglas vor mir. Als mir das Gebräu den Rachen wegbrennt, rümpfe ich die Nase und muss husten. Wie konnte ich nur auf die dumme Idee kommen, mir so ein Gesöff zu bestellen? Gerade komme ich mir alles andere als taff vor. Als Nächstes werde ich definitiv auf etwas Milderes zurückgreifen; vielleicht auf einen Cocktail oder einen harmlosen Longdrink.

»Trinken Sie einen Schluck von meinem Bier. Ich bin mir sicher, das wird Ihnen helfen.«

Tränen steigen in meine Augen und ich sehe die Bierflasche nur noch durch einen wässrigen Schleier. Ich nippe an der Flasche und atme erleichtert aus, als sich das Brennen in meiner Kehle legt. »Danke«, keuche ich.

Er nickt mir zu, nimmt die Flasche und hebt sie wieder an seinen Mund. »Ich war mal in München auf dem Oktoberfest, kennen Sie das?« Er schreit schon fast. Blöde Musik.

»Jeder Deutsche kennt es«, brülle ich zurück. »Ich bin in der Nähe von München aufgewachsen und gehe fast jedes Jahr hin.« Ich stelle ihn mir in einer knackig engen Lederhose und einem karierten Hemd vor. Beim Gedanken daran kreist meine Zunge über meine Lippen. Oh Gott, hoffentlich hat er das nicht bemerkt.

Seine Hand gleitet durch sein kurzgeschnittenes, braunes Haar, ohne dass er aufhört, mich zu beobachten. »Bringe ich Sie so zum Grinsen?«, fragt er plötzlich und ich presse meine Lippen aufeinander.

Mein Blick wandert zur verspiegelten Wand hinter der Bar. Na super, ich sehe aus wie eine überreife Tomate. »Na ja, vielleicht …«

Er prostet mir zwinkernd zu, als wäre ihm diese Unterhaltung überhaupt nicht peinlich. »Wenn Sie oft dort sind, dann müssen Sie mir einen Gefallen tun. Zum Oktoberfest gibt es immer ein ganz bestimmtes Bier, vielleicht könnten Sie mir mal ein paar Flaschen schicken. Oder besser noch, wir gehen gemeinsam hin und stoßen dort damit an. Wie sagen Sie in Deutschland?«

»Prost?«, frage ich unsicher. Hat er gerade wirklich vorgeschlagen, mit mir aufs Oktoberfest zu gehen? Wenn das so weiter geht, brauche ich doch noch einen Schluck Whiskey.

»Prost«, sagt er mit britischem Akzent und hebt seine Flasche ein weiteres Mal zum Anstoß.

Ich schaffe es nicht mehr, mein Lachen zu unterdrücken, lege den Kopf ein Stück nach hinten und lasse es einfach raus. Dieser Mann ist wirklich ein Knüller. Schade, dass er nicht mein Chef ist. Mit ihm ist sicherlich besser Kirschen essen als mit Kinnings. Nach dem Anschiss am Abend hätte ich nicht gedacht, dass ich mich noch so amüsieren würde.

»Und Sie und Ihr Chef sind in Eastbourne Gäste?«, frage ich.

Seine Stirn legt sich in winzige Falten. »Ich … verstehe nicht?«

»Ob Sie hier Gast sind?«, frage ich lauter. Wir hätten uns nicht so nah an die Boxen setzen sollen.

»Ich? Oh, ja. Ich übernachte immer im Grand, wenn ich in Eastbourne bin.« Das Grand Hotel, darauf bin ich gestoßen, während ich für meine erste Woche hier ein Zimmer suchte. Es ist das einzige Fünfsterne-Hotel an der britischen Ostküste, wenn ich mich recht erinnere.

Ich nicke anerkennend. »Sie kommen aus London, nicht wahr?«

»Gut erkannt.«

»Es muss aufregend sein, in einer so attraktiven und dynamischen Stadt zu leben.«

»Wenn man dort aufwuchs, ist es nicht aufregender als Eastbourne, nur ohne Strand und Palmen. Aber was zieht sie eigentlich hierher? Seit wann bevorzugen Frauen einen Job im Schlamm und zwischen einem Haufen schwitzender Kerle?«

Ich runzle die Stirn. Hat er meine Kollegen gerade wirklich als schwitzende Kerle bezeichnet? Klar trifft das zu, aber es aus dem Mund eines Anzugträgers wie ihm zu hören, überrascht mich. Erst, als er fragend eine Augenbraue hochzieht, antworte ich knapp, dass ich mal etwas Neues probieren wollte. Da er mit Mr Grubers Leuten herkam, hat er sicherlich gute Beziehungen zu der Chefetage. Da möchte ich nicht riskieren, dass er erfährt, wieso ich mich tatsächlich hier beworben habe.

»Noch ein Ale, bitte.«

Er trinkt ganz schön viel. Mein Blick fällt auf mein eigenes, noch fast volles Glas.

»Möchten Sie auch ein Bier? Es schien nicht so, als hätte Ihnen das«, er zeigt auf den Whiskey, »sonderlich gut geschmeckt.« Da hat er mich ja gut durchschaut.

»Ja, Ihr Ale war besser, als ich gedacht hätte.«

»Aber ans deutsche Bier kommt es nicht heran?« Er sieht mich fragend an und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.

»Sagen wir, es ist anders. Lecker, aber anders.«

Er beugt sich nach vorne und winkt den Barkeeper zu uns. »Für die Dame das beste Ale, das sie haben, damit sie lernt, die britische Bierbraukunst zu schätzen.« Er zwinkert mir zu und zeigt seine weißen Zähne.

Der Barkeeper schiebt mir lachend eine Flasche und ein Glas rüber. Ich schütte es mir selber ein und nippe den Schaum weg.

»Wie heißen Sie noch gleich?«

»Linda. Linda Baumgärtner.«

»Baumgardener, ein lustiger Name. Sie können mich Harvey nennen.« Er streckt mir seine Hand entgegen und ich schüttle sie. Seine Finger sind weich, und die Nägel gepflegt. Zu gepflegt für einen Kerl vom Bau.

»Was machen Sie bei Gruber? Sind Sie Architekt dort oder Ingenieur?«

»So etwas in der Art. Die meiste Zeit schließe ich Verträge. Doch damit möchte ich Sie nicht langweilen, schließlich füllt sich die Bar langsam. Ich habe das Gefühl, mir bleibt nicht mehr viel Zeit, um Sie in Ruhe kennenzulernen.« In Ruhe, der war gut. Langsam fällt mir wieder ein, wieso ich solche Clubs normalerweise meide. Es ist viel zu laut und stickig hier drin.

Lange werde ich nicht mehr bleiben. Ich kam sowieso nur her, um mich nach Kinnings‘ Anschiss abzureagieren.

»Es schien heute nicht so, als würde Ihnen der Job gefallen«, behauptet er und seine Stirn wirft eine leichte Falte.

Ich mache eine abwehrende Handbewegung. »Es ist nicht immer leicht, als Frau nur von Männern umgeben zu sein. Den Beruf habe ich gewählt, um kreativ zu sein, um meine Gedanken zu fordern, um etwas zu schaffen. Das versteht Kinnings nicht immer. Dennoch macht es Spaß. Es tut gut, zumindest hin und wieder sein Wissen anwenden zu können.«

Ich sehe zu Harvey, der sich mit seinem Zeigefinger über die feinen Haare an seinem Kinn streicht. »Ich kenne das. Ich stand selbst lange im Schatten der anderen. Es hat gedauert, bis man mich in der Firma akzeptierte.«

»Ich weiß nicht, ob es eine Frage der Akzeptanz ist. Vielleicht bin ich auch nur enttäuscht, weil ich mein Ziel, aus dem ich her kam, noch nicht erreicht habe«, antworte ich.

Seine Augen ruhen auf mir. »Was ist denn Ihr Ziel, wollen Sie Bauherrin werden? Dann muss ich Sie enttäuschen, das geht bei uns nicht so schnell.«

Ich lache. »Nein, nein. Das ist es definitiv nicht.«

»Machen Sie es doch nicht so spannend. Welche Geschichte verbirgt sich hinter Linda Baumgardener?«

Schmunzelnd schüttle ich den Kopf und schaue zu Boden. »Ich kann es Ihnen wirklich nicht verraten.«

Er sieht mich enttäuscht und entschlossen zugleich an. »Schade, ich würde gerne mehr über Sie erfahren. Aber wenn Sie mir nicht einmal das verraten möchten …«

»Manche Dinge verrät man eben nicht gleich«, sage ich geheimnisvoll und zwinkere ihm zu.

»Ich werde es schon noch herausfinden.«

»Wir werden sehen«, sage ich lächelnd und bestelle mir ein Wasser.

Er sieht mich mit gespieltem Entsetzen an. »Was, schmeckt Ihnen das Ale nicht?«

»Doch, doch. Es wird bloß Zeit für etwas Alkoholfreies. Sonst schaffe ich es nicht mehr alleine nach Hause.«

»Ich begleite Sie gerne.«

»Lieb von Ihnen. Noch bin ich jedoch nicht betrunken.« Ich schwenke das Wasserglas vor ihm hin und her, ehe ich daran nippe. »Entschuldigen Sie bitte, ich muss mal kurz. Sie wissen schon. Bis gleich.« Mist, ich hätte nicht so viel trinken dürfen. Meine Blase scheint plötzlich kurz vorm Platzen zu sein. Ich springe auf und winke ihm kurz zu, greife nach meiner Tasche und gehe, ohne mich umzudrehen, Richtung Toilette. Verdammt, war der Kerl süß, hoffentlich wartet er die fünf Minuten auf mich.

Als ich wiederkomme, ist sein Platz leer. Mein Blick schweift über die Menge tanzender und sich windender Leute. Der Club ist in den letzten paar Minuten richtig voll geworden. Wo ist er bloß hin?

»Das ist für Sie.« Der Barkeeper holt mich zurück ins Jetzt und reicht mir einen Bierdeckel, ehe er sich umdreht und Saft in einen Cocktailshaker füllt.

Der Pappdeckel liegt rau in meiner Hand. Ich muss ihn ins Licht halten, um die krakelige Schrift darauf zu erkennen.

›Sie hören von mir‹.

Was meint er damit? »Wo ist er hin?«, frage ich den Mann hinter der Bar.

Er zuckt mit seinen Schultern und nickt Richtung Ausgang. Ich lese mir noch einmal die kurze Nachricht durch. Wie soll ich denn von ihm hören, wenn er nicht einmal meine Nummer hat? Ob er sie aus Grubers Datenbank bekommen kann? Ich schüttle den Kopf und stecke die Pappscheibe ein. »Ich würde gerne zahlen«, sage ich zum Kellner, doch der winkt ab. Wow, dann hat Harvey wohl die Rechnung übernommen. Also sieht er nicht nur gut aus, sondern ist auch noch ein Gentleman.

 

Harvey

After all, she is worth the lack of sleep.

Ich kann nicht anders und schaue ihr hinterher. Ihr schlanker Körper verschwindet in der Menge.

Mein Bier ist fast leer. Der letzte Schluck fließt meine Kehle herunter und ich rufe den Barkeeper zu mir. »Zahlen bitte und haben Sie einen Stift?«

Er reicht mir einen Kuli und nickt auf den leeren Platz neben mir. »Zusammen?«

»Ja, bitte.« Ich reiche ihm das Stempelkärtchen und lege ihm dreißig Pfund hin. »Stimmt so.«

Ich habe eine Entscheidung gefasst. ›Sie hören von mir‹, kritzle ich auf den Bierdeckel und reiche ihn dem Barkeeper, damit er ihn ihr geben kann. Und jetzt weg hier, bevor ich es mir doch noch anders überlege. Nervös schaue ich nach hinten, doch sie ist immer noch nicht zu sehen. Egal, in nur zwei Wochen kann ich ihr bezauberndes Lächeln jeden Tag genießen.

Draußen herrscht ein eisiger Wind. Hoffentlich kommt sie gut zu Hause an. Vor mir hält ein Taxi und bringt mich zurück zum Hotel. Sie wird Augen machen, wenn sie morgen die Nachricht von Kinnings erhält. Ich sehe sie schon vor mir, wie sie freudig lächelnd in mein Büro tritt und mich dankbar umarmt, weil ich sie raus aus diesem Schlammloch geholt habe. Ich kann nicht anders und muss grinsen. Der Fahrer hält mich bestimmt für betrunken.

Ich laufe durch den Regen hinein ins Hotel und stürme hoch in meine Suite. Heute früh hätte ich nicht gedacht, dass ich die Nacht arbeitend verbringe werde. Doch ich möchte, dass Kinnings die Unterlagen für ihre Versetzung gleich morgen früh bekommt, daher heißt es jetzt ran an den Laptop. Sie ist den Schlafmangel schließlich wert.

 

Linda

It's as if everything was in vain. Every day I'm here is a day I can not spend with my family, with my dad.

 

»Ms Baumgardener, kommen Sie bitte zu mir. Heute Morgen lag ein Stapel Unterlagen auf meinem Tisch. Wie drück ich es am besten aus? Jaa … Sie arbeiten nicht mehr lange für mich.« Kinnings schaut mich mit zusammengepressten Lippen an und

mir bleibt die Spucke im Hals stecken.

Wie bitte? War das sein Ernst? Mir fällt die Notiz ein … Meinte er das mit ›Sie hören von mir?‹ Hatte er dafür gesorgt, dass ich gefeuert werde? Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen. Schließlich habe ich bloß gesagt, dass es nicht leicht unter all den Männern sei. Außerdem hätte er dann sicherlich nicht meine Getränke mitbezahlt. Vielleicht hat Harvey es Mr Gruber erzählt und der denkt nun, dass ich auf dem Bau nicht klarkomme. Oder war es wegen des Spruchs gestern? Zumindest Harvey schien er gefallen zu haben.

Och Menno, das darf doch nicht wahr sein. Ich brauche diesen Job. Ohne ihn läuft mein Visum bald ab und ich habe gar keine Chance mehr, meine Halbschwester zu finden.

Ich sehe flehend zu Kinnings auf, der auf seine Hände gestützt hinter seinem Schreibtisch steht. Er greift mit seiner rechten Hand zu seiner Lesebrille und schiebt sie nach oben. Ich habe keine Ahnung, was er mir mit dieser Geste sagen will.

»Was soll das heißen?«, setze ich erzürnt an. »Ist es wegen gestern? Das war doch nur ein Witz mit dem Bauhelm. Sie dürfen mich deswegen nicht feuern.« Ich balle meine Hände zu Fäusten.

»Oh, was das angeht, muss ich mich wohl bei Ihnen entschuldigen. Ich hätte Sie nicht so anfahren dürfen. Das Gespräch mit Herrn Gruber und seinem Team verlief nicht ganz so, wie ich es mir gewünscht hatte, da habe ich ein wenig die Beherrschung verloren. Bitte verzeihen Sie mir mein ungehaltenes Verhalten. Ihre Versetzung hat wirklich nichts damit zu tun.«

»Versetzung?« Meine Stirn runzelt sich und ich ziehe eine Braue hoch. Also doch kein Rauswurf. Ich schaue auf das dünne Goldkettchen an meinem Handgelenk und spiele mit dem Anhänger, einer kleinen Blume. Kein Rauswurf – nur eine Versetzung. Das macht es nicht viel besser. Er darf mich nicht versetzen lassen. Ich muss hierbleiben. Sandra ist hier, irgendwo hier. Dessen bin ich mir sicher.

»Ja, versetzen. Was haben Sie denn gedacht? Am ersten Juni beginnen Sie bei Herrn Gruber in der Londoner Zentrale. Man wird Ihnen wieder ein Apartment zur Verfügung stellen. Sie brauchen sich um nichts kümmern. Auf Wunsch können Sie sogar abgeholt werden.«

Der erste Juni. Das ist in nicht mal zwei Wochen. »Gibt es keine Möglichkeit, dass ich hier bleiben kann?« Gedankenverloren lasse ich mich auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch nieder. Mein ganzer Plan, Sandra in Eastbourne zu finden, wird mir gerade versaut.

»Tut mir leid, die Entscheidung kam von ganz oben. Entweder Sie akzeptieren sie, oder Ihre Probezeit ist hiermit beendet.« Er wedelt mit dem Stapel Papiere vor meiner Nase herum und zuckt unschuldig mit den Schultern. »Lesen Sie sich alles in Ruhe durch und setzen Sie anschließend einfach ihre Unterschrift drunter. Wenn Sie Fragen haben, finden Sie mich draußen. Es gibt noch einiges zu tun, Sie wissen ja.«

Nickend folge ich seinem Blick durch das kleine, dreckige Fenster nach draußen auf die Baugrube.

Er lässt mich alleine und ich blättere die Unterlagen vor mir durch. Es sind dieselben Vertragsbedingungen wie für meine aktuelle Stelle, nur, dass ich vorwiegend im Londoner Büro arbeiten soll. London, Stadt des Regens und der Menschenmassen. Für einen Kurztrip ist es sicherlich eine sehenswerte Stadt, aber möchte ich selbst dort leben?

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schaue bei Google Maps nach, wie lange ich von London nach Eastbourne brauche. Mit dem Auto bin ich in knapp zweieinhalb Stunden dort, mit dem Zug sogar noch eine Stunde schneller. Das geht, so kann ich immerhin an den Wochenenden herkommen und nach ihr suchen. Vielleicht habe ich sogar Glück und Harvey kann ein gutes Wort für mich bei Mr Gruber einlegen, damit er mich hierher zurücklässt.

Ich setze den Kuli mit verkrampften Fingern auf das unterste Blatt Papier und kritzle meinen Namen hin. »Auf Wiedersehen, Baustelle und Hallo Großstadtbüro«, murmle ich, ehe ich raus zu Kinnings gehe und die Überwachung der Anlieferung der neuen Baustoffe übernehme.

 

Heute ist es soweit. Draußen geht bereits die Sonne unter. Für meinen letzten Arbeitstag in Eastbourne hätte das Wetter an der Südküste Englands nicht besser sein können. Ich räume meine Klamotten aus dem Schrank und lege sie ordentlich zusammen. Anschließend packe ich alles in den großen Koffer, den ich mir von meinem Vater geliehen habe und setze mich auf den Deckel, um den breiten Reißverschluss zu schließen. Ansonsten habe ich bloß zwei Kartons zu schleppen, die mit nach London müssen. Ich stelle alles in den schmalen Flur und gehe in die kleine Küche.

Auf dem Herd kocht bereits das Wasser im Kessel und stößt pfeifend den Dampf aus. Ich lösche die Gasflamme mit einem Klick, gieße das Wasser über den Teebeutel und schütte den Rest in die Spüle. Dann lasse ich kaltes Wasser über den Kessel laufen, bis er abgekühlt ist und trockne ihn ab, um ihn zurück in den maroden Schrank zu stellen.

Als ich einzog, war ich heilfroh, diese Wohnung bekommen zu haben. Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, kostenlos wohnen zu dürfen.

Meine Fingerspitzen gleiten über die abgesplitterte Farbe an der Kante der Arbeitsplatte. Es wird ungewohnt sein, nicht mehr tagtäglich in dieses alte Haus am Rande der Stadt zu kommen. Ob sie mich in London wieder in ein so uriges Apartment stecken?

Ich gieße kaltes Wasser in meine Tasse nach, um den roten Tee direkt trinken zu können. Trotzdem verbrenne ich mir die Zunge. Sofort spüre ich die feinen Pickelchen, die die Verbrennung auf der Zungenspitze herbeiführt. Seufzend schmeiße ich den Teebeutel weg und raffe die Mülltüte zusammen, um sie nach unten in den dunklen Innenhof zu bringen. Der Geruch von modrigen Essensresten steigt mir in die Nase. Ich trete einmal kräftig gegen die stinkende Tonne. Der Schmerz schießt augenblicklich in meinen Fuß. Verdammt, ich will hier nicht weg! Ich lasse mich gegen die rote Backsteinmauer sinken, bis ich auf dem Boden hocke und schließe die Augen. Mein ganzer Plan scheint zum Scheitern verurteilt. Die letzten zwei Wochen habe ich viel nachgedacht, über mich, meinen Vater, London, Harvey und die neue Stelle, über alles. Vor allem über Sandra. Ich bin ihr kein Stück näher als an meinem ersten Tag in Eastbourne. Es ist, als sei alles umsonst gewesen. Jeder Tag, den ich hier bin, ist ein Tag, den ich nicht mit meiner Familie, mit meinem Vater verbringen kann. Und jetzt scheine ich mich noch mehr von Sandra entfernen zu müssen. Ich kann es einfach nicht fassen, dass Harvey für meine Versetzung gesorgt hat. Meine Finger krallen sich in das Unkraut, das entlang der Hausfassade wächst und ich zupfe ein paar Blätter Löwenzahn aus den Bodenfugen. Aus der Ferne höre ich das Läuten von Kirchenglocken. Jeden Moment müsste das Taxi kommen.

Ich reiße mich zusammen und laufe nach oben. Nachher im Taxi und in der Bahn werde ich genug Ruhe haben, um über alles nachzudenken. Jetzt ist jedoch nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Kaum stehe ich wieder in der Wohnung, klingelt es. Ich schütte den restlichen Tee ins Waschbecken und wische die Tasse mit der Hand aus, dann eile ich zur Tür.

Der Fahrer ist so freundlich und hilft mir, meine Sachen runter ins Auto zu bringen. Mit einem traurigen und einem lächelnden Auge schließe ich die Tür hinter mir zu und werfe den Schlüssel wie abgemacht in den Briefkasten des Hausmeisterservices im Erdgeschoss.

London, ich komme. Und Papa, ich werde nicht aufgeben, das verspreche ich dir.

 

 

 

 

Linda

Why does he have to smile so charming? I can not concentrate at all.

 

Ich starre nervös auf meine Schuhe, ziehe den Saum des roten Mantels, den ich heute trage, näher an mich und betrete den Koloss vor mir, der beinahe alle Gebäude im Umkreis überragt. Kinnings hatte mir gestern eine Nachricht zugesteckt, dass ich heute um zehn Uhr im dreizehnten Stock erscheinen soll. Ich streife meine feuchten Pumps am Teppich im Eingangsbereich ab, die ich mir extra heute Morgen in einem kleinen Schuhladen um die Ecke gekauft habe und betrete das geräumige Foyer. Zierliche rote Sofas stehen an den Seiten zwischen den vier Aufzügen mir gegenüber. Ohne mich weiter umzusehen, gehe ich auf eine der Lifttüren zu und bleibe abrupt stehen, als mich jemand von hinten anspricht.

»Entschuldigen Sie, Miss, Sie müssen sich zuerst bei mir anmelden, wenn Sie hoch wollen.«

Ich drehe mich um und blicke in das Gesicht einer blonden Frau, die sicherlich gut zwanzig Jahre älter ist als ich.

»Verzeihung. Ich bin Linda Baumgärtner. Ich soll zur Firma Gruber in den dreizehnten Stock.«

»Mr Gruber ist noch in einer Besprechung. Fahren Sie hoch und warten sie dort im Vorsaal. Sicherlich wird sich Ms Marley Ihrer annehmen.«

 

»Vielen Dank.« Ich nicke und eile zurück zu den Aufzügen. Ein Kribbeln in den Fingerspitzen lässt mich darauf hoffen, dass es Harvey ist, der sich um mich kümmern wird und nicht irgendeine Sekretärin. Ich bin mir absolut sicher, dass es seine abstruse Idee war, mich hierher versetzen zu lassen. Es muss einfach seinetwegen sein, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie er das angestellt hat. Laut Kinnings kam der Befehl immerhin von Gruber persönlich.

Ich betrete den leeren Lift und schaue in den Spiegel. Man, bin ich müde. Ich sehe aus, als hätte ich seit einer Woche nicht mehr geschlafen. Tiefblaue Ringe liegen unter meinen Augen. Ich bin noch vor den ersten Sonnenstrahlen aufgestanden, um mein neues Apartment herzurichten. Es ist eine schöne Wohnung, die nicht weit vom Hydepark und meiner neuen Arbeitsstelle gelegen ist. Sie gefällt mir besser als die in Eastbourne. Trotzdem war mir die alte Wohnung lieber, sie hatte etwas Heimliches. Ich weiß einfach nicht, was ich hier soll. Es kommt mir alles so unnütz vor.

Der Lift fährt mich ohne Halt nach ganz oben. Als sich die Türen öffnen, stehe ich vor einem kühl wirkenden Foyer und kann geradewegs durch die Panoramafensterfront nach draußen blicken.

Ich hasse Panoramafenster in dieser Höhe, trotzdem gehe ich ein paar Schritte vor. Der Ausblick raubt mir den Atem – und das wortwörtlich. Mir wird schwindelig und ich halte mich an einer weißen Säule, die die Decke stützen soll, fest.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Die süßliche Stimme einer jungen Dame tritt in mein Ohr und ich drehe mich zu ihr um.

»Ich soll mich hier melden, Linda Baumgärtner.«

»Ah, Ms Baumgardener, wir haben Sie bereits erwartet. Mr Gruber ist noch in einer Besprechung. Darf ich Ihnen Ihren Mantel abnehmen?«

»Oh, gerne. Dankeschön.«

Ich streife mir meinen Mantel ab und gebe ihn der hübschen Blondine. In diesem Moment öffnet sich links von uns eine Tür und Harvey kommt, begleitet von drei der älteren Herren, die mit auf der Baustelle waren, aus einem Konferenzraum hervor. »Verzeihen Sie«, sagt er und nickt dem Mann neben sich zu. Er schaut zu mir. »Linda, schön Sie wiederzusehen. Delilah, ich kümmere mich um sie.«

»Natürlich, Mr Gruber.« Ich schaue verwirrt von Harvey zu Delilah, die zurück hinter das Empfangspult tritt. Mr Gruber? Harvey ist Mr Gruber? Wieso hat er das nicht erwähnt, als er sich mir vorstellte? Mein Gott, ich bin so blöd! Natürlich, das erklärt, wieso er sich den Aufenthalt im Grand Hotel leisten und wieso ich so schnell versetzt werden konnte. Ich beiße mir auf die Lippen. Ganz schön peinlich, den eigenen Chef nicht gleich zu erkennen, auch wenn ich mir sicher bin, dass auf der Webseite ein älterer Herr zu sehen war.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragt er und zeigt durch die offene Tür in sein Büro.

»Einen Tee bitte«, antworte ich völlig konfus, bis mir wieder einfällt, dass ich ja sauer auf ihn bin. Wie schafft dieser Mann es nur, mich so aus dem Konzept zu bringen? Ich beiße mir auf die Lippen. »Und ich möchte erfahren, was ich hier mache.« Ich gehe an ihm vorbei und bleibe mitten im Raum, zwischen einer eleganten Sitzgruppe und seinem Schreibtisch, mit verschränkten Armen stehen.

»Mit Milch und Zucker?«

»Nur Milch, danke. Und hören Sie bitte auf, meinen Fragen auszuweichen. Dieses Spiel können Sie sich sparen.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Harvey gießt, ohne eine Miene zu verziehen, heißes Wasser in eine Tasse und steckt einen Beutel schwarzen Tee hinein. Zusammen mit einem Kännchen Milch stellt er die Tasse auf dem runden Glastischchen ab und weist auf meinen Platz, einen weißen Schwingsessel. »Setzen Sie sich und trinken Sie einen Schluck.«

Mit verschränkten Armen sinke ich in den Sessel, rühre die Tasse jedoch nicht an. Der Tee muss sowieso erst einmal durchziehen.

»Also?«, frage ich. Dieses Mal bin ich es, der ihn nicht aus den Augen lässt.

Eine seiner hellbraunen Augenbrauen wandert nach oben. »Also was?« Er zieht einen der Gästestühle vor seinem Schreibtisch herüber und stellt ihn vor mir ab. Mit beidseitig hochgezogenen Brauen setzt er sich vor mich und schlägt geschäftsmäßig die Beine übereinander, so dass die locker sitzenden schwarzen Hosenbeine seiner Jeans an seinen Knöcheln schlackern.

»Wieso bin ich hier? Mr Kinnings teilte mir nur einen Tag, nachdem ich Sie kennenlernte, mit, dass ich versetzt werde. Wieso haben Sie das getan? Ich verstehe es nicht.«

»Sind Sie denn nicht erfreut über den Wechsel?« Er meint es ernst. Harvey schaut mich geradezu verdutzt an.

Ich seufze. »Nein, ich gehöre nicht hierher. Bitte lassen Sie mich wieder bei Mr Kinnings arbeiten. Ich fühle mich draußen auf der Baustelle wohler.«

Seine Finger streichen über sein unrasiertes Kinn und er sieht mich nachdenklich an. »Tut mir leid, ich dachte, ich tue Ihnen einen Gefallen. Mit Ihren Qualitäten sind Sie hier im Büro und in meiner Nähe sicherlich besser aufgehoben. Ich hatte das Gefühl, Ihnen gefiele die Arbeit in Eastbourne nicht. Dass Mr Kinnings Sie nur unterfordere.«

»Selbst wenn es so wäre«, sage ich, ziehe den Teebeutel aus der Tasse und lege ihn auf den Untersetzer. »Warum haben Sie mich denn nicht einfach vorher gefragt? Ich war vollkommen überrumpelt. Im ersten Moment dachte ich, dass Mr Kinnings mich feuern wolle.«

»Wieso sollte er das tun?«

»Ich weiß es nicht, aber ich wusste auch nicht, wieso ich versetzt werden sollte. Außerdem hätten Sie mir ruhig sagen können, dass Ihnen die Firma gehört. Sie glauben gar nicht, wie peinlich mir das gerade ist. Ich dachte, Sie wären ein Architekt.«

Harvey lacht und feine Grübchen bilden sich um seine Mundwinkel. Ich gebe ein schwaches Lächeln von mir und streife meine langen Haare hinter die Ohren.

»Wie kommen Sie denn darauf? Sie müssen doch wissen, wie ich aussehe.«

Ich hebe entschuldigend meine Schultern. »Auf ihrer Webseite ist ein älterer Herr als Mr Gruber abgebildet. Ich hatte gedacht, er wäre einer der anderen Herren gewesen, die mit auf der Baustelle und auch eben mit Ihnen im Konferenzraum waren.«

Man sieht deutlich, wie er damit kämpft, nicht laut loszulachen. »Sie haben meinen Vater für mich gehalten? Aber ja, Sie haben recht, Mr Launchfield sieht ihm sehr ähnlich. Das mit der Webseite werde ich prüfen lassen. So lange bin ich schließlich noch nicht der alleinige Inhaber. Haben Sie Dank für den Hinweis.«

»Gerne«, sage ich verlegen. »Und …« Meine Hände reiben in meinem Schoß aneinander. »Werden Sie mich zurückversetzen? Ich glaube nicht, dass ich hier glücklich werde.«

»Laut ihrem Lebenslauf haben Sie nie in London gelebt. Woher wollen Sie das dann wissen? Es ist eine wunderschöne Stadt. Geben Sie ihr und mir eine Chance. Ich bin mir sicher, dass Sie es nicht bereuen werden.«

Er sieht mich freundlich an. Wieso muss er auch so charmant lächeln? Da kann ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Ich möchte nicht hierbleiben. Wie soll ich meine Schwester so finden? Ich wünschte, ich könnte ihm einfach sagen, wieso ich zurück möchte. Vielleicht würde er es sogar verstehen.

Meine Finger finden einen losen Faden an meinem Ärmel und fummeln daran herum. Die Chancen, dass er mich zurückschickt, stehen genauso groß wie jene, dass er mich kündigt, wenn ihm klar wird, dass ich gar nicht um des Jobs Willen hier bin.

Er steht auf und stellt sich vor eines der bodentiefen Fenster, die dem abgerundeten Büro eine besondere Helligkeit geben. »Die Sonne kommt heraus, stehen Sie auf und kommen Sie mit. Ein Spaziergang durch die Stadt wird Ihrem aufgewühlten Gemüt guttun. Außerdem möchte ich Ihnen unser neues Projekt zeigen.«

»Ich soll mit Ihnen spazieren gehen?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Während meiner Arbeitszeit? Und er behauptet, bei Kinnings wäre ich unterfordert gewesen …

Den Tee trinke ich in einem raschen Zug aus, verbrenne mir die Zunge und stoße einen kurzen Fluch aus. Harvey bekommt davon nichts mit.

Meine Glieder fühlen sich steif und bleiern an, als ich aufstehe und meine Kleidung glatt streiche.

Er dreht sich zu mir um und fährt sich mit der Hand durch sein kurzes, braunes Haar. Die feinen Grübchen umspielen erneut sanft seine Mundwinkel, als er mich anlächelt. »Sehen Sie es als architektonische Führung. Wenn Ihre Bauwerke ins Stadtbild passen sollen, müssen Sie dieses auch kennen.«

Ich seufze. Ich hasse es, wenn andere im Recht sind. »Na gut, nach Ihnen«, sage ich geschlagen.

Er geht zur Tür und hält sie mir auf. »Delilah, geben Sie Ms Baumgardener bitte ihre Jacke und verlegen Sie mein sechzehn-Uhr-Gespräch mit Herrn Levis auf morgen.«

»Selbstverständlich, Sir. Kommen Sie heute noch in die Firma?«

Harvey verneint und sie reicht mir meinen Mantel.

»Dankeschön«, sage ich ruhig und versuche die Anspannung abzuschütteln. Ich glaube nicht, dass Harvey mich einfach so gehen lässt – zumindest noch nicht. Jetzt heißt es für mich, das Beste aus der Situation zu machen. London ist nicht so weit von Eastbourne entfernt. An den Wochenenden kann ich also immer noch nach Sandra suchen. Außerdem brauche ich den Job; ohne Arbeit darf ich nur noch ein paar Wochen hierbleiben.

Resigniert folge ich Harvey in den Lift. Er wirkt viel entspannter als vor zwei Wochen.

Eine frische Brise weht mir die Haare ins Gesicht, als wir das Gebäude verlassen.

»Waren Sie schon einmal in London?«

»Ja, mit fünfzehn auf Abschlussfahrt der zehnten Klasse, aber das ist schon zehn Jahre her.«

»Dann lassen Sie uns durch den Hydepark gehen, der ist um diese Uhrzeit, wenn die meisten in ihren Büros sitzen, am herrlichsten.« Er lenkt mich um ein paar Bäume herum auf den großflächigen Park zu. Wir gehen durch eine schmale Tür am Rande des Zaunes, der die Parkfläche umgibt. Er bleibt plötzlich stehen, sodass ich beinahe in ihn hineinlaufe.

»Verzeihen Sie«, nuschle ich.

Er zeigt unter den Schatten der Baumkronen hindurch auf einen kleinen Weg. Der Pfad führt vorbei an einer Kapelle und auf den italienischen Garten zu. Hier hatten wir bereits vor zehn Jahren mit der Klasse gepicknickt. Es hat sich seitdem kaum etwas verändert.

Bei einer Reihe Parkbänke setzen wir uns und betrachten die Fontänen der vier Springbrunnen. Ich streiche mit meinen Fingerspitzen über das warme Holz, auf dem wir sitzen. Es ist rau, wie die Natur. Der Duft des immer noch feuchten Rasens steigt mir in die Nase. Er erinnert mich an unsere Ausflüge nach Italien, als ich noch klein war. Wir sind immer im Spätsommer hingefahren, wenn die Touristenmassen schon weg waren. Ich liebe diesen Geruch. Die feuchte Hitze, wenn es in der Nacht geregnet hat und nun die Sonne einen küsst.

»Ein herrlicher Ort, hier komme ich immer her, wenn es mir so geht wie Ihnen gerade. Ich hoffe, Sie sind nicht mehr allzu aufgebracht. Linda, sehen Sie es von meiner Seite aus. Hätte ich Sie vorher gefragt und Sie hätten Nein gesagt, wie hätte ich dann erst dagestanden, wenn ich Sie trotzdem rübergeholt hätte? Ich glaube, wir werden ein gutes Team bilden. Ich bin schon lange auf der Suche nach einer kompetenten Ingenieurin an meiner Seite. Frauen geben einem oftmals ganz andere Impulse als Männer. Sie betrachten die Dinge anders, pragmatischer. Bitte bleiben Sie und geben uns eine Chance.«

Die Ruhe, das Plätschern der Fontänen, es ist herrlich. Vor uns taucht ein Eichhörnchen auf und schaut uns frech an. »In Ordnung, aber nur eine«, sage ich verträumt und beobachte die Spatzen bei ihrer Suche nach Brotkrumen auf dem Boden.

»Sie werden es nicht bereuen«, sagt Harvey.

Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Eine angenehme Brise weht vorbei und kitzelt meine Nase. Erst letztes Wochenende lag ich am Strand von Eastbourne und jetzt bin ich hier. In London. Wenigstens spielt das Wetter heute mit. Ich knüpfe meinen Mantel auf und lasse die Strahlen direkt auf mein Dekolleté scheinen. Die Wärme tut gut.

Mein Kopf dreht sich zur Seite und mein Blick fällt auf sein Gesicht. Er ähnelt seinem Vater kaum. Als er meinen Blick bemerkt, huscht ein Lächeln über seine Lippen. Es tut gut, ihn lächeln zu sehen. Eigentlich ist er doch ganz nett. Vielleicht war es nicht richtig gewesen, sich dermaßen aufzuregen. Das wird mir hier draußen im Sonnenschein klar.

»Manchmal habe ich das Gefühl, alle Last der Firma ruht auf meinen Schultern«, sagt er plötzlich. Seine Stimme ist leise, beinahe ein Flüstern.

Ich nicke, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich seine Aussage überhaupt richtig verstanden habe.

»Manchmal muss man Entscheidungen treffen, die nicht jedem gleich gefallen«, spricht er weiter. »Vertrauen Sie mir, ich möchte nur das Beste – für Sie, für mich und für die Firma.« Harvey dreht seinen Kopf zu mir, kleine Krähenfüßchen umspielen seine Augenwinkel. »Ich werde mich gut um Sie kümmern. Bald werden Sie gar nicht mehr wegwollen.«

»Wir werden sehen«, sage ich mit einem Lächeln auf den Lippen.

Er richtet sich mit einem Mal auf und sieht sich um. »Lassen Sie uns weitergehen. Möchten Sie etwas essen?«

Ich schaue auf meinen flachen Bauch hinab, der in diesem Moment wie auf Kommando ein leichtes Grummeln von sich gibt. Hab ich überhaupt schon etwas gegessen, seit ich gestern hier ankam? »Ich könnte ein ganzes Kamel verdrücken.«

Er hält mir seine Hand hin und zieht mich hoch. »Ich glaube nicht, dass Ihnen das bekommen würde. Vertrauen Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.«

»Sie haben schon einmal Kamel gegessen?« Ich ziehe eine Braue nach oben und folge ihm zum nächsten Pfad. Wieso hat er es plötzlich so eilig?

»Ja, ich war während meines Studiums für zwei Monate in der Mongolei. Mir hat es damals nicht geschmeckt.«

Ich sehe es geradezu vor mir, wie er als Dschingis Kahn einen Kamelschenkel kauend auf seinem Pferd durch die mongolische Steppe reitet und lache laut auf. Er sieht mich mit skeptischem Blick an, ohne sein Tempo zu drosseln, und zeigt auf den See, der einmal quer durch den Hydepark führt.

»Was haben Sie in der Mongolei gemacht?«

»Muss ich Ihnen darauf antworten?«

»Unbedingt.«

»Na gut. Bitte lachen Sie nicht.«

Oh, was kommt denn jetzt? Er läuft leicht rot an. Niedlich, wenn er so verlegen schaut.

»Ich war Kinderanimateur in einem Hotel. Einen Monat lang lief ich als Clown oder Zauberer herum und habe Luftballontiere gebastelt. Den zweiten habe ich dann das Land bereist.«

»Sie haben Luftballontiere gebastelt? Ich habe das nie hinbekommen. Sie müssen mir unbedingt einmal zeigen, wie das geht«, sage ich erstaunt. In ihm steckt wohl doch mehr als der steife Anzugträger im Büro.

»Ach, ich habe schon so einiges erlebt. Mein Vater hat mir während der Studienjahre regelmäßig den Geldhahn zugedreht, mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich regelmäßig durch die Welt zu jobben. In fast jeden Ferien war ein anderes Land dran. Einen Monat gut bezahlt arbeiten, einen reisen.« Danach erzählt er mir, wie er in Australien auf einer Farm arbeitete und in Amsterdam in einem Hotel jobbte. Das meiste Geld verdiente er in der Schweiz, als er den Kindern einiger Scheichs, die dort geschäftlich lebten, privaten Englischunterricht in einem Internat gab.

An einem Imbissstand bleiben wir stehen und holen uns jeder ein belegtes Baguette. Wir setzen uns auf einen kantigen Steinblock neben dem See. Er schlägt seine Beine erneut geschäftsmäßig übereinander und zeigt mit der geöffneten Hand auf die Umgebung, als wolle er sie segnen. »Sehen Sie, es ist doch alles gar nicht so schlimm. An einem herrlichen Tag wie diesem ist London mindestens genauso schön wie Eastbourne, nur die Palmen fehlen. Sie können ja an den Wochenenden runterfahren, wenn es Ihnen so wichtig ist«, merkt er an und beißt ein Stück seines Baguettes ab.

Ich werfe ein Stück Brot in den See und sehe einem Schwan dabei zu, wie er losstürmt und es im Wasser aufsammelt, ehe es vollständig aufquillt. Harvey zeigt auf ein ›Füttern verboten‹ Schild und ich stecke mir das nächste Stück selbst in den Mund, ehe ich ihm antworte. »Es ist nicht der Palmen wegen, dass ich nicht hierher möchte.«

»Was ist es dann?«

»Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt«, sage ich nur und kaue verloren auf meinem Baguette rum.

»Gibt es überhaupt für irgendetwas einen richtigen Zeitpunkt?«

»Bestimmt, aber dieser ist es nicht.« Ich stehe auf und klopfe die Krümel von meinem Schoß. »Kommen Sie, Sie wollten mir doch unser nächstes Projekt näherbringen.«

Ein Lächeln umrahmt Harveys Lippen und lässt seine Augen im sanften Schein der Sonne strahlen. »Natürlich, hier lang.« Er sieht in die Ferne, es scheint, als würde sein Blick irgendwo im Nichts verloren gehen. Hinter uns kommen die ersten Schwäne und Enten angewatschelt und picken die Krümel auf, die wir hinterlassen haben.

»Ich hoffe, Ihre Schuhe sind halbwegs bequem. Ich hatte mir gedacht, wir könnten London zu Fuß erobern, oder ist es Ihnen lieber, wenn wir ein Taxi bis zum London Eye nehmen?«

»Wieso fahren wir nicht mit dem Bus? Ich wollte schon immer in einem dieser Doppeldecker fahren.« Gut, schon immer ist übertrieben. Aber wenn ich schon mal hier bin …

»Oder so, warum nicht?«

Wir bleiben in einer Seitenstraße am Ende des Parks stehen. Hier, im Schatten der Häuser, weht ein kühler Wind. Ich raffe meinen Mantel enger an mich.

Als der Bus vor unserer Nase anhält, greift Harvey ungefragt nach meiner Hand und hilft mir hinein. Sehe ich so hilflos aus oder ist er einfach ein Gentleman?

Ich gehe die schmale Treppe rauf und nehme im oberen Stock Platz. Ich bin überrascht, dass die Busse in London um diese Tageszeit nicht überfüllt sind. Es sind kaum Plätze belegt. Harvey kommt mit unseren gestempelten Tickets hoch und setzt sich neben mich.

»Wir müssen Ihnen noch eine Oystercard besorgen, oder haben Sie ein Auto hier?«

»Nein, ich bin mit dem Flugzeug und dem Zug hergereist.«

Er nickt. Draußen herrscht ein reges Treiben. Je mehr wir uns dem Big Ben nähern, der alle Gebäude in der Nähe überragt, desto voller werden die Gassen. Das Licht der Sonne spiegelt sich in den Fenstern und ich muss meine Augen zusammenkneifen. Harvey hat recht. London ist eine schöne Stadt. Wenn es sein muss, werde ich es hier aushalten. London ist immer noch näher als München an Eastbourne dran. Wenn ich Samstagfrüh in den Zug steige, bin ich vormittags in Eastbourne und kann mir die Krankenhäuser vornehmen. Vielleicht wurden Sandra oder ihre Mutter mal in einem behandelt.

»Wo müssen wir aussteigen?«

»Ich schlage vor, beim Big Ben. Von dort ist es nicht weit bis zur Westminster Abbey, dann zeige ich Ihnen die Stelle für den geplanten Bau.«

»Gerne. Ich komme mir sowieso schon komisch vor, weil wir den ganzen Tag nicht im Büro sind.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich meine, wie wollen Sie ein Gebäude für London planen, wenn Sie die Stadt nicht kennen? Im Grunde ist es folglich ein ganz normaler Arbeitstag.« Er zwinkert mir zu und ich muss augenblicklich schmunzeln. Vielleicht sollte ich mich einfach entspannen. Die letzten zwei Monate waren schließlich hart genug gewesen.

Wir steigen kurz vor der Brücke, die über die Themse geht, aus und umrunden den Glockenturm, schlendern vorbei an der gotischen Kirche und bleiben auf der Great Smith Street stehen.

Harvey zeigt auf den Bau vor uns. »Das Gebäude wird nächsten Monat abgerissen.« Es ist ein altes Bildungsinstitut. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein anderes Gebäude hierher passen soll.

»Was soll hier eigentlich genau hin?«

»Ein Bürotower. Wir wollen die Moderne der Stadt mit dem alten Charme verbinden.«

»Wirklich? Ich hätte Angst, dass es genauso deplatziert wie der Wolkenkratzer in Southwark wirkt.« Wir haben den spitzen Riesen im Studium besprochen. Einfach hässlich das Teil.

»The Shard?«

Ich nicke.

»Ich bin auch nicht begeistert vom Standort, leider will die Stadt den Bau genau hier stehen haben.«

»Schade, wenn eine Stadt sich selbst versauen will.»

Er zuckt mit den Schultern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm das Stadtbild egal ist. Wahrscheinlich ist er einfach nur machtlos. Möglicherweise sind die Pläne auch weniger schlimm, als ich sie mir gerade vorstelle. Ich werde sie sicherlich bald zu Gesicht bekommen.

»Kommen Sie, lassen Sie uns zurück Richtung Themse gehen.« Er legt seine Hand auf meinen Rücken und führt mich weg vom Bauzaun, der das Gebäude bereits umrahmt.

Die Stille in den schmalen Seitengassen, die wir durchstreifen, ist herrlich. Wir plaudern über Gott und die Welt und durchqueren gemächlich die Straßen. Mir fällt auf, dass er immer wieder zu mir rüber schaut. Es ist beinahe, als würden wir uns seit Jahren kennen.

Erst auf der Brücke, die die Themse überquert, bleiben wir stehen und hören einem Musiker zu, wie er auf seinem Akkordeon spielt. In München sehe ich solche Leute kaum noch – Straßenkünstler. Früher war die Fußgängerzone voll von ihnen, heute hat man Glück, wenn man mal einen vor dem alten Rathaus trifft.

Harvey schmeißt ihm ein paar Pence hin, ehe er meine Hand greift und mich ohne Halt über die Brücke führt. Ich bin versucht, meine Hand zurückzuziehen. Es gehört sich einfach nicht, die Hand des Chefs zu halten. Da kann er noch so gut aussehen.

Er lässt mich endlich los und zeigt nach vorne.

»Sind Sie schon einmal mit dem London Eye gefahren?«

»Nein, und ich bin auch nicht sicher, ob ich das jemals möchte. Außerdem ist die Fahrt viel zu teuer.«

Er lacht. »Also bitte! Ich lade sie selbstverständlich ein. Na los, kommen Sie, das wird Spaß machen.«

Ich lege meinen Kopf in den Nacken und blicke von der Infotafel vor mir nach oben. Wie um alles in der Welt soll ich Spaß empfinden, wenn ich hundertfünfunddreißig Meter über der Erde hänge?

Während wir darauf warten, dass eine Gondel für uns frei wird, kralle ich meine Nägel ins metallene Geländer, bis meine Fingerspitzen unter dem Druck blassrosa anlaufen und der dunkelrote Lack meiner Nägel abzublättern droht. Mein Herz beginnt zu flattern und das nicht seinetwegen. Wieso tue ich mir den Scheiß an? Ich atme nur noch stoßweise. Plötzlich steht er hinter mir – ganz dicht und hält mich fest. Ich spüre durch meinen Mantel hindurch, wie sich sein Brustkorb an meinem Rücken hebt und senkt. Ohne weiter nachzudenken, lehne ich mich zurück, um nicht den Halt zu verlieren. Wie soll das erst werden, wenn wir oben sind?

»Atmen Sie tief durch. Wieso haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie Höhenangst haben?«

»Es geht schon«, presse ich hervor und schließe die Augen. Wie sang Rolf Zukowski gleich? »Ich schaff das schon«, flüstere ich. Ich kann nicht anders und schmiege mich an seine warme Brust. Er trägt keine Jacke. Nur einen kuschlig weichen, grauen Pullover.

»Mir … mir ist nur etwas schwindelig. Weiter nichts. Ich schaffe das, wirklich.«

Langsam löst sich seine Hand von meiner Hüfte und der Knoten in meiner Brust beginnt, sich zu lösen.

»Sind Sie sich sicher?«

»Ja, ich habe es satt, ständig vor der Angst wegzulaufen. Man verpasst so viel im Leben, wenn man vor jeder Furcht flüchtet.« Meine Stimme ist fester, als ich es erwartet hätte.

Die Türen der nächsten Gondel öffnen sich und ich richte mich auf. Ich kriege das hin. Mir kann nichts passieren!

Ohne, dass die Gondel anhält, treten wir ein. Ich setze mich sofort in die Mitte, möglichst weit weg von den gläsernen Wänden. Die anderen Leute, die hinter uns standen, starren mich an, manche mitleidig, andere abschätzig.

»Ich bin für Sie da.« Ich habe das Gefühl, dass es das erste Mal ist, dass ich ihn richtig ansehe. Seine grünen Augen strahlen eine unglaubliche Wärme aus. Wie macht er das nur? Wie hat er es in nur drei Stunden geschafft, dass ich mich wohl in London fühle? Er sitzt neben mir und lächelt mich an, mehr braucht es nicht. Er ist für mich da, das waren seine Worte. Wenn ich nur wüsste, ob sie wahr sind. Seine raue Stimme klingt immer noch in meinen Ohren nach.

»Ich bin mir sicher, dass Sie die Aussicht lieben werden. Sehen Sie, es geht hoch.« Ich schlucke. Muss er das so deutlich sagen?

Mit relativ sanften Bewegungen treibt uns das Riesenrad im gemächlichen Tempo nach oben. Das metallene Gerüst um uns herum gibt die zierlichen Schwingungen und Vibrationen, die der Wind außen verursacht, weiter. »Möchten Sie aufstehen …? Ich bleibe bei Ihnen, versprochen.«

Oh Gott, wenn er mir noch weitere Versprechungen macht, hat er mich bald.

»Kommen Sie, Sie wollten sich doch ihrer Angst stellen.« Wieso kann er das nicht mir überlassen? Seine Hand schiebt sich um meine Hüfte und zieht mich vorsichtig nach oben. Warum um alles in der Welt tue ich mir das an? Warum tut er mir das an? Er führt mich vor zur Panoramafront. Ich zittere und schaffe es kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mein Herz beginnt einen rhythmischen Tango hinzulegen, als er fester zugreift und mich für einen Moment vergessen lässt, dass er mein Boss ist.

Ich schließe meine Augen und lasse mich von ihm leiten. Als ich die Lider wieder öffne, spüre ich das kalte Metall der weißen Stahlrahmen an meinen Händen. Das Schlagtempo meines Herzens macht einen heftigen Sprung nach oben.

»Langsam ein- und ausatmen«, flüstert er in mein Ohr und der Duft seines Parfums, irgendein sportliches, dringt in meine Nase. Seine linke Hand umschließt meine und die Rechte umfasst meine Taille. Nicht schwach werden, Linda! Ob er meinen rasenden Puls spürt?

Vor uns erstreckt sich die Skyline Londons. Ich kann sogar die Tower Bridge sehen. Die Zugteile sind geöffnet und ein kleiner Kutter passiert die Schleuse.

Harveys Griff lockert sich. Spürt er, dass ich mich langsam entspanne?

»Wussten Sie, dass in den beiden Türmen früher im oberen Stockwerk Galerien angelegt waren und die Fußgänger so auch bei geöffneter Zugbrücke die Themse durch den oberen Brückenpfad überqueren konnten?«

»Nein«, hauche ich und betrachte die obere Brückenleiste. Die Brücke muss abends, wenn sie von den vielen Laternen der Stadt beschienen wird und der Mond sich im Wasser spiegelt, wunderschön aussehen.

Mein Puls beruhigt sich. Eben hat mein Herz noch heftig gegen den Brustkorb geschlagen, jetzt pocht es ruhig vor sich hin.

Harvey löst sich gemächlich von meinem Rücken. »Kommen Sie, bei dem guten Wetter heute können wir von der anderen Seite aus mindestens bis zum Windsor Castle sehen.« Seine Finger verhaken sich mit meinen, ohne dass ich groß Einfluss darauf nehmen kann. Sonder einer weiteren Vorwarnung zieht er mich von meinem schützenden Fixpunkt weg auf die andere Seite der Gondel.

Ich spreize die Finger meiner anderen Hand und lege sie flach auf die Scheibe. Das kühle Glas und die kalte Luft aus der Klimaanlage beruhigen mich. Er lässt meine Hand los und zeigt in die Ferne. Ich halte mich an einer der seitlichen Streben fest und folge seinem Blick.

Die hohen Mauern von Schloss Windsor ragen weit entfernt vor uns auf. Es muss wunderschön dort sein.

Mit der Spitze seines Zeigefingers berührt er meinen Hals und streicht mir ein paar Strähnen meines langen braunen Haares von meiner Schulter. Ein Schauer läuft über meinen Rücken. Ich schüttle mich und drehe mich um. »Bitte lassen Sie das«, sage ich ernst und drücke meine Schultern nach hinten. Wieso macht er das? Habe ich ihm unbemerkt Avancen gemacht?

»Entschuldigen Sie. Ich dachte nur -« Er bricht den Satz ab und schüttelt den Kopf.

»Tut mir Leid«, sage ich, auch wenn ich keine Ahnung habe, wofür ich mich überhaupt entschuldigen soll.

Ich senke meinen Blick und schaue auf das aufbrausende Wasser. Bitte nicht schon wieder! Das Baguette von eben drängt sich den Weg durch meine Speiseröhre hoch und ich muss mir die Hand vor den Mund halten, um den Würgereiz zu unterdrücken. Unter meinem Brustkorb beginnt es heftig zu rumoren. Meine Hände zittern, die Haare auf meinen Armen stellen sich auf. Bitte nicht! Alles beginnt sich zu drehen. Ich lasse meinen Kopf gegen die Scheibe sinken und schließe meine Augen. Die Gondel gleitet abwärts, das spüre ich auch, ohne dass ich hinsehe. Gleich sind wir wieder unten. Dieses Mal hält er mich nicht fest. Ich spüre seinen Blick auf meinen Rücken. Er steht direkt hinter mir. Ich versuche, mich auf seinen Atem zu konzentrieren. Jetzt nur nicht durchdrehen. Es ist gleich geschafft. Mein Herz schlägt immer schneller. Ich kenne dieses Gefühl. Nicht mehr lange und ich kann mich nicht mehr halten. »Tun Sie es«, presse ich hervor. »Halten Sie mich, bitte.«

Warme Hände legen sich um mich und ich spüre seine sanfte Haut auf meinen Handrücken. Ich meine, ein leises, fast schon schadenfrohes Glucksen von ihm zu vernehmen. Vielleicht irre ich mich auch.

Ich drehe mich um und bette meine Stirn an seiner Brust. »Ich habe meinen Mut wohl doch etwas überschätzt«, hauche ich und atmete seinen herrlich männlichen Duft mit tiefen Atemzügen ein. Die sanften Bartstoppeln an seinem Kinn kitzeln meine Stirn, als sich sein Kinn an meinen Kopf schmiegt.

Er bugsiert mich zur Seite und setzt mich auf der Bank in der Gondelmitte ab. »Geht es von hier aus?«

»Ja, ich denke schon.«

Ich starre auf seine säuberlich geputzten Lederschuhe. Sie sind braun. Ich mag eigentlich kein braunes Leder, überhaupt kein Leder.

Die Gondel nähert sich dem Boden und die gläserne Tür öffnet sich. Harvey zieht mich hoch und ohne einen Blick zurück in die Gondel, trete ich hinaus. Freiheit. Ich habe mich noch nie so frei und wohl auf dem Boden gefühlt. Ich kann gar nicht schnell genug über die schmale Rampe, die weg von den Gondeln führt, gehen.

»Hat es Ihnen wenigstens ein bisschen gefallen?«

»Sagen wir, ich brauche jetzt erst einmal einen richtig starken Kaffee, oder einen guten schwarzen Tee. Worauf hätten Sie mehr Lust?« Ich versuche zu lächeln, bin mir jedoch nicht sicher, ob es mir gelingt. Ich fühle mich, als würde ich aus einem Albtraum erwachen, der sich trotz der Monster gut angefühlt hat.

Harvey lacht. Die Laute dringen hell und schön zu mir durch.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739463704
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Liebesroman Leukämie London England Schicksalsgeschichte Romance Krebs Liebesgeschichte

Autor

  • Lisa Summer (Autor:in)

Lisa Summer, Jahrgang 92' liest und schreibt im schönen Bayern. Ihre Bücher sind dabei so authentisch wie sie. Lisa liebt das Reisen, die Kunst und zu trashiger 90erjahre-Musik abzutanzen. Ihre Karriere begann sie als Lisa M. Louis, unter diesem Namen schreibt sie heute noch Young-Adult Dystopien.
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Titel: British Love