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Türkis ist nicht nur eine Farbe

von Lorena Liehmar (Autor:in)
415 Seiten
Reihe: Alterra, Band 1

Zusammenfassung

Die ahnungslose Alea führt ein beschauliches Dasein als erfolgreiche Hochzeitsplanerin. Der plötzliche Tod ihrer Eltern katapultiert sie in ein Leben, das das Geheimnis um ihre wahre Herkunft verbirgt. Als der dunkle Tajo und der charmante Matteo in ihr geordnetes Leben platzen, offenbaren ihr die attraktiven Brüder ihre wahre Identität und dass ihr Leben auf der Erde zu ihrem eigenen Schutz nur eine Tarnung sei. Alea ist sich unsicher, ob sie den anziehenden Brüdern trauen kann. Noch dazu knistert es gewaltig zwischen ihr und dem älteren der beiden. Sind sie Freund oder Feind? Durch ein schillerndes Portal gelangt sie mit ihnen in eine fremde Welt, die ihre Vorfahren erschaffen haben und die der Erde des einundzwanzigsten Jahrhunderts sehr ähnelt. Dort macht sie sich mit den kampferprobten Brüdern auf die Suche nach einem rätselhaften Erbstück, das nur für sie bestimmt ist und ein gefährliches Geheimnis in sich trägt. Ihr Talisman seit Kindertagen, ein Türkisstein mit gebogenen goldenen Strahlen, wartet bereits seit Jahrtausenden darauf, dass sie seine Macht entdeckt und das Rätsel um das verschollene Erbstück lüftet. Um herauszufinden, wie ihr eigenes Schicksal mit der Versklavung der Menschheit verbunden ist, ist sie gezwungen, ihre verborgenen Fähigkeiten zu entdecken und das Erbe ihrer Vorfahren zu verstehen. Ein gnadenloser Wettkampf um Verrat, Gier und Macht beginnt. ***** Band 1: Türkis ist nicht nur eine Farbe, Band 2: Silbern leuchtet nicht nur der Mond, Band 3: Blau schimmert nicht nur ein Saphir

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


PROLOG

„Bin ich tot und seit wann tragen Engel Taucheranzüge?“
     Mit diesem Gedanken kämpfte sich Aleas betäubter Geist aus den schwarzen Tiefen einer Bewusstlosigkeit zurück ins Leben. Dabei brummte ihr Kopf wie ein wildgewordener Bienenschwarm. Die erste und sehr oberflächliche Überprüfung ihrer Körperfunktionen ergab, dass das Wort „Kopfschmerzen” zur Bezeichnung des Zustands ihres höchsten Körperteils schlichtweg die Untertreibung des Jahres war.
     Nach dem Druck an ihrem Hinterkopf zu urteilen, erblühte dort gerade eine wunderschöne Beule, die zudem einen sehr engen Kontakt mit dem steinharten Boden unter ihr hielt. Somit stützte ihre momentane Position eher die These, dass sie wohl ausgestreckt auf dem Rücken lag, als aufrecht stand. Verwundert nahm sie diesen sonderbaren Zustand zur Kenntnis.
     Ganz vorsichtig tasteten ihre Fingerspitzen über den harten, felsigen Untergrund, der sich feucht und kalt anfühlte. Kaum wahrnehmbar hörte sie eine männliche Stimme dicht über ihr flehentlich murmeln: „Bitte bleib bei mir, verlass mich nicht.”
     Diese berührenden Worte wurden derart leise geflüstert, sodass Alea sie kaum verstand. Dennoch drangen sie bis in ihr noch leicht benommenes Bewusstsein vor und wärmten ihr unruhig schlagendes Herz.
     Ihre halb geöffneten Augen suchten verwirrt nach einem hilfreichen Fixpunkt, der ihnen Halt in dieser verstörenden Situation gab. Weshalb lag sie nur der Länge nach auf dem harten Boden? Beim besten Willen konnte sie sich keinen Reim darauf machen. Verunsichert blinzelte sie mehrmals. Schlagartig erkannte sie einen Schatten, direkt über ihr.
     Die hochgewachsene Gestalt, die neben ihr kniete und sich vorsichtig über sie beugte, steckte in einem pechschwarzen, hautengen Taucheranzug und betrachtete sie mit einem äußerst besorgten Blick aus tiefblauen Augen.
     Durch den sich allmählich lichtenden Schleier ihrer Bewusstlosigkeit erkannte sie das vertraute Gesicht, dessen faszinierende und leicht zusammengekniffene Augen nun forschend ihr Mienenspiel verfolgten.
     In einer verzweifelten Geste fuhr er sich mit der Hand durch sein dichtes dunkles Haar. Wie ein greller Blitz schoss plötzlich sein Name durch ihre Gedanken. Unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte flüsterte sie leise: „Tajo, du bist ja gar kein Engel – Gott sei Dank.”
     Auf seinem attraktiven Gesicht zeigte sich ein erleichtertes Lächeln, das von seinen Mundwinkeln aus seine Augen erreichte und diese für den Bruchteil einer Sekunde zum Strahlen brachten. Sein Kopf beugte sich noch etwas näher über sie und seine feingliedrige Hand berührte zart ihre Wange.
     Das grauenhafte Entsetzen in ihm, als er sie so leblos und blass auf dem Boden liegen sah, lähmte für eine winzige Zeitspanne all seine Empfindungen. Ihr bedrohlicher Zustand ließ ihn das Schlimmste befürchten – sie könnte sterben. Ihre wenigen Worte gaben ihm wieder neue Hoffnung und brachten sein zerrissenes Herz vorsichtig zum Jubeln.
     Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte bemühte sich Alea, sich aufrecht hinzusetzen und das gewaltige Hämmern in ihrem Kopf kurzfristig auszublenden – soweit dies überhaupt möglich war. Mit Tajos behutsamer Hilfe gelang es ihr schließlich, ihren Oberkörper aufzurichten und in eine halbwegs sitzende Position zu gelangen.
     Noch leicht benommen tastete sie im Geiste ihre Gliedmaßen nach möglichen Verletzungen ab. Bei der stummen Bestandsaufnahme ihrer restlichen Körperteile verspürte sie jedoch keine weiteren Schmerzen. Beruhigend.
     Im Vergleich dazu fühlte sich ihr mitgenommener Kopf an, als ob ein streitlustiger Hüne mit einem Hammer unermüdlich auf einen Amboss schlug – nur dass der Amboss ihr Kopf zu sein schien. Um das quälende Hämmern zu vertreiben, atmete sie mehrmals tief ein und aus. Ihre Lungen füllten sich dabei gierig mit der salzhaltigen Luft und es roch nach Meer und Moder.
     Das Zittern, das ihren geschwächten Körper durchlief und durch die Anstrengung der geänderten Position ausgelöst wurde, konnte sie nicht unterdrücken. Ein kurzer und heftiger Schwindelanfall ließ sie beinahe unkontrolliert nach hinten kippen, während zwei starke Arme sie dabei blitzschnell auffingen und stützten.
     Ihr sich allmählich klärender Blick schweifte ziellos in dem wenig erhellten Raum umher. Innerlich war sie von der Heftigkeit ihrer Kopfschmerzen derart betäubt, sodass noch keine Empfindung wie Angst oder Hilflosigkeit sie beherrschte.
     An ihre Ohren drang das leise und gleichmäßige Plätschern von Wasser, wobei sie nicht wusste, ob dieses Geräusch sie nun beruhigen oder in Unruhe versetzen sollte.
     Nach einem weiteren und intensiveren Blick auf ihre Umgebung erkannte sie, dass sie sich in einer kleinen, kreisrunden und im Halbdunkel liegenden Grotte befand. Deren kuppelartige Felsendecke erstreckte sich wie ein riesiger, aufgespannter Schirm über ihr.
     Die winzigen glitzernden Kristalle in dem dunklen Gestein der Dachkuppel funkelten wie ein Sternenhimmel und übten eine magische Faszination auf sie aus. Sie konnte ihren Blick nicht mehr davon abwenden.
     Das vorsichtige und liebevolle Tätscheln an ihrem rechten Oberarm brachte Alea dazu, den Blick auf diese von Neopren bedeckte Körperstelle zu senken. Nur widerwillig löste sie sich von dem fesselnden Anblick. Ganz langsam erkannte sie, dass ihr ganzer Körper in einem hautengen, schwarzen Taucheranzug steckte.
     Da sich dieser unangenehm nass und klamm anfühlte, war sie anscheinend im Wasser gewesen. Sie fröstelte und erneut überfiel ein leichtes Zittern ihren mitgenommenen Körper. Schlagartig machte sich eine beklemmende Verstörtheit in ihrem Inneren breit, der sie nur schwer Einhalt gebieten konnte. Wie lange war sie bewusstlos gewesen und wie kam sie überhaupt hierher? Was war denn „hierher”?
     Erst allmählich nahm sie die Einzelheiten ihrer Umgebung wahr und konnte den großartigen Anblick, der sich ihr bot, kaum fassen. So etwas Beeindruckendes und Schönes, das zweifellos von der Natur und nicht von Menschenhand erschaffen worden war, hatte sie bisher noch nicht gesehen.
     Die Felsendecke und die Seitenwände der kleinen Grotte waren mit unzähligen Kristallen übersät und glitzerten wie funkelnde Diamanten. Die ihr gegenüberliegende Wand zeigte einen Ausgang ins Freie auf, nahe unter der Wasseroberfläche und in Form eines Rundbogens. Dieser leuchtete in verschiedenen Türkis- und Blautönen und hob sich von der restlichen Dunkelheit in der Grotte überdeutlich ab.
     Außerhalb musste es noch taghell sein, sodass sich das einfallende Licht in der Felsenöffnung des Rundbogens brach und diese unglaubliche Flut an wundervollen Farbtönen auslöste. In diesem Moment fühlte sie sich völlig verzaubert und zugleich zutiefst beunruhigt. Was befand sich wohl auf der anderen Seite der Felswand?
     Zu ihren Füßen, die noch immer schwarze Taucherfüßlinge trugen und in dunklen Flossen steckten, plätscherte Meerwasser leise gegen den felsigen Untergrund. Hinter der gegenüberliegenden Wand musste sich anscheinend ein offenes Gewässer befinden, das durch den Rundbogen mit dem salzhaltigen Wasser in der Grotte verbunden war.
     „Was ist geschehen?”, hauchte sie mit zitternden Lippen. Eine Welle der Angst durchlief plötzlich und ohne Vorwarnung ihren Körper.
     „An was kannst du dich erinnern?”, hörte sie Tajos raue Stimme fragen. Für einen kurzen Moment wirbelten verwirrende Bilder durch ihren Kopf. Auf einen Schlag fiel ihr alles wieder ein.
     Mit brachialer Gewalt kämpften sich die Erinnerungen an die letzten Minuten vor ihrer Bewusstlosigkeit in ihren erschöpften Geist zurück. Sie offenbarten das gesamte erschreckende Ausmaß der Gefahr, in der sie geschwebt war.
     Gemeinsam mit Tajo sah sie sich in einem schwarzen Taucheranzug und mit Füßlingen bekleidet am Rand des Wassers in der Grotte stehen. Beide waren damit beschäftigt, ihre Tauchcomputer am linken Handgelenk anzulegen.
     Die Bleigurte, die sie zum Abtauchen benötigten, waren bereits um ihre Körpermitte geschlungen. An der Außenseite ihrer rechten Schienbeine befestigten sie mit sicherer Hand zwei Tauchermesser – man wusste schließlich nie, was einen erwartete.
     Zu ihren Füßen lagen zwei fertig montierte Tauchausrüstungen, jeweils bestehend aus einem Jacket, über das zum Tarieren unter Wasser Luft ein- und ausgelassen werden konnte. An dessen Rückseite befand sich die mit reißfesten Bändern verzurrte Pressluftflasche, an deren oberem Ventil der Lungenautomat angeschlossen war Über ein Mundstück versorgte dieser den Taucher beim Einatmen mit Luft unter Wasser.
     Hochkonzentriert halfen sich Alea und Tajo gegenseitig, die Ausrüstungen anzulegen und einen Check auf Funktionstüchtigkeit durchzuführen. Vor dem Überstreifen der Flossen fixierten sie noch handliche Unterwasserlampen und einen hilfreichen Kompass an den Ösen ihrer Jackets.
     Nach einer letzten Überprüfung ihrer Lungenautomaten zogen sie ihre Tauchermasken über Augen und Nasen. Zur Sicherheit waren beide mit einem Reserveautomaten ausgestattet, der nur in Notfällen zum Einsatz kam. Anschließend sprangen sie gleichzeitig und beherzt in das dunkle, kalte Wasser der Grotte.
     Nach einem kurzen aufmunternden Blickkontakt gab ihr Tajo an der Wasseroberfläche mit beiden Händen das Zeichen zum Abtauchen. Nahezu zeitgleich zogen sie an den Ventilen ihrer Jackets, um die Luft mit einem leisen Zischen daraus entweichen zu lassen.
     Während des Abtauchens behielt sie ihren routinierten Tauchbegleiter ständig im Auge und ließ sich zügig nach unten gleiten. Nach einem kurzen Blick auf ihren Tauchcomputer und auf ein Zeichen von Tajo hin stoppte sie ihr Absinken in einer Tiefe von ungefähr sechs Metern. Vollkommen entspannt legte sie sich horizontal in das kalte Blau.
     Für einen kurzen Moment genoss sie das herrliche Gefühl des freien Schwebens und ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sorgsam achtete sie dabei darauf, ihren Lungenautomaten im Mund nicht loszulassen. Alea liebte diesen einzigartigen Schwebezustand und als erfahrene Taucherin genoss sie die Schwerelosigkeit unter Wasser in vollen Zügen.
     Nach wenigen Sekunden bewegten sich beide mit geübten, effizienten Flossenschlägen vorwärts und tauchten durch den türkisfarbenen Rundbogen nebeneinander aus der Grotte hinaus. Vor ihnen erstreckte sich eine gewaltige Ansammlung von zerbrochenen Säulen und Mauern auf dem Meeresgrund. In ungefähr dreißig Metern Tiefe waren sie als die letzten traurigen Zeugen einer versunkenen Stadt zu erkennen.
     Nach dem Einschalten der hell leuchtenden Unterwasserlampen und einem konzentrierten Blick auf ihren Kompass deutete sie mit einer kurzen Bewegung ihrer rechten Hand in die Richtung, in der ihr Ziel vor ihnen lag.
     Zahlreiche, größtenteils zerfallene Gebäude ragten aus dem Schlamm am Meeresboden hervor und zeugten von einer längst vergangenen Pracht. Ihr Ziel lag am Rand dieser riesigen Geröllhalde und unterschied sich durch eine turmähnliche Erhöhung von allen anderen Steinfragmenten.
     So nah an ihrem Ziel zu sein, versetzte Alea in eine beinahe euphorische Stimmung. Kaum konnte sie es erwarten, sich mit kräftigen Flossenschlägen dem Objekt ihrer Begierde zu nähern. Versonnen und erfüllt von einer tiefen Zufriedenheit blickte sie den aufsteigenden Luftblasen hinterher.
     Als sie ihren Kopf in Tajos Richtung drehte, verdoppelte ein plötzlicher Adrenalinstoß ihren Herzschlag im Bruchteil einer Sekunde. Wie elektrisiert verkrampfte sich ihr gesamter Körper, der bis dahin völlig entspannt und in einem ruhigen Rhythmus atmend dahingeglitten war.
     Aus den Augenwinkeln erkannte sie zwei bedrohliche Schatten, die sich ihnen blitzschnell näherten. Wo waren die nur so plötzlich hergekommen? Ein kurzer Augenkontakt mit Tajo zeigte ihr, dass dieser die unerwarteten Neuankömmlinge ebenfalls bemerkt hatte und vorsorglich sein Messer aus der Halterung löste.
     Ihre Gedanken überschlugen sich. Was wollten diese aggressiv wirkenden Gestalten von ihnen? Wie freundliche Zeitgenossen oder harmlose Zufallsbekanntschaften unter Wasser sahen diese jedenfalls nicht aus.
     Einer der ebenfalls schwarz gekleideten Angreifer näherte sich ihr wie ein dunkler Pfeil zielstrebig an. Blitzschnell packte er sie im Nacken am Ventil ihrer Pressluftflasche und riss sie mit einem heftigen Ruck in seine Richtung zurück. Im ersten Moment erstarrte sie vor Schreck zu einer unbeweglichen Salzsäule.
     Im nächsten Augenblick erwachten jedoch ihre Lebensgeister wieder und schrien lautstark nach Widerstand. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg aus der eisernen Umklammerung ihres Angreifers. Verzweifelt schlug sie mit ganzer Kraft um sich.
     Zu ihrem größten Entsetzen verlor sie in dem sich anschließenden Handgemenge ihren Lungenautomaten. Schlaff baumelte er nach unten in die Tiefe. Bevor sich Panik in ihr über den Verlust der lebensnotwendigen Atemluft ausbreiten konnte, verspürte sie einen starken Schlag gegen ihren Hinterkopf. Augenblicklich versank sie in tiefste Dunkelheit.

Nur kurz konnte Tajo aus den Augenwinkeln heraus das entsetzliche Geschehen um Alea herum wahrnehmen. Mehr Zeit gestand ihm sein gefährlicher Angreifer nicht zu. Kraftvoll stürzte sich dieser auf ihn und ließ keinerlei Zweifel darüber aufkommen, dass er ihm das Lebenslicht aushauchen wollte.
     Das scharfe Messer in seiner Hand, das sich gefährlich seiner Kehle näherte, löste in ihm eine deutliche Beschleunigung seiner Atmung aus. Sein Herz klopfte wie wild gegen seinen Brustkorb und drohte aus Angst um Alea zu zerspringen.
     Dabei musste er zunächst seinen eigenen Angreifer ausschalten, bevor er ihr beistehen konnte. Ein blitzschnell platzierter Stich in die Herzgegend seines Gegenübers entschied den Kampf zwischen ihnen in Windeseile. Eile war auch geboten.
     Ihr schrecklicher Anblick ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Deutlich sah er ihren Lungenautomaten seitlich neben ihrem Oberkörper schlaff in die Tiefe baumeln. Das war ein untrügliches Zeichen für Tod. In derselben Sekunde schlug ihr Angreifer ihr heftig von hinten mit einem harten Gegenstand auf den Schädel, wodurch ihr Kopf bewusstlos nach vorn rutschte.
     Vor Entsetzen blieb ihm für einen kurzen Moment die Luft weg. Nach einem tiefen Atemzug durch den Lungenautomaten griff er an. Durch einen kräftigen Flossenschlag angetrieben schoss er wie ein gefährlicher Raubfisch von hinten auf den zweiten Angreifer zu. Dieser hielt Alea wie in einem Schraubstock noch immer in seinen Armen gefangen, sodass sie nicht unkontrolliert und unerreichbar auf den Meeresboden absank.
     Was hatte er vor? Diese Frage musste wohl noch ungeklärt bleiben, denn im gleichen Moment stieß Tajo sein Messer in den Rücken des anderen Tauchers, um Alea von ihm zu befreien. Mit der anderen Hand griff er automatisch nach ihr und packte sie am linken Unterarm, um sie vor dem tödlichen Absinken zu bewahren.
     Seine wilden Gedanken kreisten nur noch um ein einziges Wort: „Luft, Luft – Alea braucht Luft!”. Sein blutiges Messer ließ er augenblicklich in die blauen Tiefen des Meeres gleiten und zog im selben Moment seinen Zweitautomaten aus der Magnethalterung heraus. Vorsichtig und zielstrebig schob er diesen zwischen Aleas Zähne hindurch in ihren schlaffen Mund. Nur zögerlich zog sie daran, um Luft in ihre Lungen zu pressen.
     Ihm blieb nicht viel Zeit, um sie an die Oberfläche in Sicherheit zu bringen. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie tief waren sie abgetaucht? Wie lange waren Sie bereits unter Wasser? Konnte er mit ihr einen Notaufstieg an die Oberfläche riskieren, ohne sie beide durch einen zu schnellen Aufstieg in Lebensgefahr zu bringen? Nach einem kurzen Blick auf seinen Tauchcomputer war seine Entscheidung gefallen, das musste klappen
     Eilig tauchte Tajo mit der schlaff im Wasser liegenden Alea in seinen Armen in Richtung ihres Ausgangspunktes nach oben auf. Hektisch durchbrach er kurz hinter der Felsenöffnung des Rundbogens die Wasseroberfläche in der Grotte. Ihr Atem ging flach.
     Unter Aufbietung all seiner Kräfte hievte er sie so vorsichtig wie möglich an das rettende Ufer und zog sich anschließend ebenfalls an Land. Sein Herzschlag drohte vor Sorge auszusetzen. Für ihn dauerte es schier eine Ewigkeit, bis sie endlich die Augen aufschlug, obwohl es nur wenige Minuten waren. Seine Angst, sie könnte sterben, übermannte ihn beinahe. Endlich, sie lebte.

Als die grässlichen Erinnerungen über Alea hereinbrachen, fühlte sie nochmals helle Panik in sich hochsteigen. Instinktiv griff sie sich mit den Fingern an den Hals, als ob sie ersticken würde. Ein tiefer Atemzug überzeugte sie, dass sie sich in Sicherheit befand.
     Heldenhaft hatte Tajo ihr Leben gerettet, der noch immer neben ihr kniete und sich mit sorgenvollem Gesicht über sie beugte. Dankbar hob sie ihre Hand, um ihn sanft zu berühren.
     Aus dem Nichts und ohne jegliche Vorwarnung knallte ein Schuss und zerriss die Stille. Ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen suchten sein Gesicht. Zunächst starrte er sie aus seinen tiefblauen Augen ungläubig an. Dann senkten sich diese ganz langsam auf seine Brust.
     Verständnislos folgte sie seinem Blick auf dem Weg nach unten, während er in Zeitlupengeschwindigkeit neben ihr zu Boden sank. Zu ihrem blanken Entsetzen blieb er mit abgewinkelten Beinen reglos auf dem Rücken liegen.
     In seiner muskulösen Brust klaffte ein Loch und frisches rotes Blut tränkte seinen schwarzen Taucheranzug. Voller Grauen starrte sie auf das in Strömen hervorquellende Blut.
     Blut, so viel Blut. Ihr Herz drohte, vor Schmerz zu zerspringen und ihr Verstand setzte einfach aus. Sie konnte es nicht glauben - vor wenigen Minuten hatte er ihr das Leben gerettet und nun verblutete er direkt vor ihren Augen.

VOR DREI WOCHEN


„Was, ich soll in männlicher Begleitung zu deiner Hochzeit erscheinen? Wieso?”, japste Alea entrüstet durch den Telefonhörer an ihrem linken Ohr und schnappte geräuschvoll nach Luft. Dabei wippte sie ungeduldig mit der rechten Fußspitze ihrer weißen Ballerinas und verursachte durch das ständige Tappen auf dem hellen Parkettboden ein ungeduldiges, monotones Geräusch. Ihre Miene sprach Bände. Dieses Thema brachte ihr Blut ganz schön in Wallung.
     „Aber klar doch, wir müssen dich ja auch irgendwann und irgendwie mal unter die Haube bringen”, flötete ihre Freundin Lilly mit honigweicher Stimme vergnügt am anderen Ende der Leitung. „Ich werde mein Bestes geben, um für dich auch einen tollen Mann zu finden”, ergänzte sie belustigt im Brustton der Überzeugung.
     Ihr breites Grinsen konnte Alea buchstäblich vor ihrem inneren Auge sehen, vor allem den völlig unschuldigen Gesichtsausdruck ihrer Freundin mit ihren großen, leicht mandelförmigen Augen. Den setzte sie nämlich immer dann auf, wenn sie Anstalten machte, Alea zu verkuppeln oder wenn sie ein neues, interessantes männliches Opfer gesichtet hatte, das ihrer Meinung nach angeblich sehr gut zu ihr passte. „Oh Gott, wie ich diese Manöver hasse!“ Bei diesem Gedanken entrang sich ihren Lippen ein schicksalsergebenes Seufzen.
     Ihre gerunzelte Stirn glättete sich jedoch sogleich wieder. Sie dachte daran, dass Lilly es nur gut mit ihr meinte und dass ihre Freundin ihr bloß dasselbe Glück wünschte, das sie mit ihrem Mark erlebte.
     Die beiden kannten sich bereits seit ihrer gemeinsamen Schulzeit und es war die große Liebe auf den ersten Blick, die bis heute unvermindert anhielt. In einer Woche wollten sie heiraten und es gab gar nicht so viel rosa Farbe, um die Wolken passend zu deren Gemütsverfassung anzustreichen.
     Vermutlich hörten sie jeden Tag nur die Klänge von Engelsharfen jubilieren, die sie derzeit in ihrer von Hochzeitsvorbereitungen geprägten Welt auf den letzten Metern vor dem Traualtar begleiteten. Sie waren einfach überglücklich miteinander und wollten alle in ihrem engsten Freundeskreis in dem gleichen Glücktaumel sehen. Soweit zur Theorie.
     „Um sieben Uhr komme ich bei dir vorbei und bringe Rebecca mit. Dann können wir gemeinsam die Kandidaten diskutieren, die infrage kommen. Tschüss, bis heute Abend.”
     Mit dieser gutgemeinten Androhung beendete Lilly in bester Laune ihr Gespräch, bevor Alea die Chance hatte, lautstark dagegen zu protestieren, um eine Vielzahl von Einwänden zu erheben.
     „Na, das ist wieder mal sehr gut gelaufen, aber nicht für mich“, dachte sie sich zermürbt. Von dem kurzen Gespräch aufgewühlt sank sie auf ihre cremefarbene Wohnzimmercouch nieder.
     Ihre Hände wuschelten durch ihr weiches Haar und brachte es etwas in Unordnung, was ihr in diesem Moment völlig egal war. Getrieben durch ihre innere Unruhe rollte sie nur ungeduldig mit den Augen und verschränkte beide Arme vor ihrer Brust. „Das muss im Moment reichen, um meinen Unmut zum Ausdruck zu bringen“, überlegte sie stumm in Ermangelung irgendwelcher Zuhörer.
     „Wieso klappt das nicht mit den Männern bei mir? So hässlich bin ich nun auch wieder nicht und mit meinen fünfundzwanzig Jahren nicht wirklich alt“, dachte sie resignierend und legte ihre hohe Stirn schon wieder in leichte Falten.
     Ihre letzte feste Beziehung lag zwei Jahre zurück und endete in einem Fiasko mit wüsten Beschimpfungen ihrer Person. Ihr Ex-Freund hatte sie gerne an seiner Seite und präsentierte sie stolz wie eine neu errungene Trophäe. Für ihn war sie nur ein hübsches Püppchen, das nach seiner Pfeife zu tanzen hatte – wie ein dressiertes Hündchen.
     Seine übertriebene Eifersucht machte ihr das Leben zur Hölle, da er ihr sogar den Umgang mit ihren beiden Freundinnen untersagte. Er wollte sie ganz für sich allein haben. Am Ende ihrer Beziehung war sie ihm eindeutig zu aufmüpfig und zu wenig unterwürfig gewesen.
     Tja, das Dasein als schmückende Trophäe an der Seite eines angeblich unwiderstehlichen Mannes hatte sie nun eindeutig satt. Anscheinend geriet sie immer wieder an solche Exemplare der männlichen Spezies. Ein wehmütiges Seufzen rutschte ihr über die Lippen. Ihre Wundwinkel bogen sich leicht nach unten und eine traurige Schnute kam zum Vorschein.
     Ja, Männer frustrierten Alea und sie hielt sich schon eine geraume Zeit von ihnen fern. Die Ausnahme bestand lediglich in der gelegentlichen Annahme von Einladungen zum Abendessen. Wenn ihre besten Freundinnen Lilly und Rebecca ihre trüben Gedanken hätten hören können, dann wäre sie zwangsläufig nur als dritte Siegerin vom Platz gegangen. Nämlich in der Disziplin, ihre Vorzüge anzupreisen.
     In deren Augen war sie eine sehr attraktive, hochgewachsene, junge Frau mit goldblondem Haar, das ihr in sanften Wellen bis über die Schultern fiel und um das sie viele andere weibliche Wesen glühend beneideten.
     Ihre langen schlanken Beine steckten gerade in einer engen, hellblauen Jeans, zu der sie eine weiße, kurzärmelige Bluse trug, die sie vorne oberhalb des Reißverschlusses lässig in den Hosenbund gesteckt hatte. Ihre weiblichen Rundungen wurden dadurch besonders gut zur Geltung gebracht – schlank, aber keine Bohnenstange. Ihre helle Kleidung verlieh ihrer leicht gebräunten Haut einen zarten Schimmer und es konnte der Eindruck entstehen, sie käme gerade aus dem Urlaub. Das war jedoch definitiv nicht der Fall.
     Das Auffälligste an Alea war jedoch ihr ausdruckstarkes Gesicht. Ihre Freundinnen vertraten überzeugt die Meinung, dass sie ein Gesicht wie ein Engel hätte, mit einem sinnlichen Mund, hohen Wangenknochen, perfekt geschnittenen Augen, langen dichten Wimpern und dann noch diese besondere Augenfarbe – ein leuchtendes Türkis.
     Ihr Anblick ließ schon viele Männerherzen höherschlagen und auf vom Pfad der Tugend abweichende Gedanken kommen. Ach ja, und da war dann auch noch die Sache mit der männlichen Trophäenmanie, die durch ihr Aussehen zweifellos befeuert wurde.
     Im Moment schritt sie innerlich aufgewühlt mit wiegenden Hüften in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Das Thema Männer ärgerte sie zunehmend mehr. In diesem besonderen Fall halfen ihr nicht einmal mehr ihre eigenen vier Wände, um sich vollkommen zu beruhigen.
     Ihre Wohnung stellte für sie der sichere Rückzugsort dar, wenn sie sich einigeln wollte oder ihr, wie im Augenblick, traurige Gedanken das Lächeln raubten. Sie lachte nämlich sehr gerne und oft. Missmutig schüttelte sie kräftig ihren Kopf, wodurch ihre blonden Locken sanft durch die Luft wirbelten. Diese Geste sollte ihr helfen, die trübe Stimmung zu vertreiben und ihre Gefühle zu beruhigen.
     Nachdenklich ließ sie ihren Blick durch ihr Wohnzimmer schweifen. Alea bewohnte in einem gepflegten Wohnviertel mit vielen hübsch angelegten Gärten eine großzügig geschnittene Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss eines Vierparteienhauses. Sie genoss das Leben in dieser ruhigen Wohngegend am Stadtrand und konnte mit der Hektik und dem Lärm inmitten von Großstädten nichts anfangen. Ihr Herz schlug eindeutig zufriedener in einer ruhigen Wohnlage mit viel Grün. Dort fühlte sie sich pudelwohl und vor allem liebte sie ihr gemütliches Zuhause.
     Ihre Wohnung war mit hellen und modernen Holzmöbeln eingerichtet, da sie den warmen Farbton von hellbraunem Holz sehr mochte und sich gern damit umgab. Ihr Wohnzimmer wurde von der cremefarbenen Couch beherrscht, die frei im Raum platziert war und die an einen modernen, petrolfarbenen, weichen Teppich angrenzte, der zum Barfußlaufen einlud.
     Der Echtholzparkettboden aus Eiche in allen Räumen, außer in Küche und Bad, erzeugte eine gemütliche Atmosphäre und harmonierte vollendet mit der geschmackvoll ausgewählten Inneneinrichtung. Die weißen Wände waren mit farbenfrohen Landschaftsbildern geschmückt und verliehen dem Raum eine überaus freundliche und positive Ausstrahlung.
     Besonders liebte Alea jedoch ihre kleine grüne Insel, die sie auf ihrer Terrasse eingerichtet hatte. Aus mehreren winterharten Grünpflanzen und blühenden Sommerblumen in verschiedenen Pflanzkübeln schuf sie sich eine behagliche Oase. Hier duftete es ständig nach Rosen und Insekten schwirrten eifrig durch die Luft.
     Durch die großen Terrassentüren im Wohnzimmer und in ihrem Büro hatte sie ständig einen guten Blick auf ihre besondere Wohlfühlnische. Diese wurde von einem schmalen, gepflegten Rasenstreifen und einer mannshohen Kirschlorbeerhecke mit dicken, grünglänzenden Blättern eingesäumt.
     In der Mitte der Terrasse standen drei hochlehnige Stühle mit passenden Fußhockern und waren um einen runden Aluminiumtisch angeordnet. Die weichen, rot-gelb gemusterten Polsterauflagen luden förmlich zum Genießen und Faulenzen ein.
     Dies war im Sommer ihr Lieblingsort, an dem sie sich am besten entspannen, ihre Gedanken sortieren und ihrer Kreativität freien Lauf lassen konnte. Diese gemütliche Nische im Freien, umgeben von viel Grün, war Balsam für ihre Seele.
     Im Winter bevorzugte sie ihr Schlafzimmer als Rückzugsort zum Kräftetanken, das ebenfalls mit hellen Holzmöbeln und einem großen Doppelbett eingerichtet war. Hier dominierten die Farben Gelb und Orange auf Bettwäsche, Teppichen, Vorhängen und diversen Dekorationsstücken. Insbesondere bei schlechtem Wetter verbreiteten die strahlenden Farben gute Laune.
     Allerdings war das Leben viel zu schön und insbesondere auch das Wetter an diesem Tag, um sich von dem Thema Männer herunterziehen zu lassen. Ein Blick aus dem Fenster in den strahlend blauen Himmel und in den hellen Sonnenschein verfehlten ihre besänftigende Wirkung nicht.
     Das plötzliche Klingeln ihres Handys riss Alea endgültig aus ihren restlichen, trübsinnigen Gedanken und brachte sie in die Realität zurück. Kurz mit den Augen blinzelnd sammelte sie sich innerlich. Energisch griff sie nach dem Smartphone, das auf ihrem niedrigen Wohnzimmertisch aus Rauchglas lag und darauf wartete, dass sie es in die Hand nahm.
     „Hi, freust du dich schon darauf, dass wir beide heute Abend bei dir vorbeikommen?”, säuselte ihre Freundin Rebecca gut gelaunt und mit Schalk im Nacken in ihr Ohr.
     Natürlich war sie mit dem speziellen Tagesordnungspunkt der spontan angesetzten abendlichen Dreimädel-Sitzung vertraut. Sie selbst nahm das Thema Männer sehr sportlich: Mal gewinnt Frau, mal verliert Frau, aber solange es Spaß machte, war alles in Ordnung.
     Die Männer lagen der rassigen Rothaarigen scharenweise zu Füßen und entsprechend groß war ihre Auswahl. Allerdings hatte sie bisher mit Mitte zwanzig noch kein wirkliches Interesse an einer dauerhaften Beziehung gezeigt.
     „Willst du darauf jetzt tatsächlich eine ehrliche Antwort haben?”, maulte Alea mit rollenden Augen vor sich hin.
     „Ich habe euch ja gern um mich, aber muss es immer dieses blöde Thema sein?” Sie gab ein leises Stöhnen von sich.
     „Es wird langsam Zeit, dass Lilly unter die Haube kommt und damit beschäftigt sein wird, kleine Marks und Lillys zu produzieren”, ergänzte sie. „Dann vergisst sie hoffentlich ihre Ambitionen als Ehestifterin und ich habe dann wieder meine Ruhe.”
     „Du bist aber ein Optimist. Hast du denn schon vergessen, dass sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, uns beide ebenfalls in den Zustand von ehrbaren und gut behüteten Ehefrauen zu versetzen?”
     Ihr fröhliches Lachen hob schlagartig Aleas Laune und auch auf ihren bisher leicht missmutigen Gesichtszügen erschien ein kleines Lächeln. Ja, Rebeccas gute Laune war immer ansteckend und zeigte jedes Mal ihre Wirkung – egal in welcher Situation. Sofort spürte sie, wie die Anspannung in ihrem Inneren nachzulassen begann. Die Welt rückte in ein anderes Licht.
     „Na gut, aber das Ganze ertrage ich nur mit einem Glas gekühlten Hugo frizzante.” Das war das alkoholisierte Lieblingsgetränk der drei gleichaltrigen Damen, insbesondere in der warmen Sommerzeit. Das um noch eine Spur lauter gewordene Lachen von Rebecca vertrieb die letzten trüben Gedanken bei Alea und führte dazu, dass sich bei ihr allmählich etwas Vorfreude auf ihr abendliches Treffen einstellte.
     Bei dem Gedanken an die beiden Mädels empfand sie eine wohltuende innere Wärme und sie war froh, dass sie ihre Freundinnen hatte. Seit ihrer Schulzeit waren sie ein unzertrennliches Trio und hielten auch in schwierigen Zeiten wie Pech und Schwefel zusammen.
     „Okay, dann stell schon mal sicherheitshalber zwei Flaschen Hugo in den Kühlschrank”, schlug Rebecca mit einem amüsierten Lachen vor.
     „Eine wird da nicht reichen. Du weißt ja, wenn Lilly in Fahrt kommt, kann das dauern.” Mit einem Glucksen ergänzte sie: „Vergiss nicht, ich stehe voll und ganz auf deiner Seite. Warum die ganze Kuh kaufen, äh Stier, wenn ein Glas Milch oder so etwas Ähnliches auch ausreicht. Auf jeden Fall hast du meine volle Unterstützung.” Mit diesem aufmunternden Kommentar beendete Rebecca das Gespräch und ließ eine amüsierte Alea mit einem leichten Schmunzeln zurück.

Der nächste Anruf auf ihrem Festnetztelefon holte Alea in die Realität ihres Berufslebens zurück und machte ihr klar, dass ihr Feierabend noch nicht kurz bevorstand. Es war erst mitten am Nachmittag eines normalen Arbeitstages. Dieser wunderschöne Spätsommertag verleitete dazu, in Tagträume zu verfallen und an Dinge mit hohem Spaßfaktor zu denken - wie zum Beispiel an das kurz bevorstehende Wochenende.
     Allmählich tauchte sie aus ihren Gedanken auf und stellte fest, dass sie wieder vor der offenen Terrassentür in ihrem Wohnzimmer stand und träumerisch in den Garten blickte. Anscheinend musste sie aufgestanden sein, ohne es bemerkt zu haben.
     Nun ja, das aufdringliche Bimmeln verursachte bei Alea ein Kribbeln im Nacken, als ob sie bereits spürte, dass dieser Anruf mit Ärger verbunden sein könnte. Nach dem Abheben erklang die schrille Stimme von Frau Talhofen in ihrem Ohr und verursachte dort sofort ein leises Klingeln.
     Sie war eine anstrengende Kundin, für die Alea besonders gute Nerven und ein äußerst hohes Maß an Geduld und Gleichmütigkeit aufbringen musste, um ihr mit der gebührenden Höflichkeit gegenübertreten zu können. Die Frau Anfang dreißig gehörte zu der Kategorie der hypernervösen Bräute, die ständig auf dem sehr schmalen Grat zur Hysterie balancierten.
     Alea war eine erfolgreiche und gefragte Hochzeitsplanerin, die sich im Laufe der vergangenen Jahre einen guten Ruf in diesem Metier aufgebaut hatte. Entsprechend zufriedenstellend entwickelte sich ihre Auftragslage. Ihrem Organisationstalent, ihrer strukturierten Arbeitsweise und insbesondere ihrer liebenswürdigen und einfühlsamen Art verdankte sie ihren persönlichen Erfolg. Es gelang ihr immer wieder, die nervösen, angehenden Ehefrauen zu beruhigen und mit ihren kreativen Vorschlägen zufriedenzustellen.
     Während sie dem hektischen Redeschwall ihrer Kundin ihre volle Aufmerksamkeit schenkte, legte sie mit ein paar Schritten den Weg zu ihrem Büro zurück, in dem sie alle erforderlichen Unterlagen ihrer jeweiligen Klientinnen griffbereit aufbewahrte.
     Auch dieser Raum war mit modernen, hellbraunen Büromöbeln, einem farbenfrohen Teppich mit Phantasiemuster und verschiedenen Farbdrucken an den Wänden ausgestattet. Dieser helle Raum übte eine beruhigende Wirkung auf Alea aus und sie zog sich dorthin gerne zum Arbeiten zurück, um sich mit vollem Herzblut der Belange ihrer aufgeregten Kundinnen zu widmen.
     Kaum an ihrem Schreibtisch angekommen, ließ sie sich in ihren bequemen Bürodrehstuhl fallen und aktivierte ihren auf der Tischplatte stehenden Laptop. Grundsätzlich war sie eine geduldige Zeitgenossin, die mit viel Einfühlungsvermögen die Sorgen und Nöte ihrer Klientinnen nachvollziehen konnte. Sie fühlte ein klitzekleines bisschen Stolz in sich aufkeimen und war sich ihrer Fähigkeit bewusst, dass sie es hervorragend verstand, anderen Menschen zuzuhören.
     In ihrem Job war das Zuhören besonders wichtig und vor allem hilfreich, um die nicht ausgesprochenen, vielfältigen Wünsche zwischen den Zeilen zu erkennen. Das machte die Qualität einer guten Hochzeitsplanerin aus – das Erfüllen von offensichtlichen und vor allem geheimen Wünschen. Darin war sie richtig gut. Dieser Gedanke und die Freude an ihrer Arbeit brachten ihre Augen kurzfristig zum Leuchten.
     Glücklicherweise war sie mit einem gesunden, aber nicht übertriebenen Selbstbewusstsein gesegnet, gepaart mit einer ausreichenden Portion an Resolutheit. Manche Ehefrauen in spe benötigten diese dringend, um die Aufregung der vorehelichen Hochzeitsvorbereitungen schadlos zu überstehen.
     Trotz ihrem gelegentlichen Dasein als Seelsorgerin bereitete ihr ihr hektischer Beruf großen Spaß. Sie arbeitete gern mit den Frauen zusammen, die sie gut organisiert in den Hafen der Ehe begleitete.
     Zumindest meistens, ein paar abgesagte Hochzeiten waren auch in ihrer umfangreichen Sammlung enthalten – das lag allerdings nicht an ihr. Eine Hälfte des Brautpaars hatte in diesen wenigen Fällen kalte Füße bekommen und beschlossen, den geordneten Rückzug anzutreten. Das anschließende Trocknen der Tränen stand zwar nicht in ihrem Stellenprofil, gehörte aber dennoch zu ihren Aufgaben. Auch hier tat sie alles, um ihren Kunden diese schwierigen Situationen zu erleichtern.
     „Wann bekommen Sie endlich die neuen Muster unserer Hochzeitseinladungen?”, schallte die leicht nörgelnde Stimme durch das Telefon.
     „Die bisherigen waren nur schrecklich und so etwas Grässliches können wir doch nicht an unsere Gäste versenden. Wie würde das denn aussehen? Die würden ja alle meinen, wir könnten uns nichts Besseres leisten und Geld spielt bei uns nun wirklich keine Rolle.” Alea schluckte.
     „Also, wie geht es nun weiter?”, fragte die nun nicht mehr schrille, sondern leicht verärgerte und etwas hochnäsige Stimme durch das Mikrofon.
     Innerlich aufseufzend lauschte Alea dem weiteren Redeschwall und hoffte, dass sich ihre Stimme wie immer höflich und freundlich anhörte. Sie schluckte kurz und setzte zum Sprechen an – nachdem sie endlich zu Wort kam, da Frau Talhofen beim Reden erstaunlicherweise kaum Atem holen musste.
     „Mir liegen seit heute Mittag fünf neue Musterdrucke vor, die ich Ihnen morgen Vormittag zeigen könnte, sofern dies zeitlich bei Ihnen passt”, schlug sie besänftigend vor.
     „So wie ich zwischenzeitlich Ihren Geschmack kenne, bin ich zuversichtlich, dass sich darunter auch ein Vorschlag befindet, der Ihre Zustimmung finden wird. Wann passt es morgen bei Ihnen?”
     „Ach, Sie sind ein Goldstück. Kommen Sie doch um zehn Uhr auf eine Tasse Kaffee vorbei”, zwitscherte Frau Talhofen glücklich zurück. Ihre Stimmung schwankte zwischen Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt in Lichtgeschwindigkeit hin und her.
     Nun saß Alea entspannt mit ausgestreckten Beinen an ihrem Schreibtisch und bereitete konzentriert ihre Termine für die anstehenden Aktivitäten des nächsten Tages vor. Einladungsmuster für Frau Talhofen, Anprobe von Brautkleidern mit zwei weiteren Kundinnen und nachmittags die detaillierte Statusbesprechung mit Lilly zu deren Hochzeit, mit deren Planung sie natürlich ebenfalls beauftragt worden war.
     Ab und zu warf sie einen sehnsüchtigen Blick durch die geöffnete Terrassentür ins Freie hinaus und genehmigte sich kurze Tagträume. An diesem Nachmittag fiel ihr die Konzentration auf ihre Arbeit schwer. Ihre Gedanken galoppierten ungezwungen wie junge Wildpferde davon und beschäftigten sich bereits mit dem bevorstehenden, verlockenden Wochenende.
     Mühsam riss sie sich zusammen. Mit viel Disziplin verbrachte sie die restliche Zeit bis achtzehn Uhr am Telefon und an ihrem Laptop, um weitere offene Punkte zu klären und anstehende Aktivitäten voranzubringen.
     Als sie mit ihrer Arbeit im Büro fertig war, saß sie zufrieden an ihrem Schreibtisch und ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Innerlich versuchte sie, sich auf das Gespräch mit Lilly zu wappnen und hoffte inbrünstig, dass Rebecca ihr wie versprochen zur Seite stand.
     Lange würde es nicht mehr dauern, bis ihre Freundinnen anklopften. So trug Alea ein Tablett mit drei Gläsern und einer Flasche Hugo in einem schlanken Sektkühler nach draußen und stellte es für ihre Gäste auf dem Tisch bereit. Anschließend machte sie es sich in ihrem Lieblingsstuhl bequem und legte genussvoll ihre Beine hoch – sie wartete.

Pünktlich um sieben Uhr klingelte es an der Haustür. Nach dem Öffnen herzte sie ihre Freundinnen, indem sie beide nacheinander in ihre Arme nahm.
     „Hallo Mädels, schön, dass ihr da seid.” Lilly und Rebecca drängten sich nach einem lachend erwiderten „Hallo“ breit grinsend und mit erwartungsvollen Gesichtern an ihr durch das Wohnzimmer in Richtung Terrasse vorbei.
     Ihr fragender Blick folgte den beiden jungen Frauen. „Oh, oh“, Alea schwante Böses.
     Die Mienen ihrer Freundinnen trugen nicht dazu bei, dass sie die Hoffnung hegte, es könnte ein ganz entspannter Abend für sie werden. Im Gegenteil, sie kam sich eher vor, als ob soeben zwei Generäle ihre Wohnung betreten und sie bereits für ihre jeweiligen Attacken eingeplant hätten, von denen sie jedoch noch keinen blassen Schimmer hatte. Hoffentlich ging das gut.
     Rebecca hatte sich bereits ein Glas Hugo gegriffen und es sich in einem der bequemen Gartenstühle auf der Terrasse gemütlich gemacht. Lässig saß sie mit ihrem kupferroten schulterlangen Haar und ihrem durch Kampfsport trainierten Körper in ihrem Stuhl und erinnerte an eine schöne, selbstbewusste, griechische Göttin. Sie sprühte ständig voller Energie und Tatendrang, sodass sie von Alea und Lilly gelegentlich als kupferrotes Duracell-Häschen aufgezogen und geneckt wurde. Hoheitsvoll verzieh sie ihnen jedes Mal.
     Lilly – die dritte im Bunde und angehende Ehefrau – steuerte geradewegs den runden Tisch auf der Terrasse an. Dabei balancierte sie ein Tablett mit ihren selbstgebackenen, kleinen, herzhaften Snacks auf ihrer Hand. Sie liebte es zu backen und erfreute regelmäßig ihre Freundinnen mit neuen wundervollen Kreationen – egal ob süß oder herzhaft, so wie an diesem Abend.
     Ein köstlicher Duft durchzog die milde Abendluft. Die zierliche Brünette mit ihren dunkelbrauen kinnlangen Haaren, den frechen Ponyfransen und einem schalkhaften Lächeln auf den Lippen führte eindeutig etwas im Schilde. Ihre dunkelbraunen Augen blitzten verräterisch und sie sah wie ein hinreißender, kleiner, weiblicher Kobold aus.
     „Bevor wir uns heute über Männer unterhalten, sollten wir uns zuerst stärken”, schlug Lilly schelmisch vor und zeigte auf das Tablett.
     „Deshalb habe ich mich in die Küche gestellt und etwas Neues ausprobiert. Ihr seid also meine Versuchskaninchen. Lasst es euch schmecken.”
     Mit einer einladenden Geste ihrer rechten Hand deutete sie auf die appetitlichen Häppchen, die buchstäblich danach schrien, verzehrt zu werden. Ihren Freundinnen lief bereits bei deren Anblick vor lauter Vorfreude das Wasser im Mund zusammen.
     „Ach Lilly, wir opfern uns doch gerne für deine Experimente”, erwiderten Alea und Rebecca nahezu zeitgleich.
     „Was hast du denn dieses Mal ausprobiert?”, fragte Rebecca erwartungsvoll.
     „Nun ja, die kleinen Täschchen bestehen aus Blätterteig und sind mit verschiedenen Füllungen bestückt. Mehr verrate ich jetzt aber nicht. Also greift schon zu.”
     Diese Aufforderung genügte. Das hübsche Trio saß nun Snacks futternd im Freien, nippte gelegentlich an ihren Gläsern und genoss die laue Abendluft und die noch immer wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut. Es war ein ruhiger Abend ohne störenden Lärm. Lebhafte Vögel zwitscherten eifrig und der Duft von frisch gegrillten Steaks aus der Nachbarschaft lag in der Luft. Rundum ein gemütlicher Abend.
     „Jetzt sag schon”, platzte plötzlich Lilly heraus, während sie noch die letzten Reste ihres Häppchens hinunterschluckte. „Aha“, dachte sich Alea, „jetzt kommt der unangenehmere Teil des Abends.“ Automatisch richtete sie sich etwas in ihrem Stuhl auf. Ihre innere Anspannung wuchs.
     „Wer aus deiner umfangreichen Sammlung an mehr oder weniger ernsthaft interessierten Verehrern wird dich zu unserer Hochzeit begleiten?” Mit diesen Worten begann nun Aleas Verhör, zumindest fühlte es sich für sie so an und sie schluckte schwer.
     „Warum kann ich denn nicht allein kommen? Das würde mir viel mehr Spaß bereiten”, nuschelte sie missmutig.
     „Männer interpretieren sofort zu viel hinein. Wenn sie eine Frau zur Hochzeit ihrer besten Freundin begleiten dürfen, denken sie, sie hätten bereits fest die Stelle des Platzhirsches erobert und ergänzen umgehend ihren persönlichen Anforderungskatalog.” Aleas Gesichtsfarbe hatte einen leicht rötlichen Schimmer unter ihrer Bräune angenommen, der eindeutig von ihrem inneren Unmut zeugte.
     „Auf diese Nachwirkungen kann ich gerne verzichten. Das muss ich mir nicht wirklich antun.” Ihre Augen glänzten angriffslustig und ihre Lippen formten eine Schmollschnute, die nichts Gutes verhieß.
     „Da hast du allerdings recht”, stimmte ihr Rebecca sofort zu.
     „Manchmal sind Männer noch schlimmer als Frauen, wobei ja uns Frauen nachgesagt wird, dass wir angeblich die hartnäckigeren Kletten wären. Dem ist jedoch nicht so.” Mit diesen Worten signalisierte ihre Freundin schon mal ihre Unterstützungsbereitschaft.
     Geflissentlich ignorierte Lilly diesen Kommentar und ließ sich nicht beirren.
     „Zwei deiner Verehrer belagern dich doch schon seit längerer Zeit und hoffen darauf, dass du einen von ihnen erhörst.” Abwartend betrachtete sie Aleas Gesicht.
     „Wie heißen sie doch gleich noch mal? Ach ja, Lukas und Martin.” Lilly wartete auf ein zustimmendes Nicken von Alea.
     „Lukas ist doch dieser hübsche Typ mit dem italienischen Aussehen, dem knackigen Hintern und dem maskulinen Gesicht, nicht wahr?”, fragte sie mit einem eigentümlichen Glanz in den Augen.
     „Wie wäre es denn mit dem? Der würde sich bestimmt darüber freuen, wenn du ihn fragen würdest”, kam der prompte Vorschlag von Lilly, verbunden mit einem auffordernden Augenaufschlag ihrer träumerisch glänzenden Augen. Nur gut, dass Mark als ihr zukünftiger Ehemann diesen Blick nicht sah.
     Innerlich stöhnte Alea laut auf und schloss für einen kurzen Moment die Augen, um ein lautloses Omm zu zelebrieren. Oh ja, Lilly hatte es auf den Punkt gebracht. Lukas und Martin bewarben sich schon seit geraumer Zeit sehr hartnäckig um den Job als Liebhaber bei ihr. Allerdings bisher ohne Erfolg und sofern es weiterhin nach ihr ging, würde das auch so bleiben.
     „Oh nein”, widersprach sie vehement mit einem deutlichen Stirnrunzeln und einem Tonfall in der Stimme, der keine Diskussionen zulassen wollte.
     „Lukas würde als mein Begleiter bei deiner Hochzeit sofort davon ausgehen, dass er mich nun sicher an der Angel hätte. Als Belohnung für seine Begleittätigkeit träumt er anschließend davon, mit mir ins Bett zu hüpfen.” Ein leises Aufstöhnen entfloh ihrem Mund.
     „Außerdem gehört er zu dem Typ Mann, der sich gern selbst reden hört und einer Frau einen Orgasmus regelrecht einzureden versucht, anstatt sich an dessen Entstehung selbst aktiv zu beteiligen.”
     Nach dieser Äußerung rutschten Lilly und Rebecca vor lauter Lachen in ihren Stühlen hin und her. Als sie wieder Luft holen konnten und nur noch ein schwaches Glucksen zu hören war, japste Rebecca mühsam: „Ist er tatsächlich so schlimm?” Vor lauter Lachen lief ihr eine Träne über die Wange.
     „Allerdings”, bestätigte Alea mit ernsthafter Miene und schilderte ihren Freundinnen den Verlauf ihrer letzten Begegnung mit ihm. Vor ein paar Tagen hatte er sie in das teuerste und nobelste Restaurant am Ort eingeladen.
     Vor ihrem geistigen Auge erlebte sie diesen Abend nochmals. Wie ein aufgeplusterter Pfau wartete Lukas bereits auf sie und saß an einem mittig im Raum stehenden Tisch – er liebte den großen Auftritt und jeder sollte ihn dabei sehen.
     Das Restaurant war mit dunklen, massiven Möbeln ausgestattet und zahlreiche Lampen verbreiteten ein heimeliges Licht im ganzen Raum. Lukas strahlte mit den eleganten Leuchten des teuren Lokals um die Wette.
     Obwohl er kein Italiener war, konnte er für einen gehalten werden, denn sein glänzendes tiefschwarzes Haar, seine olivfarbene Haut und seine fast schwarzen, glutvollen Augen ließen sehr wohl diesen Schluss zu. Auch hinsichtlich seiner inneren Einstellung war er ganz ein extrovertierter Italiener und versuchte dieses Image, nach außen zu tragen. Im gefiel es, wenn er für einen temperamentvollen Südländer gehalten wurde.
     Das volle Haar stylte er mit einer großen Portion Haargel zu einer modernen Komposition an seinem Oberkopf auf. Das ließ ihn noch ein paar Zentimeter größer wirken - genau das war seine Absicht.
     In seinem eleganten, dunkelblauen Anzug mit blassblauem Hemd und einer farblich passenden Krawatte gab er schon einen schönen Anblick ab und fügte sich wunderbar in das edle Ambiente ein. Sein durch regelmäßiges Training im Fitnessstudio gestählter Körper betonte seine Vitalität und wurde von ihm auch ausgiebig durch enge Kleidung zur Schau gestellt.
     Sein zur Begrüßung gezeigtes strahlendes Lächeln und seine angedeutete Verbeugung unterstrichen seinen Willen, nach außen hin zu glänzen. Seine leuchtend weißen Zähne schienen, einer Zahnpastawerbung entsprungen zu sein. Alea erwiderte sein Lächeln, das sie beinahe zu blenden schien. Ihre Mundwinkel verzogen sich nach oben, allerdings ohne die entsprechende Freude in ihren Augen widerzuspiegeln.
     Grundsätzlich war er ja ein netter und sympathischer Kerl, der sie gut mit verschiedenen teils lustigen Anekdoten zu unterhalten wusste. Außerdem erfreute er das Auge jeden Betrachters, denn er war in der Tat ein sehr attraktiver Mann – ein optisches Sahneschnittchen eben.
     Allerdings gewann sie bei seinen Worten ständig den Eindruck, dass ein unsichtbares Schild mit der Aufschrift „Ich bin doch ein ganz toller Hecht“ an seiner vor Stolz geschwellten Brust prangte und er dafür ständig bewundert werden wollte.
     Diese übertriebene Selbstverliebtheit störte sie ganz gewaltig. Vor allem, da seine Taten und sein Handeln damit nicht immer im Einklang standen. Da gab es schon eindeutige Abweichungen.
     Dabei dachte sie an den ersten Gang ihres erlesenen Abendessens in dieser wundervollen Umgebung. Wie sie hatten auch alle anderen Gäste in dem Restaurant sich in Schale geschmissen. Nun saßen sie elegant gekleidet, sich leise unterhaltend an den verschieden großen Tischen in dem vornehmen Lokal. Die Atmosphäre war perfekt. Auch ihr Menü schmeckte vorzüglich.
     Zu ihrer Vorspeise gehörten unter anderem grüne gefüllte Oliven, die Lukas mit vollem Genuss verspeiste. Beim Anstechen einer Olive hüpfte diese schwungvoll über den Rand seines Tellers und landete direkt neben seinem Weinglas.
     Ups, Alea nahm eilig einen Schluck von ihrem trockenen Rotwein, um das in ihrer Kehle aufsteigende Lachen zu unterdrücken. Mühsam versuchte sie, ihre ausdruckslose Miene aufrechtzuerhalten. Geflissentlich ignorierte Lukas diesen Vorfall mit ernster Miene und vermied den Blickkontakt mit ihr. Damit war sie sofort einverstanden und senkte ebenfalls ihren Blick.
     Beim Hauptgang wurden neben Feinschmeckerknödeln Erbsen als Beilage serviert, die sich Lukas genussvoll schmecken ließ. Ja, das Essen war exzellent und schmeckte auch Alea ausgezeichnet.
     Irgendwie schaffte er es bei der gestikreichen Untermalung seiner Worte - er sprach auch während des Essens eifrig -, einige Erbsen mit der Gabel über den Tellerrand zu katapultieren. Diese kleinen grünen Dinger näherten sich daraufhin gefährlich ihrem Weinglas an.
     Prompt hatte sie ihr Besteck fallen gelassen und einen kurzen, heftigen Hustenanfall vorgetäuscht, um sich nach ihrer Handtasche auf dem Fußboden bücken zu können. Ihr Kopf war somit außerhalb seines Sichtfelds. Beim besten Willen konnte sie sich ein Lachen nicht mehr unterdrücken und gluckste unbemerkt einige Sekunden unter dem Tisch vor sich hin.
     Als sie sich von ihrer Tauchstation wieder verabschiedete und sich ihrem leidenschaftlichen „Beinahe-Italiener“ zuwandte, hatte sich eine leichte Röte auf seine Wangen gelegt. Auch ihre zarten Wangen zeigten eine verräterische rosige Färbung auf, die jedoch nicht durch Verlegenheit, sondern durch das lautlose Unterdrücken des Lachanfalls ausgelöst worden war.
     Auch dieses Mal vermied er eisern den Augenkontakt zu ihr. Durch das Erzählen einer amüsanten Anekdote aus seinem letzten Urlaub auf Sizilien überspielte er die unangenehme Stille.
     Der Höhepunkt folgte prompt beim Dessert. Eine Schokokugel auf seinem Teller hatte sich, beim Versuch verspeist zu werden, als widerspenstig erwiesen und beschloss ebenfalls, vom Teller zu flüchten. Sie landete genau zwischen Olive und Erbsen, während Lukas versuchte, Alea verbal mit den leidenschaftlichen Worten „Nenn mich doch Luca, ich bin dein Tiger“ zu umgarnen.
     Das war dann für ihre angegriffene Gemütsverfassung eindeutig zu viel. Ein lautes Lachen konnte sie sich nicht mehr verkneifen, woraufhin der Abend ein sehr schnelles Ende fand. Schade, denn das Essen war ausgezeichnet gewesen.
     Nach dieser deutlichen Schilderung ihrer jüngsten Erlebnisse konnten sich ihre bis dahin aufmerksam zuhörenden Freundinnen nicht mehr auf den Stühlen halten.
     Laut lachend sprangen sie zwischen den Kübelpflanzen herum und wischten sich die Tränen von den erhitzten Wangen. Ihre Ausgelassenheit und ihr Übermut ließen sich nur durch etwas Bewegung eindämmen. Das ganze Geschehen beobachtete Alea mit stoischer Ruhe und wartete geduldig mit unschuldiger Miene am Tisch – zumindest in der ersten Minute.
     Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als ebenfalls in die allgemeine Erheiterung einzufallen. Auf einen Schlag spürte sie selbst die ausgeprägte Komik der Situation. Laut prustend stimmte sie in das Gelächter mit ein.
     Erst nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatten und des Redens wieder mächtig waren, ließen sie sich mit vom Lachen feuchten Augen auf ihren Stühlen nieder. Mit beherrschter Miene versuchte Alea, dem belustigten Augenkontakt ihrer Freundinnen zu begegnen und fuhr mit fester Stimme fort.
     „So, jetzt wisst ihr, warum Lukas mich nicht begleiten kann. Ich will ihm keine falschen Hoffnungen machen. Sein Betthäschen werde ich niemals.” Das klang entschlossen.
     „Außerdem würde er mit großer Wahrscheinlichkeit das blütenweiße Tischtuch der Hochzeitstafel ruinieren und das kann ich nicht zulassen.” Mit diesem Kommentar war das Thema Lukas als Begleitung für Alea abgeschlossen und ihre Miene nahm wieder einen ernsten Ausdruck an.
     „Und was ist mit Martin?” Rebecca verfolgte mit größtem Interesse Aleas Schilderungen.
     „Der ist zwar ein bisschen langweilig, aber dafür grundsolide. Warum kommt dieser nicht in Frage? Er soll dich ja auch nur auf eine Hochzeit begleiten, mehr nicht”, wollte nun Rebecca neugierig wissen und beugte sich bereits erwartungsvoll in ihrem Stuhl nach vorn.
     „Also, wenn mich Martin begleiten würde, dann wären wir aus seiner Sicht bereits am nächsten Tag so gut wie verlobt”, erklärte Alea und zog dabei eine ablehnende Grimasse.
     „Nein, das geht auch nicht.” Energisch schüttelte sie ihren hübschen Kopf, sodass ihre goldblonden Haare wie ein Heiligenschein um ihren Kopf wirbelten. Ihre Stimme hatte einen entschiedenen Klang angenommen.
     In Erwartung der nächsten haarsträubenden Story konnten sich ihre Freundinnen ein Kichern nicht verkneifen und setzten sich in ihren Stühlen schon mal in Position.
     Für sie als nicht Betroffene hatten Aleas komische Erlebnisse einen enormen Unterhaltungswert. Diesen konnten sie weder verleugnen noch sich dessen Auswirkungen entziehen. Ihre Augen strahlten, die Mundwinkel zuckten verräterisch und ihre fröhlichen Gesichter drückten eine freudige Erwartung aus.
     „Dann erzähl mal von deinem letzten Zusammentreffen mit Martin. Wir sind schon ganz gespannt darauf.” Lilly setzte ein treuherziges Lächeln auf und aus ihren Augen blitzte der Schalk.
     In Aleas Kopf drängten sich die Bilder ihres letzten Abendessens mit Martin vor. Unbewusst zogen sich ihre Augen zusammen und das leichte Lächeln verschwand aus ihrem hübschen Gesicht.
     Bevor sie die Erlebnisse zu schildern begann, brauchte sie jedenfalls erst noch eine Stärkung. Mit einem tiefen Seufzer setzte sie ihr Glas an die Lippen und der süße Geschmack des erfrischenden Getränks perlte über ihre Zunge. Nach einem kräftigen Zug begann sie mit ihrer Geschichte.
     In seinem Beruf als Buchhalter erblühte Martin und er lief zu seiner persönlichen Hochform auf. Er verstand sich ausgezeichnet auf den Umgang mit Zahlen. Leider fehlte ihm dabei jegliche kreative Komponente, die jedoch gerne von seiner dominanten Mutter übernommen wurde. So kleidete sie ihn regelmäßig ein und gab ihm auch bei allen anderen Fragen des Lebens Empfehlungen mit auf den Weg, denen er gerne und willenlos folgte – auch bei Frauen.
     Natürlich war er ein sparsamer Mensch und somit hatten sie sich bei ihrer letzten Verabredung in einer allseits beliebten Pizzeria getroffen. Gelegentlich aß Alea sehr gerne eine Pizza, allerdings waren die Rahmenumstände bei diesem Restaurantbesuch sogar für ihren Geschmack schon denkwürdig. Sie hatten sich beim Italiener um die Ecke verabredet und steuerten einzeln das Lokal an.
     Als überpünktlicher Mensch kam Martin eine halbe Stunde früher und saß bei ihrem Eintreffen bereits an einem kleinen Tisch für zwei Personen im vorderen Teil des Lokals. Erfreut winkte er ihr zu, als sie den im italienischen Stil eingerichteten gemütlichen Gastraum betrat.
     Seine ausgeprägte Stirnglatze sprang ihr sofort ins Auge und glänzte wie frisch poliert, was er vermutlich auch getan hatte. Seine blassblauen Knopfaugen himmelten sie bewundernd an und seine verbliebene schüttere Haarpracht in hellbrauner Durchschnittsfarbe schmiegte sich eng an seine Kopfhaut an.
     Sein Outfit bestand aus einer schwarzen Jeans und einem zu engen Hemd. Sein grün-weiß kariertes Oberteil spannte sich über seinem Bauchansatz und war brav bis zum höchsten Knopf unter seinem Kinn geschlossen. Ein augenschmeichelnder Straßenfeger war er jedenfalls nicht.
     Dafür erledigte er die Buchhaltung für Alea sehr gewissenhaft und gründlich. Das war auch der Grund, weshalb sie seine Einladung nicht ausschlug. Um ihn nicht zu verletzen, war sie mit ihm zum Essen ausgegangen, obwohl er sich zu ihrem Leidwesen langfristig mehr von ihr erhoffte.
     Kurz nach ihrer Bestellung servierte der Kellner als Vorspeise einen gemischten Salat. Umgehend reklamierte Martin ihn und ließ ihn prompt zurückgehen, bevor der Ober die Chance hatte, die Schale auf dem Tisch abzustellen. Ausführlich erläuterte er dem Ober mit ernster Miene und in einem oberlehrerhaften Tonfall, dass die verschiedenen Salatsorten säuberlich getrennt anzuordnen wären und nicht dermaßen durcheinander wie auf seinem Teller.
     Also, das Ganze zurück und noch ein Versuch. Tatsächlich verschwand der perplexe Kellner in der Küche und kam ein paar Minuten später mit einem wohl organisierten Salatteller zurück. Seine säuerliche Miene sprach Bände. Das sonderbare Geschehen beobachtete sie mit leicht gerunzelter Stirn und mit der ihr eigenen stoischen Ruhe. Sie fragte sich, wie das wohl noch weitergehen würde an diesem Abend.
     Nach der Vorspeise plätscherte ihre Unterhaltung über belanglose Themen zwanglos dahin. Beim Hauptgericht begutachtete Martin mit einem kurzen fachmännischen Blick den Abstand seiner bestellten Pizza zum Tellerrand.
     Als er feststellte, dass der Abstand nicht überall gleich groß war, schob er die Pizza so lange auf dem Teller hin und her, bis sie komplett zentriert lag. Nach einer gründlichen Inaugenscheinnahme des Belags startete er die Umsortierung, an deren Ende ein geometrisches Muster entstand, das sich konsequent an Wurst- und Gemüsestreifen orientierte.
     „Sehr, sehr dünnes Eis“, hatte sich Alea gedacht und versuchte, sich in Gedanken seine Wohnung vorzustellen. Vermutlich hatte er diese mit dem Meterstab genauestens vermessen, sodass alles exakt im korrekten Winkel zu den Wänden ausgerichtet war. „Wenn er über das richtige Werkzeug verfügen würde, würde er bestimmt noch jede Ameise tätowieren, um deren Wiedererkennungswert zu steigern“, dachte sie sich - und ja, er war bis in die letzte Haarspitze ein Pedant.
     Seinen Job erledigte er ausgezeichnet und er behandelte sie wie eine Prinzessin. Aber eine romantische Beziehung mit ihm konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Dazu reichte ihre gesamte Phantasie nicht aus, nicht in diesem Leben und auch nicht im nächsten.
     Während der Schilderung ihrer Erlebnisse wurden die Augen von Lilly und Rebecca immer größer und runder. Auf ihren Gesichtern mischte sich ungläubiges Staunen mit einem Hauch von Belustigung. Sichtlich in sich zusammengesunken saß Alea mit vor der Brust gekreuzten Armen auf ihrem Platz, wobei aus ihrer Miene jegliche Wärme verschwunden war. Plötzlich verspürte sie eine gewisse Einsamkeit in ihrem Leben, obwohl ihre Freundinnen alles taten, um diese zu vertreiben.
     „Seine Mutter würde vermutlich den Verlobungsring aussuchen und er würde schon einmal anfangen, deine Wohnung zu vermessen”, stellte Lilly nüchtern fest.
     „Auch wenn er dich zuvorkommend wie eine Prinzessin behandelt, ist so ein pedantisches Muttersöhnchen nicht zu ertragen.” Damit pflichtete sie Alea entschieden bei.
     „Du hast recht, der kann dich auch nicht begleiten”. Damit beendete Lilly endgültig das nachdenkliche Schweigen am Tisch.
     „Alea, soll ich dir einen Begleiter aus meiner Sammlung zur Verfügung stellen? Mir würde da schon ein geeignetes Exemplar einfallen”, bot Rebecca mit ernster Miene und voller Hilfsbereitschaft an.
     „Oh, nein, nein”, widersprach sie im Bruchteil einer Sekunde mit energischer Stimme.
     „Für deine Hilfe bin ich dir zwar sehr dankbar, aber unsere Vorstellung von begleitfähigen Männern geht doch etwas weit auseinander”, ergänzte sie noch mit einem Lächeln voller Zuneigung.
     „Wieso?” Mit treuherzigem Blick und einem völlig unschuldigen Augenaufschlag zog Rebecca dieses einzelne Wort in die Länge.
     „Nun ja, ich denke da nur so an den Typ mit dem Irokesenhaarschnitt und an den leicht bekleideten Rocker”, erwiderte sie in einem süffisanten Tonfall.
     „Die beiden haben durch ihre kreativen Darbietungen bei deiner letzten Geburtstagsfeier gewaltig für Aufsehen gesorgt”, merkte Alea mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
     „Hat dir denn der spontane Striptease im Stil von ‚Magic Mike‘ nicht gefallen? Ich fand die beiden magisch.” Ihre Aussage untermalte Rebecca mit einem kehligen, wenig damenhaften Lachen und fuhr sich dabei langsam durch ihr offenes Haar.
     „Na ja, knackig waren sie schon”, gab Alea ehrlich zu.
     „Ach Alea, also einen Langweiler brauchst du bestimmt nicht. Du solltest dir etwas Aufregendes suchen. Ich helfe dir dabei”, drohte ihre Freundin ihr an.
     „Ooh. Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“, hauchte sie voller böser Vorahnung. Ihr Geschmack bei Männern driftete deutlich in eine andere Richtung.
     „Lasst uns für heute dieses Thema beenden und ja, du hast mich für den Moment mit deinen Argumenten überzeugt”, lenkte Lilly ein.
     „Es ist so ein schöner Abend und da sollten wir nicht Trübsal blasen. Wir finden noch eine Lösung.” Mit diesem Kommentar versuchte sie, Alea in eine andere Stimmung zu versetzen, nachdem sie deren zerrüttete Gefühlslage an ihrer verschlossenen Miene abgelesen hatte.
     Zur Aufheiterung erzählte Lilly noch einige Anekdoten aus ihrer lebhaften Familie, die sich bereits in höchster Aufregung wegen der bevorstehenden Hochzeit befand. Mit fröhlichem Geplauder vergingen die nächsten zwei Stunden wie im Flug.
     Einer Lösung waren die drei Mädels trotz dem Genuss von mehreren Gläsern Hugo an diesem Abend nicht nähergekommen. Gegen neun Uhr verabschiedeten sich ihre Freundinnen mit einer herzlichen Umarmung, einem neckischen Augenzwinkern und noch ein paar letzten aufmunternden Worten. Nur gut, dass ihre Freundinnen in der gleichen Straße wie sie wohnten, nur einige Häuser in verschiedenen Himmelsrichtungen entfernt. So konnten sie den Heimweg zu Fuß bewältigen und mussten nicht mit dem Auto fahren.
     Nun war sie wieder allein. Umgehend zog sich Alea in ihre grüne Wohlfühloase zurück und sog genießerisch den lieblichen Rosenduft in ihre Nase ein. Um sich abzulenken, kreisten ihre Gedanken bereits um die Aktivitäten, die sie am kommenden Wochenende unternehmen wollte.
     Dieser Ausblick und die Vorfreude darauf hellten ihre Stimmung merklich auf. Mit offenen Augen träumte sie bereits davon, auf ihrem Motorrad im Sonnenschein durch die Landschaft zu sausen und sich den Wind um die Nase und den Helm wehen zu lassen.
     Als Alea nach einem versonnenen letzten Blick in die samtweiche Nacht hinein zwei Stunden später die Terrassentür im Wohnzimmer schloss, ahnte sie nicht, dass sie den ganzen Abend aufmerksam beobachtet worden waren.
     Eine dunkle große Gestalt verbarg sich unbemerkt im dichten grünen Laub der gegenüberliegenden Baumgruppe und steckte eine Kamera mitsamt einem großen Objektiv in eine schwarze Tasche ein.
     Geschickt kletterte sie am Baumstamm hinab und kam mit einem letzten kraftvollen Sprung auf der Erde zum Stehen. Verstohlene Blicke um sich werfend setzte sich die Gestalt in Bewegung, um sich lautlos und unauffällig in der Dunkelheit aus dem Staub zu machen. Sie hatte genügend Fotos von den drei jungen ausgelassenen Frauen geschossen und ihren Auftrag erledigt.


Am nächsten Morgen erwachte Alea früh bei schönstem Sonnenschein, tiefblauem Himmel und bester Laune – sie hatte gut und traumlos geschlafen. Ihr Schlafzimmer war durch das einfallende Tageslicht in warme gelbe und orange Farbtöne getaucht. Jedes Mal genoss sie diese besondere Atmosphäre vor dem Aufstehen, weshalb sie oft bei schönem Wetter abends die Jalousien nicht schloss.
     Voller Energie sprang sie schwungvoll aus dem Bett und stellte sich unter die warme Dusche. Nachdem sie ihr morgendliches Ritual im Bad beendet hatte und angezogen war, frühstückte sie in ihrer heimeligen Küche mit einem Croissant und einem Glas Orangensaft. So, nun war sie für den Tag gerüstet.
     Mit einer schwarzen, eng anliegenden Stoffhose, einer apricotfarbenen Sommerbluse und passenden schwarzen Pumps bekleidet, schnappte sich Alea ihre kleine Handtasche vom Sofa und ihren Aktenkoffer vom Büroschreibtisch. Mit einem kurzen kritischen Blick überprüfte sie nochmals dessen Inhalt auf Vollständigkeit.
     Alles Erforderliche hatte sie bereits vor dem Zubettgehen am vorhergehenden Abend eingepackt. Die Musterordner mit Fotos für Brautsträuße, Tischdekorationen, Autoschmuck, Anstecker, Einladungs- und Dankeskarten, Brautkleider in unterschiedlichen Stilrichtungen, Checklisten zu den verschiedenen Themen der Hochzeitsvorbereitungen, Statusberichte und noch einiges mehr lagen bereit. Auf eine gute Vorbereitung legte sie größten Wert.
     Zur Sicherheit hatte sie immer ein Sammelsurium an Mustern bei sich, um erste Vorschläge unterbreiten zu können. Sobald sie ein Brautpaar näher kannte, machte es ihr besonderen Spaß, individuell zugeschnittene und kreative Ideenvorschläge zu präsentieren. Ihr letzter Blick fiel auf die Einladungskarten, die sie ihrer Kundin, Frau Talhofen, vorstellen wollte und mit der sie sich um zehn Uhr traf.
     Gut gelaunt schnappte sich Alea ihre Autoschlüssel vom Haken neben der Wohnungstür im Flur. Energiegeladen schritt sie in Richtung Garage, die direkt an das Wohnhaus angrenzte. Nach einem kurzen Druck auf die Fernsteuerung öffnete sich das Garagentor mit einem leisen gleichmäßigen Geräusch und es kamen ihr nachtblauer Kleinwagen sowie ihr blau-weißes Motorrad zum Vorschein.
     Nach einem kurzen sehnsüchtigen Blick auf ihr flottes Zweirad rutschte sie hinter das Lenkrad ihres Autos. Mit einer raschen Handbewegung setzte sie ihre Sonnenbrille auf, die sie immer im Auto liegen hatte, um beim Fahren nicht geblendet zu werden.
     Nach dem Umdrehen des Zündschlüssels hörte sie zufrieden den Motor gleichmäßig schnurren. Umsichtig manövrierte sie ihr Auto aus der Garage durch die Einfahrt auf die Straße hinaus. Auf ihrer Anliegerstraße herrschte meist wenig Verkehr.
     Zügig fuhr sie los und lauschte mit Freude dem gleichmäßig brummenden Geräusch ihres Autos – sie fuhr gerne Auto, insbesondere bei Sonnenschein. Nach einer zwanzigminütigen ereignislosen Fahrt parkte sie in der Einfahrt ihrer Klientin und betrat mit ihrem schwarzen Aktenkoffer und leicht federnden Schritten den Eingangsbereich der schönen weißen Villa.
     Neugierig drehte sie den Kopf und inspizierte aufmerksam die ruhige Wohngegend mit den vielen wundervollen Villen. Lange musste sie nicht warten, denn kurz nach ihrem Klingeln wurde ihr die Tür geöffnet und sie trat mit einem freundlichen Lächeln ein.
     Den grauen unscheinbaren Kleinwagen, der ungefähr zweihundert Meter weiter in einer gegenüberliegenden Lücke parkte und dessen Fahrer sie aufmerksam hinter einer großen dunklen Sonnenbrille beobachtete, bemerkte sie nicht.
     In einen schneeweißen Hosenanzug gekleidet begrüßte Frau Talhofen ihren Gast mit einem strahlenden Lächeln im Flur ihrer Villa. Sie führte Alea in ihr prachtvolles Wohnzimmer, das mit einer Vielzahl von Antiquitäten bestückt war.
     Ihr kinnlanges pechschwarzes Haar wippte bei jedem ihrer Schritte sanft im Takt mit. Zielstrebig steuerte sie einen großen niedrigen Mahagonitisch an. Im Raum nahm Alea den Duft von Orangen wahr, der einer auf dem Tisch stehenden Duftlampe entströmte und sie in der Nase kitzelte.
     „Ich kann es schon gar nicht mehr erwarten, die neuen Muster zu sehen und in Händen zu halten”, zwitscherte ihre Kundin aufgeregt. Nachdem sie sich beide auf dem dunkelbraunen Echtledersofa niedergelassen hatten, bedachte sie Alea mit einem erwartungsvollen und ungeduldigen Blick.
     Innerlich die Ruhe selbst öffnete Alea mit flinken Fingern ihren Aktenkoffer und holte die fünf Mustereinladungen hervor. Sorgsam legte sie die Karten einzeln auf den Tisch, sodass Frau Talhofen jede intensiv betrachten und einen ersten Eindruck gewinnen konnte.
     „Ich denke, dass wir dieses Mal wirklich etwas für Sie finden werden, denn diese Karten sind außergewöhnlich schön und etwas Besonderes.” Mit einem aufmunternden Lächeln reichte sie die Karten der Reihe nach ihrer Kundin, sodass diese sie einer eingehenden Musterung unterziehen konnte.
     Währenddessen ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen und nahm die dunklen Möbel und die cremefarbenen, dicken Teppiche war. Die Einrichtung entsprach zwar nicht ihrem persönlichen Geschmack, aber es wirkte alles sehr elegant und gediegen.
     „Oh, da haben Sie recht”, schwärmte ihr Gegenüber.
     „Diese Karte in Creme und Gold wirkt besonders edel und ist nicht wie üblich ganz in Weiß gehalten”, erläuterte Alea mit einem zufriedenen Lächeln.
     „Oh, oh, da sind ja sogar noch vier kleine Fotos von uns verewigt“, jauchzte ihre Kundin vor Entzücken und sie fing zufrieden den begeisterten Blick ihrer Klientin auf.
     „Ja, ich dachte mir, dass dies die persönliche Note sein könnte, die sie für Ihre Karte erwarteten”, fügte sie lächelnd an.
     „Übrigens, in der gleichen Art könnten wir auch Ihre Dankeskarten gestalten. Dazu müssten sie nur nach der Hochzeit ein paar schöne Bilder von Ihnen als Brautpaar auswählen.”
     Die Stimme ihrer Kundin klang noch eine Stufe höher, als sie Aleas Vorschlag mit größter Begeisterung zustimmte. Ganz im Gegensatz zu ihrem gestrigen Telefongespräch verhielt sie sich an diesem Tag äußerst umgänglich und strahlte Alea glückselig an.
     „Kann ich Ihnen einen Kaffee und ein Stück Kuchen anbieten?”, fragte Frau Talhofen in zufriedenem Tonfall ihre Besucherin. Alea warf einen kurzen Blick auf ihre goldfarbene Uhr und stellte beruhigt fest, dass ihr noch ein wenig Zeit bis zu ihrem nächsten Termin verblieb.
     „Ja, gerne und ich kann Ihnen gleich noch ein paar Muster für ihren Brautstrauß zeigen”, erwiderte sie höflich.
     Mit ein wenig Small Talk verging die nächste halbe Stunde im Flug, bevor sich Alea zu ihrem nächsten Termin auf den Weg machte. Die Hausherrin begleitete sie mit einem glücklichen Lächeln zur Haustür und entließ sie in den sonnigen Tag.
     Nachdem sie mit zügigen Schritten die Villa verlassen hatte, stieg sie in ihr geparktes Auto ein und dachte nochmals über den Verlauf ihres ersten Termins nach. Sie fühlte eine tiefe Zufriedenheit und eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Der Tag begann schon mal sehr gut. Es bereitete ihr eine große Freude, wenn es ihr gelang, ihre Kunden zufriedenzustellen oder sogar wie in diesem Fall zu begeistern.
     Leise zur Musik aus dem Autoradio summend steuerte sie ihr Fahrzeug durch die belebten Straßen. Beim gelegentlichen Blick in den Rückspiegel erhaschte sie in weiter Entfernung einen grauen unauffälligen Kleinwagen, der anscheinend den gleichen Weg wie sie in die Innenstadt nahm.
     Die Termine zur Anprobe der Brautkleider, die ab Mittag auf ihrem Kalender standen, verliefen ebenfalls reibungslos und zufriedenstellend. Entsprechend gut war Aleas Laune und ihre Augen strahlten voller Fröhlichkeit.
     Auf ihren letzten Termin um fünf Uhr bei ihrer Freundin Lilly freute sie sich besonders. Gemeinsam wollten sie nochmals den aktuellen Stand der Hochzeitsvorbereitungen mit Lillys Mutter und den beiden Trauzeugen durchgehen.
     Bei aller Freundschaft war ihr Anspruch an sich selbst hinsichtlich der Gestaltung dieser Hochzeit besonders hoch. Deshalb sollte ihre Freundin auch mehr als zufrieden mit ihrer Leistung sein. Schließlich bezahlte Lilly sie für ihre Arbeit und ihre persönliche Messlatte an sich selbst hatte sie schon sehr früh gesetzt.
     Pünktlich rollte Alea vor dem in blassgelber Farbe gestrichenen Zweifamilienhaus vor, dessen Balkon mit einer wahren Blumenpracht in Lila- und Rosatönen geschmückt war. Lillys Eltern bewohnten das obere Stockwerk in dem schmucken Haus.
     Im Erdgeschoss hatten sich bereits die jungen Brautleute häuslich eingerichtet, sodass einer zukünftigen Nachwuchsbetreuung durch die Großeltern nichts im Wege stand. Das Haus und der sehr gepflegte Garten waren groß genug, um eine ganze fröhliche Kinderschar aufzunehmen.
     In der von Blumenkübeln eingesäumten, offenen, weißen Haustür erwartete sie bereits Lillys Mutter mit einem herzlichen Lächeln und ausgebreiteten Armen. Diese gepflegte, zierliche Frau Mitte fünfzig strahlte so viel mütterliche Liebe aus, sodass sie damit nicht nur ihre eigenen Kinder umgab, sondern auch Alea umhegte.
     Mit schnell klopfendem Herzen schritt sie auf sie zu. Beim Anblick der warmherzigen Frau spürte sie, wie ein wenig Wehmut und Trauer in ihr aufstieg. Schmerzlich wurde ihr der Verlust ihrer eigenen Eltern durch deren plötzlichen Tod vor drei Monaten bewusst, obwohl sie in Lillys Mutter eine liebevolle Ersatzmutter fand.
     Mit tränenverschleierten Augen und einem dicken Kloß im Hals stürzte sie sich in die für sie ausgebreiteten Arme. Liebevoll wurde sie mit den leise geflüsterten Worten begrüßt: „Komm nur herein, Liebes, es wird alles wieder gut.” Nach einem mitfühlenden Tätscheln auf dem Rücken führte sie Alea in Lillys Wohnzimmer.
     Der Anblick der auf dem Sofa versammelten und vergnügt schnatternden Runde ließ ihre Tränen schnell versiegen. Ein zaghaftes Lächeln erhellte ihr hübsches Gesicht.
     Natürlich waren alle Anwesenden mit ihrer Situation und dem Schmerz in ihrem Herzen über den Tod ihrer Eltern vertraut. Lillys Bruder, der seiner Schwester sehr ähnlich sah und ihr Trauzeuge war, kam als Erster mit einem verschmitzten Lächeln auf sie zugelaufen und zog sie in eine herzliche Umarmung
     „Na, Zuckerschneckchen, hast du schon deine Tanzschuhe poliert?” Sein forschender Blick versuchte ihre Gefühlslage zu erkunden.
     „Ich werde mit dir eine sehr heiße Sohle aufs Parkett legen, also fang schon mal an zu üben.” Mit einem liebevollen Lächeln und einem zärtlichen Küsschen auf ihre Wange versuchte er, sie aufzuheitern, da keinem im Raum ihre Niedergeschlagenheit entgangen war.
     Alea war wie eine zweite Schwester für ihn und er hatte den tiefen Schmerz in ihr nach dem Verlust ihrer Eltern mit großen Sorgen wahrgenommen. Obwohl sie mit viel Selbstdisziplin wieder ihre Alltagsroutine aufgenommen hatte, blieb ihm ihre gelegentliche Traurigkeit nicht verborgen.
     An diesem Tag wollte er sie auf jeden Fall aufheitern und ihr wie ein Bruder zur Seite stehen. Sie hatte schließlich selbst keine eigene Familie mehr und als Einzelkind blieben ihr Geschwister als Beistand versagt.
     Nach einem kurzen Blinzeln und einem leisen Räuspern hatte Alea sich wieder so weit gefangen, dass sie mit einem Lächeln im Gesicht alle Anwesenden der Reihe nach herzlich begrüßte.
     Als Nächste sah sie Lilly mit einem forschenden Blick aus ihren leicht mandelförmigen Augen auf sich zustürmen. Schon spürte sie deren herzliche und enge Umarmung, in der sie nach Luft schnappen musste, um nicht zu ersticken.
     Kaum hatte sie sich aus den Armen ihrer Freundin befreit, blickte sie von unten in die schelmisch funkelnden Augen von Lillys hochgewachsenen Zukünftigem. Dessen liebevolles Tätscheln spürte sie zart auf ihren Schultern und sein verschwörerisches Augenzwinkern zauberte ihr ein breites Lächeln auf die Lippen.
     Den Abschluss in der Warteschlange bildete Marks Schwester Anna, indem sie Alea mit ihrer erhobenen Hand kameradschaftlich zuwinkte. Sie war die zweite Trauzeugin. Überdeutlich fühlte Alea, dass es sich hier um eine eingeschworene Gemeinschaft handelte, die füreinander da war und für jeden Einzelnen von ihnen durchs Feuer ging.
     Voller Freude spürte sie, dass sie als Mitglied in diesem Kreis aufgenommen worden war. Ja, bei diesen warmherzigen Menschen fühlte sie sich wohl und ihr verwundetes Herz lag nicht mehr so schwer in ihrer Brust.
     Ihre Augen blickten nun klar und erwartungsvoll in die Runde. Alle ließen sich wieder auf ihren Plätzen nieder und Alea bekam einen gemütlichen Sessel angeboten, in dem sie es sich augenblicklich bequem machte.
     „Konntest du inzwischen die Musikband erreichen, um den detaillierten Ablauf durchzusprechen?”, meldete sich Lilly als Erste zu Wort.
     Mit rosigen Wangen hielt sie mit Mark Händchen auf der Couch. Absichtlich hatte sie sehr schnell das Thema auf die bevorstehende Hochzeit gebracht, da sie ihre Freundin von deren inneren Niedergeschlagenheit ablenken wollte.
     Zudem kannte sie Alea viel zu gut. Ihre Freundin wusste genau, dass sie ein sehr disziplinierter Mensch war, der sehr professionell agierte, wenn es um ihren Beruf ging. Also genau das richtige Thema, um sie von ihrem schmerzlichen Verlust abzulenken.
     „Ja, das konnte ich noch erledigen, bevor ich hierhergekommen bin”, bestätigte sie sofort.
     „Der Chef der Band ist nicht leicht erreichbar, aber heute hat es nun endlich geklappt”, erwiderte sie erleichtert.
     „Ich bin mit ihm in allen Einzelheiten den geplanten Ablauf durchgegangen, einschließlich aller Einlagen”, rutschte es ihr heraus. Prompt reagierte die Braut sofort.
     „Welche Einlagen kommen denn und wer macht da was?”, wollte Lilly sofort wissen. Mit leicht vorgebeugtem Oberkörper und neugierig gespitzten Ohren saß sie noch immer Händchen haltend auf dem Sofa.
     Verschwörerisch blinzelte Alea kurz in Richtung von Lillys Bruder, mit dem sie gemeinsam ein paar Überraschungen für das Brautpaar ausgeheckt hatte. Kurz erinnerte sie sich daran, wie viel Spaß sie beide bei der Ideenfindung und Vorbereitung hatten, was ein Grinsen auf ihren Zügen hervorlockte.
     „Wenn ich das verraten würde, wäre es keine Überraschung mehr”, ermahnte sie ihre Freundin mit erhobenem Zeigefinger.
     „Du brauchst nicht alles schon vorher zu wissen, liebe Lilly, auch wenn dich deine Neugier beinahe umbringt.” Auf Aleas Gesicht zeigte sich nun ein noch breiteres Grinsen und ihre Augen funkelnden übermütig in die Runde.
     „Du sollst nur wissen …”
     Das Klingeln eines Handys unterbrach ihre Ausführungen und lenkte vom aktuellen Thema ab. Lillys Bruder war sofort aufgesprungen, um sich für das Gespräch in die Küche zurückzuziehen. Zur Freude aller neugierigen Familienmitglieder ließ er die Tür geistesabwesend halb offen stehen und nahm das Gespräch entgegen.
     „Hallo Liebes, ich habe dich auch vermisst”, säuselte er mit einer dunklen betörenden Stimme. „Aber ja, natürlich komme ich heute Abend bei dir vorbei. Ja, dann bis später, Liebes.”
     Die im Wohnzimmer versammelte Runde spitzte aufmerksam ihre Ohren, um ja nichts zu verpassen. Lillys gut aussehender Bruder war dafür bekannt, dass er seine Freundinnen schneller wechselte als seine Hosen. Schon klingelte sein Handy erneut.
     „Hallo Süße, ich freue mich ja so, dich zu hören”, säuselte er nun mit einer noch tieferen Stimme und ließ ein kehliges Lachen ertönen.
     „Oh, nein, das geht heute nicht. Aber morgen Abend komme ich auf jeden Fall bei dir vorbei. Ich habe große Sehnsucht nach dir.” Mit dem Smartphone in der Hand schritt er durch die Tür und blieb ruckartig stehen.
     „Was?”, fragte er in die Runde, als er die breit grinsenden Gesichter sah und die leicht vorwurfsvolle Miene seiner Mutter. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er die Tür nicht hinter sich geschlossen hatte und fünf überaus neugierige Zuhörer bei seinen Gesprächen lauschten.
     „Ich liebe eben die Abwechslung”, erwiderte er mit einem nachlässigen Achselzucken und einem strahlenden spitzbübischen Lächeln.
     „Welche deiner zahlreichen Gespielinnen wird dich denn zu unserer Hochzeit begleiten”, fragte ihn Lilly mit leicht provokativem Tonfall. Ein Glucksen konnte sie sich nicht verkneifen.
     „So genau, weiß ich das noch nicht”, erwiderte er grübelnd.
     „Es kommt darauf an, welche bis dahin nicht beleidigt sein wird. Es dauert ja noch eine volle Woche bis zur Hochzeit, da kann noch so viel passieren.” Mit diesen Worten und einem äußerst charmanten Lächeln ließ er sich wieder lässig auf seinen Sofaplatz plumpsen, wobei er seine langen Beine entspannt übereinanderlegte.
     „Wer begleitet dich denn, Alea?” Bei dieser Frage zwinkerte er ihr frech zu und wartete gespannt auf ihre Antwort.
     „Ich werde mit großer Wahrscheinlichkeit allein kommen”, antwortete sie mit einem inneren Aufseufzen – sie konnte diese Frage einfach nicht ausstehen.
     „Ist kein passender Kandidat in Greifweite?”, wollte nun auch Mark wissen und blickte sie erwartungsvoll an. Lilly kam ihr jedoch zuvor.
     „Nein, nicht wirklich. Wir haben uns erst gestern Abend dazu ausgetauscht”, antwortete sie an deren Stelle.
     „Alea, erzähl doch mal die Geschichte von deinem ‚Möchte-gern-Italiener‘. Die ist bestimmt für alle interessant.” Bei diesen Worten wurde Lillys Grinsen immer breiter und ihre Augen funkelten nun übermütig.
     „Muss das sein“, dachte sie sich und wollte schon protestieren. Aber warum eigentlich nicht. So erzählte sie nochmals die Geschichte des feurigen Lukas, dessen unwilliges Gemüse vom Teller flüchtete und der Schokokugel, die partout nicht verzehrt werden wollte.
     Nach ihrer lebhaften Erzählung erntete sie schallendes Gelächter. In vollen Zügen genoss sie die ausgelassene und herzliche Stimmung im Raum, obwohl ihr Herz noch ein wenig traurig in ihrer Brust pochte.
     „Na, da werde ich wohl einspringen müssen”, rettete sie Lillys Bruder aus ihrer Verlegenheit und bog sich noch immer vor Lachen, während er weiter nach Luft schnappte.
     „Du kannst dich schon mal darauf einstellen, dass wir beide ein paar heiße Tänze hinlegen werden”, ergänzte er freudestrahlend in ihre Richtung.
     „Ich bin zwar kein Italiener, aber du weißt schon, Samba, Cha-Cha-Cha, Jive und Rumba.” Begleitend zu seinen Worten ließ er seine angewinkelten Arme verführerisch kreisen. Leicht mit den Hüften schwingend blickte er ihr tief in die Augen. Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht und ließ ihn ihre Vorfreude spüren, denn er war ein ausgezeichneter Tänzer, der sehr gerne und viel tanzte.
     „Spätestens bei der Damenwahl musst du aber auch mit mir tanzen”, meldete sich Anna zu Wort.
     „Ja klar. Ich werde am besten eine Tanzkarte ausgeben. Jede Dame, die sich darin verewigt, darf dann mal ran”, neckte er sie mit zweideutigen Worten. Erneut brandete schallendes Gelächter auf.
     Als sich alle beruhigt hatten und erwartungsvoll auf ihren Plätzen saßen, ergriff Alea wieder das Wort.
     „Wir sollten aus meiner Sicht nochmals kurz alle Themen durchgehen, sodass ihr einen aktuellen Überblick bekommt.” Für diesen Vorschlag erhielt sie ein zustimmendes Nicken aller Anwesenden.
     „Also, die erledigten Punkte zuerst. Der gesamte Blumenschmuck und die Dekoration für Kirche, Auto und Gasthaus sind bestellt und werden pünktlich angeliefert.” Sie blickte direkt ihre Freundin an.
     „Den Brautstrauß bringe ich dir persönlich vorbei, Lilly.”
     „Oh, das gefällt mir”, fügte diese glücklich an und erwiderte ihr Lächeln.
     „Die Musikband, der Fotograf und Frisör sind gebucht und sie wissen über den Ablauf Bescheid”, fuhr Alea fort.
     „Ist es bei dieser sexy rothaarigen Fotografin geblieben?” Mit dieser Frage erntete Lillys Bruder neben einem Stöhnen und Augenrollen natürlich einen weiteren tadelnden Blick aus den Augen seiner Mutter.
     „Ja, genau die wird eure Fotos schießen”, beantwortete Alea mit einem süffisanten Lächeln die Frage. Diesen wachen Jagdblick kannte sie an Lillys Bruder.
     „Eure Kleider und Anzüge habt ihr ja bereits anprobiert und nach meinem Kenntnisstand passen sie auch perfekt. Oder?” Mit einem forschenden Blick schaute sie in die Runde und betrachtete das Brautpaar und die Trauzeugen eingehend, sodass ihr keine Reaktion entging.
     Wie aufgeregte Gänse schnatterten ihre Zuhörer schon wieder durcheinander und schwärmten sich gegenseitig in den höchsten Tönen von den schönen Kleidern und Anzügen vor. Nachsichtig lächelnd lehnte sich Alea zurück, wechselte einen liebevollen Blick mit Lillys Mutter und wartete geduldig darauf, dass sich die aufgeregte Schar wieder beruhigte.
     „Na ja, eine konkrete Antwort war das nicht. Ich entnehme jedoch eurer Reaktion, dass ihr von euren Klamotten begeistert seid”, stellte sie mit einem zufriedenen Gesichtsausruck fest.
     „Das Brautkleid ist aber auch ein Traum und steht dir ausgezeichnet, Lilly. Du wirst wie eine zarte und wunderschöne Elfe aussehen”, schwärmte sie in Richtung der Braut.
     „Mark, du wirst dich noch bis zur Hochzeit gedulden müssen, denn es bringt angeblich Unglück, wenn der Bräutigam das Brautkleid bereits vor der Hochzeit sieht.” Mit einem Augenzwinkern in seine Richtung nahm sie einen Schluck Wasser aus dem Glas, das ihr Lillys Mutter zwischenzeitlich gebracht und vor ihr abgestellt hatte.
     „Ja, das ist okay, Ich werde mich gedulden.” Schicksalsergeben grinste er sie an und war die Ruhe selbst. Er war bereit, seiner Angebeteten alle Wünsche zu erfüllen, um sie glücklich zu machen. Dieser Tag sollte der Schönste in ihrem bisherigen Leben werden und er würde alles tun, um seinen Teil dazu beizutragen – sogar ein luftabschnürendes Hemd und eine Fliege tragen, die er insgeheim Propeller nannte.
     „Was wirst du tragen, Alea? Hoffentlich etwas Aufregendes mit viel Haut”, richtete Lillys Bruder seine Frage direkt an sie. Deutlich konnte sie seine neugierige Erwartung in seiner Stimme hören.
     „Lilly hat mich gebeten, ebenfalls ein langes Kleid zu tragen”, beantwortete sie seine Frage.
     „Es wird königsblau sein, aber mehr verrate ich jetzt noch nicht.” Das leicht enttäuschte und leise gemurmelte „Oah“ von Lillys Bruder überhörte sie geflissentlich. Dieser schnaufte kurz auf, da er einen heftigen Seitenhieb in seine Rippen von seiner Schwester einstecken musste.
     „Nun kommen wir zum Futtern”, schnitt Alea ein ganz wichtiges Thema an.
     „Das Menü wird von dem Speiselokal entsprechend eurer Änderungswünsche umgestellt und die dreistöckige Hochzeitstorte wird pünktlich angeliefert”, erläuterte sie in geschäftsmäßigem Tonfall.
     „Wie von euch gewünscht, wird es keinen Kaffee und Kuchen geben. Aufgrund der zeitlichen Planung ist dies aber auch nicht erforderlich, da die kirchliche Trauung erst nachmittags um fünf Uhr beginnen und um sechs Uhr beendet sein wird.” Es folgte wieder ein zustimmendes Nicken des Brautpaars.
     „Ihr müsst echt gute Beziehungen zum Pfarrer haben, dass er diesen Zeitplan mitträgt.” Mit einem anerkennenden Nicken in Richtung Brautpaar legte sie eine kurze Pause ein und wartete neugierig auf eine erklärende Antwort.
     „Der Pfarrer ist ein Cousin von mir und erfüllt alle unsere Wünsche”, meldete sich Lillys Mutter zu Wort und strahlte stolz in die Runde.
     „Zuerst hat er sich schon ein bisschen geziert, aber zwei Gläser meiner selbstgemachten Pflaumenmarmelade haben ihn umgestimmt.” Spitzbübisch zwinkerte sie Alea zu.
     „Prima, es ist immer gut, wenn man über Beziehungen verfügt. Dann kommen wir als nächstes zur Gästeliste”, wechselte sie das Thema.
     „Bis auf zwei Paare aus eurem Bekanntenkreis liegen alle Zusagen vor. Somit wären wir dann genau einhundertundfünf Leute, sofern alle gesund bleiben.” Als Reaktion erkannte sie ein weiteres zustimmendes Nicken des noch immer Händchen haltenden Brautpaars.
     „Ach ja, was mir gerade noch einfällt …” Sie nahm einen Schluck Wasser und setzte ihr Glas ab.
     „Die Ausstattung und Kleider für die Blumenkinder sind natürlich auch vorbereitet und sie schauen in ihren hübschen Kleidchen richtig niedlich aus.” Alea blickte in die Runde und wurde von fünf leuchtenden Augenpaaren angestrahlt.
     „Übrigens, der Saal wird euch sehr gefallen.” Aufmerksam lauschten alle ihren Worten.
     „Bisher kennt ihr ihn nur von Bildern, aber ich habe ihn mir vor Ort angeschaut. Er ist richtig beeindruckend, mit Kristallleuchtern und so, also der würdige Rahmen für eure Feier.” Kaum ließ sie ihre Stimme verklingen, sprachen alle erneut in freudiger Erwartung auf die Hochzeitsfeier wie übermütige Kobolde wild gestikulierend durcheinander.
     „So und jetzt essen wir noch Mamas selbstgebackenen Apfelkuchen mit Sahne”, erklärte Lilly mit einem schwärmerischen Ton in der Stimme, was freudige Ahs und Ohs auslöste.
     Ihre Mutter eilte bereits in die Küche und zauberte den frisch gebackenen Gaumenschmaus hervor. Zarter Zimtgeruch lag in der Luft, der Alea voller Vorfreude das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
     Nach einem Stück Kuchen und eine halbe Stunde später verabschiedete sie sich von dieser lustigen Gemeinschaft, die ihr wie eine eigene Familie ans Herz gewachsen war und setzte sich in ihr wartendes Fahrzeug.
     Spontan entschied sie, anstatt direkt nach Hause zu fahren, noch am Friedhof beim Grab ihrer Eltern vorbeizuschauen. Kaum hatte sie ihr Auto neben der aus grobem Stein gearbeiteten Friedhofsmauer in eine Parklücke manövriert, fühlte sie erneut eine tiefe Niedergeschlagenheit in sich aufsteigen. Der Tag war so gut verlaufen und dennoch verspürte sie nun den sehnlichsten Wunsch, ihren Eltern nah zu sein - auch wenn dies mit großen Schmerzen in ihrem Herzen verbunden war.
     Aus ihrer kleinen Handtasche kramte sie eine große, dunkelgetönte Sonnenbrille hervor und schob diese auf ihre hübsche, gerade Nase. Dann machte sie sich mit zügigen Schritten auf den Weg zur Grabstätte, indem sie zielstrebig mit leicht gesenktem Kopf dem Kiesweg innerhalb des Friedhofs folgte. Nach drei Minuten erreichte sie das Grab und bückte sich, um eine mitgebrachte Kerze anzuzünden, von der sie immer ein Exemplar im Handschuhfach ihres Autos lagerte.
     Das Schnippen des Feuerzeugs und das Zwitschern der Vögel waren die einzigen Geräusche, die an ihr Ohr drangen. In diesem Moment verspürte sie eine friedvolle Stille.
     Gedankenverloren stand sie allein vor dem Grab ihrer Eltern und überließ sich ihren aufwallenden Gefühlen. Vor Schmerz über den erlittenen Verlust zerriss es ihr fast das Herz. Sie fühlte, wie die ersten Tränen über ihre Wangen liefen und dort eine salzige Spur hinterließen. Nur gut, dass sie allein war, denn ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals und machte ihr in diesem Moment das Sprechen unmöglich.
     „Warum habt ihr mich allein gelassen?” Diese klagenden Worte brachen sich ganz leise flüsternd und ungewollt ihre Bahn. Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, bereute sie sie zutiefst. Sie wusste, dass ihre Eltern sie nie freiwillig allein gelassen hätten, wenn nicht vor drei Monaten dieser grässliche Unfall passiert wäre.
     Während die Erinnerungen sie übermannten, liefen ihr unaufhörlich Tränen über das Gesicht und benetzten ihre weiche Haut. Ihre Mutter war der warmherzigste Mensch, den sie je gekannt hatte. Immer hatte sie gute Laune und war in jeder Situation für sie da gewesen – entweder um Alea zu trösten oder mit ihr zu lachen.
     Auch ihr Vater war ein wundervoller Mensch mit so viel Verständnis für seine heranwachsende und gelegentlich aufmüpfige Tochter. Beide vermittelten ihr ständig das Gefühl von höchster Geborgenheit und unendlicher Liebe. Ja, sie war ein Kind, das von ganzem Herzen von ihren Eltern geliebt worden und dessen heile glückliche Welt durch einen schrecklichen Autounfall von einer Minute zur anderen zerbrochen war.
     Noch immer spürte sie eine innige Verbindung zu ihren Eltern und wie der Verlust ihr Herz zerriss. Ihre Mutter und ihr Vater würden immer einen Platz in ihrem Herzen einnehmen, egal was die Zukunft für sie noch bereithalten mochte. Mit tränennassen Augen musterte sie den geschliffenen Grabstein aus weißem Marmor.
     In ihrer Erinnerung erlebte Alea nochmals die letzte Begegnung mit ihren Eltern, die mit größter Begeisterung und Leidenschaft durch die Berge wanderten. Dabei war es sehr von Vorteil, dass sie am Fuße eines großen Gebirgszuges wohnten. Dadurch ließen sich die Anfahrtszeiten auf ein Minimum begrenzen und entsprechend häufig unternahmen sie Ausflüge in die traumhaft schöne Bergwelt.
     Alea sah ihre Eltern an jenem Unglückstag in ihrem Wohnzimmer stehen. Auf dem Hinweg schauten sie kurz bei ihr vorbei, bevor sie in die Berge aufgebrochen waren.
     Ihre Mutter mit ihrem braunen kurzen Haar und den blauen Augen, die in eine schwarze Trekkinghose mit gelbem T-Shirt gekleidet war, sprühte voller Lebensfreude. Neckisch zog sie ihren Vater liebevoll auf, da er an seiner Freizeithose nur noch mit Mühe und Not seinen Reißverschluss schließen konnte. In den letzten Monaten war er dicker geworden und sein schwarzes Haar etwas dünner. Ihm machte es nichts aus und seine dunkelbrauen Augen zwinkerten ihr verschwörerisch zu.
     Wenn sie die beiden so nah nebeneinander betrachtete, dachte sie sich manchmal, dass sie ihre eigene Haar- und Augenfarbe wohl von einem Vorfahren geerbt haben musste. Viel Ähnlichkeit hatte sie nämlich nicht mit ihren Eltern. Zu dieser Erkenntnis kam sie immer wieder, wenn sie in den Spiegel blickte.
     Vor ihrer Haustür stehend winkte sie ihren unternehmungslustigen Eltern mit einem breiten Lächeln hinterher. Es versprach ein wunderschöner Tag für ihre Mutter und ihren Vater zu werden.
     Später am Abend berichteten ihr die Polizisten, die an ihrer Tür geklingelt hatten, dass sie auf dem Heimweg vermutlich wegen zu hoher Geschwindigkeit von der Straße abgekommen waren. Dabei stürzten sie mit dem Auto ungefähr hundert Meter über eine Klippe in die Tiefe. Beide waren mit größter Wahrscheinlichkeit auf der Stelle tot.
     Mit tränenverschleiertem Blick starrte sie auf den Grabstein und hörte ihre verstorbene Mutter sagen:
     „Alea, auch wenn du traurig und verzweifelt bist, du darfst niemals aufgeben, denn wer aufgibt, hat bereits verloren. Hinfallen gehört zum Leben dazu, aber du musst jedes Mal wieder aufstehen, dein Krönchen richten und weitermachen. Versprich mir das!” Mit diesen Worten wurde sie von ihrer Mutter immer getröstet, wenn in ihrem Leben etwas nicht ganz nach Plan verlief.
     Eine tiefe Sehnsucht spürte sie in sich aufsteigen. Nach Trost suchend griff sich Alea an ihr Herz und berührte ganz sacht den unter ihrem Bustier versteckten Talisman. So lange sie denken konnte, trug sie diesen Anhänger bei sich und sein Anblick war ihr so vertraut wie ihr eigenes Antlitz.
     Von einem runden türkisfarbenen und mittig angeordneten Edelstein gingen goldfarbene Strahlen aus, die leicht im Uhrzeigersinn gebogen waren und an eine Sonne erinnerten. Der intensiv türkis schimmernde Stein wurde von kleinen, goldenen Halbkugeln umrahmt, die zwischen den Strahlen eingesetzt waren. Es war ein wunderschönes Schmuckstück und schien sehr alt zu sein.
     Noch immer hörte sie die Stimme ihrer Mutter im Ohr, die ihr eindringlich erklärte, dass es sich um ein Familienerbstück handelte, das nun ihr gehörte und auf das sie immer gut achten müsste. Ausdrücklich schärfte sie ihr ein, dass sie es stets bei sich tragen und vor den neugierigen Augen der anderen Menschen verstecken sollte – es war nur für sie bestimmt und musste von ihr beschützt werden.
     Gewaltsam riss sie sich aus ihren schmerzlichen Erinnerungen los. Nachdem sie sich mit einem Taschentuch aus ihrer Handtasche die Tränen an ihren Wangen getrocknet hatte, ließ sie ihren Blick aufmerksam in ihrer näheren Umgebung umherschweifen. In ihrer momentanen Verfassung konnte sie auf neugierige und aufdringliche Friedhofbesucher verzichten.
     Ihre suchenden Augen entdeckten auf dem ruhigen Friedhof nur einen einzelnen Mann, der zwei Reihen hinter ihr in gebückter Haltung die verwelkten Blütenblätter eines Rosenstocks von einem Grab abzupfte. Er beachtete sie nicht weiter und hielt sein Gesicht von ihr abgewandt. Völlig in seine Tätigkeit vertieft schien er sich nicht, für sie zu interessieren. Ihr fiel an ihm nur sein ungewöhnlicher blonder Bürstenhaarschnitt auf, da dieser nicht der aktuellen Männerhaarmode entsprach.
     Alea war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie diesem ansonsten völlig unauffällig gekleideten Mann weitere Beachtung schenkte. Erneut drehte sie ihm ihren Rücken zu. Ihr entging dabei, dass er gelegentlich verstohlen mit seinem Smartphone in ihre Richtung zeigte und geschwind mehrere Fotos von ihr schoss. Um das leise Klicken der Kamera zu hören, stand sie zu weit entfernt von ihm.
     Mit ihren Fingerspitzen befühlte sie nochmals ihren Anhänger, den sie seit jeher als ihren persönlichen Glücksbringer betrachtete und der sich unter ihrer Hand warm und tröstlich anfühlte.
     Aufgrund der eindringlichen Anweisungen ihrer Mutter hatte sie schon vor Jahren ein kleines Stofftäschchen zur Aufbewahrung des Anhängers angefertigt, das sich problemlos unter ihrer Kleidung verstecken ließ. Meist verbarg sich der Talisman in ihrem Bustier.
     Mit einem stummen Gebet und traurigem Herzen verabschiedete sie sich vom Grab ihrer Eltern und eilte mit raschen Schritten zu ihrem geparkten Fahrzeug. Dabei hielt sie noch immer ihre Hand an ihr Herz gedrückt, um den Talisman zu spüren, der ihr ein klein wenig Trost spendete.
     Nicht im Geringsten ahnte Alea, welche gewaltigen Kräfte in diesem harmlos anmutenden Anhänger schlummerten. Kräfte, die nur für sie bestimmt waren und geduldig seit Jahrtausenden darauf warteten, endlich von ihr entdeckt zu werden.

Die Beschützer

Alea verbrachte eine unruhige Nacht, in der sie erst nach wirren Träumen über ihre Eltern, die nach ihr riefen und sie um Hilfe baten, endlich in einen tiefen Schlaf gesunken war. Am Morgen erwachte sie mit gemischten Gefühlen und spürte noch ein wenig ihre Niedergeschlagenheit vom Vorabend in sich nachklingen.
     Mit geschlossenen Augenlidern lag sie auf dem Rücken in ihrem Bett und genoss die Wärme ihrer kuscheligen Bettdecke auf ihrer Haut. Plötzlich riss sie die Augen auf, brachte sich mit einem Ruck in eine senkrechte Position und blickte erwartungsvoll in Richtung Fenster.
     Es war Samstag und ein freies Wochenende stand bevor. Beinahe hätte sie es über ihrem Kummer vergessen. Ein Blick aus dem Fenster genügte, um ihr zu bestätigen, dass wieder eine strahlende Sonne von einem tiefblauen Himmel schien. Das grandiose Wetter lud sie geradezu zu einem ausgiebigen Ausflug auf ihrem Motorrad ein und lockte sie aus ihrem weichen Bett.
     Auf diese Spazierfahrt hatte sie sich schon die ganze Woche über gefreut und endlich war es soweit. Sie spürte, wie die Reste ihrer Traurigkeit in ihr wie ängstliche Mäuse zurückwichen und einer herrlich erfrischenden Vorfreude Platz machten.
     Schwungvoll warf sie die Bettdecke zurück und stand mit einem geschmeidigen Satz auf den Beinen. Allein schon der Gedanke, mit dem Motorrad durch die Gegend zu brausen, steigerte ihre Laune schlagartig. Es war ein verlässliches Mittel, um ihre Stimmung aus dem Kellerniveau mindestens in den ersten Stock zu katapultieren.
     Das warme Licht, das einladend durch ihre gelb-orangen Vorhänge schimmerte, tat ihrer Seele gut. Zudem trug es ein Übriges dazu bei, ihre traurigen Gefühle und Gedanken vom Vorabend endgültig zu verscheuchen.
     Leise vor sich hin summend und mit einem Lächeln auf den Lippen, das eindeutig ihre Vorfreude erkennen ließ, sauste sie mit leicht tänzelnden Schritten in ihr Badezimmer. Nach einer erfrischenden Dusche trocknete und flocht sie ihr volles Haar zu einem dicken Zopf, der zwischen ihren Schulterblättern baumelte.
     Bei einem kurzen Blick in den Spiegel sah sie ihr eigenes Antlitz, das ihr leicht gebräunt und mit glänzenden Augen entgegenstrahlte. Sie war noch immer in einen bequemen Bademantel eingehüllt, da sie sich nicht nochmals umziehen wollte, bevor sie in die Motorradkleidung schlüpfte.
     Während sie in der Küche hungrig in ein mit Schinken belegtes Brötchen biss und ihre Füße lässig vom Stehhocker baumeln ließ, plante sie in Gedanken bereits die Fahrroute für ihren Ausflug.
     Sobald sie die letzten Krümel beseitigt hatte, holte sie aus dem Flurschrank ihre Motorradkleidung hervor und schlüpfte hinein. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie wie eine moderne Amazone aussah, die nun vorhatte, auf Jagd zu gehen.
     Ihre schwarze Textilhose und Schutzjacke waren an den Knien, Ellbogen und Schultern mit stabilen Protektoren gepolstert. Ihre Füße steckten in wadenhohen Motorradstiefeln mit Schienbeinverstärkung und Kappenschutz. Über ihre Jacke legte sie eine gelb leuchtende Airbag-Weste an. Ihre Ausrüstung wurde durch schwarze Lederhandschuhe mit Verstärkungen an den Fingerknöcheln sowie einem Schutzhelm in den Farben Neongelb, Weiß und Schwarz vervollständigt.
     Ihr kritischer Blick im Spiegel zeigte ihr, dass sie ihre Ausstattung zwar nicht für besonders figurbetont und weiblich hielt, aber dafür erfüllte sie alle Sicherheitsaspekte. Früher bevorzugte sie farblich zum Motorrad passende Bekleidung. Das führte jedoch dazu, dass sie sehr häufig von anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere Autofahrern, übersehen wurde.
     Durch schnelles Bremsen und Ausweichen konnte sie bisher Unfälle vermeiden. Umso größer war ihre Erleichterung, als sie feststellte, dass sich ihre Sichtbarkeit durch den Umstieg auf neongelbe Farbtupfer an ihrer Kleidung und Helm deutlich verbesserte. Nun war sie nicht mehr zu übersehen und mit diesem Gedanken fühlte sie eine große Zufriedenheit in sich aufsteigen. Sicherheit ging vor Schönheit. Außerdem war sie nicht auf Männerfang aus. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen blickte sie ihrem Spiegelbild entgegen.
     Mit federnden Schritten und voller Tatendrang griff sie sich ihre Schlüssel und steckte ihren Geldbeutel mit Ausweis- und Fahrzeugpapieren in ihre Jackentasche. Es konnte losgehen. Unternehmungslustig blitzten ihre Augen und sie strahlte mit der Sonne um die Wette, als sie energiegeladen die Haustür hinter sich schloss.
     Durch das Betätigen der Fernbedienung öffnete sie das Garagentor, das einen Blick auf ihren kleinen Fuhrpark freigab. Vorsichtig schob sie ihr blau-weißes Motorrad, eine flotte Sporttouring-Maschine mit über hundert Pferdestärken, aus der Garage heraus.
     Nachdem sie den Helm über ihren Kopf gestreift und ihre Handschuhe angezogen hatte, schwang sie sich hinter dem Lenker auf die bequeme Sitzbank. Zum Schluss verband sie ihre Airbag-Weste über den Klickverschluss mit dem Gegenstück, das an ihrer Sitzbank befestigt war.
     Nun schaltete sie mit dem Schlüssel die Zündung ein und startete mit gezogener Kupplung über den Elektrostartknopf am Lenker den Motor. Sofort kam Leben in die Maschine. Sie hörte ein gleichmäßiges Wummern und spürte ein leichtes Vibrieren, das ihren Körper durchlief. Endlich ging es los. Innerlich jubelte sie vor überschwänglicher Freude und sie fühlte, wie ein Glücksgefühl sie durchströmte. Ihr leichtes Herz schwebte wie eine Feder im Wind.
     Nach wenigen Minuten erreichte sie den Stadtrand und schlug die Richtung zu einem ihrer Lieblingsziele ein – ein idyllisch gelegener Bergsee, eingebettet in das beeindruckende Felsmassiv der mächtigen Gebirgskette, in deren Vorland Alea seit ihrer Kindheit lebte. Der kraftvolle Motor unter ihr brummte gleichmäßig in einem dunklen Ton, dem sie immer wieder gerne lauschte.
     Ein paar langsamere Autos auf dem Weg vor ihr überholte sie schwungvoll, indem sie kurz den Gasdrehgriff am Lenker mit ihrer rechten Hand bewegte und an ihnen sehr flott und fröhlich grinsend vorbeizog. Mit einer Maschine, die von null auf hundert in dreieinhalb Sekunden beschleunigte, genoss sie jedes Überholmanöver in vollen Zügen.
     Voller Glück und wie ein ausgetrockneter Schwamm sog sie die Eindrücke ihrer Umgebung in sich auf. Das imposante Gebirgsmassiv vor dem wolkenlos blauen Himmel mit der hellstrahlenden Sonne machte jeder Postkartenidylle Konkurrenz.
     Mit leuchtenden Augen und einem seligen Lächeln auf ihren Lippen brauste sie durch die farbenprächtige Landschaft, hörte das leise Bimmeln von Kuhglocken im Hintergrund und nahm den Duft von vorbeiziehenden Sträuchern in sich auf. Gelegentlich kitzelte in ihrer Nase feiner Blütenduft und der Geruch von frisch gemähtem Gras.
     An einem großen geschnitzten Holzbrunnen am Wegrand, aus dem glasklares Wasser sprudelte und beruhigende Geräusche von sich gab, setzte sie sich auf den Beckenrand und legte eine kurze Verschnaufpause ein. „Ja, so sollte das Leben jeden Tag sein“, dachte sie sich voller Glücksgefühl, während sie faul in die Sonne blinzelte und deren Wärme auf ihrer Kleidung spürte.
     Mit Begeisterung stieg sie eine Viertelstunde später wieder auf ihr Motorrad und ließ erneut den Motor an. Eine Welle eines unbeschreiblichen Freiheitgefühls durchlief ihren Körper und ließ sie kurz erschauern. Sie liebte die Geschwindigkeit und empfand eine tiefe Zufriedenheit.
     Bewundernd musterte sie während der Fahrt immer wieder das wundervolle Bergpanorama und entdeckte bereits in der Ferne das erste schimmernde Blau des angestrebten Bergsees. Glitzernd wie ein riesiger Edelstein lag er in der Sonne, eingebettet zwischen den Felswänden und gelegentlich gesäumt von tiefgrünen Bäumen, deren Zweige an manchen Stellen bis nahe an die Wasseroberfläche reichten.
     Genüsslich ließ sie die herrliche Atmosphäre auf ihre Seele wirken, als sie im Rückspiegel an ihrem Lenker in weiter Ferne zwei schnell sich nähernde dunkle Punkte ausfindig machte. „Das sieht so aus, als ob das zwei andere Motorradfahrer sind“, dachte sie sich und behielt die beiden Schatten im Auge.
     Als sie auf der kurvenreichen Strecke am See entlang um die nächste Biegung rollte, entdeckte sie die beiden schwarz gekleideten Motorradfahrer bereits einige Meter hinter sich. Auch ihre Maschinen waren nahezu ganz in Schwarz gehalten. Nur wenig Chrom sah sie in der Sonne aufblitzen.
     „Mann, sind die aber rasant unterwegs. Mal schauen, wie lange es dauert, bis sie zum Überholen ansetzen“, dachte sich Alea und behielt ihre flotte Geschwindigkeit bei.
     Nach ihren Erfahrungen dauerte es nicht lange, bis die beiden auf der kurvenreichen Strecke waghalsig und mit aufheulenden Motoren an ihr vorbeipreschen würden. Durch ihren unter dem Helm bis zur Rückenmitte reichenden und neckisch im Wind wippenden Haarzopf war sie leicht, als Frau zu erkennen.
     Eine ernüchternde Erkenntnis hatte sie inzwischen gewonnen. Kein Mann auf einem Motorrad konnte hinter einer Frau auf einem Motorrad herfahren. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Frau auf einer großen Maschine saß und wie schnell sie unterwegs war. Das ging einfach nicht. Kein männliches Ego ließ das zu. Punkt.
     Hochkonzentriert sah Alea erneut in den Spiegel und erhaschte einen weiteren Blick auf ihre dunklen und gefährlich aussehenden Verfolger. Diese klebten bereits nah an ihrem Hinterrad und sie fühlte sich von ihnen bedrängt. Besorgt und mit einem Stirnrunzeln bemerkte sie in der Ferne, dass sich zwei weitere Motorräder mit hoher Geschwindigkeit näherten, deren Fahrer wie sie in Schwarz und Neongelb gekleidet waren.
     „Sind denn heute lauter Irre unterwegs“, dachte sie sich verärgert und bemühte sich, ihre aufsteigende innere Unruhe in Schach zu halten. Deutlich war sie sich der drohenden Gefahr und des hohen Risikos bewusst.
     Jede Unsicherheit konnte beim Motorradfahren leicht zu einem Sturz führen, wobei jeder Fahrer sehr schnell merkte, dass seine Maschine über nicht viel schützendes Blech verfügte. Kein Fahrer wollte aussehen wie ein geschälter Apfel, ganz abgesehen von möglichen Verletzungen und Schmerzen oder sogar dem Tod.
     Plötzlich schoss ihr Adrenalinspiegel gewaltig nach oben. Im Bruchteil einer Sekunde spürte sie einen der beiden ganz in Schwarz gekleideten Fahrer direkt links neben sich fahren. Vor Schreck drehte sie nur minimal unter höchster Anspannung den Kopf in seine Richtung. Sie fühlte, wie ihr Herz vor panischer Angst kurz aussetzte.
     Nur wenige Zentimeter von ihrem linken Lenkerende entfernt schwebten seine Finger gefährlich in der Luft. Sofort wusste sie, dass er an ihren Lenker greifen wollte. „Oh mein Gott, das wird in einer Katastrophe enden. Nein, nicht mit mir“, dachte sich Alea.
     Entschlossen bewegte sie ihren Gasdrehgriff, sodass ihr Motorrad mit einem schnellen Satz wütend nach vorne sprang und sie außer Reichweite manövrierte. Beide Fahrer hetzten noch immer wie wilde Tiere hinter ihr her.
     Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Knie zitterten vor Aufregung. Sie fühlte sich gehetzt und bedrängt, aber ihr Verstand arbeitete messerscharf und lief auf Hochtouren. So eine Unverschämtheit hatte sie noch nie erlebt. Verärgert schimpfte sie leise vor sich hin.
     Ihr blieb keine Zeit zum Durchatmen. Bei ihrem nächsten Blick in den Spiegel sah sie, dass die beiden schwarz-gelben Fahrer aufgeholt hatten und an den Hinterrädern ihrer direkten Verfolger klebten. Rasten denn an diesem Tag alle nur wie die Gestörten?
     „Das wird ja immer noch schlimmer. Überholt doch schon endlich”, brummte sie leise und flehte in Gedanken um Vernunft. Gleichzeitig fiel es ihr jedoch wie Schuppen von den Augen. Ihre Verfolger hatten gar nicht vor, sie zu überholen, sondern anscheinend von der Straße zu drängen. Das war es dann wohl mit dem erholsamen Ausflug, sofern sie diese gefährliche Hetzjagd überhaupt überleben sollte. Voller Bestürzung schüttelte sie ihren Kopf.
     Auf ihr eigenes Motorrad konnte sich Alea im Augenblick nicht konzentrieren, da ihre Verfolger ihre volle Aufmerksamkeit erforderten. Alles lief automatisch ab, kuppeln, schalten, Gas geben, bremsen, Lenkimpuls, Schräglage, verzögern, beschleunigen – und das alles auf einer kurvenreichen Bergstraße, na bravo.
     In höchster Bedrängnis riskierte sie nochmals einen Blick in den Spiegel und riss erstaunt die Augen auf. Was war denn das nun wieder? Zu ihrem größten Erstaunen beobachtete sie, wie ihre beiden direkten Verfolger nun ihrerseits von den Neuankömmlingen bedrängt wurden und sich der Abstand zu ihr um ein paar Meter vergrößerte.
     „Uff, nichts wie weg hier“, dachte sie sich erleichtert und gab nochmals Gas, um sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. Allmählich spürte sie, wie sich ihr Herzschlag etwas beruhigte und sich das Flattern in ihrer Magengegend abschwächte. Innerlich noch immer völlig aufgewühlt und unter Strom stehend, wollte sie nur noch so schnell wie möglich genügend Distanz zwischen sich und dem Geschehen hinter ihr bringen. Das war knapp.
     Bei einem erneuten Blick in den Spiegel erhaschte sie für einen kurzen Moment ein letztes Bild ihrer Verfolger. Mit größter Erleichterung stellte sie fest, dass die beiden dunklen, bedrohlichen Fahrer zwischenzeitlich am Straßenrand angehalten hatten und wild gestikulierend miteinander kommunizierten.
     Beruhigt nahm sie zur Kenntnis, dass die schwarz-gelben Fahrer in sehr großem Abstand zu ihr gemächlich der Straße folgten. Von ihrem Lieblingspanorama und dem wie ein Juwel in der Sonne glitzernden See hatte sie bei dieser nervenaufreibenden Jagd nichts wahrgenommen.

Mist, Mist, Mist – diese Beschreibung traf die aktuelle Situation am besten. Tajo fühlte Ärger in sich aufsteigen, Ärger über sich selbst. Wie hatte er nur zulassen können, dass Aleas Verfolger derart nah an sie herangekommen waren und in so kurzer Zeit zu ihr aufschließen konnten, warf er sich selbst vor. Mit halsbrecherischem Tempo jagten die beiden Fahrer vor ihm auf der stark gewundenen Straße hinter ihrer gehetzten Beute her und hatten sie bereits eingeholt.
     Mit seinem jüngeren Bruder Matteo, der die rote Rennmaschine hinter ihm lenkte, schoss er in nicht minder halsbrecherischer Geschwindigkeit über den Asphalt. Befriedigt stellte er fest, dass sich ihr Abstand zu der kleinen Gruppe vor ihnen zügig verkleinerte.
     Mit leicht zusammengekniffenen Augen und grimmiger Miene beobachtete er auf das Äußerste konzentriert das Geschehen vor ihnen. Inständig betete er, dass ihnen bei ihrer Aufholjagd keine Fußgänger oder Radfahrer vom Straßenrand aus in die Quere kamen. Bei ihrer völlig überhöhten Geschwindigkeit wäre ein Zusammenstoß tödlich.
     Sein Auftrag bestand darin, dass er um jeden Preis das Leben von Alea schützte. Sein Bruder und er wurden für diese überaus wichtige Aufgabe extra ausgewählt und waren sich deren Bedeutung bewusst. Ihr Leben war kostbarer als sein eigenes oder das jedes anderen Menschen. Umso mehr war er auf sich selbst sauer, als er beobachten musste, wie ihre Verfolger sie immer mehr bedrängten.
     Plötzlich setzte sein Herzschlag aus. Er sah, wie sich die ausgestreckte Hand des linken Verfolgers, der sich dicht neben sie geschoben hatte, nach ihrem Lenker griff. Eine falsche Bewegung von ihr oder ihres Verfolgers und beide Maschinen liefen Gefahr, ins Straucheln zu geraten und von der Straße zu fliegen. Bei diesem hohen Tempo konnten nach einem Sturz nur noch die Überreste der Fahrer eingesammelt werden.
     Er musste etwas unternehmen. Jetzt, sofort und gleich. Aleas Leben war in Gefahr. Sein Auftrag lautete, sie zu beschützen und seine Aufträge nahm er sehr ernst. Über die aktivierte Sprechverbindung ihrer Helme wies er seinen Bruder entschlossen an: „Matteo, du übernimmst den rechten Fahrer, ich den Linken. Versuche, ihn abzudrängen und aufzuhalten.”
     „Okay.“ Kurz angebunden antwortete ihm sein Bruder mit gepresster Stimme.
     Dank modernster Technik war es Tajo möglich, den gefährlichen Verfolger von Alea aufzuhalten. Dazu musste dieser jedoch mindestens fünf Meter mit seinem Motorrad von ihr entfernt sein, denn ansonsten würde es auch sie treffen.
     „Also, los geht’s”, flüsterte er ganz leise und mischte sich entschlossen in das Geschehen ein.
     Riskant schloss er mit zusammengebissenen Zähnen so nah wie möglich mit seiner blauen Rennmaschine zu dem Fahrer vor ihm auf. Um jeden Preis musste er dessen Aufmerksamkeit erringen, sodass dieser von ihr abließ. Dabei behielt er hochkonzentriert ihr Motorrad im Auge, um nicht noch selbst versehentlich mit ihrer Maschine zu kollidieren.
     Sobald die Verfolger merkten, dass sie nun ebenfalls das Ziel eines Angriffs waren, ließ ihre Aufmerksamkeit gegenüber Alea sofort nach. Geistesgegenwärtig gab diese blitzschnell Gas und brachte einige Meter Abstand zwischen sich und der sie verfolgenden Meute. „Mutiges Mädchen“, dachte sich Tajo anerkennend und konzentrierte sich wieder auf sein Opfer.
     An seinem Lenker war am linken Ende ein schmales schwarzes Kästchen in der Größe einer Streichholzschachtel befestigt. Dieses kleine elektronische Gerät musste er auf den Fahrer vor sich richten, über einen Druckknopf einen kurzen Impuls auslösen und die Elektronik des Motorrads lahmlegen. Dann wäre Alea außer Gefahr.
     Kaum hatte er den Knopf gedrückt, ging bei seinem Vordermann der Motor aus. Dieser war nun gezwungen, mit gezogener Kupplung seine Maschine am Straßenrand ausrollen zu lassen. Mit großer Befriedigung stellte er nach einem kurzen Blick in seinen rechten Spiegel fest, dass Matteo es ihm gleichgetan hatte. Der zweite Fahrer hielt ebenfalls an und gestikulierte wütend in Richtung seines Begleiters.
     „Gut gemacht, kleiner Bruder”, bedankte sich Tajo bei Matteo für dessen Hilfe.
     „Die sind jetzt eine Weile beschäftigt, ihre Maschinen wieder in Gang zu bringen.“ Ein amüsiertes Schmunzeln legte sich auf seine Lippen.
     „Wir sollten ihr sicherheitshalber etwas Vorsprung lassen”, fügte er noch knapp hinzu.
     Von Matteo hörte er ein leises Lachen in seinem Helm.
     „Hast Du etwa Angst, sie könnte dir an die Gurgel gehen und dich auch für einen Bösewicht halten?”, fragte er seinen Bruder amüsiert. Von dem war nur ein leises Knurren zu hören.
     Allmählich spürte Tajo, wie der Adrenalinschub in seinem Körper abebbte. Erleichtert atmete er ein paar Mal tief ein und aus. In großem Abstand folgten sie Alea gemächlich hinterher und ließen sie dabei nicht aus den Augen.
     Nach wenigen Kilometern sah er ihren rechten hinteren Blinker aufleuchten und wie sie einen großen öffentlichen Parkplatz am Straßenrand ansteuerte. „Aha, sie will anscheinend eine Pause einlegen, vermutlich um sich zu beruhigen“, dachte er und sagte zu seinem Bruder: „Wir folgen ihr und benimm dich bitte.”
     „Das tue ich doch immer!”, schallte es in Tajos Helm und er hörte Matteo belustigt auflachen.
     Langsam bog er mit seinem Motorrad in den Parkplatz ein und hielt nach einem geeigneten Plätzchen zum Anhalten Ausschau. Er wollte die Motorräder in ihrer Nähe abstellen, allerdings mit ausreichendem Abstand, sodass sie sich nicht von ihnen bedrängt fühlte. Von Verfolgern hatte sie für diesen Tag bestimmt genug und deshalb hielt er in einer Entfernung von ungefähr zehn Metern links neben ihr an.
     Während er und sein Bruder gemächlich von ihren Maschinen abstiegen und ihre Helme an die rechten Spiegel hängten, hatte Alea bereits ihren Helm auf der Sitzbank deponiert und ihre Handschuhe ausgezogen. Inzwischen stand sie mit dem Rücken zu den Brüdern und er musterte ihren langen goldblonden Zopf mit neugierigen Blicken.
     Langsam näherten sie sich ihr von hinten an, Matteo zu ihm etwas seitlich nach hinten versetzt. Schnell erkannte Tajo, dass sein Bruder ihm den Vortritt überließ, während sie beim Näherkommen ein leises energisches Schimpfen von Alea vernahmen. Anscheinend war da jemand noch stinksauer.
     Im selben Moment drehte sie sich zu den Brüdern um und vor Wut schleuderten ihre Augen Blitze in ihre Richtung. Tajos Herz machte einen gewaltigen Satz. Auf diesen Anblick war er nicht vorbereitet. Als sie den Auftrag übernahmen, hatten sie nur eine kurze mündliche Beschreibung von Alea erhalten und kein Foto von ihr gesehen.
     Wie sie in diesem Moment zornig und mit bebenden Lippen vor ihm stand, wusste er, dass sie die schönste Frau war, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Ein wunderschönes Gesicht wie ein Engel, umrahmt von seidigen goldblonden Haaren mit leicht getönter zarter Haut, rosigen Wangen und halbgeöffneten, verführerisch sinnlichen Lippen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie mit einem ungläubigen Ausdruck voller Verblüffung an. Er schluckte mühsam – darauf war er wirklich nicht vorbereitet.
     Vor ihm stand eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter, nur die Augenfarbe stimmte nicht. Ihre Mutter hatte hellblaue Augen. Im Gegensatz hierzu leuchteten ihre in einem intensiven Türkis und funkelten ihn gerade wütend an. „Wie wird wohl ihre Mutter auf sie reagieren, wenn sie sie vor sich stehen sieht?“, schoss es ihm durch den Kopf.

Endlich erreichte Alea den Parkplatz, an dem sie eine kurze Rast einlegen wollte, um wieder zur Ruhe zu kommen. Sie spürte, dass ihr Herzschlag nicht mehr raste, aber so richtig normal schlug er noch immer nicht.
     Absichtlich hatte sie einen Platz ausgesucht, auf dem bereits mehrere Autos parkten und den auch Fußgänger eifrig nutzten. Im Moment wollte sie nicht allein auf einem einsam gelegenen Schotterplatz verweilen. Etwas Geschäftigkeit um sie herum kam ihr im Augenblick gerade recht und dass sie die einzige Motorradfahrerin auf dem Parkplatz war, war ihr gleichgültig.
     Kaum hatte sie an ihrem Motorrad den Seitenständern zum Abstellen ausgeklappt, entdeckte sie aus den Augenwinkeln, dass die beiden schwarz-gelb gekleideten Fahrer ebenfalls in den Parkplatz einfuhren und in einiger Entfernung zu ihr abstiegen.
     „Verfolgen die mich jetzt auch noch“, spukte es ihr durch den Kopf. Falls ja, dann würde sie es denen schon zeigen. Wütend stieg sie von ihrem Motorrad und streifte ihre Lederhandschuhe ab. Kampflustig zog sie ihren Helm über den Kopf und schimpfte leise vor sich hin. Nachdem sie ihren Helm auf ihrer Sitzbank abgelegt hatte, drehte sie sich zu den beiden Motorradfahrern um und funkelte sie wütend an.
     Sie sah, wie beide Fahrer direkt auf sie zusteuerten und machte gerade den Mund auf, um sie wenig damenhaft anzufauchen. In dem Moment hörte sie eine wohlklingende dunkle Stimme, die ihr eine Frage stellte und bei der ihr ein angenehmer Schauer über den Rücken lief.
     „Geht es dir gut?”, fragte sie der Größere, der ihr zwischenzeitlich direkt gegenüberstand. Ungläubig schaute er aus großen Augen auf sie herab, in denen sie Verblüffung aufblitzen sah.
     „Ist alles in Ordnung mit dir?”
     Sein besorgter Tonfall fiel ihr sofort auf und nahm ihr den Wind aus den Segeln. Ihre aufgestaute Wut fiel wie ein Häufchen Asche in sich zusammen und sie betrachtete ihn aus ihren neugierigen, türkisfarbenen Augen genauer.
     Was sie nun sah, verschlug ihr den Atem. In ihrem Gehirn herrschte kurzfristig eine Leere, bis es sich wieder bequemte zu arbeiten. Vor ihr stand ein männliches Prachtexemplar, das anscheinend nur aus Muskeln zu bestehen schien und in einer hautengen Lederkombi steckte. Bei der Betonung seiner Muskelpartien kam sie zu dem Schluss, dass seine Kleidung maßgeschneidert sein musste.
     Breite muskelbepackte Schultern, flacher Bauch, schmale Hüften, muskulöse Oberschenkel, nahezu eins neunzig groß – aus welchem Katalog war dieser Typ denn entsprungen, rätselte sie einen Moment lang. Durch ihre gerade erst durchgestandene Aufregung war sie scheinbar etwas sehr empfänglich für die Reize der „Landschaft“, sinnierte sie vor sich hin.
     Dann machte sie einen Fehler. Sie hob ihr Gesicht und schaute ihm direkt in die Augen. Ein kurzes Schwindelgefühl erfasste sie und nahm ihr vorübergehend die klare Sicht. Als sich der Nebel verzog, stellte sie fest, dass sie gerade mit leicht geöffnetem Mund in ein äußerst männliches Gesicht starrte.
     Seine pechschwarzen dichten Haare waren kurz geschnitten und sahen am Oberkopf leicht verwuschelt aus, da er sich in dieser Sekunde mit der linken Hand durch die Haare fuhr. Zuerst starrte sie auf sein markantes Kinn mit dem kleinen Grübchen, bevor sie in die blauesten Augen blickte, die sie je gesehen hatte – ein tiefes leuchtendes Azurblau, umrahmt von einem dichten Kranz langer Wimpern.
     Als ob das nicht schon genug wäre, stand direkt neben diesem dunklen Adonis eine jüngere, minimal kleinere, schmächtigere Ausgabe in hellem Blond mit den gleichen auffälligen Augen. Der Ähnlichkeit nach zu urteilen, musste es sich um Brüder handeln. Zumindest kam sie zu dem Schluss. Ach ja, und schmächtig war vielleicht nicht der richtige Ausdruck bei diesen prächtigen Muskelpaketen.
     Der Dunkelhaarige hatte sich mit ernster und leicht grimmiger Miene vor ihr aufgebaut und blickte ungeduldig auf sie herab, da sie auf seine Fragen noch nicht reagierte. Dagegen strahlte die blonde „Beinahe-Kopie“ neben ihm sie mit einem äußerst charmanten Lächeln an. Widerwillig riss sie sich von diesem faszinierenden Gesicht mit der bronzefarbenen Haut los und stammelte verlegen: „Mir geht es … gut. Danke.”
     Nach einem nochmaligen besorgten Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen in Aleas angespanntes Gesicht fügte er schroff hinzu: „Ich bin Tajo und das ist mein Bruder Matteo.”
     Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, ärgerte er sich über seinen barschen Tonfall, der auch seinem Bruder nicht verborgen blieb. Das hatte er nicht beabsichtigt. Matteo hingegen intensivierte sein Strahlen und vollführte vor Alea eine leichte Verbeugung – ganz Gentleman.
     „Mein Bruder ist der Griesgram in unserer Familie…”, setzte er an und wurde sofort von Tajo unterbrochen.
     „… und Matteo ist unser Charmebolzen”, beendete Tajo den angefangenen Satz mit einem freundlicheren Tonfall in der Stimme.
     Aufmerksam beobachtete sie die Brüder und ihr entging nicht die liebevolle Geste, mit der der jüngere Bruder dem älteren gutmütig auf die Schulter klopfte, um seine Worte zu entschärfen. Obwohl sich die beiden sehr ähnelten, fühlte sie sich dennoch von dem dunkleren, ernsteren Bruder sofort angezogen und konnte den Blick nicht von seinen faszinierenden Augen abwenden.
     Was war denn das für ein doppeltes Lottchen, das da vor ihr stand und sie besorgt musterte? Das waren die attraktivsten Männer, die sie je gesehen hatte. Da konnte nicht mal ihr „Möchte-gern-Italiener“ namens Lukas mithalten – und der war auch schon nicht von schlechten Eltern. Oh ja, bei diesem Anblick wirbelten ihre Gedanken ganz schön durcheinander und sie bemerkte erst jetzt, dass sie die Luft anhielt.
     Plötzlich fiel Tajo auf, dass er sie die ganze Zeit unhöflich anstarrte und sich sein Blick nicht von ihren Augen losreißen konnte. In seinem Magen spürte er ein undefinierbares Kribbeln aufsteigen, während er ihrer weichen Stimme nachlauschte. Viel hatte sie ja noch nicht gesagt, aber die wenigen Worte reichten aus, um seinen Herzschlag zu beschleunigen. „Irgendetwas hat sie an sich…“, sinnierte er gedankenverloren vor sich hin und begab sich innerlich auf sehr gefährliches Terrain.
     Auf einen Schlag fiel Alea ein, dass sie sich den beiden Schönlingen noch gar nicht vorgestellt hatte, was sie ein klein wenig verlegen machte.
     „Ich heiße Alea”, antwortete sie nervös und blinzelte kurz mit den Augen, um sich von dem anziehenden Gesicht loszureißen.
     „Geht es dir wirklich gut und bist du unverletzt?”, fragte Matteo sie mit samtweicher Stimme nochmals eindringlich, denn er wollte ganz sicher gehen.
     In diesem Augenblick fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass sie ihren selbstlosen Rettern gegenüberstand und keinen weiteren Bösewichten. Ohne deren heldenhafte Einmischung würde sie vermutlich im Graben liegen oder noch Schlimmeres.
     „Ja, es ist alles in Ordnung und ich danke euch vielmals für eure Hilfe”, antwortete sie mit einem leichtern Zittern in der Stimme. „Ich weiß nicht, was das für zwei Irre waren und was die von mir wollten.”
     Das leise Beben in ihrer Stimme war Tajo nicht entgangen. Deutlich verspürte er das plötzliche Verlangen in sich aufsteigen, sie in seine Arme zu ziehen und sie zu beschützen. Kaum dass er es bemerkte, schimpfte er stumm mit sich selbst und seinem Beschützerinstinkt, der sich ihm noch nie mit einer derartigen Wucht aufgedrängt hatte.
     Noch immer starrte er sie wortlos an und musterte hingebungsvoll jede Einzelheit ihres makellosen Gesichts, bis er einen heftigen Stoß in seinen Rippen verspürte. Matteo, der Tajos Faszination und Sprachlosigkeit erkannte, hatte ihm einen unsanften Rempler in die Seite verpasst, um seinen abgelenkten Verstand wieder zu wecken.
     „Du fährst aber einen ganz heißen Reifen”, stellte Matteo bewundernd fest und meinte damit zweifellos ihren flotten Fahrstil.
     „Oh, gelegentlich bin ich schon etwas…, na ja, sagen wir mal zügig unterwegs. Allerdings so schnell wie heute war ich noch nie. Ich bin aber auch noch nie verfolgt worden und dann hätte dieser unverschämte Kerl auch noch beinahe seine Pfoten an meinen Lenker gelegt”, plapperte Alea noch immer leicht aufgeregt drauflos.
     „Jetzt ist ja Gott sei Dank alles vorbei und du bist in Sicherheit.” Mit einschmeichelnder Stimme versuchte Matteo, sie weiter zu beruhigen und seine Bemühungen zeigten Wirkung. Er gewann den Eindruck, dass sich ihre Atmung beruhigte und auch ihr Gesichtsausdruck sich allmählich entspannte.
     „Ist das eine Airbag-Weste, die du da trägst?”, fragte er neugierig und deutete mit der Hand auf ihren Oberkörper.
     „Ja, ja, das ist eine. Ich hoffe allerdings, dass ich sie niemals in meinem Leben brauchen werde”, antwortete sie sofort. „Sie hat jedoch den Vorteil, dass ich schon von Weitem durch die auffällige gelbe Farbe gesehen werde, obwohl ich kein so großer Fahrer bin”.
     „Diese Ecke ist wirklich sehr schön und idyllisch. Vor allem der See besitzt eine magische Anziehungskraft.“ Endlich hatte sich auch Tajo soweit unter Kontrolle gebracht, dass er des Redens und der höflichen Konversation wieder mächtig war. In diesem Zustand konnte er sich an dem Gespräch beteiligen.
     „Fährst du hier häufiger entlang und wohnst du in der Gegend?“, fragte er Alea interessiert.
     „Ja, ich wohne nicht weit von hier und das ist sozusagen meine Hausstrecke und eine meiner Lieblingsecken.“ Kurz blinzelte sie in die Sonne.
     „Wo kommt ihr denn her? Seid ihr auch aus der Nähe?“ Diese Frage richtete sie dieses Mal direkt an Tajo.
     „Wir sind … äh … nicht aus der Gegend“, korrigierte er sich rasch, nachdem ihm bereits die Wahrheit auf der Zunge lag.
     „Gehst du morgen auch wieder Motorrad fahren?“
     „Nein, morgen werde ich es in der Garage stehen lassen. Ich habe vor, radeln zu gehen. Die Bewegung wird mir nach dem heutigen Abenteuer guttun“, antwortete sie mit einem angedeuteten Lächeln.
     „Hast du da auch eine Lieblingsstrecke?“, versuchte Matteo, sie ein wenig auszuhorchen.
     „Ja, in der Nähe meiner Wohnung ist ein kleiner Park mit einem sehr hübschen Teich. Dort werde ich mich morgen mal austoben.“
     Innerlich jubelte Matteo, denn nun wussten sie, wo Alea am nächsten Tag zu finden war und konnten ihr leicht folgen. Dann brauchten sie sich nur noch zwei Fahrräder und passende Sportklamotten organisieren.
     Tajos sehnlicher Wunsch, sie nach diesem Überfall sofort in Sicherheit zu bringen, war übermächtig in ihm. Allerdings war ihm auch klar, dass sie zu diesem Zeitpunkt niemals mit ihnen gehen würde. Sie kannten sich so gut wie gar nicht – ein schwieriges Unterfangen. Also blieb ihnen im Moment nichts anderes übrig, als unauffällig in ihrer Nähe zu bleiben. „Dann gehen wir halt Fahrrad fahren“, dachte er sich leicht verdrießlich.
     „Wir wollen dich nicht länger aufhalten, Alea. Wir wünschen dir noch eine gute Fahrt und morgen viel Spaß beim Radeln.”
     Mit diesen Worten packte Matteo seinen großen Bruder und zog ihn in Richtung ihrer wartenden Motorräder davon. Amüsiert über dessen völlig unübliches Verhalten schenkte er ihm nur ein breites süffisantes Lächeln und setzte schnell seinen Helm auf.
     Nachdem sich beide fahrbereit gemacht und die Motoren gestartet hatten, rollten sie mit ihren schweren Maschinen über den Parkplatz davon. Geschickt fädelten sie sich in den zwischenzeitlich stärker gewordenen Verkehr ein.
     Gedankenverloren starrte sie ihren Rettern noch eine Weile hinterher. Der Blick aus diesen azurblauen Augen ließ sie nicht los und sie sah diese noch immer vor sich. Sie ahnte nicht, dass es Tajo ebenso erging, den strahlend türkisfarbene Augen hartnäckig verfolgten – da half auch kein Kopfschütteln unter seinem Helm.
     Nachdem auch sie ihren Helm aufgesetzt und die Handschuhe angezogen hatte, startete sie den Motor und ließ das Bergpanorama zügig hinter sich. Den ganzen Abend, den sie in ihrer Lieblingsecke auf der Terrasse verbrachte, verfolgten Alea azurblaue Augen – nicht nur, wenn sie die Augen schloss.


Nach einer weiteren unruhigen Nacht, in der sie von blauen Augen träumte, sprang Alea voller Tatendrang aus dem Bett. Ein milder Regenschauer war in den vergangenen Stunden niedergegangen und die Luft roch frisch und kühl. Ja, sie freute sich auf das Radfahren und warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne schien und ein paar helle Wolken zogen wie riesige Wattebäusche am blassblauen Himmel ihre Bahn.
     An diesem Tag brauchte sie Bewegung, um den Kopf wieder freizubekommen. Auch am Abend davor war sie von den Geschehnissen noch derart aufgewühlt gewesen, sodass sie mit niemanden darüber sprechen wollte – auch nicht mit ihren Freundinnen. Nachdem sie nun eine Nacht darüber geschlafen hatte, fühlte sie sich wieder wohler und ihr Körper verlangte nach etwas Anstrengung.
     Nach einem kurzen Frühstück mit einem Stück Marmorkuchen und einer Tasse Milchkaffee schlüpfte sie in ihre schwarzen Radlerhosen und in ein kurzärmliges gelbes Sportshirt. Ihre goldblonden Haare band sie kurzerhand locker mit einem schmalen Haargummi im Nacken zusammen, bevor sie den weißen Fahrradhelm aufsetzte. Im Flur warteten bereits ihre weißen Sportschuhe und ihre verspiegelte Sonnenbrille auf sie. Es konnte losgehen.
     Mit großen federnden Schritten verließ sie ihre Wohnung und öffnete das Garagentor. Dieses Mal mussten Auto und Motorrad in der Garage bleiben und ihr weißes Fahrrad erhielt den Vorzug.
     Beim Kauf hatte sie sich für ein Trekkingrad entschieden, da ihr dieses für ihre Zwecke als am besten geeignet erschien und mit einem Korb über dem Hinterrad ausgestattet war. Ab und zu fuhr sie mit dem Rad zum Einkaufen und konnte anschließend bequem ihre Einkäufe im Korb nach Hause transportieren.
     Zügig stieg sie auf und trat energisch in die Pedale. Die Bewegung tat ihren Muskeln gut und sie genoss das gleichmäßige Treten. Ab und zu schnupperte sie dem Geruch von frisch geschnittenem feuchtem Gras hinterher. Ihr Weg führte sie an den Nachbarhäusern vorbei in den eine Querstraße entfernt liegenden Park.
     Viele asphaltierte Wege zogen sich wie lebendige Adern durch diese ausgedehnte Grünfläche und waren sehr häufig mit verschieden hohen Sträuchern und Bäumen eingesäumt. Es war das ideale Terrain, um sich bewegungstechnisch auszutoben und die Seele wieder Kraft tanken zu lassen.
     Mittendrin im Herzen des Parks lag ein runder Teich mit zahlreichen Enten und Fischen. Die am Ufer aufgestellten grünen Holzbänke luden zum Verweilen ein. Jedes Mal zog es sie unwiderstehlich zu dem in der Sonne glitzernden Teich hin, um dem energischen Geschnatter der Enten zu lauschen. Dieses idyllische Fleckchen Erde übte eine magische Anziehungskraft auf sie aus und an dessen Ufer konnte sie ihre Seele baumeln lassen. Genau das brauchte sie an diesem Tag.
     Während sie mit ihren schlanken Beinen gleichmäßig die Pedale bewegte, lauschte sie dem aufgeregten Vogelgezwitscher in ihrer Umgebung. Gelegentlich hörte sie ein zufriedenes Lachen von anderen Parkbesuchern, die ebenfalls das warme Wetter zu einem Spaziergang oder Ausflug nutzten.
     Genussvoll sog sie den Duft von Rosen und blühenden Sträuchern in ihre Nase. Allmählich spürte sie, wie sie nach dem Abenteuer am Vortag innerlich zur Ruhe kam und Abstand davon gewann. Wie dünne Nebelschwaden verblassten die Schrecken langsam und stetig.
     Ihr sehnsüchtiger Blick schweifte in die Ferne, denn sie konnte bereits das Glitzern des blau-grünen Wassers erkennen. Es war nicht mehr weit bis zu ihrem Ziel. In Gedanken sah sie sich schon am Uferrand stehen und kleine flache Steinchen über die Wasseroberfläche werfen. Diese Vorstellung zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen und sie genoss den leichten Fahrtwind auf ihren erhitzten Wangen.
     Plötzlich stoppte sie. Einfach so. Sie hielt einfach an. Als ob sie gegen eine unsichtbare Wand gefahren wäre, ohne dabei umzufallen. Alea fühlte sich, als ob ein geheimnisvoller Magier die Zeit anhielt. Bewegungslos saß sie auf ihrem Fahrrad und blieb lautlos in der Luft stehen – für den Bruchteil einer Sekunde.
     Schlagartig wich ihr die Luft aus den Lungen, als sich zwei kräftige Arme wie Schraubstöcke um ihren Brustkorb legten und sie grob vom Rad zerrten. Kaum spürte sie den Boden unter den Füßen, legte sich schon eine schwielige Hand brutal auf ihren Mund, um sie am Schreien zu hindern.
     Ihr Herzschlag raste und ihr Gehirn setzte einen kurzen Moment vor Panik aus. Erst nach ein paar Schrecksekunden nahm sie wieder etwas von ihrer Umgebung wahr. Wie gebannt starrte sie in zwei gefährlich funkelnde Augenpaare.
     Zwei Männer hatten sie überfallen. Ein Schlägertyp war unbemerkt hinter ihr aus dem Gebüsch gesprungen und hatte ihr Fahrrad am Korb gepackt, um es anzuhalten. Das erklärte ihren kurzfristigen und sonderbaren Schwebezustand auf dem Rad.
     Ein zweiter Angreifer hatte sie vom Rad gerissen. Voller Entsetzen weiteten sich ihre Augen, als sie den blonden Mann mit dem Bürstenhaarschnitt erkannte. Sie hatte ihn kurz auf dem Friedhof gesehen. „Oh mein Gott, er hat mich beobachtet und vermutlich ausspioniert“, wurde es ihr in diesem Moment schlagartig klar.
     „Hallo, meine Süße, schon lange nicht mehr gesehen.“ Sein breites und brutales Grinsen sprach Bände. Sichtlich genoss er ihre Panik, die ihr nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Haut erbleichte immer mehr.
     Von einer Sekunde auf die andere setzte ihr Fluchtinstinkt ein. Verzweifelt wand sie sich unter dem harten Griff und versuchte, sich energisch freizukämpfen. Zwecklos – gegen diese Bärenkräfte hatte sie keine Chance.
     „Nun sei doch nicht so widerspenstig, meine Süße. Ich mag zwar temperamentvolle Frauen, aber im Moment sollten wir schauen, dass wir schnell von hier verschwinden“, zischte er ganz nah an ihrem Ohr.
     „Lassen Sie mich los“, japste Alea unter der sich lockernden Hand auf ihrem Mund und keuchte nach Luft. „Was wollen Sie von mir?“ Sie kam nicht mehr dazu, laut um Hilfe zu rufen.
     Im nächsten Moment spürte sie, wie sich die Hand vollständig von ihrem Mund löste und jemand sie beherzt aus der Umklammerung des blonden Angreifers riss. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte sie verwirrt das Geschehen.
     Mit gezielten Handschlägen und Fußtritten versuchten Tajo und Matteo, die beiden Angreifer außer Gefecht zu setzen. „Wow, können die gut kämpfen“, stellte sie anerkennend fest. Mit geschmeidigen Bewegungen, die an zwei Raubtiere auf Beutezug erinnerten, schlugen ihre beiden Retter vom Vortag die Angreifer nach wenigen Minuten in die Flucht. Die gaben nun ordentlich Fersengeld und waren blitzschnell im Gebüsch verschwunden.
     Ihre erneuten Retter wandten sich nun ihr zu und musterten sie aufmerksam von Kopf bis Fuß. Ihre forschenden Augen versuchten, Verletzungen zu entdecken, um die sie sich eventuell sofort kümmern mussten.
     Wieder richtete Tajo als Erster die Frage an sie: „Ist alles in Ordnung bei dir, bist du verletzt?“
     Zu seiner größten Überraschung riss sie sich den Fahrradhelm vom Kopf und pfefferte ihn schwungvoll ins Gras, sodass er unter einem tief herabhängenden Zweig zum Liegen kam. Tief holte sie Luft und eine aufsteigende Zornesröte eroberte ihre Wangen. Sehr zur Überraschung ihrer beiden Helden, die besorgt vor ihr standen und auf eine Antwort warteten.
     „Ihr schon wieder“, blaffte sie Tajo zornig an. Dann hörte er, wie sie losschimpfte.
     „Was ist denn nur los? Was sind denn das für Spinner? Können die sich kein anderes Opfer suchen? Gibt es nur noch Verrückte auf der Welt? Ich habe jetzt aber gründlich die Schnauze voll.“
     Mit dieser heftigen Reaktion hatten ihre Retter nicht gerechnet und mit dem großartigen Anblick, der sich ihnen bot, ebenfalls nicht. In ihrer hautengen Radlerhose und dem anliegenden Shirt blieb von ihrer umwerfenden Figur nichts mehr verborgen. Durch das ungestüme Gerangel mit ihrem Angreifer hatte sich ihr Haargummi gelöst, sodass ihr goldblondes Haar in einer wilden offenen Mähne um ihren Kopf fiel.
     Ihre Augen waren weit aufgerissen und glänzten in der Sonne. Ihr Wangen waren durch den Zorn gerötet und erhitzt. In dieser aufgewühlten und wütenden Verfassung wirkte sie wie eine temperamentvolle Kriegerin kurz vor einem vernichtenden Schlag. Ihren beiden Rettern fielen beim Anblick dieser vor Wut bebenden blonden Schönheit beinahe die Augen aus dem Kopf.
     Jede andere Frau wäre in dieser Situation hysterisch in Tränen ausgebrochen. Aber was machte sie? Sie schimpfte wie ein energischer Rohrspatz und war stinksauer, dachten sich Tajo und Matteo beinahe gleichzeitig.
     Alea war derart wütend, sodass ihr völlig entging, welchen atemberaubenden Anblick ihre beiden Retter in ihrer engen Sportkleidung abgaben. Mit ihrem athletischen Körperbau und ihren harten Muskelpaketen sahen sie wie zu Fleisch gewordene junge Götter aus. Nun ja, in diesem Moment hatte sie keine Antennen für diesen grandiosen Anblick.
     „Jedes Mal, wenn ich mich in höchster Bedrängnis befinde, taucht ihr plötzlich wie aus dem Nichts auf“, fauchte sie mit einem mörderischen Blitzen in den Augen. Wenn Blicke töten könnten, wären die beiden bereits auf der Stelle mausetot umgefallen.
     „Verfolgt ihr mich etwa?“, blaffte sie misstrauisch und ihre funkelnden Augen verengten sich zu Schlitzen.
     Was sollten Tajo und Matteo bloß auf diese Frage antworten, denn in gewisser Weise stimmte ihr Verdacht. Allerdings wollten sie ihr nichts Böses, im Gegenteil, sie waren ihre Beschützer. Das konnten sie ihr in diesem Moment jedoch nicht auf die Nase binden. Stattdessen ignorierten sie die Frage und Matteo hob hilfsbereit ihr Fahrrad auf.
     „Deinem Fahrrad ist nichts geschehen“, erwiderte er und klopfte bestätigend auf den Sattel. Stumm verfolgte sie mit misstrauischer Miene und zusammengekniffenen Augen jede seiner Bewegungen.
     „Na, ich warte noch immer auf eine Antwort. Wenn ihr mich verfolgt, werde ich die Polizei rufen. Mir reicht es jetzt!“
     Wütend funkelte sie mit geballten Fäusten und grimmiger Miene ihre Retter an. Ihre laute Stimme triefte vor Zorn. Nun ja, eine vor Dank dahinschmelzende, gerettete Jungfrau sah wohl anders aus.
     Von ihrem Ausbruch völlig überrumpelt standen die Brüder sprachlos vor ihr und wussten nicht, wie ihnen geschah. Wie gebannte Kaninchen fixierten sie verblüfft ihr wütendes Gegenüber. Nach schier endlosen Minuten fanden sie schließlich ihre Sprache wieder.
     „Äh, … wir wollten dir … nur helfen“, stammelte Tajo und seine Verwirrung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
     Plötzlich fiel ihr ein, dass sie sich noch nicht einmal für das Eingreifen der jungen Männer bedankt hatte. Ihre Manieren meldeten sich erfolgreich zurück.
     „Danke für eure Hilfe“, presste sie mühsam zwischen den Zähnen hervor.
     „Gern geschehen“, erwiderte Matteo und versuchte sich an einem zaghaften Lächeln. Ihre Frage ließ er erneut unbeantwortet.
     „Du sagtest gestern, dass du nicht weit von diesem Park entfernt wohnst. Komm, wir begleiten dich bis zu deiner Straße und bringen dich nach Hause“, schlug Tajo noch immer verwirrt mit missmutiger Miene vor. Erst rettete man die Frau und dann machte sie einen zur Schnecke, maulte er stumm. Seine Miene glich einer schwarzen Gewitterwolke, die kurz vor dem Abregnen stand.
     Nach einem Zögern antwortete sie kurz angebunden: „Einverstanden.“ Ihr fiel spontan kein intelligentes Gegenargument ein und ja, nach Hause wollte sie sofort. Der Teich war für heute gestrichen. Basta.
     Fast gleichzeitig schwangen sich alle drei auf ihre Räder und verließen schweigsam den Park. Wenige Minuten später erreichten sie Aleas Haus, vor dem sie die Fahrräder anhielten und abstiegen.
     „Nochmals danke für eure Hilfe und ich hoffe, dass ich euch so schnell nicht mehr wiedersehen werde“, verabschiedete sie sich wenig freundlich von den noch immer verwirrten Brüdern. „Von Überfällen reicht es mir jetzt.“
     Mit einem stummen Blick verständigten sich ihre Retter darauf, dass es im Moment besser wäre, sie in Ruhe zu lassen und sich schnell aus dem Staub zu machen. Das Kopfwaschen ohne Schampon genügte ihnen für diesen Tag und auf einen Nachschlag konnten sie verzichten. Flink schwangen sie sich auf ihre Räder und stoben mit kräftigen Tritten davon.
     Während sie grübelnd im Haus verschwand, tobten wilde Gedanken durch ihren Kopf. Hatten Tajo und Matteo die Angriffe womöglich sogar selbst inszeniert, nur um als heldenhafte Retter aufzutreten? Sind die beiden nur zufällig vorbeigekommen oder lauerten sie ihr ebenfalls auf?
     Zwei solche Zufälle kurz hintereinander – nein, das konnte nicht sein. Mist, jetzt wussten die beiden auch noch, wo sie wohnte oder war sie einfach nur zu misstrauisch? Wenn die zwei ihr hätten etwas antun wollen, dann wären genügend Gelegenheiten vorhanden gewesen, um was auch immer mit ihr zu tun. In der Tat, das Ganze war in ihren Augen schon sehr merkwürdig.


„Bringt sie mir endlich“, befahl er gefährlich leise. „… und ich warne euch. Wenn ihr sie tötet, dann töte ich euch!“ Je leiser er sprach, umso bedrohlicher wirkte er.
     Sein Sohn Raffael stand mit leicht gesenktem Kopf vor seinem Schreibtisch und starrte ihn stumm an. Innerlich bebte er vor Zorn. Dennoch konnte Doktor Silva in seinem Antlitz die Anzeichen von Angst erkennen, obwohl sich sein Sohn nach Kräften bemühte, ihm mit regloser Miene entgegenzutreten.
     Er kannte seinen Sohn viel zu gut, als dass ihm die winzigen Indizien seiner Furcht verborgen geblieben wären. Es bereitete ihm eine gewisse Genugtuung, wenn er die Angst bei den Menschen spüren, ja schon beinahe riechen konnte und sie hatten in der Tat Furcht vor ihm.
     „Sucht nach dem Anhänger. Er ist genauso wichtig wie das Mädchen und ich will Erfolge sehen“, verlangte er in gebieterischem Tonfall.
     Nur noch mit Mühe gelang es Raffael, seinen aufgestauten Zorn zu unterdrücken und er war bemüht, seiner Stimme einen beherrschten Klang zu geben. Wie eine reglose Statue stand er vor seinem Vater. Er war ein äußerst attraktiver, hellblonder Mann von Ende zwanzig, nach dem sich die Damen in Scharen umdrehten und alles taten, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
     Aus leicht zusammengekniffenen himmelblauen Augen funkelte er seinen Vater wütend an. Dennoch konnte er ein ganz leises Zittern in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken, das seine ängstliche Nervosität verriet.
     „Meine Männer wurden überrascht. Das Mädchen hat bei beiden Entführungsversuchen unerwartet Hilfe bekommen. Noch dazu waren es anscheinend zwei sehr gut ausgebildete Kämpfer“, wagte er vorsichtig einen zögernden Erklärungsversuch.
     „Das interessiert mich nicht. Ich bezahle dich und deine Männer extrem gut, dass ihr mit solchen Ereignissen fertig werdet.“ Mit einer wegwerfenden Handbewegung unterstrich sein Vater seine missbilligenden Worte.
     „Geh jetzt und das nächste Mal will ich bessere Nachrichten hören.“ Sein Sohn wagte es nicht, ein weiteres Mal das Wort an ihn zu richten. Ohne einen Ton drehte er sich um und verließ mit großen ausholenden Schritten den modern eingerichteten Büroraum.
     Hoch oben im glitzernden Turm eines silbernen Wolkenkratzers, von wo aus er die belebten Straßen unter ihm überblicken konnte, starrte Doktor Silva aus den bodentiefen Fenstern. Nachdenklich betrachtete er die gemächlich dahinziehenden Wolken.
     Als er im Fensterglas sein Spiegelbild erblickte, musterte er sich aufmerksam. Ihn blickte ein gut aussehender, sehr gepflegter Mann in mittleren Jahren mit silbergrauen Augen und vollem blondem Haar entgegen.
     Sein maßgeschneiderter Anzug in dunklem Silber, zu der er eine dezent gemusterte Krawatte und ein blütenweißes Hemd trug, unterstrich seinen hellen Teint äußerst vorteilhaft. Mit seinem Aussehen war er sehr zufrieden. Er hatte sich gut gehalten und sein wahres Alter sah ihm niemand an.
     Den Doktortitel verlieh er sich selbst, da er überzeugt war, dass dieser zu ihm passte und ihn schmückte. Für seine Geschäfte, mit denen er nicht offenkundig in Verbindung gebracht werden wollte, hatte er sich den Namen Silva zugelegt. Die skrupellosen Männer, die für ihn in den heiklen Fällen seines Schattenreichs arbeiteten, kannten seine wahre Identität allerdings nicht.
     Sein Sohn leitete sein persönliches und zwanzig Mann starkes Eingreifteam, das in diesem besonders wichtigen Fall schon zwei Mal versagte. Seine gewitzte Tochter unterhielt für ihn ein weit verzweigtes Agentennetzwerk, das Informationen beschaffte, Intrigen spann, gezielt Informationen streute und geschickt auf die Entwicklung von Ereignissen Einfluss nahm. Sie verstand sich hervorragend auf Spionage und Infiltration.
     Mit beiden war er im Moment alles andere als zufrieden. Mit großen Schritten legte er die wenigen Meter zu seinem Schreibtisch zurück, nahm Platz auf seinem bequemen Chefsessel und ließ seinen Blick durch das Büro wandern.
     An der Wand, gegenüber seinem großen massiven Schreibtisch aus schwarzem Ebenholz, flimmerten stumm ein halbes Dutzend Fernsehbildschirme und zeigten ihm die wichtigsten Nachrichtensender der Welt. Mit besonderem Interesse verfolgte er die Börsenkurse und die Meldungen von in der ganzen Welt auftretenden Naturkatastrophen. Er hatte den Anspruch an sich selbst, immer bestens informiert zu sein.
     Das oberste Stockwerk in diesem Turm hatte er sich absichtlich für sein Büro ausgesucht, weil ihm hier die ganze Stadt zu Füßen lag. Außerdem vermittelte ihm diese hohe Lage ein Gefühl von Macht. Manche Stunde verbrachte er damit, aus den hohen Fenstern nach unten zu schauen und die geschäftige Eile der Menschen auf den Straßen zu beobachten. Häufig stand er am Fenster und träumte davon, was er noch alles besitzen wollte.
     Er hungerte förmlich nach Besitz, wobei er eindeutig das Edle und Perfekte bevorzugte, was bereits in seinem Büro unübersehbar zum Ausdruck kam. Alle Wände waren in unschuldigem Weiß gehalten.
     Die wenigen Möbelstücke, bestehend aus einem wuchtigen Schreibtisch und einem ausladenden Hochboard, waren aus schwarzem Ebenholz gefertigt – ebenso wie der Parkettboden. Die eindrucksvolle Sitzgruppe in der Ecke bestand aus dickem, weißem Echtleder und wurde durch einen großen schneeweißen Teppich ergänzt, auf dem ein niedriger Glastisch thronte.
     Größten Wert legte er auf den absoluten staub- und fusselfreien Glanz der Glasplatte. Den Reinigungskräften stand bereits der Angstschweiß auf der Stirn, wenn sie sich dem Tisch bloß näherten. Schon manch einer hatte er wegen winziger Streifen auf dem Glas den Lohn wegen Schlechtleistung kürzen lassen.
     Die einzigen großen Farbtupfer hingen an der Wand. Beim Anblick seiner Sammlung verspürte er maßlosen Stolz. Genussvoll betrachtete er seine Schätze - ein Picasso, ein Monet, ein Ruben, ein van Gogh, ein Dürer. Die meisten Gemälde in seiner Sammlung, die alle über ein Echtheitszertifikat verfügten und Millionen wert waren, hingen jedoch in seinem Privathaus. An seinem Arbeitsplatz begnügte er sich mit ein paar wenigen ausgewählten Stücken.
     An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand war eine große Glasvitrine platziert, die kleine Kostbarkeiten beherbergte. Auf mehreren Ebenen standen wertvolle, handgefertigte Miniaturmodelle von Renn- und Sportwagen aufgereiht, die üppig mit Diamanten und Edelsteinen verziert waren. Darunter befanden sich mehrere Mercedes Silberpfeile, rote Ferrari, Bugatti und Porsche.
     Wenn die langen Strahlen der Sonne die Glasvitrine erreichten, blitzten und funkelten diese Miniaturausgaben wie eine Ansammlung der kostbarsten Juwelen. Jedes Mal genoss er dieses Schauspiel und bewunderte die Präzision der kleinen Kunstwerke. Auch diese Vitrine trieb mancher Reinigungskraft die Tränen in die Augen – er war ein Perfektionist und forderte von allen Personen in seiner Umgebung das höchste Maß an Perfektion.
     Seine bevorzugten Farben waren Schwarz und Weiß, die in seinem Büro und in seinem privaten Wohnsitz dominierten. Sogar sein Denken wurde von diesen beiden Farben beherrscht. Für ihn gab es nur Freund oder Feind, für ihn oder gegen ihn. Ausnahmen machte er hier keine und setzte sich erbarmungslos durch. Für ihn existierten keine Grautöne und Kompromisse waren in seinen Augen nur etwas für Schwächlinge. Gewinnen oder verlieren und er stand eindeutig auf der Gewinnerseite.
     Seine zahlreichen Unternehmen liefen ausgesprochen gut. Sein Imperium hatte er sich aus mehreren großen Firmen in verschiedenen Wirtschaftszweigen aufgebaut und regierte es mit eiserner Hand. Ein Versagen duldete er nicht und vor allem, er verzieh nie.
     Inzwischen war er ein sehr reicher Mann geworden, der Maßanzüge trug und sich neben seiner angetrauten Ehefrau mindestens eine junge Gespielin hielt, die regelmäßig erneuert wurde. Von den häufig auftretenden Naturkatastrophen profitierte sein Firmenkonglomerat gewaltig. Wenn es nach ihm ging, könnte es jeden Tag eine Katastrophe irgendwo auf der Welt geben.
     Von Geld und Macht konnte er nicht genug bekommen und Menschenleben bedeuteten ihm nicht das Geringste. Seine persönliche Philosophie lautete: Wozu Skrupel haben, wenn es sich ohne sie viel leichter und deutlich angenehmer leben ließ.
     An der Tür klopfte es und sein Assistent trat vorsichtig ein. Auch er hatte Angst vor seinem Chef und dessen erbarmungslosem Verhalten. Er war ein Mann mittleren Alters mit schütterem braunem Haar und einer randlosen Brille.
     Sein monatliches Gehalt empfand er an einer Vielzahl von Tagen als Schmerzensgeld, allerdings war es hinsichtlich der Höhe nicht zu verachten. Woanders würde er in derselben Position nicht halb so viel Geld verdienen. Alles hatte seinen Preis, dachte er sich zerknirscht, als er ängstlich den unzufriedenen Gesichtsausdruck seines Chefs erblickte.
     „Gibt es schlechte Neuigkeiten?“, fragte er in einem leisen Tonfall, in dem ein schwaches Zittern mitklang.
     „Diese Schwachköpfe sind unfähig, einer jungen Frau habhaft zu werden“, knurrte sein Chef verärgert. „Man könnte gar meinen, dass sie sich absichtlich so dumm anstellen, wenn ich es nicht besser wüsste.“
     „Nach dem Verlassen Ihres Büros hat ihr Sohn einen detaillierten Bericht über die letzten Aktionen bei mir hinterlassen. Darf ich Ihnen die Mappe bringen?“, fragte sein Assistent unterwürfig.
     „Ja, dann kann ich das Versagen auch noch schwarz auf weiß nachlesen und mich noch mehr über deren Unfähigkeit ärgern. Allerdings interessieren mich die Einzelheiten zu den Vorkommnissen schon sehr“, fügte Doktor Silva in einem herrischen Ton an. Zwei Minuten später lag der Bericht auf seinem Schreibtisch.
     „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee bringen?“, versuchte es sein Assistent zögernd, da er die schlechte Laune des Hausherrn nur zu deutlich erkannte. Schnellstens wollte er aus der Schusslinie verschwinden, um nicht selbst als Ziel herhalten zu müssen. Lieber war es ihm, wenn der Ärger sich über einem anderen Haupt zusammenbraute und sich nicht über seinem eigenen Kopf entlud.
     „Ja, bringen Sie mir bitte eine Tasse mit wenig Milch und Zucker – heute mal nicht ganz schwarz“, antwortete ihm Doktor Silva gnädig.
     Geräuschlos verließ er das Büro und erschien wenige Minuten später mit einer Tasse Kaffee, auf dessen Unterteller er noch einen Schokokeks platziert hatte. Er wusste, dass sein Chef in schlechter Stimmung ganz gerne etwas Süßes zu sich nahm.
     Kaum hatte er die Tasse auf dem Schreibtisch abgestellt, flüchtete er förmlich aus dem Raum, um ja nicht in das bevorstehende Gewitter zu geraten. Die Tür hatte er noch nicht ganz hinter sich geschlossen, als er schon das Klirren von Glas auf dem Parkettboden hörte. „Schade um die schöne Vase. Das Beseitigen der Scherben kann noch ein paar Minuten warten“, murmelte er vor sich hin und flüchtete schnell an seinen Arbeitsplatz.
     Vor Zorn und um seinem Unmut Luft zu machen, musste Doktor Silva unbedingt irgendetwas zerstören. Da er im Moment aus Ermangelung eines geeigneten Opfers keinem Menschen Schmerzen zufügen konnte, blieben nur noch Teile der Raumdekoration übrig. Um alles in der Welt wollte er diese junge Frau und deren Anhänger in seinen Besitz bringen – die Beschaffung konnte doch nicht so schwierig sein.


Am Tag nach dem Überfall beim Radfahren plagten Alea den ganzen Tag schwere Schuldgefühle. Im Laufe des Tages war sie sehr unkonzentriert bei der Arbeit. Ihre Gedanken kreisten ständig um die beiden Vorfälle vom vergangenen Wochenende und um ihr eigenes impulsives Verhalten.
     Nach reiflicher Überlegung und dem Abwägen aller Pro- und Contra-Argumente war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie ihren Rettern am vorherigen Tag Unrecht getan hatte. Nein, die beiden wollten ihr garantiert nichts Böses, sondern sie hatten ihr zweimal aus sehr gefährlichen Situationen geholfen. War sie dankbar dafür gewesen? Nein.
     Noch immer trieb es ihr die Schamesröte ins Gesicht, wenn sie nur daran dachte, wie sie die Brüder nach ihrer Rettungsaktion angeblafft hatte. Nicht sehr freundlich und schon gar nicht dankbar, bewertete sie ihr eigenes Verhalten. Peinlich, peinlich.
     Nachdenklich stand sie in ihrem Wohnzimmer hinter der Terrassentür und betrachtete das Wolkenspiel über ihr. Das Wetter entsprach genau ihrer Stimmung und der Himmel zeigte sich grau in grau. Hellere Wolkenfetzen versuchten vergeblich, dunklere Wolkenbälle anzuschubsen und zu vertreiben. Das Ergebnis war ein bewölkter und windiger Tag – passend zu ihrer inneren Stimmungslage.
     Missmutig nagte sie an ihrer Lippe und kringelte geistesabwesend eine lange Haarsträhne um ihren linken Zeigefinger. Ja, das schlechte Gewissen nagte schon gewaltig an ihr. Wie konnte sie das bloß wiedergutmachen? Geknickt zermarterte sie ihren Kopf, aber ihr fiel im Moment nichts ein.
     Kontakt konnte sie mit ihren Rettern nicht aufnehmen, da sie keine Telefonnummer von ihnen erhalten hatte. Zweimal waren sie ihr selbstlos und unter Einsatz ihres eigenen Lebens zur Seite gestanden. Aus ihrer Sicht verdienten sie eine Entschuldigung.
     Inzwischen tigerte sie unruhig im Raum auf und ab. Krampfhaft überlegte sie, wie sie ihren Fehler wieder ausbügeln konnte. Normalerweise war sie immer ein sehr freundlicher Mensch. Am Vortag allerdings waren ihr nach dem zweiten Angriff innerlich die Sicherungen durchgebrannt. Anders konnte sie sich ihr unüberlegtes Verhalten nicht erklären.
     Für ihr Lieblingsplätzchen im Freien war es an diesem Abend zu kühl und so zog sie sich mit einer Tasse Früchtetee auf ihre Coach ins Wohnzimmer zurück. Ihre Freundin Rebecca hatte ihr nachmittags eine kurze Mail geschrieben und sich für einen abendlichen Kurzbesuch angekündigt.
     Grübelnd saß sie nun auf dem Sofa und schnupperte genüsslich an ihrem Tee, bevor sie in kleinen Schlucken daran nippte. Wohltuend kitzelte dabei das fruchtige Aroma die Geschmacksnerven auf ihrer Zunge.
     In Gedanken wägte sie ab, ob sie ihre Freundin in die Vorfälle vom Wochenende einweihen sollte oder lieber nicht. Rebecca war durch und durch eine Kämpferin und würde bestimmt am liebsten losziehen, um ihre Angreifer höchstpersönlich zu vermöbeln – wenn sie denn wüsste, wo diese zu finden waren.
     Dieser Gedanke entlockte ihr ein zaghaftes Lächeln und über die bildliche Vorstellung einer sich prügelnden Rebecca musste sie schmunzeln. Genüsslich biss sie in einen der Schokokekse, die sie sich auf einem Glasteller zu ihrem Tee bereitgelegt hatte. Süße Schokolade war im Augenblick genau das Richtige und wirkte ein bisschen wie Balsam für ihre unruhige Seele.
     Im Moment genoss sie die entspannende Stille im Raum, in dem kein Geräusch zu hören war. Keine Uhr tickte, aus keinem Radio trällerte Musik und kein Fernseher verkündete Neuigkeiten aus aller Welt.
     Am Abend hatte sie sich umgezogen und war in ihren heiß geliebten Freizeitanzug aus kuschelweichem, taubenblauem Fleecestoff geschlüpft. So konnte sie es nun Kekse knabbernd und Tee trinkend aushalten, bis Rebecca auf der Bildfläche erschien.
     Das plötzliche Klingeln an ihrer Wohnungstür riss sie aus ihren Gedanken und sie warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr. Hm, für ihre Freundin war es noch etwas zu früh. Rebecca kam eher ein paar Minuten später als früher, also konnte sie es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht sein. Wer war es dann, überlegte Alea nun etwas beunruhigt und misstrauisch. Die beiden Überfälle hatten anscheinend doch ihre Spuren hinterlassen.
     Zögerlich erhob sie sich vom Sofa und tapste nur mit Socken an den Füßen zur Tür. Nach dem Betätigen der Freisprecheinrichtung fragte sie unsicher in das Mikrofon: „Wer ist da?“
     Nach einem kurzen Zögern hörte sie eine bekannte dunkle Stimme an ihr Ohr dringen. „Wir sind es, Tajo und Matteo. Wir bringen dir deinen Fahrradhelm vorbei.“ Nach einem leisen Räuspern ergänzte Tajo: „Du hast ihn gestern abgenommen und ins Gras geworfen.“
     Ihr fiel es sofort wieder ein und sie stellte fest, dass sie in ihrem Zorn tatsächlich vergessen hatte, ihn mitzunehmen. Das bedeutete, dass ihre Retter ihren Helm extra geholt hatten, um ihn ihr zu bringen. Diese Tatsache verringerte ihre massiven Schuldgefühle den beiden gegenüber auch nicht gerade – im Gegenteil.
     „Kommt herein“, antwortete sie über die Sprechanlage. Gleichzeitig drückte sie erleichtert, dass sie ihre spontanen Besucher kannte, den Türöffner. Mit wenigen Schritten standen die Brüder vor ihr und beäugten sie vorsichtig von oben herab. Geradewegs so, als ob sie abwägten, ob sie wieder mit einem unvorhergesehenen Donnerwetter rechnen mussten.
     Verlegen und mit einer zarten Schamesröte im Gesicht bat sie ihre Besucher herein. Mit einer einladenden Handgeste deutete sie in Richtung ihres Wohnzimmers. Die Brüder schritten forsch an ihr vorbei und blieben mitten im Raum abwartend stehen, während sie ihnen dicht auf den Fersen folgte.
     Ihre ausdruckslosen Mienen spiegelten keinerlei Gefühlsregungen wider, nur Aufmerksamkeit, wie geduldige Raubtiere. Ihre Bewegungen waren derart geschmeidig, sodass Alea sofort das Bild von zwei stolzen Panthern vor ihren Augen sah – gefährlich und schön.
     „Setzt euch doch bitte und vielen Dank, dass ihr mir den Helm extra hinterhertragt. Ich habe ihn gestern vor lauter Aufregung vergessen“, erklärte sie mit leicht gesenktem Kopf verlegen und betrachtete den Helm, den Tajo auf dem niedrigen Tisch ablegte.
     Steif hatte er sich in dem einzelnen Sessel niedergelassen und sein Bruder am oberen Ende der Coach, weit entfernt von ihrer Teetasse und ihren Keksen. Erst jetzt konnte sie einen ruhigen Blick auf die jungen Männer werfen. Beide gaben einen atemberaubenden Anblick ab.
     Tajo war mit einer tiefschwarzen Jeans bekleidet, deren Verschluss silberne Metallknöpfe zierten. Sein athletischer Oberkörper steckte in einem körpernah geschnittenen, dünnen, schwarzen Pullover mit Rundhalsausschnitt.
     Durch seine dunklen Haare und der schwarzen Kleidung stach das leuchtende Blau seiner Augen noch stärker hervor. Sehr männlich, sehr sexy, stellte Alea anerkennend fest und befeuchtete mit der Zungenspitze ihre trockenen Lippen.
     Auch dieses Mal war Matteo die blonde Kopie und seine Kleidung bestand aus den gleichen Teilen, nur in einer anderen Farbe – dunkelblau. Deutlich unterschieden sich die attraktiven Brüder jedoch hinsichtlich ihres Gesichtsausdrucks.
     Wie üblich beobachtete Tajo sie mit finsterer Miene und sein jüngerer Bruder mit einem äußerst charmanten, strahlenden Lächeln. „Ach ja, er ist ja der Charmebolzen in der Familie“, fiel es ihr wieder ein und sie musste über diese treffende Formulierung lächeln. Sie passte wahrlich perfekt zu diesem Adonis, so perfekt wie die Bezeichnung „Griesgram“ zu dem Älteren.
     „Geht es dir heute wieder besser?“, erkundigte sich Matteo besorgt und mit einem forschenden Blick nach ihrem Befinden.
     „Ja, eine Nacht darüber schlafen und die Welt sieht wieder anders aus.“ Verlegen strich sie sich mit der Hand durch ihr offenes Haar.
     „Kann ich euch etwas zu trinken anbieten?“, fragte sie ihre unerwarteten Gäste zuvorkommend. „Wasser, Orangensaft, Tee oder Kaffee. Bier habe ich leider nicht im Haus – ich trinke kein Bier“, fügte sie entschuldigend hinzu.
     „Ich hätte gern ein Glas Orangensaft“, kam es prompt von Matteo zurück. Tajo nickte nur zustimmend und signalisierte somit stumm, dass er das gleiche Getränk bevorzugte. „Gesprächig ist der wieder mal nicht“, ging es ihr durch den Kopf.
     Mit den bewundernden Blicken der beiden Männer im Rücken verschwand sie mit anmutig schwingenden Hüften in der Küche, um die Getränke zu holen. Nachdem sie zu ihnen zurückgekehrt war, stellte sie die Gläser auf dem Tisch vor ihren Gästen ab. Mit übereinander geschlagenen Beinen ließ sie sich grazil an ihrer Ecke der Couch nieder.
     Noch immer verlegen und mit gesenktem Blick räusperte sie sich vernehmlich. Innerlich sammelte sie ihren ganzen Mut und setzte zögerlich zum Sprechen an.
     „Ich möchte mich bei euch für mein gestriges Benehmen entschuldigen. Ihr habt mir geholfen und dafür habe ich euch nur angeschnauzt. Es tut mir aufrichtig leid.“
     Vorsichtig hob sie die Augenlider und schaute Matteo an. Absichtlich wich sie Tajos musterndem Blick aus. Zu ihrem Leidwesen musste sie sich eingestehen, dass dieser Mann ihre innere Ruhe gewaltig aus dem Gleichgewicht brachte.
     „Entschuldigung angenommen“, ertönte es mit einem leicht amüsierten Unterton in der Stimme am anderen Ende der Couch. Noch immer musterte Tajo sie stumm von seiner Position aus und saß angespannt im gegenüberstehenden Sessel.
     „Hübsch hast du es hier. Deine Wohnung passt zu dir“, stellte Matteo fest und sah sich dabei neugierig im Raum um.
     Ja, ich mag es hell und freundlich“, erklärte Alea ihm, während sie versuchte, ihre Verlegenheit abzuschütteln. Der musternde Blick von Tajo machte sie unruhig und nervös. In diesem Moment wünschte sie sich, sie besäße dieselbe Ungezwungenheit im Umgang mit Männern wie ihre Freundin Rebecca.
     „Wohnst du allein hier?“, hakte Matteo nach und wollte herausfinden, ob sie schon an einen anderen Mann vergeben war. Als sehr subtil stufte er seine Vorgehensweise nicht ein. Allerdings führte sie schnellstmöglich ans Ziel. Für seinen Bruder wartete er mit großer Spannung auf ihre Antwort.
     „Ja, ich wohne allein hier. Außerdem habe ich keinen Freund und meine Eltern sind vor drei Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen“, fügte sie traurig hinzu und spielte dabei mit dem Henkel ihrer Teetasse.
     „Oh, das tut mir leid“, antwortete Matteo mitfühlend. Über den Tod ihrer Eltern wussten die Brüder bereits Bescheid und er konnte sich sehr wohl vorstellen, wie schwer sie deren Tod getroffen haben musste. Armes Mädchen - sie hatte sein ganzes Mitgefühl.
     Innerlich war er jedoch über die klare Antwort über das Fehlen eines Mannes mit Besitzansprüchen bezüglich ihrer Person sehr zufrieden. Vielleicht hatte sein mürrischer Bruder doch noch Chancen bei dieser wunderschönen Frau.
     Dazu müsste er es jedoch seiner Meinung nach einmal schaffen, seine missmutige Miene abzulegen und ein bisschen mit ihr zu flirten. Vermutlich brauchte er nur etwas Nachhilfe. Gerne würde er sich zur Verfügung stellen und bedachte seinen älteren Bruder mit einem amüsierten Seitenblick.
     „Hast du sonst noch Familienangehörige, die sich um dich kümmern?“ Obwohl er die Antwort bereits wusste, richtete er diese Frage an sie.
     „Nein, ich habe keine Geschwister oder Großeltern“, seufzte sie unglücklich. „Nur Lillys Mutter ist wie eine Ersatzmutter seit dem Tod meiner Eltern für mich geworden“.
     Der fragende Blick von Matteo ließ sie noch ergänzen: „Ich habe zwei sehr enge Freundinnen. Eine davon, Lilly, wird in ein paar Tagen heiraten und ihre Mutter hat mich wie eine eigene Tochter in ihr Herz geschlossen.“
     Nach einem raschen Blick auf ihre halbvolle Teetasse und die leckeren Kekse fragte Matteo: „Hast du heute einen gemütlichen Abend zu Hause eingeplant?“
     „Ja, in ein paar Minuten kommt noch Rebecca vorbei. Sie ist die andere sehr enge Freundin von mir und hat sich für heute zu einem Mädelsabend angekündigt.“
     „Wann kommt sie denn?“, wollte Matteo wissen.
     „Wenn sie pünktlich wäre, schon in fünf Minuten. Allerdings gehe ich davon aus, dass sie wie immer ein bisschen später auftauchen wird.“
     „Oh, da wollen wir allerdings nicht stören.“ Mit einem aufmunternden Blick in Richtung seines Bruders trank er sein Glas leer und stand auf. Dieser tat es ihm gleich und ließ Alea dabei keinen Moment aus den Augen.
     „Wir wollten nur deinen Helm vorbeibringen und das haben wir getan. Außerdem konnten wir uns davon überzeugen, dass es dir gut geht“, erklärte er mit einem charmanten Lächeln.
     „Zudem sind wir ja uneingeladen vor deiner Tür gestanden und wollen schließlich nicht deinen Mädelsabend torpedieren.“ Ein freches und belustigtes Augenzwinkern unterstrich seine offene Aussage.
     „Übrigens, für den Fall der Fälle, dass du nochmals unsere Hilfe benötigen solltest, geben wir dir unsere Visitenkarten mit unseren Telefonnummern.“
     Galant überreichte ihr Matteo zwei schlichte, weiße Karten. Auf jeder stand ein Name mit Telefonnummer, umrahmt von einer blauen Linie, passend zur Augenfarbe ihrer Besitzer. Aufmerksam studierte sie die Namen – Tajo Azuro, Matteo Azuro. Die Namen passten zu den Brüdern.
     „Wir wünschen dir dann noch einen schönen Abend und viel Spaß.“
     „Danke und nochmals Entschuldigung für gestern.“ Höflich begleitete sie ihre Gäste zur Haustür und verabschiedete sich endgültig mit einem gehauchten „Tschüss“ von ihnen. Während sie ihnen hinterherblickte, tauchte plötzlich Rebecca erwartungsvoll vor ihr auf.
     Ungläubig staunend stand sie vor Alea und schnappte hörbar nach Luft. „Wo hast du denn diese beiden heißen Typen aufgegabelt?“, brachte sie mühsam hervor.
     Mit sanftem Druck bugsierte Alea ihre Freundin in ihr Wohnzimmer und weg von der Straße. Diese sank sofort in den freien Sessel und starrte sie mit glänzenden Augen fragend an.
     „Ich war am Samstag Motorrad fahren …“
     „Was? Das lerne ich auch!“ Rebecca hatte sie bereits in einem euphorischen Tonfall unterbrochen.
     „Beim Kampfsport werde ich immer nur mit blauen Flecken auf die Matte geschickt“, kicherte sie vor sich hin.
     Alea wusste genau, dass dem nicht so war. Ihre Freundin war eine sehr gute Kämpferin und die Vertreter des anderen Geschlechts hatten ihre liebe Not, sie zu besiegen – sie war sehr flink und wendig.
     Außerdem war ihr auch bekannt, dass es dort reihenweise gut aussehende Männer gab, die ganz nach dem Geschmack von Rebecca waren – wie Kaffee, heiß und stark. Bei diesem Gedanken musste sie schmunzeln und bedachte ihre Freundin mit einem sehr belustigten Blick.
     Wie immer wirkte die gute Laune von Rebecca ansteckend. Entspannt saß sie in ihrer Ecke des Sofas und amüsierte sich über die begeisterten Kommentare ihrer Freundin.
     „Hast du gesehen, welche Muskelpakete die beiden Jungs am Oberkörper spazieren tragen?“
     „Ja, die konnte sogar nicht einmal ich übersehen, obwohl ich Männer nicht mit dem gleichen fachmännischen Blick taxiere wie du“, erwiderte Alea lachend.
     „Wie die wohl in Badehosen aussehen?“, schwärmte Rebecca mit verzückter Miene und ergänzte in Gedanken - sehr knackig, bestimmt zum Anbeißen.
     „Du kannst sie ja mal fragen, ob sie dir den Gefallen tun und sich vor dir in Badehosen in Pose werfen“, schlug Alea übermütig mit blitzenden Augen vor.
     „Ja, das sollte ich tatsächlich tun. Die beiden machen jedem Boy von den Chippendales mächtig Konkurrenz. Meinst du, ich sollte sie fragen, ob sie auch strippen können?“, träumte ihre Freundin versonnen vor sich hin.
     „Ich denke, es wäre besser, wenn du dir diese Frage verkneifen würdest“, beantwortete Alea ihre Frage und stellte sich dabei die grimmige Miene von Tajo vor.
     Diese Vorstellung brachte sie endgültig lauthals zum Lachen, in das auch ihre Freundin prustend einfiel. „Ja, das ist tatsächlich ein klassischer Fall von Mädelsabend mit Rebecca“, dachte sich Alea und schüttelte sich noch immer vor Lachen.
     „Bei der Ähnlichkeit sind die doch bestimmt Brüder, oder?“, wollte nun Rebecca wissen.
     „Ja, das sind sie und sie heißen Tajo und Matteo“, erzählte Alea und in Gedanken starrte sie in das bronzefarbene Gesicht des Älteren.
     „Hm, die Namen passen zu ihnen“, stellte Rebecca verträumt fest.
     „Weißt du denn, was die machen, um solche Muskelberge und einen solchen Sixpack zu bekommen?“ Jetzt wollte ihre Freundin es aber genau wissen.
     „Nein, das weiß ich nicht und ich habe sie auch nicht danach gefragt.“ Amüsiert lachte Alea und strich sich zerstreut das Haar zurück.
     „Ich hole dir etwas zu trinken. In der Zwischenzeit kannst du dich wieder beruhigen.“ Eifrig erhob sie sich und holte aus der Küche zwei Gläser und eine Flasche Orangensaft.
     Nachdem sie beide Gläser gefüllt und sich wieder auf ihre Couch gekuschelt hatte, startete sie einen erneuten Anlauf, um zu erzählen, unter welchen Umständen sie Tajo und Matteo kennengelernt hatte.
     „Also, du wolltest wissen, wie und wo ich die Bekanntschaft von den beiden Jungs gemacht habe. Na, dann mach dich mal auf etwas gefasst. Gut, dass du bereits sitzt“, startete Alea ihren zweiten Versuch, ihre turbulenten Erlebnisse vom Wochenende zu schildern.
     Mit höchster Aufmerksamkeit lauschte Rebecca ihren Ausführungen. Bereits bei der Schilderung der Erlebnisse beim Motorradfahren verfinsterte sich ihre Miene zusehends und jeglicher Übermut war aus ihren Gesichtszügen gewichen. Als Alea vom Überfall beim Radfahren berichtete, sprang sie unvermittelt auf. Mit großen Schritten und mit zur Faust geballten Händen tigerte sie erregt im Wohnzimmer auf und ab.
     „Wo sind die Kerle? Die vermöble ich höchstpersönlich!“ Mit einem Aufschrei der Wut war Rebeccas innere Ruhe dahin. Mit großen runden Augen beobachtete Alea den Ausbruch ihrer Freundin von ihrem Platz auf dem Sofa aus und gewährte ihr einige Minuten des stillen Tobens.
     So plötzlich wie Rebecca aufgesprungen war, so schnell ließ sie sich wieder in den Sessel fallen. Erneut starrte sie Alea ungläubig an, allerdings dieses Mal mit grimmiger Miene.
     „Waren das beide Male die gleichen Typen, die dich überfallen haben? Was meinst du?“, fragte Rebecca in einem mörderischen Tonfall. Am liebsten würde sie diesen dreisten Kerlen sofort an die Gurgel gehen.
     „Ich weiß es nicht“, antwortete Alea nachdenklich mit gerunzelter Stirn. „Beim ersten Mal hatten sie Helme auf, sodass ich nichts von ihren Gesichtern erkennen konnte.“ Nochmals spulte sie die Bilder vor ihrem geistigen Auge ab. Ganz in Gedanken versunken wippte sie dabei mit ihrer rechten Fußspitze auf und ab.
     „Der Blonde mit dem Bürstenhaarschnitt hat mich schon letzte Woche bei meinem Besuch auf dem Friedhof ausspioniert. Also denke ich, dass es jedes Mal die gleichen Angreifer waren“, resümierte sie leicht geistesabwesend, wobei ein leises Zittern in ihrer Stimme mitschwang.
     „Hast du die Polizei informiert?“
     „Nein, das habe ich nicht. Meine innere Stimme sagt mir, dass ich damit noch warten oder es sogar ganz lassen sollte. Frage mich nicht nach dem Grund, denn den kann ich dir nicht nennen“, erwiderte Alea ernst. „Du weißt doch, auf mein Gefühl oder nenne es auch Instinkt, kann ich mich immer verlassen“, fügte sie mit fester Stimme hinzu.
     „Und nach dem Überfall beim Radeln hast du deine Retter dann so richtig zur Schnecke gemacht?“, verlangte nun Rebecca mit einem Lachen in der Stimme zu wissen.
     „Äh, ja…“, stotterte Alea mit hochrotem Kopf. „Das ist mir noch heute peinlich und ich hoffe, dass die beiden meine Entschuldigung auch wirklich angenommen haben. Ich war alles andere als nett zu ihnen“, gab sie kleinlaut zu.
     „Du hast gesagt, dass die Jungs richtig gut kämpfen können? Konntest du einen Stil erkennen?“ Rebecca war nun neugierig und hatte sich in ihrem Sessel erwartungsvoll nach vorn gebeugt. Die Kämpferin in ihr war erwacht.
     „Nein, wie sollte ich auch. Ich kenne mich mit Kampfsport doch kein bisschen aus“, stöhnte Alea und rollte mit den Augen.
     „Na ja, auf jeden Fall bin ich den Brüdern sehr dankbar, dass sie dich vor den Bösewichten gerettet haben und dir bis auf den Schock nichts passiert ist.“ Ihre Freundin hatte sich wieder entspannt in ihrem Sessel zurückgelehnt und starrte verträumt vor sich hin.
     „Was denkst du, ist der Blonde noch zu haben? Der Dunkelhaarige scheint ja schon vergeben zu sein.“
     Bei dieser harmlosen Frage verschluckte sich Alea an ihrem Orangensaft. Eilig stellte sie ihr Glas ab. Nach einem kurzen Husten fand sie ihre Sprache wieder.
     „Was? Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie entsetzt. Ihr Herz stolperte heftig beim Gedanken, dass Tajo bereits in festen weiblichen Händen sein könnte.
     „Na ja, ist dir sein Blick nicht aufgefallen?“
     „Welcher Blick denn?“, fragte Alea völlig irritiert und versuchte krampfhaft, sich zu erinnern.
     „Hast du denn nicht seinen Blick gesehen, als ihr euch vor deiner Haustür voneinander verabschiedet habt?“ Vor Erstaunen zog Rebecca eine Augenbraue hoch und musterte Alea aufmerksam. Die schien tatsächlich keine Ahnung zu haben.
     „Nö, was hätte ich denn sehen sollen?“
     „Vor deinem Haus steht eine Straßenlaterne und ich war nur noch wenige Meter entfernt. Also konnte ich euch gut erkennen“, setzte Rebecca zu einer Erklärung an. Forschend betrachtete sie noch immer Aleas Gesicht.
     „Ich habe den Blick des Dunkelhaarigen gesehen, als er dich betrachtet hat. Der hat bereits sein Herz an dich verloren und es scheint mir, dass weder er selbst es weiß noch du es erkannt hast.“
     Bei dieser Aussage tippte sich ihre Freundin mehrmals nachdenklich mit der Fingerspitze gegen ihr Kinn. Beim Blick in Aleas verblüfftes Gesicht breitete sich ein amüsiertes Lächeln auf ihren Zügen aus.
     Vergnügt meinte sie: „Dann müssen wir euch beide bloß noch zusammenbringen.“ Ihr belustigtes Lächeln wurde noch eine Spur breiter und von einem verschwörerischen Augenzwinkern begleitet.
     „Wie kommst du denn nur darauf?“, protestierte Alea halbherzig, obwohl in ihrem Bauch bereits ein Schwarm Schmetterlinge Aufstellung nahm und wild zu flattern begann.
     „Keine Diskussion, dieser Blick war eindeutig. Ich kenne mich da aus“, entschied ihre Freundin energisch.
     „Jetzt müssen wir es nur noch ihm beibringen und dass er mal anfängt, mit dir zu flirten“, grinste nun Rebecca schelmisch in ihre Richtung.
     „Oh nein!“
     „Du hättest es schlimmer treffen können, als diesen dunklen Adonis zu erobern“, stellte ihre Freundin treffend fest. „Den Rest schaffen wir auch noch. Du wirst schon sehen. Dann brauche ich nur noch einen Plan, wie ich den blonden Schnuckel auf mich aufmerksam mache.“
     In Gedanken spielte sie bereits verschiedene Alternativen durch und hatte für einen Moment Alea komplett vergessen. Diese saß leicht in sich zusammengesunken in ihrer Lieblingsecke auf ihrem Sofa und grübelte darüber nach, ob sie die neu gewonnenen Erkenntnisse gut finden sollte oder lieber nicht. Das Ergebnis war klar – ein eindeutiges Unentschieden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739482903
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Urban Fantasy Portalreisen Artefakt Fantasy Liebesroman Geheimnis Fantasy Spannung Fantasy Romance Parallelwelt Romantasy

Autor

  • Lorena Liehmar (Autor:in)

Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann nahe einer Kleinstadt in Bayern. Bevor sie mit dem Schreiben begann, arbeitete sie jahrelang als Managerin bei einem deutschen Großkonzern. Ihr Berufsleben war geprägt von Zahlen, Daten und Fakten. Im Gegensatz hierzu lebt sie beim Schreiben ihre Kreativität aus und entführt die Leser*innen in eine geheimnisvolle Parallelwelt.
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Titel: Türkis ist nicht nur eine Farbe