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Silbern leuchtet nicht nur der Mond

von Lorena Liehmar (Autor:in)
414 Seiten
Reihe: Alterra, Band 2

Zusammenfassung

Nachdem Alea ihr verschollenes Erbstück gefunden und dessen gefährliches Geheimnis gelüftet hat, träumt sie von einem friedlichen Leben in ihrer neuen Heimat, der Parallelwelt Alterra. Doch ein unerwarteter Besuch macht ihre Pläne für ein wohlgeordnetes Leben zunichte. Gemeinsam mit ihrer großen Liebe Tajo und dessen liebenswerten Bruder Matteo macht sie sich auf die Suche nach einem machtvollen Artefakt aus längst vergangenen Zeiten. Ein neuer Verbündeter erweist sich dabei als äußerst hilfreich und entpuppt sich als ein sehr ernst zu nehmender Gegner für ihre Feinde. Ein silbernes Amulett mit einem Kristall und einer sich windenden, goldenen Schlange begleitet sie auf ihrem abenteuerlichen Weg. Der Tod reist mit ihnen und bedroht Alea und ihre Freunde. Wird sie sogar einen geliebten Menschen verlieren? Ihre Feinde schrecken vor nichts zurück und verfolgen ein unheilvolles Ziel. Die gefährliche Jagd nach einem mysteriösen Artefakt zur Vernichtung der Menschheit beginnt. ***** Band 1: Türkis ist nicht nur eine Farbe, Band 2: Silbern leuchtet nicht nur der Mond, Band 3: Blau schimmert nicht nur ein Saphir

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Silbern
leuchtet nicht
nur der Mond

Lorena Liehmar

Hoffnung und Fantasie bringen uns zum Träumen.

IMPRESSUM

Band 2

Dies ist eine fiktive und frei erfundene Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Texte Copyright © 2021 Lorena Liehmar, Liehmar@web.de
Lektorat Gislea Breiter, Korrektorat Liara Ramheil
Bildmaterialien Copyright © 2021 Lorena Liehmar, erstellt durch Ximo Matou

Alle Rechte vorbehalten.

PROLOG

„Nein, er ist dein Bruder!“ Aleas verzweifelter Schrei gellte durch die Stille der Nacht. Fassungslos starrte sie mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen auf das tödliche Schauspiel vor ihr, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war ein gnadenloser Kampf um Leben und Tod.
     Völlig geschockt spürte sie, wie die angestaute Energie auf einen Schlag aus ihrem Körper wich. Ihre Beine knickten unter ihrem Gewicht wie brüchige Streichhölzer ein. Alea fiel mit einem unsanften Ruck auf ihre Knie. Kraftlos stützte sie sich mit beiden Händen auf dem harten Boden der Waldlichtung ab.
     Das frische Gras, das sie unter ihren Fingerspitzen fühlte, federte ihren Aufprall kaum ab. Ihr Herz fühlte sich an, als ob es durch ein wildes Raubtier in tausend winzige Stücke zerfetzt worden war.
     Wie betäubt starrte sie aus tränenblinden Augen den dunklen Krieger an. Bedrohlich ließ er sein mächtiges, hell schimmerndes Schwert siegessicher über dem Haupt seines hilflosen Opfers kreisen.
     Die milde Nacht war sternenklar. Es roch nach feuchter Erde und der schwache Duft von würzigen Kräutern lag in der Luft. Der Vollmond zeigte seine volle Schönheit am wolkenlosen Firmament, völlig unbeeindruckt von den schrecklichen Geschehnissen unter ihm.
     Die Silhouette des gefährlichen Kriegers mit dem schwarzen Haar und den leuchtend blauen Augen hob sich im silbernen Mondlicht deutlich von seiner Umgebung ab. Die Umrisse der dunklen, dicht stehenden Bäume in seinem Rücken bildeten die perfekte Kulisse für seinen tödlichen Angriff.
     Hinter ihm hielten sich ein Dutzend schwarzgekleidete und bis an die Zähne bewaffnete Kämpfer am Rand der kleinen Lichtung auf. In einer geraden Linie bezogen sie hinter den beiden Schwertkämpfern ihre Stellung und bildeten die zweite Angriffswelle. Mit wachsamen Augen und gefährlich gezückten Pistolen verfolgten sie jede einzelne Bewegung der beiden Kontrahenten.
     Wie flüssiges Silber umfloss das Mondlicht Tajos athletischen Körper. Mit dem blitzenden Schwert in seiner Hand ließ er die ungebändigte Kraft in ihm bereits erahnen. Sein lauernder Blick fixierte seinen Gegner, der sich nach Leibeskräften gegen seine kraftvollen Schläge wehrte.
     Nahezu vollkommene Stille herrschte auf der kleinen Lichtung, auf der der tödliche Kampf ein baldiges Ende finden würde. Sogar die Tiere des umliegenden Waldes hatten sich ängstlich im Dickicht verkrochen und verursachten keinen einzigen Laut.
     Lediglich das gleichmäßig donnernde Geräusch der in die Tiefe stürzenden Fluten des nahegelegenen Wasserfalls war ganz schwach zu hören. Alle Lebewesen hielten den Atem an. Kein störendes Geräusch zerriss die feindselige Stille.
     Ungewollt entfloh ein leises Schluchzen Aleas zitternden Lippen. Wie gebannt fixierte sie das im Mondlicht blitzende Schwert, das den Tod mit sich brachte. Instinktiv presste sie ihre zur Faust geballte Hand an ihr wild pochendes Herz.
     Unter ihren Fingerspitzen fühlte sie den Umriss des Türkissteins und der gebogenen Sonnenstrahlen ihres Talismans, den sie stets unter ihrer Kleidung bei sich trug.
     Dieses Mal jedoch verspürte Alea nicht die sonst übliche tröstende Wirkung ihres Anhängers. Ihr in sich zusammengesunkener Körper verweigerte jegliche Empfindung außer der alles beherrschenden Angst vor dem bevorstehenden tödlichen Hieb. Fassungslos und ungläubig blickte sie von Tajo, ihrem Geliebten, zu dessen Bruder Matteo, der vor ihm um sein Leben fürchtete.
     Wie in Trance hatte sie bis dahin das entsetzliche Geschehen verfolgt und Matteos verzweifelten Versuch, sein Leben zu retten. Mit kraftvollen Hieben war Tajo auf seinen jüngeren Bruder zugestürmt, der sich entschlossen zur Wehr setzte.
     Zwei ebenbürtige Gegner kreuzten ihre alles vernichtenden Schwerter und ließen sie mit einem lauten Krachen immer wieder aufeinanderprallen. Die Schwertschneiden glänzten silbrig im Mondlicht und zogen magisch die Blicke aller Anwesenden auf sich.
     Das Klirren, wenn hartes Metall auf unnachgiebiges Metall traf, schmerzte Alea in den Ohren. Mühsam versuchte sie, ihre Furcht zu unterdrücken und presste ihre Faust fest an ihre blutleeren Lippen. Hilflos und starr vor Entsetzen hatte sie den erbitterten Kampf beobachtet.
     Während die Brüder abwechselnd mit schweren Hieben aufeinander eindroschen, stürmten in Aleas Kopf die Bilder ihres Kennenlernens unaufhaltsam auf sie ein. Einer Sturzflut gleich brachen sie über sie herein und warfen sie für einen winzigen Moment in die jüngste Vergangenheit zurück.
     Vor ihrem inneren Auge sah sie sich auf ihrem Motorrad in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf der stark gewundenen Uferstraße ihres bevorzugten Ausflugziels entlangrasen. Auf der kurvenreichen Straße um den idyllisch gelegenen Bergsee flüchtete sie vor ihren schwarzgekleideten Verfolgern. Dicht hinter ihnen attackierten Tajo und Matteo auf ihren beiden Maschinen ihre Angreifer und drängten diese erfolgreich ab.
     Dank des beherzten Eingreifens der Brüder konnte Alea unverletzt entkommen und legte nach dieser wilden Verfolgungsjagd eine Verschnaufpause ein. Ihr erstes Kennenlernen würde Alea niemals in ihrem Leben vergessen. Unwiderruflich hatte sich die Erinnerung daran in ihr Gedächtnis eingebrannt.
     Ihre beiden Retter folgten ihr damals in großem Abstand zu dem von ihr angestrebten Parkplatz, um sich zu vergewissern, dass sie den Vorfall unbeschadet überstanden hatte. In ihren hautengen maßgeschneiderten Lederkombis standen sie wie zwei junge, dem Olymp entsprungenen Götter vor ihr. Ihre Helme hatten sie abgenommen und lässig an die Spiegel ihrer Motorräder gehängt.
     Wie geschmeidige Panther auf zwei Beinen schritten sie auf sie zu. Tajo, der ältere der Brüder, fuhr sich unsicher mit der Hand durch sein dichtes schwarzes Haar. Seine leuchtend azurblauen Augen waren unablässig auf sie gerichtet und bescherten ihr ein Kribbeln im Bauch.
     Auf den ersten Blick hatte Alea sich in diesen dunklen und äußerst attraktiven Mann verliebt. Der charmante Matteo erwies sich als eine blonde und überaus liebenswerte Kopie seines älteren, ernsteren Bruders.
     Ihre beiden Schutzengel waren immer zur Stelle, wenn sie deren Hilfe dringend benötigte. So vereitelten sie erfolgreich einen weiteren Entführungsversuch bei einem ihrer Radausflüge in einem nahegelegenen Park.
     Nach der sich anschließenden Durchsuchung und Verwüstung ihrer Wohnung offenbarten sie Alea ihre wahre Identität. Als sie bei der Hochzeit ihrer Freundin Lilly erneut einem Entführungsversuch ausgesetzt war, brachten sie die Brüder kurzerhand nach Alterra zu ihren leiblichen Eltern in Sicherheit. In dieser für Alea unbekannten Parallelwelt erlebte sie gemeinsam mit den Brüdern manches gefährliche Abenteuer.
     Ihr Herz hatte sie längst an Tajo verloren und Matteo war ihr zu einem zweiten Bruder geworden. Vom ersten Augenblick an spürte sie die tiefe Liebe, die die Brüder füreinander empfanden.
     Sie bildeten ein eingeschworenes Team, waren Vertraute, Kampfgefährten und beste Freunde, die sich durch ein inniges Band der Zuneigung und geschwisterlichen Liebe miteinander verbunden fühlten.
     
Der anklagende Aufschrei der jungen Frau mit den goldblonden Haaren und den leuchtend türkisblauen Augen ließ Tajo für einen winzigen Moment zögern und innehalten.
     Ihre flehenden Augen, mit denen sie ihn um Gnade bat, gingen ihm unter die Haut. Ihre vor Entsetzen erhobene Stimme erschien ihm irgendwie vertraut zu sein. Wie die Saite einer Harfe fing sein Inneres plötzlich an, sanft zu schwingen.
     Mitten im todbringenden Schlag erstarrte er in der Bewegung. Ein übermächtiges Gefühl der Zuneigung entflammte für den Bruchteil einer Sekunde sein Innerstes und rüttelte an den schweren Ketten, die sein Herz und seinen Geist mit eisernem Griff umfangen hielten.
     Irritiert löste er seinen Blick von ihr und betrachtete mit einem Anflug von Verwunderung den vor ihm liegenden Gegner. Dieser Moment des Zögerns verflog ebenso rasch, wie er gekommen war. Tajo blinzelte kurz. Nichts regte sich mehr in ihm. Der Funke des Erkennens war so schnell wie eine flackernde Kerze im stürmischen Wind erloschen.
     Sein Siegeswille übernahm automatisch wieder die Führung und unterdrückte jegliches sich regende Gefühl in ihm. Sein Verstand lief wie bei einer Kampfmaschine auf Hochtouren und lauerte nur auf die alles entscheidende Schwachstelle seines Gegners.
     Jeder Muskel in seinem Körper war wie bei einem angreifenden Raubtier auf das Äußerste angespannt. Ein gefährliches Knurren entrang sich seinem Mund. Ein spöttisches Lächeln kräuselte seine vollen Lippen und mit einem verächtlichen Ausdruck in seinen eiskalten Augen starrte er auf sein rücklings am Boden liegendes Opfer hinab.
     
Bei Tajos letztem Schlag, den Matteo sicher mit einem Schritt nach hinten parierte, stolperte er über eine halb verrottete Baumwurzel. Im Bruchteil einer Sekunde verlor Matteo sein Gleichgewicht. Strauchelnd ruderte er mit den Armen.
     Im Zeitlupentempo kippte er nach hinten und schlug unsanft der Länge nach auf dem Rücken auf. Sein Hinterkopf kollidierte mit dem harten Untergrund. Für einen kurzen Moment flimmerten glitzernde silbrige Sternchen vor seinen Augen und vollführten ein wahres Feuerwerk.
     Die heftige Erschütterung seines Oberkörpers presste ihm schlagartig sämtliche Luft aus der Lunge. Er japste nach Luft. Ein schmerzvolles Stöhnen entfloh seinen Lippen. Seine vor Schreck weit aufgerissenen Augen verdunkelten sich voller böser Vorahnung. Mit schmerzhaftem Griff umklammerte er noch immer das kunstvoll gearbeitete Heft seines Schwertes.
     Noch leicht benommen stemmte er sich mit dem linken Unterarm von dem harten Boden unter ihm ab. In seiner rechten, hocherhobenen Hand reckte er in einer verzweifelten Geste seine Waffe seinem erbarmungslosen Angreifer entgegen.
     In seinen übergroßen glänzenden Augen spiegelte sich seine alles beherrschende Todesangst und völlige Fassungslosigkeit wider. Sein rasender Herzschlag peitschte das Blut in wilden Wellen durch seinen angespannten Körper.
     Matteo konnte es nicht glauben. Über ihm stand sein geliebter Bruder Tajo und drohte ihm, in der nächsten Sekunde das Lebenslicht auszuhauchen. Mit einem allerletzten Aufbäumen versuchte er, den bevorstehenden todbringenden Stoß abzuwehren. Vergeblich.
     Alea stockte beim Anblick von Tajos unerbittlichem Lächeln der Atem. Für den Moment eines Wimpernschlags kreuzten sich ihre Blicke. Die Eiseskälte in seinen Augen ließ sie innerlich gefrieren. Heiße Tränen strömten über ihr Gesicht, ohne dass sie es bemerkte.
     Mit vor Entsetzen geweiteten Augen sah sie, wie sich Tajos Arm mit der tödlichen Waffe senkte und zu einem letzten vernichtenden Schlag ansetzte. Ihre verkrampften Finger umschlossen schmerzhaft ihren Talisman. Ihr Herz hörte für einen winzigen Moment auf zu schlagen. Sie konnte diesen Anblick nicht ertragen und schloss schluchzend die Augen.

VOR DREI WOCHEN

Verzückt betrachtete Alea den Bissen der leckeren Torte, der in eine gefährliche Schieflage geraten war und drohte, von ihrer Kuchengabel zu rutschen. Wie der schiefe Turm von Pisa neigte sich das Gebäckstück zur Seite und war gewillt, sich den Verlockungen der Schwerkraft zu ergeben.
     Konnte sie das zulassen? Nein! Eilig schob sie sich die Kuchengabel mitsamt der rutschenden Kuchenmasse in den Mund. Eine wahre Explosion ihrer Geschmacksnerven ließ sie genießerisch die Augen schließen. Genussvoll kaute und schluckte sie die Köstlichkeit, die ihr ein glückliches Lächeln entlockte.
     Alea konnte keiner süßen Verlockung lange widerstehen und umso bereitwilliger gab sie sich dieser Verführung hin. Sie liebte Schokolade, Kuchen, Torten und Kekse heiß und innig – einfach alles, was süß und eine Kalorienbombe war.
     Ein zärtliches Tätscheln an ihrem Oberarm brachte sie aus ihren kulinarischen Träumen in die Wirklichkeit zurück. Langsam öffnete sie ihre türkisfarbenen Augen und blickte direkt in die leuchtend blauen Augen ihrer großen Liebe.
     Tajo musterte sie fröhlich und seine wundervollen Lippen zeigten ein amüsiertes Lächeln, das sich von seinen Mundwinkeln aus bis zu seinen Augen ausbreitete und diese zum Strahlen brachten.
     „Na, mein Schatz, diese Torte scheint dir zu schmecken und sogar meine Anwesenheit wird dadurch zur völligen Nebensächlichkeit.“ Ein leicht tadelnder Unterton in seiner männlichen Stimme unterstrich seine wenigen Worte. Allerdings enttarnte sein lausbubenhaftes Augenzwinkern und sein amüsiertes Grinsen die angebliche Kränkung seines Egos als sträfliche Lüge.
     „Ach Tajo, mit einer derart süßen Köstlichkeit kannst nicht einmal du konkurrieren, obwohl du sehr wohl die knackigste Kirsche auf meiner persönlichen Torte bist“, neckte sie ihren Geliebten gut gelaunt und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln aus ihren vor Übermut blitzenden Augen.
     „Na warte. Ich werde bei dir gleich einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der alle deine anderen Leidenschaften völlig blass aussehen lassen wird.“ Blitzschnell nahm er ihr den Teller mitsamt dessen Inhalt und Gabel weg. Außerhalb ihrer Reichweite platzierte er ihn auf dem niedrigen Sofatisch.
     Flink zog er sie eng an sich und verschloss ihre verführerischen Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss. Bereitwillig ergab Alea sich diesem Ansturm der Gefühle und schmiegte sich an ihn. Ihre Hand an seinem Hinterkopf verlor sich in seinen vollen weichen Haaren. Sein leises Stöhnen fachte erneut ihre innere Glut an, der sie sich bereitwillig hingab.
     Nach schier endlosen Minuten löste sich Tajo von ihren lockenden Lippen und blickte ihr forschend in die Augen. „Und, hat es gewirkt?“ Noch immer hielt er sie eng an sich gepresst.
     „Oh, du Widerling, du spielst nur mit mir!“ Mit gespieltem Ärger knuffte sie ihn in seine muskulöse Brust. Ein nicht ernst zu nehmendes Quietschen unterstrich Tajos Bemühen, nicht lauthals loszulachen.
     „Nein, mein Liebling, ich würde nie mit dir spielen und das weißt du auch.“ Sein Tonfall hatte abrupt eine tiefere Nuance angenommen und bescherte ihr ein wohliges Kribbeln.
     „Du hast recht und ich denke, wir sollten uns nun wieder den ernsteren Themen zuwenden“, antwortete sie und warf dem geheimnisvollen Gegenstand, der neben ihrem Kuchenteller auf dem Glastisch lag, einen weiteren nachdenklichen Blick zu.
     „Hast du dich bereits entschieden, was du tun wirst?“ Tajo hatte ihren Themenwechsel sofort verstanden und betrachtete nun ebenfalls ehrfürchtig den prachtvollen goldenen Armreif, der nun ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit einforderte.
     Gebannt starrten sie auf das unschuldig wirkende Schmuckstück, das im Tageslicht hell glänzte. Erst am Tag vorher hatten sie es bei ihrem Tauchgang in den Fluten der versunkenen Stadt in der Ruhestätte von Aleas Vorfahre Turkes gefunden.
     Seither lag dieses mächtige Artefakt und zugleich Erbstück ihrer Ahnen auf dem Tisch in Aleas privatem Zimmer im Palast ihrer Eltern.
     Nach einer leidenschaftlichen und stürmischen Nacht frühstückten Alea und Tajo nun gemeinsam auf ihrer gemütlichen Couch und genossen die intimen Momente ihrer Zweisamkeit in vollen Zügen.
     Bekleidet mit einer dunkelblauen Jeans und einem hellblauen, mit Perlen bestickten, langärmligen Shirt hatte sie es sich auf der Couch bequem gemacht und sich dicht neben Tajo platziert.
     Ihre goldblonde Haarflut fiel ihr wie flüssig schimmernde Seide auf ihre Schultern und umschmeichelte in sanften Wellen ihr zauberhaftes Gesicht. Ein glückliches Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. Ständig wechselte sie verliebte Blicke mit ihrem Geliebten, der sich nicht von ihrem hinreißenden Anblick losreißen konnte.
     Tajos athletischer Körper steckte in einer schwarzen Jeans, zu der er ein langärmliges Shirt in der Farbe seiner Augen trug. Ein griechischer Gott konnte in Aleas Augen nicht schöner sein als er. Ein tiefer Blick in seine von dichten langen Wimpern umrahmten Augen bestätigten Alea, dass ihr Glück nicht größer hätte sein können.
     In den vergangenen turbulenten Wochen hatten sie zusammen manche lebensbedrohliche Situation gemeistert. Erfolgreich hatten sie Aleas Erbstück, den Armreif, in den ihr Talisman wie angegossen passte, vor den gierigen Händen ihrer Widersacher gerettet. In seiner Nähe spürte Alea nur zu gut die ungeheure Macht des gefährlichen Artefakts. Nur in ihren Händen konnte sie zum Leben erweckt werden und sie enthüllte sich nur ihr selbst, keiner anderen Person.
     Der Armreif aus purem Gold zog sie magisch an. Erneut konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und griff nach ihm. Ihre Fingerspitzen fuhren in einer zärtlichen Bewegung seine Form nach und sie spürte die Kühle des Edelmetalls auf ihrer Haut. Sanft fühlte sie das Vibrieren des Armreifs, der nach ihr zu rufen schien.
     Entschlossen streifte sie ihren Ärmel hoch und schob den Armreif mitsamt dessen Schmuckstein über ihren linken Unterarm. Sofort spürte sie die gefährliche Macht, die in ihm schlummerte und ihr bedingungslos zu Willen war.
     Der Armreif wartete. Alea konnte es ganz genau fühlen. Er wartete auf ihre Entscheidung. Auf ihre Entscheidung und auf ihre Befehle. In ihrem Geist spürte sie die verführerische Macht, jeglichen menschlichen Verstand zu kontrollieren, zu manipulieren und sich die gesamte Menschheit untertan zu machen.
     Ihr wie hypnotisierter Blick löste sich nur widerwillig von dem Symbol der uneingeschränkten Macht. Ganz langsam blickte sie zu Tajos Antlitz empor. Dieser saß völlig bewegungslos neben ihr und beobachtete jede kleinste Bewegung von ihr. Kein Laut drang über seine Lippen. Geduldig wartete er auf ihre Reaktion.
     Alea wandte ihren Blick von ihm ab und fixierte nochmals den Armreif, der sie unablässig lockte. Liebevoll tätschelte sie den Schmuckstein, den vertrauten Anhänger, der sie seit Kindertagen begleitete. Ihr Blick schweifte zur bodentiefen Fensterfront im Raum und sie ließ ihren Geist in die Ferne schweifen.
     Das helle Licht einer blassen Sonne schimmerte durch die zarten honiggelben Vorhänge und ließen diese erstrahlen. Das warme Licht legte sich wie beruhigender Balsam um Aleas aufgewühlte Seele. Ein entschlossenes Lächeln zierte ihre Lippen und ihre Augen glänzten wie funkelnde Sterne.
     „Meine Entscheidung steht fest.“ Mit energischer Stimme formulierte sie diese klaren Worte.
     „Was wirst du tun, Alea?“, fragte Tajo sie vorsichtig, ohne sie zu bedrängen.
     „Ich werde die Macht des Armreifs nicht nutzen. Kein Mensch soll sich unfreiwillig meinem Willen beugen müssen.“ Ihre Entschlossenheit ließ ihre Stimme kraftvoll durch den Raum erklingen. Tief blickte sie ihm in seine Augen, in denen sie sich bereits bei ihrem ersten Aufeinandertreffen verloren hatte.
     „Ähnlich wie Turkes werde ich den Armreif und den Schmuckstein trennen. Meinen Anhänger werde ich wie bisher immer bei mir tragen. Für den Armreif muss ich mir noch ein geeignetes Versteck überlegen.“
     Noch einmal fuhr ihre Fingerspitze die kaum spürbaren Umrisse ihres Anhängers in der Vertiefung des Armreifs nach.
     „Wirst du mir bei der Suche nach einem sicheren Aufbewahrungsort helfen, Tajo?“ Fragend musterte Alea sein anziehendes Gesicht.
     „Natürlich werde ich dir dabei helfen. Uns wird schon noch etwas einfallen“, antwortete er und ergriff ihre freie Hand.
     Sein fester warmer Händedruck verlieh ihr Sicherheit und Geborgenheit. Sein liebevoller Blick offenbarte ihr seine bedingungslose Ergebenheit und seine unerschütterliche, tiefe Liebe. Mit ihm hatte sie einen Verbündeten an ihrer Seite, dem sie grenzenlos vertrauen konnte. Wie ein Fels in der Brandung würde er ihr immer beistehen, egal was noch alles passieren würde.
     Ein Anflug von böser Vorahnung ließ sie für einen winzigen Augenblick frösteln. Sie spürte, wie eine Eiseskälte mit langen gierigen Fingern nach ihrem Herzen griff. Nur mühsam konnte sie das übermächtige Gefühl einer unsichtbaren Bedrohung loswerden. Energisch schüttelte sie den Kopf.
     Was sollte schon passieren? Ihr entführter und psychisch gefolterter Bruder Tolin war gerettet. Dank der Hilfe von Tajos Familie war er dem dunklen Reich seiner anhaltenden Bewusstlosigkeit entrissen worden. Zudem befand sich der Armreif in ihrem Besitz und somit in Sicherheit.
     Alexander Lunara, der machtgierige und skrupellose Nachfahre von Luna, hatte Selbstmord begangen und stellte keine Gefahr mehr für sie dar. Nun konnte ein ruhiges Leben im Kreise ihrer neu gewonnenen Familie beginnen.
     Alea sog tief die Luft in ihre Lungen und beruhigte ihr aufgewühltes Inneres. Der schwache Duft der köstlichen Torte kitzelte in ihrer Nase und vertrieb die letzten hartnäckigen Reste der bösen Vorahnung. Alles war gut.
     Zuversichtlich legte sie ihre zierliche Hand auf Tajos Handrücken und spürte die Wärme, die seine Haut verströmte. Seine Stimme riss sie aus ihrem inneren Kampf um Gelassenheit.
     „Wann wirst du es deinen Eltern sagen und wirst du ihnen den Armreif zeigen?“, wollte Tajo wissen und erwiderte ihren Händedruck, indem er seine freie Hand über die ihrige legte.
     „Nachher. Wir sehen sie sowieso in wenigen Minuten, gemeinsam mit Matteo, Tolin und André“, beantwortete Alea seine Frage. „Auch den Armreif werde ich ihnen zeigen.“
     
Eine halbe Stunde später saßen Alea und Tajo im privaten Wohnzimmer ihrer Eltern, dem Königspaar von Turkeso. Ihre Eltern, ihr Bruder Tolin, Tajos Bruder Matteo und André, Sicherheitschef des Königspalastes, warteten bereits voller Ungeduld auf ihren mysteriösen Armreif. Ihre Neugier kannte keine Grenzen.
     Auch die liebevollen Umarmungen zur Begrüßung zwischen allen konnte nicht die knisternde Anspannung vertreiben, die wie eine Flut von blitzenden Funken unsichtbar in der Luft tanzte.
     Der modern und geschmackvoll eingerichtete Raum stellte nach Aleas Meinung die perfekte Kulisse für die Enthüllung des Armreifs dar. Direkt nach ihrem Tauchgang am Vortag hatten nur Matteo und André einen kurzen Blick auf das schlichte Behältnis werfen können.
     Wie ihre Familie mussten die beiden ihre Ungeduld bezähmen und auf den großen Moment der Enthüllung des machtvollen Schmuckstücks warten. Dieser stand nun kurz bevor.
     Tief sog sie die Luft in ihre Lunge. Sie brauchte noch einen kurzen Moment der Ruhe. Um sich von ihrer inneren Aufregung abzulenken, ließ Alea voller Bewunderung ihre Augen durch den großzügig geschnittenen Raum schweifen.
     Sie liebte die heimelige Atmosphäre des hellen Eichenholzes, das in dem Raum dominierte. Der Fußboden wies ein großflächiges Zickzack-Muster aus hellem, edlem Eichenholzparket auf. Aus dem gleichen Holz war die Inneneinrichtung angefertigt, die aus mehreren Vitrinen, halbhohen Sideboards und einem niedrigen runden Tisch bestand.
     Ein riesiger Strauß frischer rosafarbener Rosen stand auf einer Anrichte und verströmte einen zarten Duft. Ihre großen Blüten wetteiferten in ihrer Schönheit mit den Gemälden, die die Wände schmückten. Harmonische Landschaften in verschiedenen Pastell- und Grüntönen beruhigten die Sinne jeden Betrachters.
     In der Mitte des Raumes lud eine große, in Nussbraun gehaltene, runde Couch aus Antikleder zum Entspannen ein. Lediglich an einer Stelle wies die Couch eine breite Lücke auf, die dem Betreten und Verlassen der Wohninsel diente.
     Mehrere weiche Teppiche in verschiedenen Braun- und Messingtönen schluckten die Schritte der Bewohner und verstärkten die gemütliche Ausstrahlung des gesamten Raumes.
     Die bodentiefe Fensterfront umfasste eine komplette Seite des Raums und erlaubte einen atemberaubenden Blick auf einen privaten Garten mit Swimmingpool, Liege- und Sitzecke sowie Getränkebar. Eingerahmt wurde das Ganze von zahllosen blühenden Sträuchern und Kübelpflanzen, die eine nicht einsehbare, grüne Insel der Erholung und des Friedens erschufen.
     In den makellosen Fensterscheiben spiegelte sich das matte Licht der unzähligen, in die Deckenverkleidung eingelassenen Lampen wider. Einem Sternenhimmel gleich tauchten sie den Raum in ein warmes Licht.
     Ihre Blicke zog jedoch jedes Mal der riesige Kaminofen auf sich. Mit seiner weißen Ummantelung hob er sich deutlich von der hellen Holzvertäfelung ab. Sein großzügiges Sichtfenster gewährte einen Blick auf einen kunstvoll drapierten Stapel aus verschiedenen Holzscheiten, der nur darauf wartete, angezündet zu werden.
     Die umlaufende Sitzbank des Kaminofens schimmerte in demselben Nussbraun wie die Sitzgruppe. Rechts neben dem Glasfenster des Ofens schmückte in einem schmalen Regal gleichmäßig aufgeschichtetes Brennholz die Wand vom Boden bis zur Decke.
     Alea konnte sich bereits vorstellen, wie dieser Ofen in der kalten Jahreszeit eine gemütliche Wärme verströmte und den Raum im flackernden Feuerschein erhellte.
     Widerwillig riss sie sich vom Anblick der einladenden Ofenbank los. Sie spürte fünf ungeduldig auf ihr Haupt gerichtete Augenpaare auf sich ruhen. Ihre Eltern saßen links neben ihr und deren mit tiefer Zuneigung erfüllte Augen waren erwartungsvoll auf sie gerichtet.
     Das liebevolle Lächeln ihrer warmherzigen Mutter zeigte ihr erneut, wie willkommen sie in diesem Kreis war und wie sehr sich ihre leiblichen Eltern darüber freuten, dass sie endlich den Weg zu ihnen gefunden hatte. Noch immer überraschte Alea der Anblick ihrer Mutter, die ihr wie eine etwas ältere Kopie ihrer selbst zum Verwechseln ähnelte.
     Das Strahlen ihrer hellblauen Augen wurde durch ihren Hosenanzug in der gleichen Farbe besonders hervorgehoben. Im Gegenzug zu ihr bevorzugte ihr Vater an diesem Tag eine schwarze Hose mit einem dunklen silbergrauen Hemd, das das strahlende Türkis seiner Augen besonders betonte.
     Das gleiche Augenpaar blickte Alea von der rechten Seite her entgegen. Ihr Bruder Tolin saß blass, mit eingefallenen Wangen und ernster Miene auf seinem Platz. Sein grauer Freizeitanzug unterstrich seinen farblosen Teint.
     Erst vor wenigen Tagen war er aus den endlosen Tiefen seiner Bewusstlosigkeit erwacht, in die sich sein geschundener Geist vor der Realität geflüchtet hatte. An Aleas Stelle war er entführt und mithilfe einer neuartigen Droge psychisch auf grausamste Art gefoltert worden.
     Seine überschwängliche Lebensfreude war einer stillen, bedrückenden Nachdenklichkeit gewichen. Ein weiter Weg der Genesung lag noch vor ihm. Allerdings hatte er es sich gegen den ausdrücklichen Protest ihrer Eltern nicht nehmen lassen, bei der Vorstellung des Armreifs anwesend zu sein.
     Schließlich wollte er unbedingt erfahren, weshalb er das alles erleiden musste. Am Ende zeigte sich das Königspaar dann doch einsichtig. Ihre Eltern vertraten die Meinung, dass ihm die Anwesenheit im Kreise seiner Familie und seiner vertrauensvollsten Freunde bei der Genesung helfen könnte.
     Matteo, der sich direkt neben Tolin niedergelassen hatte, konnte sich ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen. Auffordernd blickte er Alea in die Augen. Sein muskulöser Körper strotzte nur so vor Kraft und seine dunkelblaue Kleidung unterstrich das leuchtende Blau seiner übermütigen Augen.
     Alea konnte nur zu gut nachvollziehen, weshalb sich ihre Freundin Rebecca Hals über Kopf in diesen hübschen und charmanten Beau verliebt hatte. Unruhig rieb er sich voller angespannter Erwartung die Hände.
     Ihr blieb nicht verborgen, dass er seine Ungeduld kaum noch im Zaum halten konnte. Seine Augen strahlten sie voller Neugier an und ermunterten sie, nun endlich das geheimnisvolle Schmuckstück zu präsentieren.
     André war im Gegensatz zu Matteo die Ruhe selbst und übte sich in beispielloser Selbstdisziplin. Sein dunkler Anzug mit weißem Hemd bestärkte diese Wirkung in jeglicher Hinsicht. Lediglich seine cognacfarbenen Augen verrieten einen Hauch seiner unterdrückten Ungeduld. Noch immer kämpfte er innerlich mit seinen dunklen Schatten.
     Der Umstand, dass er vor wenigen Tagen gezwungen war, seine eigene Teamleiterin zu erschießen, lastete wie ein schwerer Felsbrocken auf seiner Seele. Natürlich hatte er nicht zulassen können, dass Cora seinen Freund Tajo mit einem gezielten Schuss aus dem Leben riss.
     Auch wenn sein Verstand die Tat rechtfertigen konnte, sein Herz war noch nicht so weit. Alea blickte ihm voller Anteilnahme in die Augen und signalisierte ihm auf diese Art ihr Verständnis und Mitgefühl.
     Sein anschließendes freundschaftliches Lächeln entblößte seine makellosen weißen Zähne. Er hatte ihre stumme Botschaft verstanden. Unmerklich straffte er die Schultern.
     Wie üblich strahlte er ein übergroßes Maß an Sicherheit aus. In seiner, Matteos und Tajos Gegenwart fühlte sich Alea immer so, als ob sie es mit der ganzen Welt aufnehmen und dabei immer gewinnen könnte.
     Tajo saß dicht neben ihr an ihrer rechten Seite. Seine Augen musterten unablässig das Kästchen aus purem Gold, das sie in ihren Händen hielt. Beschützend verbarg es den Armreif vor den ungeduldigen Augen der Anwesenden. Matteo drohte vor unterdrückter Neugier beinahe zu platzen.
     „Nun zeig schon, Alea. Spanne uns nicht weiter auf die Folter. Wir sind schon neugierig genug“, japste er und klatschte wie ein Junge voller Vorfreude in die Hände.
     „Dem kann ich mich nur anschließen, Alea. Wir sind schon alle sehr auf den Armreif gespannt“, ergänzte ihr Vater, der des Wartens nun ebenfalls überdrüssig war.
     „Ich mache ja schon“, antwortete Alea und stellte das schlichte Kästchen auf der Tischplatte vor ihr ab.
     Vorsichtig zog sie an der goldenen feingliedrigen Kette, an der sie ihren zweifarbigen Portalstift und ihren Anhänger um den Hals trug. Gemächlich fasste sie sich mit beiden Händen in den Nacken und öffnete mit flinken Fingern den Verschluss.
     In einer fließenden Bewegung ließ sie die Kette in ihren Schoß gleiten, um den Anhänger davon zu lösen. Den Türkisstein legte sie direkt vor das wartende Kästchen, während sie die Kette einschließlich des Portalstifts ein paar Zentimeter entfernt daneben platzierte.
     Sorgfältig fügte sie ihren Anhänger in die vorgesehene Vertiefung des Kästchens ein. Der Deckel schnappte geräuschlos auf. Kein Laut war im Raum zu hören. Unter höchster Anspannung verfolgten ihre aufmerksamen Beobachter wie hypnotisiert ihr Handeln und hielten den Atem an. Alea konnte die knisternde Spannung im Raum buchstäblich greifen.
     Ein verständnisvolles Lächeln erschien auf ihren Lippen und sie ließ ihren Blick der Reihe nach über die nach vorn gebeugten Häupter schweifen. Alle starrten auf die dunkle Öffnung des Kästchens und hofften, etwas von dessen geheimnisvollem Inhalt zu erspähen. Vergeblich.
     Die erwartungsvolle Anspannung verstärkte sich in ihren Gesichtszügen. Sechs Augenpaare waren unverwandt auf ihre Finger gerichtet, die im Zeitlupentempo in das Innere des Kästchens griffen. Alea schmunzelte. Noch weiter konnte die Spannung nicht steigen.
     Zielgerichtet ertasteten ihre Fingerspitzen den gesuchten, unsichtbaren Gegenstand am Boden des schmucklosen Behältnisses. Mit einer flinken Bewegung legte sie den nicht sichtbaren Armreif auf der Tischplatte ab. Voller Verblüffung verfolgten fünf Augenpaare ihre Geste.
     „Du willst uns jetzt aber nicht weismachen, dass das Ding leer ist, oder?“ Matteo konnte sich ein unterdrücktes, ratloses Stöhnen nicht verkneifen. Enttäuscht wedelte er mit seinen Händen und deutete auf das Kästchen.
     „Nein, nein. Der Armreif ist da. Allerdings ist er ohne den Anhänger unsichtbar“, erläuterte Alea.
     Sie kannte die Wirkung des angeblich leeren Kästchens nur zu gut. Ihre eigene Enttäuschung am Vortag war ihr noch deutlich in Erinnerung geblieben, bevor sie die Verbindung zwischen dem Armreif und ihrem Anhänger erkannte.
     „Unsichtbar? Bist du dir sicher?“, fragte ihr Vater mit skeptischer Miene.
     „Nur Geduld. Ihr werdet es gleich sehen“, versuchte Alea ihre ungläubigen Zuschauer zu beruhigen.
     Wie auf Knopfdruck ließen fünf angespannte Personen im Raum schlagartig die Luft aus ihren Lungen entweichen. Dieses plötzliche Geräusch der Erleichterung brachte Alea zum Lachen.
     „Habt ihr alle vor Aufregung die Luft angehalten?“, fragte sie in die Runde ohne Eile. Ein tadelnder Blick aus Matteos aufmerksamen Augen und das Deuten seines ausgestreckten Zeigefingers auf die leere Stelle der Tischplatte drängten sie, endlich das Rätsel zu lüften.
     Zielstrebig löste sie ihren Anhänger aus der Vertiefung des goldenen Kästchens, der als Schlüssel fungierte. Mit der anderen Hand tastete sie vorsichtig nach dem unsichtbaren Armreif. Sobald ihre Fingerspitzen den harten Widerstand spürten, strich sie über die glatte Oberfläche des Armreifs, bis sie ihr Ziel fand.
     Genau in der Mitte fühlte sie die Mulde, in die sie ihren Anhänger als Schmuckstein einsetzen musste, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Kaum hatte sich der Anhänger mit dem Armreif verbunden, geschah das unglaubliche Wunder. Vor den Augen ihrer gebannten Zuschauer materialisierte sich der Armreif und erstrahlte in voller Schönheit.
     „Ah, ich kann es kaum glauben!“ Mit großen staunenden Augen betrachtete ihr Vater das kostbare Stück, das sich voller Unschuld den überraschten Blicken seiner Bewunderer darbot.
     „Und dieses schöne Schmuckstück soll eine solch unvorstellbare Macht in sich tragen? Bist du dir ganz sicher, Alea?“ Zweifelnd hob er eine Augenbraue an und beäugte misstrauisch den rätselhaften Gegenstand. Bisher war es für ihn nur ein wunderschönes Schmuckstück, ohne jegliche Wirkung oder Macht.
     „Oh ja. Ich bin mir ganz sicher. Soll ich es euch demonstrieren?“ Erwartungsvoll schaute sie von einem zweifelnden Augenpaar zum nächsten. Das leichte Kopfnicken jedes Einzelnen reichte ihr als Antwort auf ihre Frage aus. Alle starrten wie gebannt auf den Armreif.
     Entschlossen zog Alea ihren Ärmel zurück und legte den Armreif um ihren linken Unterarm. Sofort spürte sie das sanfte Vibrieren des Armreifs auf ihrer weichen Haut und ihr wachsamer Geist fühlte die pulsierende Macht.
     Augenblicklich erhoben sich ihre Eltern und verließen gemeinsam die Sitzgruppe. Mit wiegenden Hüften begannen sie in einer Ecke des Raumes zu einer nicht hörbaren Musik, hingebungsvoll Salsa zu tanzen.
     Mit rhythmischen Bewegungen lockten sie sich gegenseitig an, kreisten mit den Hüften und vollführten einen Tanz voller Leidenschaft und Lebensfreude. Das Gurren und Kichern der beiden Tänzer spiegelte ihre überschäumende Freude daran wider.
     Plötzlich sprangen Tajo, Matteo, André und Tolin nahezu gleichzeitig auf, stürmten in eine andere Ecke des Wohnzimmers und stellten sich wie elegante Ballett-Tänzer in einer Reihe auf. Ihre Hände waren mit ihrem Nachbarn verschlungen und jeder der jungen Männer balancierte sicher auf den Zehenspitzen.
     Auf ein nicht hörbares Kommando hin begannen sie gleichzeitig, mit ihren Füßen zu trippeln und hingebungsvoll die Schritte der vier kleinen Schwäne aus dem Ballett Schwanensee zu tanzen. Leichtfüßig bewegten sie sich völlig synchron und reckten graziös das Kinn in die Höhe.
     Beim Anblick der vier männlichen, anmutigen Ballerinen musste Alea vor Übermut lauthals lachen. Es fehlten nur noch die passenden rosafarbenen, gebauschten Tüllröckchen um ihre Hüften.
     Nach wenigen Minuten stoppten die jungen Männer und ihre Eltern abrupt ihre Aktivitäten. Fassungslos starrte jeder von ihnen zuerst an sich selbst hinab, bevor er die anderen voller Überraschung musterte. Auf einen Schlag redeten alle aufgeregt durcheinander und bombardierten sich gegenseitig mit neugierigen Fragen.
     Alea saß gelassen auf ihrem Platz und beobachtete schmunzelnd die aufgeregte Schar. Plötzlich richteten sich alle Augenpaare fragend auf sie.
     „Wie hast du das gemacht, Alea?“, verlangte ihre Mutter mit vor Aufregung glänzenden Augen zu wissen.
     „Oh, das ist ganz einfach. Ich muss lediglich nur kurz daran denken. Außerdem kann ich eine ganze Gruppe unabhängig von ihrer Größe gleichzeitig dazu bringen, das gewünschte Verhalten zu zeigen.“ Glucksend vor Lachen inspizierte sie die jungen Männer, die ihr verlegene Blicke zuwarfen. Noch immer verharrten sie an Ort und Stelle, ebenso ihre Eltern.
     „Ihr könnt euch schon wieder setzen. Ich werde den Armreif nicht nochmals einsetzen. Ihr könnt also ganz beruhigt sein.“ Mit einer einladenden Handbewegung forderte sie ihre unfreiwilligen Opfer auf, wieder neben ihr Platz zu nehmen.
     Gehorsam folgten sie ihrer Anweisung und eilten zügig zu ihren Plätzen zurück. Geduldig wartete Alea, bis sich alle gesetzt hatten und ihr erneut ihre volle Aufmerksamkeit schenkten.
     „Nun bin ich jedoch neugierig“, richtete sie das Wort an die Gruppe ihrer Zuhörer. Nur mit Mühe und Not konnten sie sich beruhigen und brachten mit lautem Geschnatter ihr Erstaunen zum Ausdruck.
     „Also, was habt ihr dabei gefühlt? Wie war dieser Zustand für euch? War das unangenehm?“, schoss sie ihre ungeduldigen Fragen ab.
     Beinahe zeitgleich versuchten ihre Opfer ihre Fragen zu beantworten und veranstalteten ein heilloses verbales Durcheinander. Beschwichtigend erhob Alea ihre rechte Hand. Ihre Mundwinkel zuckten verräterisch. Nur mit großer Anstrengung konnte sie sich ein Lachen verkneifen.
     „Tajo, wie ist es dir ergangen?“ Mit dieser gezielten Frage versuchte Alea dem allgemeinen Mitteilungsbedürfnis Herr zu werden und die Antworten zu kanalisieren. Ihre Augen richtete sie auf ihren Geliebten und forderte ihn mit einem unmerklichen Kopfnicken zum Sprechen auf.
     „Erstaunlicherweise war ich völlig bei klarem Verstand“, setzte Tajo an, ihre Frage so konkret wie möglich zu beantworten.
     „Ich fühlte mich wie immer. Der einzige Unterschied bestand lediglich darin, dass ich unbedingt meinem alles beherrschenden Wunsch, dem Tanzen zum Ballett von Schwanensee, nachkommen wollte“, ergänzte er voller Verwunderung.
     „Dieser Wunsch war derart übermächtig in mir, dass ich mir in diesem Moment nicht vorstellen konnte, etwas anderes zu tun.“ Verblüfft über diese Erkenntnis schüttelte er seinen Kopf und strich sich mit einer verwirrten Geste durch sein dunkles Haar.
     „Es war genau das, was ich am liebsten machen wollte und es fühlte sich völlig normal an. Es war vollkommen mein eigener Wille.“ Sein ungläubiges Erstaunen konnte Alea auf seinem Gesicht ablesen, das noch immer seine tiefe Verwirrung widerspiegelte.
     „Genauso war es auch bei mir …“, setzte Matteo zu einer Erklärung an.
     „Ich liebte es, Salsa zu tanzen …“, unterbrach ihn Aleas Vater.
     „… Ballett war in diesem Moment mein Leben“, seufzte Tolin.
     „Ich fühlte mich wie ein Profitänzer …“, schwärmte André.
     „… ich stand auf einer großen Bühne.“ Tajos Augen wirkten glasig.
     „… ich wartete bereits auf den Applaus.“ Matteo verbeugte sich wie vor einem unsichtbaren Publikum.
     „Ich hätte noch stundenlang tanzen können …“, jubelte Aleas Mutter.
     „… und ich fühlte mich großartig, wie ein junger Gott!“ König Tarro strahlte über das ganze Gesicht.
     „… ich konnte die Musik in meinem Kopf hören …“, ergänzte Tolin.
     „Ich wusste exakt jeden einzelnen Schritt …“, verriet André.
     „… es war einfach wunderbar!“
     „Ich tanzte mit einer feurigen Latina …“
     „… es war grandios …“
     „… ich wollte nie wieder damit aufhören …“
     Wie eine aufgeregte Schar junger Gänse schnatterten Aleas Versuchskaninchen durcheinander und wollten sich gegenseitig mit ihren begeisterten Beschreibungen übertreffen. Es dauerte einige Zeit, bis sich alle wieder beruhigt hatten. Alea lag bereits die nächste Frage auf der Zunge.
     „Also, wenn ich es richtig verstanden habe, ging es euch allen gleich. Ihr habt die jeweilige Aktivität als völlig normal empfunden, obwohl ihr sie niemals vorher ausgeübt habt. Richtig?“ Fragend blickte sie von einem zum anderen.
     „Ja, das stimmt. Wir konnten bisher nicht Salsa tanzen …“, bestätigte ihr Vater kopfnickend ihre Vermutung.
     „… und wir waren bisher keine Tänzer in hautengen Strumpfhosen und Tutu“, stellte Matteo fest und grinste Alea spitzbübisch an. Sie konnte sich ein erneutes Lachen nicht verkneifen.
     „Tja, so etwas nenne ich dann die perfekte Manipulation des menschlichen Willens“, fasste Alea die Aussagen treffend zusammen.
     „Und es kostet mich keinerlei Mühe oder Anstrengung. Ich könnte das ewig machen.“ Sechs Augenpaare starrten sie verdutzt an. Tajo erholte sich aus seiner Verblüffung am schnellsten.
     „Nun gut. Dann haben wir das jetzt auch geklärt. Jetzt wissen wir, wie der Armreif funktioniert und vor allem, dass er sehr gefährlich ist“, stellte Tajo nüchtern fest.
     Seine Begeisterung hielt sich deutlich in Grenzen und sein plötzlicher Stimmungswechsel war durch seinen ernsten Tonfall nicht zu überhören. Er mochte es ganz und gar nicht, wenn er nicht mehr Herr über seinen eigenen Willen war.
     „Er ist eine sehr bedrohliche und machtvolle Waffe in den falschen Händen.“ André hegte ebenfalls Bedenken und sprach diese laut aus. Nachdenklich wiegte er seinen Kopf hin und her.
     „Kein Wunder, dass Alexander Lunara deiner habhaft werden wollte. Vermutlich hätte er dich mit Hilfe seiner neu entwickelten Droge gefügig gemacht und seinem Willen unterworfen. Du wärst eine furchtbare Waffe in seinen Händen gewesen.“, ergänzte André mit leicht rauer Stimme. Alle anderen nickten zustimmend.
     „Was wirst du nun tun, Alea?“ Forschend blickten ihr seine wie Bernstein schimmernden Augen entgegen. Schlagartig richteten sich alle Augenpaare besorgt auf sie.
     „Es ist eine enorm große Verantwortung, diesen Armreif zu besitzen und eine noch größere, ihn einzusetzen“, warf ihr Vater ein und Sorge schwang in seiner dunklen Stimme mit.
     Lebhaft konnte er sich vorstellen, welche Verlockungen und Gefahren mit dem Besitz dieses unvergleichlichen Machtinstruments verbunden waren.
     „Meine Entscheidung steht fest“, durchbrach Alea die erwartungsvolle Stille nach den besorgten Worten ihres Vaters.
     „Ich werde den Armreif nicht nutzen und ihn wie Turkes in zwei Teile trennen“, fügte sie ernst an und eine stille Nachdenklichkeit legte sich auf ihre feinen Gesichtszüge.
     „Ich bin der Meinung, dass kein einzelner Mensch so viel Macht über einen anderen besitzen sollte. Ich kann Turkes Entscheidung sehr gut nachvollziehen, auch wenn der Armreif eine gewaltige Versuchung darstellt und beängstigend verführerisch ist“, erläuterte sie in ernstem Tonfall.
     „Aus diesem Grund werde ich den Anhänger wie bisher bei mir tragen und für den Armreif ein Versteck finden, in dem er vor dem Rest der Welt in Sicherheit sein wird.“, fügte sie an.
     „Außerdem muss ich ihn auch vor mir selbst schützen, falls es jemandem gelingen sollte, mich in seine Gewalt zu bringen und meinen Willen zu beeinflussen.“ Besorgt strich sie zart mit ihrem Zeigefinger die Linie des Armreifs nach.
     Sie spürte es überdeutlich. Eine besondere Verbindung bestand zwischen ihr und dem gefährlichen Schmuckstück, die sie für einen winzigen Moment innerlich erzittern ließ. Der Armreif war eindeutig für sie bestimmt.
     Mit einer entschlossenen Bewegung löste sie den Schmuckstein aus dem Armreif, der im Bruchteil einer Sekunde seine unsichtbare Form annahm. Die leisen Laute der Verblüffung ihrer Zuhörer drangen an ihr Ohr. Behutsam legte Alea ihn im Inneren des goldenen Kästchens ab und schloss geräuschlos den Deckel.
     Sie war fest davon überzeugt, dass sie einen passenden, verborgenen Platz für ihren Armreif finden würde, an dem er die nächsten Jahrtausende überdauern konnte. Nicht im Traum kam ihr der Gedanke, dass das Schicksal ihr einen Strich durch die wohl geordnete Rechnung machen könnte.
     
     
Mit einem gekühlten Longdrinkglas in der Hand stand Elias Lunara in der offenen Terrassentür seines großräumigen Wohnzimmers. Wohlwollend betrachtete er den Swimmingpool in seinem Garten. Dieser schmiegte sich in ein paar Metern Entfernung wie ein glitzerndes Juwel an die helle Hauswand an. Durch sein außergewöhnliches Design in Form eines riesigen Wassertropfens bot er einen umwerfenden Anblick – ausgefallen und schön.
     Ein umlaufendes Muster aus seltenen hellen Marmorfliesen betonte die vollkommene Schönheit der eigenwilligen Optik des mehr als großzügigen Pools. Das kristallklare Wasser glitzerte im Sonnenschein wie tausend funkelnde Diamanten und verlockte zu einer Abkühlung in dem wohltemperierten Nass.
     Besitzerstolz erfüllte Elias Brust und zauberte ihm ein kleines Lächeln auf seine geschwungenen Lippen. Voller Zufriedenheit wanderte sein Blick über die moderne Sitzecke und den angrenzenden weitläufigen Rasen. Dieser mündete in blumengeschmückten Beeten und einem dichten Grün aus verschiedenen Sträuchern und hohen Bäumen.
     Eine riesige unüberwindliche Mauer umsäumte das gesamte Grundstück und schützte ihn und sein Eigentum vor den neugierigen Blicken fremder Menschen.
     Oh ja, er war seinem Vater Alexander Lunara sehr dankbar, dass er ihm bereits zu seinen Lebzeiten diese wunderschöne Stadtvilla am Rande von Alterra-Stadt geschenkt hatte. Nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen wurde das komplette Anwesen umgestaltet und entsprechend eingerichtet.
     Geld spielte dabei keine Rolle. Vernarrt wie sein Vater seit seiner Geburt in ihn war, erfüllte er ihm jeden Wunsch und zeigte sich dabei äußerst großzügig. Aus vollen Zügen konnte er das Leben genießen und unbekümmert das Geld seines übermäßig reichen Vaters ausgeben.
     Lediglich auf den erfolgreichen Abschluss seines Studiums der Wirtschaftswissenschaften legte sein Vater besonderen Wert. Diesen Wunsch zu erfüllen, fiel Elias nicht schwer, da ihm das Lernen leicht von der Hand ging. Zudem interessierten ihn die Themen seines Studiums brennend, sodass ihm eine gelegentliche Ablenkung von seinen Partys und Hobbys, mit denen er den Großteil seiner Zeit verbrachte, sehr willkommen war.
     Genüsslich nippte er an seinem Longdrink. Das kühle fruchtige Getränk rann ihm perlend die Kehle hinab und hinterließ einen erfrischenden Geschmack auf seiner Zunge.
     Ja, er genoss das Leben in vollen Zügen. Ganz nach seinen Vorstellungen führte er die Art von sorgenfreiem und selbstbestimmten Leben, von dem er bereits seit Kindertagen träumte. Als der heimliche Liebling seines Vaters begriff er schon in sehr jungen Lebensjahren, dass er nahezu alles tun und lassen konnte, wonach ihm der Sinn stand.
     Aus erziehungstechnischer Sicht war sein Leben dazu prädestiniert, einen kleinen Egoisten heranzuziehen. Niemals musste er sein Spielzeug oder seinen Besitz teilen. Niemals musste er sich einem Bruder oder einer Schwester unterordnen. Er allein war der Herr über sein Leben. Elias fühlte sich rundum glücklich und versonnen blickte er nach draußen.
     Langsam setzte er sich in Bewegung. Gemächlich trat er ins Freie und schlenderte an der Längsseite des Pools bis zu dessen Ende entlang. Helle Sonnenstrahlen wärmten ihm die Haut und die milde Luft verlockte zu einem Aufenthalt im Freien.
     Voller Stolz wanderte sein Blick an der Glasfassade der zweistöckigen Villa entlang. Im Erdgeschoss spiegelten sich die am Himmel aufgetürmten weißen Schäfchenwolken in den bodentiefen Fenstern seines geräumigen Wohnzimmers wider. Darüber erstreckte sich auf der gesamten Länge des Gebäudes ein umlaufender Balkon, der gelegentlich von seinen eher seltenen Besuchern genutzt wurde.
     Seine Mundwinkel verzogen sich genießerisch zu einem sonnigen Lächeln nach oben. Mit tänzelnden Schritten näherte er sich wieder der offenen Glastür an. Ja, er war sehr zufrieden, mit sich, mit der Welt und mit den aktuellen Entwicklungen.
     Zügig durchquerte er den Raum und ließ sich lässig in seine Lieblingsecke der halbkreisförmigen, modernen, sandfarbenen Couch fallen. Im Gegensatz zu seinem Vater waren seine bevorzugten Farben nicht Schwarz und Weiß, sondern ein kühles Mittelgrau in Kombination mit einem hellen, warmen sandfarbenen Ton.
     In Ergänzung hierzu bevorzugte er bei der Inneneinrichtung helles glänzendes Chrom, das in allen Räumen zur Anwendung kam. Je nach Lichteinfall erstrahlte es in den unterschiedlichsten silbernen Farbtönen.
     Abgerundet wurde das gesamte Ambiente durch einen edlen Parkettboden aus mittelgrauer Esche und duftigen schneeweißen Vorhängen, die sich in schmalen Bahnen sanft im Windhauch bauschten.
     Erneut erfrischte er sich mit einem Schluck aus seinem Drink, bevor er das leere Glas auf dem ausgefallenen grauen Tisch aus Naturstein vor sich abstellte. Zufrieden lehnte er sich mit weit ausgebreiteten Armen zurück und spürte die weichen Kissen in seinem Rücken.
     Durch die offenen Glastüren wehte ihm ein laues Lüftchen entgegen und schnuppernd erkannte er den betörenden Duft der üppig blühenden Rosen, die die leuchtend weiße Hauswand schmückten.
     „Das alles gehört mir und noch viel mehr. Danke Vater“, murmelte er leise vor sich hin und erfasste nochmals die ganze Schönheit seines prachtvollen Anwesens mit seinen umherschweifenden Augen.
     Kurz verweilte sein Blick auf seinen Lieblingsbildern, die die schneeweißen Wände zierten. Mystische, dunkle Bilder wechselten sich mit farbintensiven, düsteren Bildern ab.
     Die Glasvitrine neben der Terrassentür zog seine Aufmerksamkeit unaufhaltsam an. Sie war der einzige Gegenstand, den Elias aus dem Büro seines Vaters in seine Villa bringen ließ. Die wie Juwelen schimmernde Sammlung kostbarer Miniaturrennwagen funkelte im Sonnenlicht und zog ihn seither immer wieder aufs Neue in ihren Bann.
     Das, was er sah, schmeichelte seiner Seele und seinem Ego. Lässig trommelte er mit seinen Fingerspitzen auf dem samtweichen Material des Sitzpolsters. Das leise Geräusch, das seine klopfenden Finger verursachten, passten zu dem flotten Rhythmus einer nicht hörbaren Musik. Leise summte er vor sich hin.
     Sanft wiegte Elias den Kopf im Takt zu seiner imaginären Musik hin und her. Sein braunes kurzgeschnittenes Haar unterstrich die markante Form seines attraktiven Gesichts.
     An diesem Tag versteckte er seine zweifarbigen Augen, eines in einem leuchtenden Azurblau und eines in einem hellen Silbergrau, hinter gleichmäßig getönten blassblauen Kontaktlinsen. Sie waren das Erbe seiner Eltern, das ihn zu etwas Besonderem machte. Ein dämonisches Grinsen stahl sich unbemerkt auf seine Lippen.
     Voller Genugtuung erinnerte er sich an das letzte Treffen mit seinem Vater, das in dessen Büro in der Spitze des Glasturmes seines Geschäftshauses stattfand. Noch immer standen ihm die letzten Bilder lebendig vor Augen. Nun ja, es waren seither auch nur wenige Tage vergangen – seit seines Vaters Tod.
     Elias sah seinen Vater in sich zusammengesunken mit einem Schwert in der Brust in einem schneeweißen Sessel sitzen. An diesem Tag war er selbst zum Mörder geworden.
     Von unendlicher Gier getrieben wollte er den kostbarsten Schatz seines Vaters um jeden Preis besitzen. Die Polizei glaubte an den Selbstmord eines verzweifelten Vaters, der vor kurzer Zeit seine beiden Kinder verloren hatte. Ihm war es recht.
     Niemand wusste von seiner Existenz. Bisher zumindest. Nach dem Tod seines Vaters musste er sich zwangsläufig zwei Personen als dessen unehelicher Sohn zu erkennen geben. Auf andere Art und Weise hätte er das unermesslich große Erbe seines Vaters nicht antreten können. Das war ihm jedoch sehr wichtig.
     Außerdem schwor er beim letzten Atemzug seines Vaters, dessen geheimes Vermächtnis fortzuführen. Dieses Versprechen nahm er sehr ernst.
     Die einzigen Personen, die ihn inzwischen unter seiner wahren Identität kannten, waren der Seniorchef der Rechtsanwaltskanzlei seines verstorbenen Vaters und sein neuer Geschäftsführer.
     Mit diesem energiegeladenen Mann Mitte vierzig hatte er bis vor einer halben Stunde ein aufschlussreiches und interessantes Gespräch geführt. Der alte Rechtsanwalt seines Vaters hatte ihm eine überaus gute Empfehlung für diesen fähigen Mann ausgesprochen, der ab sofort die Geschäfte seiner sämtlichen ihm gehörenden Firmen fortführte.
     Außer gelegentlichen telefonischen Abstimmungen zu besonders wichtigen und dringenden geschäftlichen Entscheidungen bestand keine Erfordernis, dass Elias sich mit Arbeit belastete. Nein, er konnte wie bisher ungehindert seinen Leidenschaften und Interessen nachgehen und diese waren sehr vielfältig.
     Außerdem hatte er mit größter Genugtuung wahrgenommen, dass die beiden einzigen Personen mit der Kenntnis über seine wahre Identität seine eindringliche Botschaft deutlich vernommen hatten.
     Falls eine dritte Person jemals seine wahre Identität erfahren sollte, würde er schonungslos den Verrat sühnen und den Rechtsanwalt sowie seinen neuen Geschäftsführer erbarmungslos töten lassen. Die aufblitzende Angst in den Augen seiner neuen Verbündeten waren ihm Beweis genug, dass sie von seiner Ernsthaftigkeit überzeugt waren.
     Elias liebte es, im Verborgenen zu agieren und ein unbeschwertes Leben zu führen. Die Öffentlichkeit kannte ihn als Elias Desilva und das reichte in seinen Augen völlig aus. Schon sehr früh erlaubte er es sich, den Decknamen seines Vaters für dessen dunkle Machenschaften auszuborgen und um zwei Buchstaben zu erweitern.
     Somit besaß er die perfekte Tarnung, um unerkannt durchs Leben gehen zu können. Allerdings verzichtete er auf die Übernahme des Doktortitels, den sich sein Vater selbst verliehen hatte. Für sich selbst als jungen Mann erachtete Elias diesen Titel doch als etwas übertrieben. Ein bisschen Anstand musste nach seinem Ermessen schließlich noch gewahrt bleiben.
     Obwohl er äußerlich seiner verstorbenen Mutter ähnelte, glich Elias charakterlich sehr stark seinem Vater. Dessen Gier nach Macht, Besitz und Geld klebte an ihm wie eine zweite Haut. Allerdings störte ihn das überhaupt nicht.
     Seit dem spontanem Mord an seinem Vater musste er sich selbst ehrlich eingestehen, dass er ihm auch an Skrupellosigkeit in nichts nachstand. Zudem war er ein Meister der Täuschung und Tarnung. In diesem Metier suchte er seinesgleichen vergeblich.
     Anders als sein Vater liebte er die gesamte Palette der verschiedenen Grautöne, die hervorragend zu seiner inneren Geisteshaltung und zu seinen Verhaltensweisen passte – anpassungsfähig, mit seiner Umgebung verschmelzend, wenn er es wollte, sowie innerlich berechnend und eiskalt.
     Mit Vorliebe agierte er hinter den Kulissen im Verborgenen, ohne seine wahre Identität preiszugeben. Darin unterschied er sich gravierend von seinem Vater. Wenn dieser einen Raum betrat, waren augenblicklich alle Gespräche verstummt und er hatte die Blicke aller Anwesenden auf sich gezogen.
     Seine gefährliche Aura füllte mühelos den gesamten Raum und hüllte ihn in einen Mantel aus purer Macht. Sein Vater genoss diese Auftritte und das ehrfürchtige sowie ängstliche Schweigen, das sich dabei wie ein unsichtbarer Schatten über seine Mitmenschen legte.
     Diese stumme Demonstration seiner Macht über andere Menschen hatten ihm ein höchstes Maß an Befriedigung beschert. Der große Auftritt, den sein Vater liebte und in perfekter Vollendung zelebrierte, lag ihm ganz und gar nicht. Im Gegenteil, genau genommen scheute er diesen wie der Teufel das Weihwasser.
     Stattdessen bevorzugte er es, nah und unerkannt am tatsächlichen Geschehen dran zu sein, um anschließend unbemerkt in der Menge unterzutauchen. Oh ja, das jahrelange Geheimhalten seiner Existenz durch seine Eltern hatte ihn sein Leben lang geprägt und ihn zu einem perfekten zweibeinigen Chamäleon werden lassen.
     
Der laute melodische Klang der Haustürglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Sein sehnlichst erwarteter Gast war eingetroffen. Elias konnte sich darauf verlassen, dass seine Haushälterin dem Neuankömmling Einlass gewährte und ihn zu ihm führen würde.
     Schon erkannte er die Umrisse seines Besuchers im Türrahmen zu seinem Wohnzimmer, in dem er bevorzugt seine Gäste empfing. Das mondäne und kalte Büro seines Vaters war nichts für ihn und er hatte es großzügig seinem neuen Geschäftsführer überlassen.
     Ganz gentlemanlike erhob er sich geschmeidig vom Sofa und eilte seiner Besucherin mit einem gewinnenden Lächeln entgegen. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich sahen. Unauffällig musterten sie sich gegenseitig von oben bis unten.
     Elias haftete immer ein Hauch von Strand und Meer an. Mit seiner leicht gebräunten Haut und seiner sonnigen Ausstrahlung vermittelte er jedem Betrachter den Eindruck, als ob er gerade erst vor wenigen Minuten von seinem Surfbrett abgestiegen war und sich aus seinem Neoprenanzug geschält hätte.
     In der Regel hinterließ er einen sehr sympathischen und vertrauenerweckenden Eindruck bei seinem Gegenüber. Meist hatte er leichtes Spiel, denn seine Mitmenschen erkannten seine Gefährlichkeit erst, wenn es für sie bereits zu spät war. Wie ein niedlicher Puma konnte er schnurren und blitzschnell mit seiner Pranke zum unerwarteten tödlichen Schlag ausholen.
     Die Person, die ihm nun gegenübertrat und ihn ebenfalls intensiv musterte, stand ihm hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit in nichts nach. Ganz in glänzendes pechschwarzes Leder gekleidet erschien sie ihm wie eine ungebändigte Kampfamazone aus dem tiefsten Urwald.
     Ihre Aura verströmte eine Art von Vitalität, die beinahe schon beängstigend auf Elias wirkte. Kein Gramm Fett haftete an ihrem durchtrainierten Körper, der nur aus wohlproportionierten Muskeln zu bestehen schien. Ihre endlos langen Beine steckten in einer hautengen Lederhose, zu der sie eine taillierte, hüftlange Jacke trug.
     Lediglich ein einfarbig schwarzes Top blitzte aus dem Ausschnitt der durch silberne Knöpfe geschlossenen Jacke hervor. Flache, bequeme Schuhe zeugten von ihrer praktischen Veranlagung und unterstrichen ihren raubtierähnlichen, geschmeidigen Gang.
     Mit ihren großen dunkelbraunen Augen, die wie flüssige Schokolade schimmerten, blickte sie ihm unerschrocken in die Augen. Vor ihm stand eine rassige, hochgewachsene Frau von ungefähr Ende zwanzig, deren kurze nachtschwarze Haarsträhnen ihr in wilden Stacheln vom Kopf abstanden. Ihre verführerischen vollen Lippen und ihre weiblichen Kurven wollten so gar nicht zu ihrem sonstigen gefährlichen Äußeren passen.
     Völlig fasziniert starrte er auf ihre rechte Wange, die ein kleines Tattoo schmückte – ein schwarzer ausgebreiteter Teufelsflügel mit einem geschwungenen Schwanz, der in einer winzigen Pfeilspitze mündete. Jedes Mal, wenn sie sprach, erwachte der Flügel plötzlich zum Leben. Dabei erweckte er den Eindruck zu schwingen, wobei die Pfeilspitze bedrohlich zuckte.
     Von ihr ging ein Hauch von unterschwelliger Aggressivität aus, die auf Elias äußerst anziehend und zugleich abstoßend wirkte. Dennoch, sie war eine der schönsten Frauen, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Vor ihm stand seine neue Sicherheitschefin – Kira.
     „Hallo Kira. Gut, dass du so kurzfristig kommen konntest“, begrüßte Elias seinen Gast freundlich.
     „Hallo Elias, das war kein Problem. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“ Ihre dunkle rauchige Stimme jagte ihm einen heißen Schauer über den Rücken. Er musste sich ernsthaft zusammenreißen, um nicht auf falsche Gedanken zu kommen, die in eine unanständige Richtung abzudriften drohten. Schließlich war er ihr Arbeitgeber und sie nicht sein Betthäschen.
     „Ja, ich freue mich ebenfalls darüber, dass wir uns einig geworden sind und du dich ab sofort um alle sicherheitsrelevanten Themen bei mir kümmern wirst“, erwiderte Elias und riss sich innerlich am Riemen.
     Bereits bei ihrem ersten Gespräch am Vortag hatte er ihr seine Vorstellungen hinsichtlich ihrer künftigen Aufgaben erläutert. Schnell hatte er erkannt, dass sie absolut vertrauenswürdig war.
     Ihr gelegentliches Zusammentreffen in der Vergangenheit war lediglich auf kurze Kontakte während des Trainings in demselben Fitnessstudio beschränkt. Elias wusste, dass sie für die private Sondereingreiftruppe seines Vaters gearbeitet hatte.
     Kurzerhand hatte er sie zu deren Anführerin befördert. Sie mussten sich erst noch gegenseitig besser kennenlernen. Allerdings signalisierte ihm sein Instinkt mit unumstößlicher Sicherheit, dass sie die vollkommen richtige Person für die zukünftigen Herausforderungen war.
     Mit einer einladenden Geste dirigierte er sie zu der halbrunden Couch und bat sie, Platz zu nehmen. Seine Haushälterin, eine mütterliche und rundliche Frau in den Fünfzigern, stellte auf dem Tisch vor ihnen ein Tablett mit zwei Gläsern sowie mehrere kleine Flaschen mit Orangensaft und Mineralwasser ab.
     Nachdem sich Kira bereitwillig ein Mineralwasser geschnappt hatte, goss sie die klare Flüssigkeit in das bereitstehende Glas. Das plätschernde Geräusch füllte für ein paar Sekunden die Stille im Raum.
     „Also, warum hast du mich gerufen, Elias?“, fragte ihn Kira direkt, ohne weitere Zeit zu verschwenden. Ihre dunklen Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet.
     „Nun ja, wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich habe meinem Vater geschworen, dass ich sein Vermächtnis fortführen werde“ antwortete Elias und griff zu seinem Glas, das er mit Orangensaft gefüllt hatte.
     Er nippte an dem fruchtigen Getränk, das ihm erfrischend die Kehle hinunterrann und stellte das Glas auf den Tisch zurück. Kiras dunkle Augen beobachteten ihn unablässig.
     „Das bedeutet, dass wir nun die nächsten Schritte planen müssen“, ergänzte er.
     Sein Blick wanderte von ihm unbemerkt von ihrem Gesicht zu ihrem Dekolleté und wieder zurück. Kiras wachsamen Augen blieb diese ungenierte Wanderung seiner Augen nicht verborgen.
     „Um erfolgreich zu sein, müssen wir unseren Gegnern immer einen Schritt voraus sein“, fügte er hinzu.
     Erneut begaben sich seine Augen auf Wanderschaft. Jeden einzelnen Zentimeter ihrer langen schlanken Beine saugte er genüsslich wie ein ausgetrockneter Schwamm in sich auf.
     Kiras volle Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Und, hast du nun genug gesehen? Anschauen ist erlaubt, aber ja nicht anfassen.“ Ihre energische Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie es todernst meinte.
     „Oh Verzeihung. Ich wollte dich nicht kränken oder dir zu nahe treten“, entschuldigte sich Elias ertappt.
     Widerwillig bemerkte er, dass er wie ein schüchterner Schuljunge leicht errötete. Entschlossen sich zu beherrschen, räusperte er sich vernehmlich.
     „Es ist alles gut.“ Kira konnte sich ein belustigtes Grinsen nicht verkneifen. Elias sah geflissentlich darüber hinweg.
     „Also nochmals. Um Erfolg zu haben, müssen wir wie unsere Gegner denken und ihnen am besten nicht nur einen Schritt, sondern gleich mehrere Schritte voraus sein.“ Dieses Mal hatte Elias seine Augen fest im Griff.
     Kira nickte ihm zustimmend zu. „Meine Männer und ich stehen bereit. Du musst nur sagen, was zu tun ist.“
     „Oh, ich hatte dieses Mal mehr an dich gedacht als an deine Männer“, antwortete Elias. Ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht.
     „An mich? Allein?“ Kiras Augenbrauen zuckten misstrauisch in die Höhe.
     „Ja, nur an dich allein. Deine Männer brauchen wir dabei nicht“, antwortete Elias. Es bereitete ihm sichtlich großes Vergnügen, sie ein wenig auf die Folter zu spannen, um ihre Neugier zu steigern.
     „Gut, was hast du vor?“, fragte Kira in geschäftsmäßigem Tonfall und ihr Oberkörper war erwartungsvoll leicht nach vorn gebeugt.
     „Ich habe einen Plan. Bevor ich meine Feinde vernichte, will ich sie erst kennenlernen und du wirst mich dabei begleiten.“
     
    

Das Versteck

Dieser mysteriöse Traum der vergangenen Nacht spukte noch immer in Aleas Gedanken herum und ließ sich beim besten Willen nicht vertreiben. Wie eine besitzergreifende Klette klammerte er sich an ihr Bewusstsein und weigerte sich hartnäckig zu verblassen.
     Innerlich aufgewühlt lief Alea mit großen Schritten durch ihr Zimmer im Palast. Ihr unermüdlicher Weg führte sie von ihrem Bett zur großen Fensterfront, dann weiter zu ihrem Kleiderschrank und wieder zurück zum Bett. Anschließend begann sie ihre Runde erneut.
     Missmutig schüttelte sie ihren Kopf. Bei jeder ihrer Bewegungen hüpfte ihr zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar im Takt mit. Im Gegensatz zu ihr schien es daran Freude zu finden, wie wild hin und her zu wippen.
     Mit einer fahrigen Geste strich sie sich mit ihren Fingerspitzen über die Stirn. Gedankenverloren starrte sie auf das leere Bett. Sie war allein.
     Tajo war bereits vor ihr aufgestanden, um einen wichtigen Termin wahrzunehmen. Nachdem er die Tür leise hinter sich geschlossen hatte, war Alea nochmals eingeschlummert.
     Unruhig hatte sie sich von einer Seite zur anderen gedreht. Ein wilder Traum suchte sie heim und versetzte sie im Schlaf in Alarmbereitschaft. Plötzlich war sie aufgewacht. Alle Bilder waren schlagartig verschwunden, bis auf die allerletzte Szene.
     Vergeblich versuchte sie durch eine ausgiebige Morgentoilette in ihrem Bad, die Reste des Traums abzuschütteln. Nun stand sie in einem bequemen weinroten Freizeitanzug, aus dessen Oberteil ein weißes Shirt hervorlugte, unschlüssig mitten im Raum.
     Deutlich stand ihr das letzte Bild vor Augen. Es fühlte sich für sie an, als ob sie tatsächlich an diesem Ort gewesen war. Lebendiger konnte kein Traum sein. Sie spürte, wie ihr beschleunigter Puls das Blut durch die Adern pumpte. Alea schloss die Augen.
     Aus ihrer Erinnerung erhob sich vor ihr das dunkle zerklüftete Gestein einer geräumigen Höhle. Sie stand mittendrin, ganz allein. Um sie herum ragten meterhohe massive Felswände in die Höhe und formten eine gewaltige Kuppel.
     Über ihr eröffnete sich durch ein kugelrundes Loch in der wuchtigen Höhlendecke ein wolkenloser Nachthimmel. Die Sterne blinkten am nachtschwarzen Firmament wie unzählige Diamanten.
     Um sie herum war es stockdunkel, bis auf den Ausschnitt, in dem das silbrige Mondlicht auf den felsigen Boden traf. Aleas Blick richtete sich nach oben zur kreisrunden Öffnung in der Höhlendecke. Das Sternbild des großen Wagens leuchtete direkt über ihr. Sie erkannte es sofort.
     Das Mondlicht wanderte weiter und erhellte plötzlich einen Wandausschnitt links neben ihr. Ihre neugierigen Augen folgten dem verräterischen Schimmern. Was sie erblickte, raubte ihr den Atem.
     Wie flüssiges Silber durchzogen dicke Linien das Gestein und formten einen übergroßen Baum des Lebens. Seine zahlreichen Zweige und Äste glänzten hell im Mondlicht. Der weit verzweigte Wurzelstock zierte die dunkle Wand und lief in unzähligen Adern am felsigen Boden aus.
     Eine eigenartige Anziehungskraft wohnte diesem Wandbild inne. Alea war es unmöglich, ihre Augen davon abzuwenden. Wie hypnotisiert verschlang sie den Lebensbaum mit ihren Blicken. Bis sie schlagartig erwacht war. Seither verfolgte sie dieses Bild auf Schritt und Tritt wie ein hartnäckiger Schatten.
     Ihre innere Stimme signalisierte ihr, dass dieses Bild von großer Bedeutung für sie war. Sie musste allerdings erst noch erkennen, weshalb sich dieses außergewöhnliche Wandbild ihr zeigte. Ruhelos tigerte sie in ihrem Zimmer auf und ab. Ein plötzlicher Geistesblitz erhellte ihre nachdenkliche Miene. Schlagartig wurde ihr klar, was sie gesehen hatte.
     „Was soll ich bloß tun?“, murmelte Alea unentschlossen vor sich hin. „Am besten wird es sein, wenn ich es einfach herausfinde“, sprach sie sich selbst leise Mut zu.
     Schon griffen ihre vor Aufregung leicht zitternden Finger nach der Kette um ihren Hals, um ihren zweifarbigen Portalstift hervorzuholen. Kaum hielt sie den Stift in der Hand, bewegten sich ihre Füße wie von selbst auf das Stück freie Wand neben ihrem Kleiderschrank zu.
     In einer flinken Bewegung malte sie einen großen Türbogen an die Wand. Sofort nach dem Absetzen des Stifts erglühte die Linie in einem kräftigen Türkis und dazwischen entstand das vertraute Schimmern eines Portaldurchgangs.
     Vorsichtig schritt Alea hindurch. Sie hatte sich beim Öffnen des Portals das letzte Bild des Baumes in der halbdunklen Höhle vorgestellt. Es hatte funktioniert. Sie stand direkt vor dem geheimnisvoll schimmernden Baum des Lebens. Wie in ihrem Traum hob er sich in hellem Silber vom dunklen Untergrund ab. Dieser Ort existierte tatsächlich.
     Ihre Augen versuchten das Dunkel ihrer Umgebung zu ergründen. Alea fröstelte. Sie rieb sich für einen kurzen Moment die Hände und zog automatisch ihre Oberarme eng an ihren Oberkörper. Auf einen Schlag spürte sie die klamme Kälte in der Höhle. Der leicht modrige Geruch, der in der Luft lag, stach ihr in die Nase. Kein Laut durchbrach die unheimliche Stille.
     Vorsichtig setzte sie einen Fuß nach vorn. Erschrocken sprang sie zur Seite, als ihre Zehenspitzen gegen einen harten Gegenstand stießen. Fast zeitgleich aktivierte Alea ihren Schutzschild und ließ ihn aus ihren Fingerspitzen fließen. Augenblicklich überzog sich ihre Silhouette mit einem hellen glänzenden Film. Wie eine zweite Haut umfloss er ihren gesamten Körper und erhellte ein wenig die unmittelbare Umgebung um sie herum.
     Tief holte sie Luft und ließ sie in ihre Lungen strömen. Allmählich spürte sie, wie sich ihr lebhafter Herzschlag anschickte, sich zu beruhigen. Ihr Verstand wusste, dass keine menschliche Waffe sie nun verwunden konnte.
     Ihre Augen senkten sich auf den Boden und suchten fieberhaft nach dem harten Gegenstand, gegen den ihr Schuh gestoßen war. Entsetzt erkannte sie, dass mehrere blanke Knochen sich zu ihren Füßen türmten.
     Auf den ersten Blick konnte sie nicht erkennen, ob es die kläglichen Überreste eines Tieres oder eines menschlichen Wesens waren. Ein kalter Schauer lief Alea über den Rücken. In Windeseile erforschten ihre Augen die Umgebung. Erleichtert stellte sie fest, dass keine weiteren Knochen verstreut lagen.
     In einem großen Bogen umrundete sie den gruseligen Knochenstapel. Inzwischen neugierig geworden setzte sie einen Fuß vor den anderen, um die Höhle zu erkunden.
     Ihre Fingerspitzen ertasteten die kalte Oberfläche des harten Gesteins, aus dem die Wände und der Boden der Höhle bestand. Kleine Steinchen rieselten unter ihrer Berührung in die Tiefe. Das Geräusch, das sie verursachten, wirkte in der Stille unnatürlich laut.
     Nirgendwo erblickte sie einen Ausgang aus der Höhle. Die einzige Öffnung befand sich wie in ihrem Traum in der Decke und entblößte den funkelnden Sternenhimmel. Das vertraute Sternbild blinkte über ihrem Haupt und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich dieser seltsame Ort auf der Erde befand. Alea war sich ganz sicher. In Alterra schmückte kein großer Wagen das nächtliche Himmelszelt.
     Da, was war das? Ein leises Pfeifen ließ Alea aufschrecken. Stocksteif blieb sie wie angewurzelt stehen und spitzte die Ohren. Ihr Puls schnellte in die Höhe. Ihre Augen huschten aufgeregt an den Wänden entlang. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhärchen sträubten.
     Nichts. Absolute Stille. Hatte sie sich getäuscht? Oder war es nur der Wind gewesen, der sich in der Öffnung der Deckenhöhle verfing? Irritiert schüttelte Alea den Kopf.
     „Es wird nur der Wind gewesen sein“, murmelte Alea leise vor sich hin und versuchte sich mit diesen Worten wieder zu beruhigen.
     Alles blieb still und so setzte Alea ihre Inspektion der Höhle fort. Bohrende Fragen drängten sich ihr auf. Wie war diese Höhle entstanden? Durch Naturgewalten oder durch Menschenhand? Wie alt war sie? Zu wem oder was gehörten die Knochen? Wie waren sie hierher gekommen? Zu welchem Zweck durchzog der silberne Lebensbaum mit seinen Ästen und Zweigen das harte Gestein? Wie war er entstanden?
     Nichts, was sie auf ihrem Weg durch diese eigentümliche Höhle entdeckte, half, ihre Fragen zu beantworten. Allmählich näherte sie sich wieder ihrem Ausgangspunkt – dem geheimnisvollen Wandbild.
     Plötzlich ließ ihr ein leises Wispern das Blut in den Adern gefrieren. Kaum hörbar vernahm sie ihren Namen: „Alea, komm!“
     Eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Ihr Herzschlag beschleunigte sich in schwindelnde Höhen. Angestrengt lauschte sie in die Stille. Nichts. Wie eine Statue verharrte sie an Ort und Stelle und wagte nicht, nur einen Finger zu rühren. Vor Schreck hielt sie die Luft an. Sie hörte, wie das Blut unermüdlich durch ihre Ohren rauschte.
     Stille. Schweigen. Ruhe. Nichts geschah. Hatte sie sich das nur eingebildet? Ging ihre Fantasie mit ihr durch?
     „Nun ja, es wäre auch kein Wunder an diesem sonderbaren und unheimlichen Ort.“, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein.
     Tief holte sie Luft. Ihre Schockstarre löste sich. Nochmals warf sie misstrauische Blicke in ihre direkte Umgebung. Außer ihr war niemand in der Höhle. Ihre Füße nahmen wieder ihren Dienst auf und setzten sich in Bewegung. Zielstrebig steuerten sie auf das silberglänzende Wandbild zu.
     Ihre Aufmerksamkeit wurde von dem mächtigen Wurzelstock angezogen, der sie zu sich zu rufen schien. Davor angekommen ging sie in die Hocke und musterte intensiv jede einzelne Verzweigung. Die feinen silbernen Linien faszinierten sie wie eine Sammlung wertvoller Juwelen.
     Vorsichtig streckte sie die bebenden Finger ihrer rechten Hand aus und fuhr jede einzelne feine Linie damit nach. Kühl und erstaunlich trocken fühlte sich die Oberfläche an und gänzlich glatt, wie frisch poliert.
     Exakt in dem Übergang zwischen der groben Wand zum unebenen Boden spürte Alea eine Unregelmäßigkeit im Gestein. Neugierig ertastete sie die Umrisse dieser geringfügigen Erhebung. Zu ihrem großen Erstaunen wies sie die Form und die Größe eines Ziegelsteins auf.
     Unter ihren Fingerspitzen fühlte Alea eine weitere runde Erhöhung, die sich genau in der Mitte des Steinquaders vorwitzig in die Höhe erhob. Ihr schimmernder Schutzschild spendete als einzige Lichtquelle ein wenig Licht.
     Sie bückte sich noch etwas tiefer, um das Objekt näher in Augenschein zu nehmen. Deutlich spürte sie, wie sich ihr Puls erneut beschleunigte. Doch dieses Mal war es die Aufregung vor einer unerwarteten Entdeckung. Verblüfft starrte sie auf einen matt schimmernden Türkisstein in der Größe einer kleinen Münze inmitten des felsigen Untergrunds.
     Was hatte denn das nun zu bedeuten? Wie kam ein Türkis hierher? Misstrauisch beäugte Alea den Edelstein, der sie buchstäblich anzulocken versuchte. Vorsichtig befingerte sie mit ihrer rechten Hand den Türkisstein. Nach wenigen Sekunden schenkte ihr ein spontaner Geistesblitz eine hilfreiche Erleuchtung.
     Mit sanftem Druck presste sie den Edelstein gegen die Wand. Zu ihrer Überraschung schoben sich die scharfen Kanten der Unebenheit im Gestein noch deutlicher hervor. Mit beiden Händen rüttelte Alea an den Seiten des rechteckigen Blocks. Sie spürte deutlich, wie sich die Erhebung aus dem umgebenden Fels lösen ließ.
     Plötzlich ließ sie ein unbekanntes Geräusch ruckartig zusammenfahren. Ein hohl klingendes Scheppern zerriss die lautlose Stille. Hastig zog sie ihre Hände von dem rauen Gestein zurück.
     Vor Schreck machte sie einen Satz nach hinten. Schwer keuchend stemmte sie sich mit einem Arm an der Wand ab. Ihr Blick richtete sich auf ihre Fingerspitzen und sahen – nichts.
     „Das kann doch nicht sein“, dachte Alea voller Panik und starrte nochmals auf ihre Hand.
     Nichts als grauer Fels lag vor ihren Augen. Zur Sicherheit wackelte sie mit den Fingern. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie auch ihren gesamten Arm nicht sehen konnte. Langsam wanderten ihre Augen an ihrem Körper entlang. Sie sah nichts, nur dunkles Gestein, anstatt dem hellen Schimmern ihres Schutzschildes.
     „Mein Gott, was ist passiert?“, keuchte sie verwirrt in das Halbdunkel der Höhle.
     Betont langsam lockerte sie zuerst die Muskeln in ihrem linken Arm, anschließend im rechten Arm und in beiden Beinen. Das Bild vor ihren Augen veränderte sich nicht.
     In aller Deutlichkeit spürte sie jedoch, wie ihr Schutzschild sie noch immer umhüllte. Langsam sickerte die unglaubliche Erkenntnis in ihr Bewusstsein: Sie war unsichtbar!
     Ihr Schutzschild reflektierte das Bild ihrer Umgebung, sodass sie perfekt damit verschmolz und für das menschliche Auge nicht mehr zu erkennen war. Sicherheitshalber kniff sie sich mit der rechten Hand in ihren linken Unterarm. „Autsch, das tut weh“, japste sie leise. Um entdeckt zu werden, musste eine andere Person erst mit ihrem Körper zusammenstoßen und dessen Widerstand spüren.
     Alea zermarterte sich das Gehirn. Wodurch hatte sie diese neue Funktion ihres Schutzschildes nur ausgelöst? In Gedanken rief sie sich die letzten Minuten nochmals ins Gedächtnis. Auf einen Schlag fiel ihr die Lösung ein.
     Durch das unerwartete Geräusch, das der Stein beim Lösen aus der Wand erzeugt hatte, war sie derart erschrocken, sodass sie nur noch von dem Gedanken beherrscht war, sich sofort zu verstecken. Das musste ihrer Meinung nach ihre Unsichtbarkeit ausgelöst haben.
     Voller Begeisterung tastete sie ihre beiden Arme ab. „Das ist doch in der Tat eine sehr nützliche Funktion“, dachte sie sich und ihr Innerstes jubelte voller Freude. Augenblicklich meldete sich ihr Instinkt zu Wort und signalisierte ihr unmissverständlich, diese neue Erkenntnis für sich zu behalten.
     Bereits aus den zurückliegenden Wochen, in denen sie ihre neuen Fähigkeiten entdeckte und erforschte, kannte sie diese Warnung. Sie war gut damit beraten, auf ihren Instinkt zu hören und diese Neuigkeit niemandem anzuvertrauen – nicht einmal Tajo.
     Noch ein weiteres Mal wedelte Alea ungläubig mit ihren Händen in der Luft. Ihr Körper war nicht zu erkennen. Nach ein paar Minuten des Staunens wandte sie sich wieder dem Wandbild zu.
     Suchend blickte sie zu Boden. Zu ihren Füßen lag der gelöste Stein. Dahinter offenbarte sich eine verborgene dunkle Nische. Vor Überraschung entfloh ihren Lippen ein leiser Aufschrei. Der Laut zerbrach erneut die grabähnliche Stille der Höhle. Mit gebeugtem Oberkörper bückte sie sich noch etwas tiefer, um in das Innere der Nische blicken zu können. Sie war leer.
     In Hochstimmung beugte sie sich nach vorn, um den herausgelösten Stein in die Hand zu nehmen. Wie von Zauberhand bewegt schwebte er durch die Luft. Sorgfältig setzte sie ihn wieder an seinen Platz zurück.
     Zufrieden begutachtete sie ihr Werk. Keine Veränderung war zu erkennen. Der Türkis thronte wie zuvor inmitten des Steins. Der Baum des Lebens erstrahlte unverändert in flüssigem Silber und verwahrte sein Geheimnis zwischen seinen schimmernden Linien.
     Alea jubelte vor Freude. Sie hatte das perfekte Versteck gefunden, in dem sie ihren Armreif vor der Welt verborgen halten konnte.
     
Bei ihrer Rückkehr in den Palast saß Tajo in ihrem Zimmer auf dem gemütlichen Sofa und wartete in stoischer Ruhe auf ihr Erscheinen. Sein trainierter Körper steckte in einer dunkelblauen Jeans und einem taubenblauen Pullover. Er bildete einen wahren Farbtupfer zu dem hellen cremefarbenen Material der Couch.
     Überrascht zog Alea eine Augenbraue in die Höhe. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sobald von seinem Termin zurückkehren würde. Umso mehr freute sie sich über seine Anwesenheit.
     Sie spürte, wie die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu neuem Leben erwachten. Er war in der Tat ein optischer Leckerbissen und Alea genoss seinen Anblick in vollen Zügen.
     Seine gute Laune und die Farbe seiner Kleidung stellten eine willkommene Abwechslung zu dem grauen Wetter dar, das Alterra in ein düsteres Grau einhüllte.
     Draußen vor der großen Fensterfront regnete es in Strömen. Dunkle Wolken fegten am Himmel entlang und entluden eifrig ihre nasse Fracht. Es war inzwischen empfindlich kühl geworden und der milde Spätsommer hatte widerwillig einem ungeduldig anklopfenden Herbst Platz gemacht.
     Aleas privates Refugium erstrahlte durch die wie unzählige Sterne funkelnden Deckenstrahler in einem warmen gelblichen Licht. Tajo blickte kurz nach draußen und zuckte unmerklich mit den Schultern. Ihm war das Wetter egal, denn in seinem Herzen erstrahlte jeden Tag die Sonne, seitdem er Alea das erste Mal begegnet war.
     Geduldig wartete er auf ihre Ankunft. In seinen schlanken Händen hielt er einen geschlossenen blütenweißen Briefumschlag. Um sich die Wartezeit zu verkürzen warf er ihn immer wieder in die Luft, um ihn anschließend geschickt aufzufangen. Dabei variierte er jedes Mal den Winkel beim Werfen, um die Veränderung in der Wurfbahn beobachten zu können.
     Bei ihrem plötzlichen Erscheinen, als sie ohne Vorwarnung durch das von ihr geöffnete Portal schritt, hielt er mitten in der Bewegung inne. Überrascht hob er eine Augenbraue an. Er hatte sie irgendwo im Palast vermutet, jedoch nicht sozusagen „außer Haus“. Rasch legte er den Brief, den er noch immer in seinen Händen hielt, auf den Tisch.
     Bei ihrem Anblick erstrahlten seine azurblauen Augen und in ihnen konnte Alea seine tiefe Liebe zu ihr erkennen. Noch immer konnte sie es nicht fassen, was in den letzten Wochen alles passiert war und wie gravierend sich ihr Leben verändert hatte. Vor allem, dass ausgerechnet dieser dunkle, aufregende Mann sich in sie verliebt hatte, erschien ihr jeden Tag wie ein kleines Wunder.
     Mit einem strahlenden Lächeln eilte sie auf Tajo zu. Das Portal hatte sich bereits hinter ihr geschlossen. Mit einem Freudenschrei ließ sie sich dicht neben ihm auf das Sofa plumpsen und umschlang ihn mit ihren Armen.
     Dieser Einladung folgte Tajo mehr als willig und verschloss ihre weichen Lippen in einem leidenschaftlichen Kuss. Sofern sie beide allein in einem Raum waren, konnten sie nicht ihre Finger voneinander lassen. Dazu war ihre junge Liebe noch zu frisch, zu aufregend und zu überschäumend.
     Vor Glück strahlend löste sich Alea nach kurzer Zeit atemlos aus seinen Armen. Tajo spürte ihre innere Aufregung und dass sie ihm unbedingt etwas mitteilen wollte. Neckisch zupfte er an den wippenden Spitzen ihrer zusammengebundenen Haare.
     „Na, wo kommst du denn her?“, fragte er sie lachend und eröffnete ihr somit die Möglichkeit, sogleich von ihrem Abenteuer zu berichten.
     „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe ein geeignetes Versteck für meinen Armreif gefunden!“, sprudelte es aus Alea heraus. Vor Aufregung klang ihre Stimme eine Tonlage höher als üblich.
     „Wie hast du denn das geschafft und wo befindet sich dieses Versteck?“ Tajo konnte nun seine Neugier nicht mehr bezähmen. Aleas Ankündigung hatte seine volle Aufmerksamkeit geweckt.
     „Du wirst mich jetzt für verrückt halten, aber ich habe den Ort letzte Nacht in meinem Traum gesehen“, antwortete sie atemlos und berichtete ihm in wenigen Sätzen von ihrem Traum und ihrer anschließenden Erkundungstour. Den Teil mit ihrem unsichtbaren Schutzschild übersprang sie geflissentlich.
     „Wow! Dich darf ich aber auch keinen Augenblick allein lassen“, schlussfolgerte er mit einem amüsierten Ton in der Stimme.
     „Na, na, so schlimm ist es nun auch wieder nicht“, protestierte Alea halbherzig und konnte sich ein glucksendes Lachen nicht verkneifen.
     „Wozu habe ich denn einen Portalstift, wenn ich ihn nie benutzen würde?“, fragte sie Tajo herausfordernd und ihre Augen blitzten voller Unternehmungslust.
     „Das ist ja auch okay. Allerdings solltest du dich nicht in Gefahr begeben, wenn du alleine losziehst, mein Schatz“.
     Liebevoll strich ihr Tajo über die zarte Haut ihrer Wange und schenkte ihr einen sehnsüchtigen Blick aus seinen leuchtenden Augen. Der dunkle Unterton in seiner männlichen Stimme, der ansatzweise seine Besorgnis um ihre Sicherheit verriet, entging Alea nicht. Dankbar drückte sie ihm einen zärtlichen Kuss auf seine glattrasierte Wange.
     „So, und was machen wir nun?“, verlangte er von ihr zu erfahren.
     „Wir bringen den Armreif jetzt in sein neues Versteck“, beantwortete Alea prompt seine Frage in einem resoluten Ton.
     „Was, jetzt, sofort?“ Verblüfft betrachtete er ihr vor Aufregung leicht gerötetes Antlitz. Vor Unternehmungslust glitzerten ihre türkisfarbenen Augen wie zwei klare Bergseen im Sonnenschein.
     „Ja, warum nicht oder fällt dir ein gutes Gegenargument ein?“, fragte sie ihn und ihr herausfordernder Tonfall reizte seine Abenteuerlust.
     Ihr freches Grinsen tat sein Übriges. Nur mühsam konnte er der Versuchung widerstehen, sich Alea über die Oberschenkel zu werfen und ihr süßes Hinterteil sanft zu klopfen.
     Sichtbar um Beherrschung ringend atmete er mehrmals tief ein und aus. Fasziniert beobachtete Alea das Spiel seiner beeindruckenden Muskeln, während sich sein Brustkorb deutlich hob und senkte.
     Ihre Fingerspitzen strichen bereits sanft über diese wohlgeformten Muskelpakete. Sie spürte die weiche Wolle des Pullovers unter ihren Fingern und wie sich Tajos Muskeln augenblicklich anspannten. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Mit einem unschuldigen Augenaufschlag blickte sie ihm tief in seine glänzenden Augen.
     „Alea, wenn du noch lange so weitermachst, wird das mit deinem Ausflug wohl nichts werden“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Seine Augen hatten sich vor unterdrückter Leidenschaft verdunkelt und seine Hände griffen sehnsüchtig nach ihr.
     „Du hast recht, mein dunkler Panther. Entweder machen wir jetzt Amore oder einen Ausflug.“
     Aufreizend langsam zog sie ihre Hand von seiner Brust zurück. Begehrlich starrte sie auf seine Körpermitte, deren pralle Wölbung sie magisch anzog. Sinnlich benetzte sie ihre Lippen mit ihrer feuchten Zungenspitze.
     Die Nennung seines Kosenamens, den Alea nur in sehr intimen Momenten für ihn verwendete und ihr sichtbares Begehren zeigte, brachten ihn an die Grenze seiner Selbstbeherrschung. Ein erregtes Stöhnen entfloh Tajos vor Verlangen geöffnetem Mund.
     „Liebes, du solltest mich nicht so quälen, sondern eine Entscheidung treffen“, japste er um Beherrschung ringend. Seine Stimme klang rau und jagte ihr einen prickelnden Schauer über den Rücken.
     „Okay …“ Abrupt sprang Alea auf die Füße und drehte sich schwungvoll mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse. Sie musste tief durchatmen, um wieder einen klaren Verstand zu bekommen.
     „Nachdem ich dir nach dieser stürmischen Nacht eine Ruhepause gönnen sollte, um wieder zu Kräften zu kommen, werden wir jetzt einen Ausflug machen“, entschied sie kurzerhand.
     Ein engelsgleiches Lächeln zierte ihre verführerischen Lippen. Ihr unschuldiger Augenaufschlag, der ihm und seiner aufwallenden Begierde galt, entlockte ihm erneut ein leises Stöhnen. Diese wunderschöne Frau machte ihn wahnsinnig - vor Leidenschaft, vor Begehren, aus tief empfundener Liebe.
     Hilfsbereit streckte Alea ihm ihre Hand entgegen, um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein. Mit einem leisen Brummen nahm er ihr Angebot an und ließ sich von ihr gespielt schwerfällig auf die Beine ziehen.
     Ihr glockenhelles und glückliches Lachen brachte sein Herz zum Jubilieren. Oh ja, er war heftig verliebt in dieses zauberhafte Geschöpf, und zwar bis über beide Ohren.
     „Und, können wir nun aufbrechen?“, fragte ihn Alea nachsichtig und eilte bereits zu ihrem Nachttisch.
     Dort wartete das goldene Kästchen mitsamt seinem gefährlichen Inhalt geduldig darauf, dass sie es in sein neues Versteck bringen würde. Behutsam ergriff sie das Behältnis und sauste auf Tajo zu. Ein letzter herzlicher Kuss auf seine rechte Wange sollte ihm signalisieren, dass sie bereit für ihren Aufbruch war.
     Tajo legte seinen starken Arm um ihre schmale Taille und zog sie ein letztes Mal an sich. Zärtlich hauchte er ihr einen Kuss auf ihr seidiges Haar.
     „So, nun bin ich auch bereit“, erklärte er ihr mit einem letzten bedauernden Blick auf ihren zu einem glücklichen Lächeln verzogenen Mund.
     Während Tajo sie aufmerksam beobachtete, zog Alea eine breite Linie an der Wand. Im Bruchteil einer Sekunde begann die bis dahin weiße Wand zu flimmern und das Portal öffnete sich. Hand in Hand schritten sie zusammen hindurch.
     Die Höhle befand sich noch immer in demselben Zustand wie bei ihrem Verlassen. Im Halbdunkel schimmerten die silbrigen Linien des Wandbildes geheimnisvoll und lockten Alea und Tajo sofort an. Fasziniert bewunderte Tajo den Baum des Lebens, der sich ihm in seiner vollen Schönheit darbot. Er wirkte beinahe lebendig.
     Erneut strich Alea mit sanften Berührungen über das glatte Silber der Zweige und spürte die Kühle auf ihrer Haut. Tajo tat es ihr gleich. Verblüfft verfolgte er ihr Handeln, als sie sich bückte und mitten im ausladenden Wurzelstock mit beiden Händen nach der Erhöhung und dem Türkisstein suchte.
     Flink presste sie den Edelstein gegen die Wand und spürte bereits die scharfe Kontur des sich lösenden Gesteinsblocks. Kaum rüttelte sie an dem ziegelgroßen Stein, ertönte das Geräusch, über das sie sich bei ihrem ersten Besuch derart erschreckt gezeigt hatte. Dieses Mal war sie darauf vorbereitet. Der Stein ließ sich mühelos von ihr entfernen, um ihr einen Einblick in die leere Wandöffnung zu gewähren.
     „Da! Diese Nische halte ich für das geeignete Versteck, um meinen Armreif vor der Welt darin zu verbergen.“ Triumphierend blitzten Aleas Augen im Halbdunkel auf.
     Mit großem Erstaunen musterte Tajo die Öffnung, die groß genug zur Aufnahme des goldenen Kästchens war. Forschend bückte er sich neben sie und inspizierte forschend die dunkle Stelle.
     „Wie hast du das gemacht? Wie konntest du den Stein lösen?“, fragte er neugierig.
     „Das ist ganz einfach. In der Mitte des Wurzelstocks befindet sich eine Erhöhung und ein Türkisstein, die ich mit den Fingerspitzen ertasten kann.“ Ihr Zeigefinger deutete auf den Steinquader.
     „Sobald ich sie gefunden habe, brauche ich nur den Edelstein gegen die Wand drücken, ein bisschen an dem Stein rütteln und schon passiert es. Der kleine Block lässt sich anschließend problemlos aus dem Untergrund entfernen“, erläuterte ihm Alea und zeigte ihm damit erneut ihr grenzenloses Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte.
     „Raffiniert und du hast recht, es ist das ideale Versteck.“ Anerkennend nickte er mit dem Kopf.
     „Zur Sicherheit schaue ich mir die Wände der Höhle im Detail an, sodass wir sicher sein können, keinen Zu- oder Ausgang übersehen zu haben“, ergänzte er und setzte sich bereits in Bewegung.
     Nach ein paar Minuten, in denen er die gesamte Höhle gründlichst untersuchte, kehrte er mit zufriedener Miene zu Alea zurück.
     „Wie du schon gesagt hast, es gibt keinen Zugang zu dieser Höhle, außer diesem Loch in der Decke.“ Sein Blick war forschend in die Höhe gerichtet.
     Wie bei ihrem ersten Besuch konnte Alea über sich das vertraute Sternbild des großen Wagens im sternenklaren Nachthimmel erkennen.
     „Hast du eine Ahnung, wo sich diese Höhle befindet, Tajo? Also ich meine, wo konkret, außer auf der Erde?“, fragte sie ihn und starrte noch immer andächtig in den Himmel.
     „Keine Ahnung, Alea. Um das herauszufinden, müssten wir einen Blick nach draußen in die Umgebung werfen“, antwortete er ehrlich und zuckte mit den Schultern.
     „Ob uns das weiterhelfen würde, ist allerdings fraglich“, fügte er hinzu.
     „Nun ja, da die Höhle ansonsten über keinen Zugang verfügt, halte ich sie für ein sehr sicheres Versteck. Ich denke nicht, dass sich viele Menschen außer uns beiden hierher verirren werden“, meinte sie zufrieden.
     „Wer wohl dieses Wandbild erschaffen haben mag?“, rätselte Tajo und betrachtete es nachdenklich. „Ob Turkes etwas damit zu tun hatte?“
     „Ich weiß es nicht.“, antwortete Alea grübelnd. „Es ist auf jeden Fall ein sehr gutes Versteck.“
     Schon schob sie das Kästchen in den hintersten Winkel der dunklen Wandnische. Sorgfältig verschloss sie die Öffnung mit dem Stein und erhob sich. Zufrieden und beruhigt betrachtete sich nochmals den Baum des Lebens, der sich in seiner ganzen majestätischen Pracht ihren Blicken darbot.
     Mit einem Blick zu Tajo meinte sie: „Außer uns beiden kann nun niemand den Armreif finden. Um mit einem Portalstift dorthin zu reisen, müsste derjenige das Bild des Lebensbaums aus dieser Höhle kennen. Da nur wir beide das Bild kennen, ist dies somit ausgeschlossen.“
     „Ja, du hast recht“, bestätigte Tajo mit einem kurzen Kopfnicken ihre Aussage.
     „Lass uns wieder gehen“, forderte Alea ihn zur Heimkehr auf und zog bereits eine Linie mit ihrem Portalstift neben dem Wandbild.
     Zurück in ihrem Zimmer ließen sie sich nebeneinander auf ihre Couch fallen und blickten sich zufrieden in die Augen. Plötzlich entdeckte Alea den weißen Briefumschlag auf dem Tisch.
     „Was ist denn das? Ist der für mich?“, fragte sie neugierig und griff bereits nach dem Umschlag.
     „Ach ja, das hätte ich jetzt beinahe vergessen. Der ist von Rebecca. Sie hat ihn Matteo für dich mitgegeben“, erklärte ihr Tajo und schmunzelte über ihre unverhohlene Neugier.
     Mit einem energischen Ruck riss Alea den Umschlag auf der Rückseite auf und beförderte eine elegante Einladungskarte ans Tageslicht. Eilig überflog sie die in geschwungenen Buchstaben gehaltenen Worte und strahlte über das ganze Gesicht.
     „Juhu! Ich freue mich riesig über diese Einladung“, jubelte sie voller Vorfreude.
     „Rebecca hat uns, also dich, mich, Matteo, Tolin und André, zu ihrer Geburtstagsfeier in drei Tagen eingeladen“, teilte sie Tajo in überschwänglicher Freude mit. Die Hand, in der sie den Briefbogen hielt, wedelte wie ein Fächer wild in der Luft.
     Ihre Augen funkelten vor Begeisterung wie zwei große Sterne. Obwohl sie sich allmählich an ihre neue Heimat gewöhnte, vermisste sie dennoch den regelmäßigen Kontakt zu ihren beiden Freundinnen Rebecca und Lilly doch sehr.
     Umso mehr freute sie sich auf ein Wiedersehen. Außerdem hoffte sie inständig, dass ihnen nach den turbulenten Abenteuern der vergangenen Wochen eine ruhige und erholsame Phase ihres Lebens bevorstand. Eine gelungene Geburtstagsfeier gehörte nach ihren Vorstellungen auf jeden Fall dazu.
     „Ihre Partys sind legendär“, erklärte sie Tajo, der völlig ruhig neben ihr saß und sie mit einem Schmunzeln beobachtete. Plötzlich stutzte Alea.
     „Du hast es bereits gewusst, dass der Brief ihre Einladung enthält, nicht wahr?“ Ihr drohend erhobener Zeigefinger zeigte direkt auf seine aristokratische Nase. Mit einem amüsierten Lächeln nickte er zustimmend.
     „Von Matteo, oder?“ Erneut näherte sich ihr Zeigefinger gefährlich seiner Nasenspitze an. Sein treuherziger Dackelblick sprach Bände.
     „Ihr Brüder! Habt ihr überhaupt irgendwelche Geheimnisse voreinander?“, fragte sie ihn mit gespielter Entrüstung.
     Ein heftiges Kopfnicken folgte als Antwort. Alea rollte daraufhin mit den Augen. Sie hatte sofort verstanden, dass wenigstens ihre intimen Momente, die nur ihnen beiden gehörten, vor Matteos Neugier in Sicherheit waren.
     „Äh, wo waren wir? Ach ja, bei Rebeccas wilden Partys“, setzte sie ihren Wortschwall fort.
     „Ihre Geburtstagsfeiern haben es in sich. Letztes Jahr legten zwei ihrer Verehrer einen spontanen heißen Striptease aufs Parkett. Die waren echt klasse, die beiden Jungs.“ Eifrig plapperte sie weiter.
     „Mal schauen, was in diesem Jahr wieder Unvorhergesehenes passiert …“ Schwärmerisch reckte sie ihr Kinn mit dem süßen Grübchen in die Luft. Tajos fröhliches Lachen holte sie aus ihrer Träumerei zurück.
     „Was ist? Die Feier hat letztes Jahr richtig Spaß gemacht“, erklärte sie in einem rechtfertigenden Tonfall.
     „Ja, das sehe ich dir allerdings an.“ Wohlwollend musterte Tajo Aleas Gesicht, das vor Begeisterung nur so strahlte.
     „Weiß Tolin es bereits?“, erkundigte sie sich und forschend suchte sie seinen Blick.
     „Nein, dem müssen wir es noch mitteilen“, beantwortete er ihre Frage.
     „Hm …“ Nachdenklich strich sich Alea über ihr Kinn.
     „Ich bin der Ansicht, dass es ihm guttun würde, wenn er mitgehen und gemeinsam mit uns ein bisschen feiern würde. Was meinst du?“, fragte sie.
     „Ja, ich stimme dir zu. Vielleicht beschleunigt das seine Genesung. Ich würde es ihm auf alle Fälle wünschen“, stellte Tajo mitfühlend fest.
     „Gut, dann lass uns mal bei Tolin vorbeischauen. Er ist bestimmt in seinem Zimmer“, entgegnete sie und erhob sich bereits.
     Wenige Minuten später standen sie vor Tolins Zimmertür. Alea erhob ihre Hand und klopfte mit den Handknöcheln an das massive Türblatt aus mittelbraunem Eichenholz. Zwei Sekunden später öffnete sich die Tür und ein junger Mann von Mitte zwanzig bat sie mit einer einladenden Geste einzutreten.
     Timo war der neue Leibwächter ihres Bruders, der extra für seine persönliche Betreuung nach der Rettung aus den Händen der Entführer eingestellt worden war. Mit Bravour hatte er alle Sicherheitsprüfungen und Einstellungstests bestanden.
     Ihre Eltern waren der Meinung, dass ein junger Mann in seiner Nähe Tolin helfen könnte, schneller wieder zu genesen. Sie hegten die Hoffnung, dass Timo nicht nur die Aufgaben des Leibwächters übernahm, sondern sich zwischen den jungen Männern auch eine Freundschaft entwickeln würde.
     Bisher ging der Plan gut auf. Timo war ein überaus freundlicher und hilfsbereiter junger Mann, der immer gut aufgelegt zu sein schien. Hellblonde, verwuschelte Haare umrahmten sein unauffälliges Gesicht und seine hellblauen Augen strahlten ihnen gutmütig entgegen.
     Sein schlanker, trainierter Körper war mit einer blauen verwaschenen Jeans und einem hellblauen Freizeithemd bekleidet, das am Kragen offen stand. Wie ein großer Lausbub zwinkerte er Alea und Tajo an und schloss die Tür geräuschlos hinter ihnen.
     Alea mochte Timo sehr und auch sie hoffte, dass seine Anwesenheit ihren Bruder von seinen erlittenen Qualen ablenken würde. Mit größtem Entsetzen hatte sie die Schilderung von Tolins Folter vernommen, als er endlich nach seiner Rettung zum Reden bereit war.
     Dank einer neuen Droge musste er unzählige Male auf die abartigste Weise sein eigenes Sterben erleben. So lange, bis er sich am Ende nur noch nach dem Tod sehnte und sein geschundener Geist in eine tiefe Bewusstlosigkeit floh.
     Als er endlich wieder das Bewusstsein erlangte, hatten ihre Eltern versucht, es ihm so schonend wie möglich zu erklären, dass seine angebetete Vanessa die Tochter ihres Widersachers gewesen und bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen war.
     Dass sie diejenige war, die ihm bei seiner Entführung das Betäubungsmittel im Wagen verabreicht hatte, verletzte ihn zutiefst. Und dennoch sehnte sich sein Herz verzweifelt nach ihr. Nur ganz langsam erholte er sich von dem grausamen Schrecken seiner Entführung.
     Als Alea nun in der offenen Tür stand, blieb ihren wachsamen Augen die offenkundige Sympathie, die zwischen den beiden jungen Männern herrschte, nicht verborgen. Zufrieden nahm sie wahr, dass sich die Gesichtsfarbe ihres Bruders allmählich zu erholen begann und sich die unnatürliche graue Färbung nach und nach verlor.
     Wenn das doch auch so schnell bei seiner Seele gehen würde, hatte sich Alea in den letzten Tagen bereits mehrfach gewünscht. Bisher vergeblich. Noch immer zog er sich in sich selbst zurück.
     Von dem übermütigen, immer gut aufgelegten Sonnenschein, als den sie ihn kennengelernt hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Ihr Herz wurde schwer. Wie gerne hätte sie ihm geholfen und ihm einen Teil seiner bedrückenden Last abgenommen.
     Ganz in einen dunkelblauen Freizeitanzug gehüllt saß er wie ein Häufchen Elend auf seiner hellbraunen Couch. Teilnahmslos starrte er auf das Glas Orangensaft, das vor ihm auf einem niedrigen Glastisch stand. Von seiner Umgebung nahm er in diesem Moment nichts wahr.
     Mit ausholenden Schritten lief sie quer durch das Zimmer auf ihren Bruder zu. Tajo folgte ihr dicht auf den Fersen. Unaufgefordert nahm sie neben ihm Platz und zog Tolin in eine enge und liebevolle Umarmung. Irritiert erwiderte er halbherzig ihre offene Zuneigungsbekundung. Erst der Blick in ihre türkisfarbenen Augen brachten etwas Leben in sein fahles Antlitz.
     Zufrieden registrierte Alea das allererste Anzeichen von Freude in seiner Miene. Ein schwaches Lächeln auf seinen farblosen Lippen versetzten sie schon beinahe in Euphorie. Das war deutlich mehr, als er in den vergangenen Tagen gezeigt hatte.
     „Vielleicht ist die Einladung zur Geburtstagsfeier doch die passende Medizin, um seinen Zustand zu verbessern“, dachte sich Alea und im hintersten Winkel ihres Herzens keimte ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer auf.
     „Hallo Tolin, hallo Timo. Wir haben gute Neuigkeiten für euch“, platzte Alea sofort mit dem Thema heraus.
     „Ihr seid gemeinsam mit uns zu Rebeccas Geburtstagsfeier eingeladen“, verkündete sie betont fröhlich. Für sie stand es außer Frage, dass Timo ihren Bruder begleiten würde. Wie ein Schatten folgte er ihm auf Schritt und Tritt.
     Mit ernster Miene blickte ihr Bruder ihr in die Augen. Argwöhnisch betrachtete Tolin seine ältere Schwester.
     „Wer ist Rebecca?“, fragte er sichtlich irritiert.
     „Erinnerst du dich nicht mehr an sie? Sie ist meine beste Freundin. Matteo und sie sind ein Paar und sie hat uns bei deiner Rettung geholfen“, beantwortete Alea seine Frage geduldig.
     Beruhigt sah sie das Erkennen in seinen Augen aufblitzen. Zögernd sah er zwischen Timo und seiner Schwester hin und her. Kein einziges Wort kam über seine Lippen, weder Zustimmung noch Ablehnung. Alea wollte ihren Bruder zu nichts zwingen. Hilfesuchend blickte sie zu Timo. Dieser reagierte sofort.
     „Eine Geburtstagsparty, auf der Erde? Wie cool“, freute sich Timo ehrlich. „Da gehen wir doch gerne mit, oder, Tolin?“ Aufmunternd blickte er zu seinem Schützling.
     Alea drückte zärtlich die kühle Hand ihres Bruders. Nach einigem Zögern erfolgte sein schwaches Kopfnicken.
     „Okay …“ Die Dehnung des Wortes ließ Alea erkennen, dass er noch nicht vollständig davon überzeugt war, dass die Annahme der Einladung eine gute Idee war.
     „Tolin, du wirst sehen, diese Feier wird dir bestimmt Spaß machen. Rebeccas Partys sind einfach der Hammer“, versuchte Alea ihm die Feier schmackhaft zu machen.
     Begeistert klatschte Timo in die Hände und jubelte ungezwungen: „Juhu, dann begleiten wir euch!“
     Diese Abwechslung war ganz nach seinem Geschmack. Außerdem vertrat er ebenfalls die Meinung, dass Tolin dringend eine Ablenkung benötigte. Seine Augen blitzten voller Vorfreude und er schenkte Alea ein strahlendes Lächeln.
     
     

Die Geburtstagsparty

     
Laute Musik dröhnte aus versteckten Lautsprecherboxen und ließ den Glasfußboden leicht vibrieren. Rebbecas Geburtstagsfeier fand in einem kleinen, exklusiven Tanzclub statt, deren Inhaber zu der langen Liste ihrer stürmischen Verehrer zählte. Eine tiefe kameradschaftliche Freundschaft verband Rebecca mit Alex und gerne erwies er ihr gelegentlich einen Gefallen.
     Für ihre Feier ließ er es sich nicht nehmen und stellte ihr gerne seinen Club für ihre private Party zur Verfügung. Natürlich nur unter der Bedingung, dass er selbst die Musik auflegen und die Rolle des Moderators für den Abend übernehmen durfte.
     Gleißendes, im Rhythmus der rockigen Musik flackerndes Licht erhellte eine runde Tanzfläche. Nahezu rundum wurde sie von Sitznischen mit nachtschwarzen Sitzpolstern eingesäumt, in denen ungefähr acht bis zehn Personen ausreichend Platz fanden. Auf der Seite des Eingangs begrüßte eine langgestreckte Bar aus schwarzem Holz mit viel blitzendem Chrom die fröhlichen Gäste bei ihrem Erscheinen.
     Die lange Wand hinter der Theke schmückte ein Meer aus unterschiedlich großen silbernen Spiegeln, die durch eine beeindruckende Spirituosensammlung voneinander abgetrennt wurden. Die Flaschen in den verchromten Wandregalen funkelten im Schein der zuckenden Scheinwerfer in den unterschiedlichsten Farbtönen – von Kristallklar über ein geheimnisvolles Nachtblau und sündigem Weinrot bis zu warmen Brauntönen in sämtlichen Schattierungen von Gold- bis Dunkelbraun.
     Zwei Barkeeper hinter dem Tresen erfüllten sämtliche Wünsche ihrer durstigen Gäste. Dabei zelebrierten sie mit großen Gesten das Befüllen der Gläser und boten eine zusätzliche Show für den wartenden Gast.
     Allmählich füllte sich das Lokal, wobei der Großteil der eingeladenen Gäste sich gleichmäßig in den Sitznischen verteilte. Vereinzelt standen kleine Grüppchen am Rande der Tanzfläche und unterhielten sich mit den verschiedenartigsten Drinks in ihren Händen von Ohr zu Ohr.
     Alle Sitzplätze an der Bar waren belegt. Die Gäste thronten auf hohen, aus hell funkelndem Chrom angefertigten Stehhockern und hießen alle Neuankömmlinge mit einem fröhlichen „Hallo“ willkommen.
     Wie ein gewaltiger, wertvoller Schatz zog die glitzernde Tanzfläche die Aufmerksamkeit aller Besucher sofort auf sich. Unter der transparenten Glasoberfläche blitzte ein Meer aus funkelnden Glassteinchen in allen Regenbogenfarben und bildete ein riesiges glitzerndes Mosaik. Die Tanzenden fühlten sich dabei, als ob sie sich auf einem unermesslichen Reichtum an Edelsteinen im Takt zur Musik wiegen würden.
     Zwischen Bar und Tanzfläche stand das strahlende Geburtstagskind und begrüßte jeden einzelnen Gast mit einer innigen, liebevollen Umarmung. Rebecca sah in ihrem hautengen Minikleid aus glitzernden kupferfarbenen Pailletten einfach atemberaubend aus.
     Ihr langes feuerrotes Haar fiel ihr in weichen Locken bis über die Schultern und ihre katzengrünen Augen funkelten wie leuchtende Edelsteine. Wie eine Sirene aus der griechischen Mythologie zog sie alle Blicke der anwesenden Männer auf sich. Selbstsicher, elegant und traumhaft schön strahlte sie mit den Scheinwerfern um die Wette. Auf hochhackigen, schwarzen Sandaletten balancierte sie gekonnt wie eine Ballerina und zeigte sich ihrem begeisterten Publikum.
     Alea und ihre Begleiter bahnten sich zielstrebig ihren Weg durch die Menge am Eingang. Automatisch zogen sie und ihre durchwegs männliche, höchst attraktive Eskorte sämtliche Blicke auf sich. Alle hatten sich für diesen besonderen Anlass in Schale geworfen.
     Alea sah hinreißend aus in ihrer hauchdünnen, schwarzglänzenden Hose, die wie edles Leder schimmerte. Passend dazu trug sie hochhackige, schwarze Pumps, deren Absatz bereits als Waffe durchgehen könnte. Vervollständigt wurde ihr Outfit durch eine aquafarbene, taillenkurze Chiffonbluse, die mit unzähligen türkisfarbenen Steinchen verziert war.
     Ihre goldblonde Haarmähne stürzte sich in glänzenden Wellen über ihre Schultern und umfing sie im Licht der Scheinwerfer wie ein Heiligenschein. An ihren zierlichen Ohrläppchen baumelten die kostbaren Ohrringe aus funkelnden Diamanten, die sie erst vor Kurzem von ihren Eltern anlässlich ihres eigenen Geburtstags geschenkt bekommen hatte.
     Ihre Begleiter, Tajo, Matteo, André sowie Tolin an der Seite seines Leibwächters Timo folgten ihr in eleganten dunklen Anzügen zu blütenweißen Hemden und ohne Krawatten dicht auf den Fersen.
     Sobald sie ihre Freundin entdeckte, stürzte Alea mit großen Schritten auf sie zu und fiel ihr laut jubelnd um den Hals.
     „Endlich sehe ich dich wieder, Rebecca. Ich habe dich so vermisst“, quietschte sie voller Freude eine Oktave höher. Stürmisch wurde ihre Umarmung erwidert.
     „Oh, ich konnte es ebenfalls kaum erwarten, dich wiederzusehen, Alea“, jauchzte Rebecca glücklich. Vorsichtig löste sie sich aus den Armen ihrer Freundin und begutachtete sie gründlichst von oben bis unten.
     „Prima siehst du aus. Anscheinend tut dir dein dunkler Adonis gut“, stellte Rebecca zufrieden fest und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Mit einem fröhlichen Seitenblick schielte sie zu Tajo, der sie frech grinsend musterte. Er hatte ihren Kommentar gehört.
     „Die erste Sitznische neben dem Eingang ist für uns reserviert“, erklärte Rebecca und deutete dabei mit ihren langen schlanken Fingern, an deren Spitze goldener Nagellack aufblitzte, auf sich selbst und auf Aleas Begleiter.
     Nach einer ausgiebigen Begrüßung von Rebecca in Verbindung mit den besten Glückwünschen zu ihrem Geburtstag steuerte Aleas Tross den zugewiesenen Tisch an.
     Lediglich Matteo folgte ein paar Sekunden später, da die Begrüßung seiner strahlenden Freundin etwas mehr Zeit in Anspruch nahm. Mit einem breiten Grinsen ließ er sich neben Tajo auf das weiche Sitzpolster fallen.
     Alea wollte sich gerade auf der anderen Seite von Tajo niederlassen, als sie am Arm zurückgehalten wurde. Sie spürte eine starke Hand auf ihrer nackten Haut. Erstaunt hob sie den Blick und starrte unvermittelt in die nachtschwarzen Augen von Viktor, einem der spontanen Stripper der letztjährigen Geburtstagsfeier.
     Seine pechschwarzen Haare trug er stolz in einem Irokesenschnitt auf dem Haupt, was seine markante Gesichtsform besonders gut zur Geltung brachte. Vermutlich tummelten sich indianische Vorfahren in seiner Ahnengalerie, was durch seinen bräunlichen Teint noch unterstrichen wurde.
     Sein muskelbepackter Oberkörper steckte in einer offenen schwarzen Lederweste und gab viel nackte Haut preis. Seine ansehnlichen Oberarmmuskeln komplettierten seine breiten Schultern. An seinen langen sportlichen Beinen glänzte eine schwarze Lederhose mit feinen goldfarbenen Ornamenten.
     Am schwarzen Ledergürtel seiner Hose prangte mittig eine große ovale Schnalle mit einer kunstvollen Gravur. Unauffällig war eindeutig etwas anderes. Allerdings kannte Alea ihn ausschließlich in extravaganter Kleidung aus wenig Stoff.
     Neben ihm stand sein Striptease-Partner vom vergangenen Jahr und zwinkerte ihr vergnügt zu. Wie üblich trug Alec seine Rockermontur aus dunkelbraunem Antikleder, die mit den unterschiedlichsten Emblemen übersät war.
     Sein beigefarbenes Hemd stand ihm beinahe bis zum Bauchnabel offen und erlaubte Alea einen Einblick auf den Ansatz seines Waschbrettbauchs. Ein Dreitagebart schmückte sein kantiges Gesicht und verlieh ihm ein gefährliches Aussehen. Seine dunkelbrauen Haare standen in wilden Wuscheln von seinem Kopf ab und betonten seine hellbraunen Augen.
     Bevor Alea wusste, wie ihr geschah, pressten sich Viktors heiße Lippen auf ihren Mund. Bewegungslos erstarrte sie mitten in der Bewegung. Erst nach einigen Sekunden löste er sich unvermittelt von ihr und lachte sie schelmhaft an.
     „Na, meine Süße, du siehst ja fantastisch aus“, dröhnte sein voller Bass und übertönte mit Leichtigkeit die laute Musik. Eingehend musterte er sie von oben bis unten.
     „Dir scheint es richtig gut zu gehen“, ergänzte er zufrieden.
     Alea bekam keine Chance, ihn zu begrüßen und ihren Begleitern vorzustellen. Sein unbekümmerter Redeschwall ergoss sich über sie, ohne dass er Luft holen musste.
     „Oha, der dunkle Adonis dort am Tisch scheint seinem finsteren Gesichtsausdruck nach zu schließen deine neueste Eroberung zu sein“, stellte er amüsiert fest und platzierte die nächsten Küsschen auf ihrer weichen Wange. Sein Kumpel Alec tat es ihm gleich, als dieser endlich an der Reihe war.
     Lachend ließ sich Alea diese ungewöhnliche Begrüßung gefallen. Sie mochte die beiden sehr. Obwohl sie rein optisch betrachtet sehr exzentrisch wirkten, beeindruckten sie Alea immer wieder durch ihre unverblümte Ehrlichkeit und ihr ausgeprägtes Mitgefühl für andere Menschen. Bei beiden schlug ein sehr großes, gutmütiges Herz unter ihrer mitunter gefährlich wirkenden Schale.
     Tajo beobachtete diese besondere Art der Begrüßung mit gemischten Gefühlen. Deutlich spürte er den Stachel der Eifersucht in seinem Herzen stechen, obwohl ihm sein Verstand signalisierte, dass Alea ganz allein ihm gehörte.
     Dennoch, der Anblick dieser beiden prächtigen männlichen Exemplare versetzte ihm schon einen winzigen Stich in seine Eingeweide. Matteo entging sein mürrischer Gesichtsausdruck nicht. Lachend knuffte er seinen älteren Bruder in die Seite.
     „Nun schau doch nicht so finster drein. Das ist doch alles ganz harmlos“, versuchte er seinen Bruder zu besänftigen.
     „Ja, ja. Aber hast du gesehen, wie er jeden ihrer Zähne einzeln mit seiner Zungenspitze nachgezählt hat?“, fragte Tajo entrüstet mit rauer Stimme.
     Prustend bog sich Matteo vor Lachen. Kameradschaftlich klopfte ihm André zu seiner linken Seite auf den Rücken. Auch er hatte Tajos Kommentar gehört und kämpfte ebenfalls mit einem belustigten Lachen.
     „Was glaubst du, was ich heute Abend noch alles ertragen muss?“, fragte Matteo seinen Bruder glucksend und deutete mit seinem Zeigefinger in die Richtung seiner Angebeteten. An Rebeccas leicht geröteten Wangen hingen rechts und links zwei gut gebaute Kampfsportler und knutschten sie soeben hingebungsvoll ab.
     „Ihr ganzer Karateclub ist zu ihrer Feier eingeladen. Du siehst ja selbst, aus welchen Prachtexemplaren diese Truppe besteht. Außerdem will ich nicht wirklich wissen, welcher von ihnen zu ihren Verflossenen zählt.“ Erheitert blickte er zu der Dame, die sein Herz im Sturm erobert hatte.
     „Ich werde sie wohl nie ganz bändigen können, meine temperamentvolle Wildkatze. Allerdings weiß ich mit Sicherheit, dass ihr Herz ganz allein mir gehört und das reicht mir“, setzte er noch hinzu.
     „Also, du Platzhirsch, gönne deiner Eifersucht heute mal einen freien Abend.“ Aufmunternd klopfte Matteo seinem noch immer finster dreinblickenden Bruder auf die Schulter.
     In diesem Augenblick drehte sich Alea mit einem breiten Lächeln zu ihnen herum.
     „Nun ja, mit einer solchen Begrüßung habe ich wirklich nicht gerechnet“, entschuldigend zuckte sie mit den Schultern und wedelte leicht verlegen mit ihrer Hand in der Luft. Irritiert beobachtete sie Matteos erneuten Lachanfall und irgendwie beschlich sie das Gefühl, dass sie etwas verpasst hatte.
     Gerade als sie sich neben Tajo setzen wollte, fühlte sie erneut eine Hand an ihrem Oberarm, die sie schwungvoll herumwirbelte. Der Bruder ihrer Freundin Lilly, mit dem sie bereits bei deren Hochzeit eine heiße Sohle auf das Parkett gelegt hatte, stand freudestrahlend vor ihr.
     Mit einem lauten Jauchzen fiel Alea ihm um den Hals und drückte ihn herzhaft. Lillys Bruder war in der Zeit nach dem Tod ihrer Zieheltern zu einem Familienmitglied geworden. Wie ein besorgter Bruder hatte er sich um ihr Wohlergehen gekümmert. Immer wieder hatte er sie erfolgreich aufgeheitert, wenn die Traurigkeit über den erlittenen Verlust drohte, sie zu übermannen.
     „Schön, dich wiederzusehen, mein Zuckerschneckchen“, begrüßte er Alea liebevoll. Seine Augen blitzten übermütig und schielten in Tajos Richtung, der ihr Zusammentreffen mit Argusaugen beobachtete.
     „Na, es sieht so aus, als ob es zwischen dir und deinem eifersüchtigen Verehrer gefunkt zu haben scheint.“ Breit grinsend musterte er wohlwollend ihr strahlendes Antlitz. Was er sah, erfreute ihn sichtlich.
     „Ja, ja, du hast recht. Inzwischen sind Tajo und ich ein Paar“, jubelte sie voller Glück.
     „Das freut mich sehr für dich, Alea.“ Liebevoll platzierte er ein geschwisterliches Küsschen auf ihrer rosigen Wange.
     „Wo sind Lilly und Mark?“, fragte Alea ungeduldig und ihre Augen suchten nach ihnen.
     „Oh, die beiden sind heute nicht hier. Lilly geht es nicht so gut. Sie ist bereits schwanger“, beantwortete Lillys Bruder ihre Frage und lachte dabei verschmitzt.
     „Na ja, das überrascht mich nicht. Es war bereits vor der Hochzeit abzusehen, dass die beiden bald Nachwuchs bekommen würden. Sie kennen sich aber auch schon sehr lange“, kommentierte sie die freudige Nachricht. Mit forschender Miene wandte sich wieder ihrem Gegenüber zu.
     „Na, und wer begleitet dich heute Abend?“, fragte Alea belustigt.
     „Ist es Bambi, Liebes oder die Süße?“ Alea konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Nur zu gut erinnerte sie sich noch an die Auswahl seiner Begleiterin zur Hochzeit seiner Schwester. Sein Harem bestand ständig aus mehr als zwei Frauen gleichzeitig, von denen jedoch mindestens eine immer wegen Vernachlässigung schmollte.
     „Heute begleitet mich meine Süße“, beantwortete er ihre Frage und zeigte auf eine kurvenreiche Schwarzhaarige, die geradewegs auf sie zusteuerte.
     Ihr wiegender Hüftschwung machte jeder Pendeluhr Konkurrenz und ihre üppige Oberweite drohte, jeden Moment aus ihrem wie eine zweite Haut anliegenden, weißen und extrem kurzen Minikleid zu springen. Perfekt passte sie in sein übliches Beuteschema – bildhübsch, kurvenreich, mit einem ausgeprägten Hang zu spärlicher Kleidung.
     Mit einem kurzen Seitenblick auf die sich nähernde Schönheit überlies Alea ihn seinem Schicksal, das zielstrebig auf sie zu rauschte.
     „Na, dann wünsche ich dir noch viel Spaß für den heutigen Abend.“ Süffisant schnalzte sie mit ihrer Zunge.
     Das Bild von ihm im Garderobenraum, als sie ihn unfreiwillig auf Lillys Hochzeit tief im Ausschnitt seiner Begleiterin überrascht hatte, war in ihrer Erinnerung noch ganz lebendig. Lachend enteilte er aus Aleas Gesellschaft und schwebte auf seine Angebetete zu.
     Endlich bot sich ihr die Gelegenheit, sich neben Tajo niederzulassen. Über den Rand ihres Cocktails, an dem sie genussvoll nippte, musterte sie voller schwesterlicher Liebe ihren Bruder Tolin.
     Dieser schien die lebhafte Stimmung und die laute Musik zu genießen. Entspannt lehnte er sich in seinem weichen Polster zurück. Angeregt unterhielt er sich mit Timo und gemeinsam bestaunten sie die immer größer werdende Schar der Tanzenden, die sich hingebungsvoll zum fetzigen Rhythmus der Musik bewegten.
     Nach einer halben Stunde unterbrach der Besitzer des Clubs die flotte Musik und kündigte eine Showeinlage an. Die Gäste, die bisher von der Bar aus das Getümmel auf der glitzernden Tanzfläche beobachtet hatten, mussten nun ihre Plätze sicherheitshalber räumen. Das auf Hochglanz polierte Holz der Theke wurde von den Barkeepern in Lichtgeschwindigkeit leer geräumt.
     Unter großem Beifall stürmten drei hochgewachsene Männer quer über die Tanzfläche und sprangen leichtfüßig auf die Theke. Augenblicklich setzte heiße, rhythmische Musik ein.
     Geschmeidig wie Raubkatzen bewegten sich die als Cowboys verkleideten Tänzer zum Takt der Musik. Ihre flinken Füße steppten geräuschvoll auf dem Holz unter ihren Stiefeln und die johlende Menge klatschte im Takt mit.
     Alea erkannte neben Viktors Irokesenhaarschnitt noch Alec, den Rocker, und einen weiteren hübschen Burschen namens Ben aus Rebeccas Karateclub. Je länger die Musik andauerte, umso mehr warfen die Tänzer Stück für Stück ihre Kleidung ab.
     Zuerst flogen die Hüte auf die umstehenden Personen herab, danach schlossen sich die kunterbunten Halstücher an. Begleitet von den anfeuernden Rufen des Publikums flatterten ihre ärmellosen Westen wie Fahnen im Wind und gesellten sich zu den am Boden verstreut umherliegenden Westernhüten.
     Mit einem Ruck rissen sie sich die weißen Hemden vom Leib, sodass deren Metallknöpfe wie winzige Wurfgeschosse in sämtliche Himmelsrichtungen davonstoben. Die Menge brodelte und forderte lauthals „Zu-ga-be“.
     Mit blanken Oberkörpern vollführte jeder von ihnen einen Salto und sprang behände auf die Tanzfläche. Ihre stahlharten Muskeln bewegten sich geschmeidig unter der straffen Haut und ließen manches Herz der anwesenden Damen höherschlagen.
     Mit aufreizenden Hüftschwüngen wiegten sich die drei Tänzer im Takt und kamen dem wild klatschenden Publikum immer näher. Einige weibliche Zuschauerinnen drängten sich mit begehrlich ausgestreckten Händen nach vorn, um die nackten Oberkörper zu berühren.
     Flink zogen sich die Tänzer wieder ein Stück zurück und ließen ihre knackigen Kehrseiten neckend kreisen. Abrupt endete die Musik und die drei athletischen Männer verneigten sich in einer leichten Verbeugung unter tosendem Beifall.
     Wie von Zauberhand bereitgestellt thronten drei riesige Blumensträuße in den Farben Rot, Gelb und Rosa auf der Bartheke. Mit federnden Schritten näherten sich die drei Männer der Theke, griffen sich flink einen Blumenstrauß und machten auf dem Absatz kehrt in Richtung Rebeccas Tisch. Diese wartete bereits auf ihre Trainingspartner am Rande der Tanzfläche und applaudierte lautstark.
     Dicht beugte sich Tajo zu Alea hin. Ganz leise wisperte er in ihr Ohr: „Und mit diesen Exemplaren hast du vor mir deine Zeit verbracht?“
     Alea verschluckte sich heftig, da sie gerade dabei war, an ihrem Glas zu nippen. Eilig klopfte sie sich mit ihren langen Fingern auf ihre Brust. Sie japste nach Luft.
     „Nein, wir haben uns nur sehr selten gesehen, da sie zu Rebeccas großer Schar an Bewunderern gehören“, antwortete Alea wahrheitsgemäß. Erleichtert verfolgte Tajo, wie die drei Schönlinge ihre Blumensträuße überreichten und von Rebecca an ihren Tisch gebeten wurden.
     Flink wie ein Wiesel schob sich Ben mit nacktem Oberkörper neben Alea auf die Sitzbank und begrüßte sie überschwänglich. Unauffällig verfolgte Alea das Spiel seiner Muskeln unter der bronzefarbenen Haut.
     Ganz schwach stieg ihr ein herber, wohlriechender Männerduft in die Nase. Nur gut, dass ihr eigener Adonis ebenfalls sehr gut gebaut war und hinsichtlich seiner Attraktivität den drei aufregenden Tänzern in nichts nachstand. Alea wunderte sich keineswegs darüber, dass bei deren Einlage manche der anwesenden Damen förmlich dahingeschmolzen waren.
     Auf der anderen Seite von Ben hatte sich Rebecca niedergelassen, nachdem ihr der hilfsbereite Clubbesitzer die drei Blumensträuße abgenommen hatte.
     Prompt fing sich Ben von seinen Mitstreitern murrende Kommentare ein: „Du hast es also geschafft, als Hahn im Korb zwischen zwei schönen Frauen einen Platz zu ergattern“, brummten sie und schossen neidvolle Blicke in seine Richtung ab. Viktor und Alec mussten sich mit den beiden Plätzen neben Tolin und Timo begnügen.
     „Na ja, dieses Mal möchte ich schließlich die Party in vollen Zügen genießen und im Gegensatz zum letzten Jahr alles bei klarem Verstand mitbekommen“, erklärte er in entschuldigendem Tonfall. Seine blauen Augen blitzten amüsiert. Die fragenden Mienen, die ihm entgegenblickten, waren ihm nicht entgangen. Sofort setzte er zu einer erhellenden Erklärung an.
     „Tja, letztes Jahr war ich um diese Uhrzeit schon voll wie ein Aquarium“, klärte er Alea und ihre Begleiter ungeniert auf.
     „Viktor lehnte mich irgendwann einmal gegen einen riesigen stabilen Blumenkübel, um den Schein einer nicht vorhandenen Nüchternheit zu wahren. Zu diesem Zeitpunkt wies ich bereits einen Bewegungsdrang wie ein Koalabär in Vollnarkose auf“, setzte er seine Ausführungen mitteilsam fort.
     „In einem angeblich lichten Moment rief ich dann ‚Sekt für meine Freunde - acht Gläser und einen Piccolo‘ einem vorbeieilenden Barkeeper lauthals zu“, fügte er fröhlich an.
     „Anschließend riss ich mir das Hemd vom Leib, weil mir zu heiß war und ich mich so durchgegart wie Königsberger Klopse fühlte“, setzte er seine aufschlussreiche Schilderung fort.
     „Das Ausschlürfen des Zimmerbrunnens führte ebenfalls nicht zu einer Abkühlung …“, ergänzte er offen.
     „… und nachdem ich die Schuhe ausgezogen hatte, versuchte ich meine Füße zu erfrischen, indem ich mir zwei gekühlte Sektkübel schnappte und meine Zehen hineinstreckte.“ Rebecca konnte ein Kichern nicht mehr unterdrücken. Ganz schwach erinnerte sie sich noch an die geschilderten Geschehnisse.
     „Als nächstes zog ich den Gürtel aus dem Bund, knöpfte mir umständlich meine Hose auf und versuchte sie mir über den Hintern zu ziehen …“ Matteo räusperte sich vernehmlich und versuchte einen Lachanfall zu unterdrücken.
     „Daraufhin schleppte mich Viktor zum Auslüften an die frische Luft, was jedoch nicht die gewünschte Wirkung hervorrief.“ Von Viktor wurde seine Aussage durch ein zustimmendes Kopfnicken bestätigt.
     „Oh Mann, ihr könnt mir glauben, ich kaufe mir nie wieder ein Hose mit Knöpfen zum Schließen. Das ist einfach unpraktisch in Notlagen“, versprach er seinen glucksenden Zuhörern mit leicht erhobenem Zeigefinger, den er energisch hin und her schwenkte.
     „Viel weiß ich leider nicht mehr von diesem Abend. Ich war derart mit Alkohol vollgepumpt, dass ich mir gewünscht habe, ich wäre bei der tollen Feier dabei gewesen.“ Bedauernd verzog er seine Lippen zu einem charmanten Lächeln, mit dem er Rebecca reumütig bedachte.
     „Der Wodka hatte die vollständige Kontrolle über meinen Körper und Geist übernommen. Also streng betrachtet bin ich eigentlich fast so etwas wie unschuldig …“ Sein lammfrommer Dackelblick stellte jeden Welpen in den Schatten.
     „Das war schon sehr dünnes Eis, nicht wahr, Becca?“, fragte er die Gastgeberin mit einem treuherzigen Augenaufschlag, die bei seiner Schilderung der letztjährigen Ereignisse ein glucksendes Lachen unterdrücken musste.
     „Da war gar kein Eis“, beantwortete Alea trocken seine Frage und kam ihrer Freundin um eine Sekunde zuvor.
     Laut prustend brachen beinahe gleichzeitig alle am Tisch in ausgelassenes Gelächter aus. Jeder von ihnen amüsierte sich über Bens ehrliche Schilderung seiner vergangenen Entgleisung. Vergnügt beobachtete Alea, dass sogar Tolin sich den Bauch vor lauter Lachen hielt und sich nicht mehr zurückhalten konnte.
     Wenige Minuten später stürzten sich die drei Tänzer in das volle Getümmel auf der Tanzfläche und rockten gemeinsam zum wummernden Beat der Musik.
     
Der Musikstil wechselte. Zu einem sanften Blues wiegten die eng umschlungenen Paare ihre Hüften hin und her. Alea blickte Tajo bittend in die Augen. Er verstand sofort. Freudestrahlend hüpfte sie auf die Tanzfläche, dicht gefolgt von ihrem Liebsten.
     Mit einem sehnsüchtigen Blick zog Tajo sie besitzergreifend in seine Arme. Sich verliebt in die Augen schauend vergaßen die beiden die Welt um sich herum. Tajo zog Alea noch eine Spur enger an sich heran. Es gefiel ihm, ihren aufregenden Körper so nah an seinem zu spüren.
     Sein Herz floss über vor Liebe für diese atemberaubende Frau in seinen Armen. Insgeheim schwor er sich, alles, was in seiner Macht stand, zu tun, um sie glücklich zu machen. Er fasste den ernsthaften Vorsatz, sie sollte es nie bereuen, sich an ihn gebunden zu haben.
     Mit einem warmen Lächeln blickte er in ihre türkisfarbenen Augen und verlor sich darin. In ihren Händen wurde er so weich wie Wachs. Mühelos konnte sie ihn um den Finger wickeln und er würde sich noch ausgesprochen glücklich schätzen, dass sie es tat. Dieses zauberhafte Geschöpf in seinen Armen hatte ihn in Rekordzeit völlig um den Verstand gebracht.
     Wie eine geheimnisvolle Fee schaffte sie es, ihm bis auf den Grund seiner Seele zu blicken. Sie verstand ihn, auch ohne Worte. Obwohl sie sich erst so kurze Zeit kannten, wünschte sich Tajo, dass sie mit ihm den Rest ihres Lebens verbringen wollte.
     Seine heimlichen und nicht ausgesprochenen Wünsche amüsierten ihn. Noch nie hatte er derart starke Gefühle für eine Frau empfunden. Diese Erkenntnis erschreckte ihn zum einen und zum anderen machte sie ihn zum glücklichsten Mann auf der Welt.
     Sanft streichelte er ihren Rücken. Er spürte, wie Alea seine zärtlichen Berührungen genoss. Verliebt hauchte sie ihm einen Kuss auf die weichen Lippen.
     Plötzlich spürte er eine Veränderung in ihrer Körperhaltung. Minimal hatte sie sich von ihm gelöst und versteift.
     „Was ist los, Alea?“, fragte er sie nah an ihrem Ohr und vergrub seine Nase in ihrem duftendes Haar.
     „Ich weiß nicht genau …“, antwortete sie direkt in sein Ohr.
     „… ich habe das Gefühl, als ob sich unsichtbare Augen in meinen Rücken bohren und mir Löcher in den Stoff meiner Bluse brennen“, ergänzte sie alarmiert. Ihr Kopf ruckte in die Höhe.
     „Ich glaube, dass wir beobachtet werden“, meinte sie und musterte ihre unmittelbaren Nachbarn auf der vollen Tanzfläche.
     „Das werden wir doch schon den ganzen Abend. Du bist eine sehr schöne Frau, die die Blicke der anwesenden Männer ständig auf sich zieht“, brummte Tajo und nannte lediglich die Tatsachen.
     „Nein, das meine ich nicht. Es fühlt sich anders an. Aufdringlicher, gefährlicher, lauernder, einfach unangenehm“, widersprach Alea und schüttelte energisch den Kopf.
     Unauffällig schweiften Tajos Augen suchend umher. Wachsam untersuchte er die Schar der Tanzenden und die zahlreichen Partygäste, die sich in den Sitznischen und an der Bar drängten. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf.
     Allerdings war er auf der Hut. Er war beunruhigt. Seit sie sich kannten, hatte Tajo mehrfach erlebt, dass Aleas Instinkt und ihr Bauchgefühl sie niemals täuschten. Wenn sie nun in diesem Moment eine Gefahr verspürte, dann war diese auch vorhanden. Da war er sich felsenfest sicher.
     Beschützend zog er sie erneut zu sich heran. Willig schmiegte sie sich an ihn. Seine Augen befanden sich unablässig auf Wanderschaft im ganzen Lokal. Er war alarmiert. Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass er die drohende Gefahr nicht identifizieren konnte.
     
Zurückgezogen saß das Paar in einer Nische. Wie mit Laseraugen scannte Elias Lunara alle Gäste und ihm entging nicht das kleinste Detail. Kira tat es ihm gleich und speicherte alle wichtigen Erkenntnisse unwiderruflich in ihrem Gedächtnis ab. Geschickt verbargen sie sich hinter einer hoch aufragenden Säule vor neugierigen Blicken.
     Über Viktor mit dem Irokesenschnitt hatte Elias eine Einladung zu Rebeccas Geburtstagsfeier ergattert. Obwohl er das Geburtstagskind nicht persönlich kannte, stellte sein Erscheinen jedoch kein Problem dar.
     Von seinem neuen Trainingspartner hatte er erfahren, dass Rebecca auch Freunde ihrer eingeladenen Freunde als Gäste akzeptierte. Sie war in dieser Hinsicht völlig schmerzfrei und großzügig. Es war für ihn die ideale Gelegenheit, seine Gegner ausgiebig zu studieren.
     Erst vor drei Tagen hatte er sich beim Training oberflächlich mit Viktor angefreundet und sich auf Anhieb gut mit ihm verstanden. Wie immer half ihm seine chamäleonhafte Anpassungsfähigkeit, schnell neue Freunde zu finden, von deren Gesellschaft er profitieren konnte.
     Unvorhergesehen stand plötzlich Viktor an ihrem Tisch und zog die widerstrebende Kira hinter sich auf die Tanzfläche. Wie eine wütende Katze funkelte sie ihren Tänzer aus dunklen Augen an.
     Um jeden Preis wollte sie ihre Anwesenheit verborgen halten. Dieser Vorsatz hatte sich soeben in Luft aufgelöst und war nichts weiter als Schall und Rauch. Viele Augenpaare richteten sich sofort auf sie und saugten sich an ihrem makellosen Körper fest.
     In hautengen Hosen und einem eng anliegenden Oberteil mit herzförmigem Ausschnitt aus nachtschwarzem Leder, das über und über mit silberglänzenden Nieten verziert war, zog sie alle Blicke auf sich. Eine schwarze Schönheit, gefährlich wie eine Raubkatze, wiegte anmutig die wohlgeformten Hüften.
     Bei ihrem Anblick entstand an Aleas Tisch für einen kurzen Moment höchste Unruhe. Wie vom Blitz getroffen starrten Alea, Tajo, Matteo und André die dunkle Schönheit der Nacht an.
     „Diese Ähnlichkeit ist kaum zu glauben“, entfuhr es Tajo und seine Augen beäugten ungläubig die junge Frau neben Viktor.
     „Sie schaut Cora beinahe so ähnlich wie eine Schwester, fast dasselbe Gesicht und doch so ganz anders“, kommentierte Matteo Kiras Erscheinung.
     „Du hast recht. Die Ähnlichkeit ist verblüffend und dennoch wirkt diese Frau viel gefährlicher und ganz anders als Cora“, fügte Tajo bestätigend an.
     Im ersten Moment hatte er bei Kiras Anblick an eine Fata Morgana geglaubt. Allerdings ließ sich das Trugbild nicht vertreiben. Fassungslos schüttelte er seinen Kopf. Zu sehr erinnerte ihn diese Unbekannte an seine frühere Geliebte, die ihn vor Kurzem töten wollte und bei dem Versuch von André erschossen worden war. Ein rascher Seitenblick bestätigte ihm, dass es André ebenso erging.
     Mit völlig entgleisten Gesichtszügen betrachtete dieser die junge Frau. Einem Wirbelsturm gleich stürmten seine unterdrückten Empfindungen auf ihn ein und drohten, ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Seine Schuldgefühle und sein Ärger über sein eigenes Versagen senkten sich schwer wie Blei auf seine Seele herab.
     Unwirsch strich er sich mit der Hand über sein maskulines Kinn. Nur schwerfällig konnte er seinen Blick von der ganz in glattes Leder gekleideten Frau abwenden. Plötzlich stieß ihm Matteo seinen Ellbogen unsanft zwischen die Rippen.
     Mit einem aufmerksamen Seitenblick auf Kira raunte er André zu: „Die schwarzhaarige Raubkatze dort drüben scheint ein Auge auf dich geworfen zu haben. Sie lässt dich keine Sekunde aus den Augen. Pass bloß auf, dass sie dich nicht frisst.“ Ein belustigtes Augenzwinkern begleiteten seine neckenden Worte.
     „Sie ist nicht mein Typ“, erwiderte André ablehnend und drehte demonstrativ seinen Kopf in eine andere Richtung, um ihrem Anblick zu entgehen. Ihr Gesicht wühlte zu sehr sein Innerstes auf und die Erinnerungen an Cora brachen erneut wie dunkle Gewitterwolken über ihn herein.
     Nachdem Viktor sich ein neues willigeres Opfer für seine Tanzeskapaden gesucht hatte, entschwand Kira wieder aus dem Blickfeld von Alea und ihren Begleitern. Kaum auf ihrem Sitzplatz angekommen raunte Elias ihr vorwurfsvoll ins Ohr: „Du hast ganz schön für Aufsehen gesorgt. Eigentlich wollte ich, dass wir unbemerkt bleiben.“
     „Es war nicht meine Schuld. Er hat mir keine Wahl gelassen. Ihm eine Szene zu machen, hätte noch mehr Aufmerksamkeit erregt“, entgegnete sie entschieden.
     Ihre Augen funkelten ihn gefährlich an und ihr unterdrückter Ärger war nicht zu übersehen. Bei ihren Worten schien der kleine Teufelsflügel auf ihrer Wange vor Entrüstung zu beben und die winzige Schwanzspitze vor Angriffslust zu zucken.
     „Schon gut. Ihre Reaktionen waren jedenfalls sehr aufschlussreich“, beschwichtigte Elias seinen neben ihm sitzenden brodelnden Vulkan.
     Erneut wanderten seine Augen zu Aleas Tisch und ihren Begleitern. Ausgiebig studierte er jeden Einzelnen von ihnen. Bei Tolins Anblick flammte zu seinem eigenen Erstaunen ein winziger Funke an Mitgefühl auf.
     Natürlich wusste er, was der junge Mann erleiden musste und für welches Experiment ihn sein Vater missbraucht hatte. Mit einem energischen Achselzucken schüttelte er das aufkeimende Bedauern ab. „Kollateralschäden gibt es immer“, flüsterte er leise.
     Einen besonderen Moment der Aufmerksamkeit schenkte er André. Elias wusste, dass der Sicherheitschef äußerst loyal zum Königspaar und dessen Familie stand. Ein verächtliches Zucken um seine Mundwinkel verriet seine geringe Wertschätzung.
     „Loyale Menschen sind doch so durchschaubar und berechenbar“, stellte er halblaut fest.
     Kira, die seine Worte gehört hatte, nickte zustimmend mit dem Kopf und ihr vor unterdrücktem Zorn glühender Blick musterte noch immer André und Aleas Begleiter.
     
     Ausgelassen feierten Alea und Rebecca deren Geburtstag. Beide genossen sichtlich den Abend und nutzten eifrig die Tanzfläche. In einer Verschnaufpause saßen wieder einmal alle von ihnen in ihrer Nische am Tisch.
     Genüsslich nippten sie an ihren erfrischenden Drinks und beobachteten mit bester Laune das rege Treiben auf der Tanzfläche. Sogar Tolin schien den Abend zu genießen und zeigte ein wenig Interesse an seiner Umgebung.
     Alea schmiegte sich eng an Tajo, der ihr ein liebevolles Lächeln schenkte und sich in den Tiefen ihrer Augen verlor. Plötzlich stand wie aus dem Nichts ein fremder Mann neben ihr.
     Sein stechender Blick schien bis auf den Grund ihrer Seele zu dringen. Sein schütteres graues Haar strich er mit einer fahrigen Geste aus der Stirn. Sein blasses Gesicht mit den grauen Augen war durchzogen von tiefen Falten und wirkte müde. Äußerlich vermittelte er den Eindruck eines unauffälligen älteren Mannes, der irgendwie auf der Party deplatziert wirkte.
     Bevor Alea reagieren konnte, streckte er ihr seine rechte Hand zur Begrüßung hin. „Es freut mich, dass ich Sie persönlich kennenlernen darf, Prinzessin.“
     Seine Stimme klang fest und entschlossen. Woher wusste dieser unbekannte Mann, wer sie war? Reflexartig ergriff Alea seine Hand. Bei der Berührung seiner Finger lief ihr ein Schauer über den Rücken. Seine Haut fühlte sich kalt und trocken an. Sein stechender Blick bohrte sich in ihre Augen und schien sie mit Haut und Haaren verschlingen zu wollen.
     Für den Bruchteil einer Sekunde war sie versucht, ihm ihre Hand unhöflich zu entreißen. Nur mühsam unterdrückte sie diesen übermächtigen Impuls. Deutlich fühlte sie, wie tiefer Abscheu in ihr aufstieg, ohne dass sie es verhindern konnte.
     Dieser unheimliche Kontakt mit dem Fremden ließ sie unter ihrer vom Tanzen erhitzten Haut frösteln. Ein Gefühl der Beklemmung und einer drohenden Gefahr bemächtigte sich ihrer. Wie verwehte Asche im Wind war ihre heitere Ausgelassenheit schlagartig verschwunden.
     Unvermittelt ließ der Fremde ihre Hand los. Sofort begrüßte er jeden ihrer Begleiter einschließlich ihrer Freundin Rebecca auf die gleiche Art und Weise wie sie. Noch immer brachte Alea keinen Ton über ihre Lippen. Verwundert und mit großen glänzenden Augen verfolgte sie wie gebannt diese Zeremonie. Plötzlich war er in der Menge untergetaucht.
     Wie aus einer Trance fallend starrte Alea ungläubig Tajo an. Durch mehrmaliges Blinzeln versuchter er, einen freien Kopf zu bekommen. Rebecca fand als erste ihre Sprache wieder.
     „Was war … denn das … gerade?“, stotterte sie in die Runde.
     „Kennt den jemand von uns?“, fragte Matteo irritiert und rieb sich die Schläfen, als ob er soeben aus einem tiefen Schlaf erwacht war. Energisches Kopfschütteln von allen war ihm Antwort genug.
     „Habt ihr euch auch gefühlt, als ob er auf den Grund eurer Seele blickte?“, fragte Alea verwirrt.
     „Ja, und ich fühlte mich, als ob der Tod persönlich meine Hand festhielt“, antwortete Tajo prompt. Auch ihm war anzusehen, dass er noch damit kämpfte, den unbehaglichen Eindruck des gerade Erlebten abzuschütteln.
     „Ich fühle mich … ganz komisch …, so leicht … wie eine Feder …“, stammelte Timo. Sein Gesicht war kreidebleich und mit glasigen Augen betrachtete er erstaunt seine erhobene rechte Hand.
     „Er wird uns doch nicht etwa vergiftet haben?“, platzte es aus Rebecca heraus. Der Anflug von Panik war in ihrer Stimme nicht zu überhören.
     „Nein, ich denke nicht …“, antwortete André und untersuchte bereits gründlichst die Hand, die er dem Fremden gereicht hatte.
     „Ich kann nichts erkennen. Es muss etwas anderes gewesen sein, das er mit uns gemacht hat …“, äußerte er seinen Verdacht, den er jedoch nicht konkreter benennen konnte.
     „Mann, war das aber unheimlich“, meldete sich Tolin zu Wort. „Ich fühlte mich, als ob der Kerl meine gesamte Lebensenergie absaugen wollte“, ergänzte er mit zitternder Stimme. Sein unruhiger Blick huschte von einem zum anderen.
     „Das war wahrhaftig ein sehr sonderbares Erlebnis“, bestätige André und suchte das ganze Lokal mit seinen Augen ab. Der Fremde blieb wie vom Erdboden verschluckt verschwunden.
     
Ein kurzes Kopfnicken signalisierte Elias, dass sein Auftrag wie geplant erledigt worden war. Im Vorbeigehen nickte ihm der Fremde mit dem stechenden Blick verstohlen zu. Das war das Zeichen, dass er erfolgreich war. Unauffällig verließ er den Club.
     Mit sich und der Welt zufrieden lehnte sich Elias entspannt auf seinem Platz zurück. Kiras wachsame Katzenaugen verfolgten jede seiner Bewegungen.
     „Hat alles geklappt?“, fragte sie ihren Arbeitgeber lauernd.
     „Ja, es läuft alles wie geplant“, antwortete Elias mit unverhohlener Freude. Ein unbekümmertes Lächeln umspielte seine Lippen und er bot den Anblick eines jungen, unbeschwerten Mannes, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Wie der Schein doch trügen konnte.
     Seine Augen suchten den Blick von Kira. Lässig spielten seine Finger mit dem Stil seines leeren Glases. Unerwartet beugte er sich plötzlich mit seinem Oberkörper zu seiner Tischnachbarin hin. Dicht an Kiras Ohr drängte er zum Aufbruch. „Wir können nun gehen. Wir haben alles erfahren, was ich wissen wollte und kennen nun die Schwachstellen unserer Feinde.“
     
In der Nacht nach Rebeccas Party fand Alea auch im Schlaf keine Ruhe. Noch immer schwang in ihrem Unterbewusstsein die unheimliche Begegnung mit dem Fremden auf der Geburtstagsfeier mit.
     Sein durchbohrender Blick hatte sie bis zum Einschlafen verfolgt. Sein müdes Gesicht wollte einfach nicht verblassen. Noch immer verspürte sie eine nervöse Unruhe in sich. Nach endlosen Minuten, in denen sie sich ständig hin und her gewälzt hatte, schlief sie endlich ein. Sogar im Schlaf drehte sie sich rastlos von einer Seite zur anderen, ohne es wahrzunehmen.
     Nicht einmal Tajos Nähe verhalf ihr zu einem erholsamen Schlummer. Zunächst jagten sie unzusammenhängende Bildfetzen im Land der Träume ruhelos von einem Ort zum anderen. An keinem verweilte ihr Geist mehr als ein paar Sekunden.
     Doch plötzlich träumte Alea von vergangenen Zeiten, die nicht ihre waren. Ihr Traum führte sie viele tausend Jahre zurück in die Vergangenheit. Als stille Beobachterin stand sie am Rande einer ausladenden Plattform aus grob behauenen Steinen. In ihrem Rücken ragte eine gewaltige Mauer in die Höhe und umspannte ein weitläufiges Areal.
     Eine gnadenlose Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel auf sie herab. Deutlich spürte Alea die unerträgliche Hitze auf ihrer Haut. Trockene Erde erstreckte sich links und rechts neben der Plattform, soweit das Auge reichte.
     Kein einziger grüner Fleck erfreute die Sinne. Feine helle Staubkörner tanzten wie winzige Insekten in der vor Hitze flirrenden Luft. Trockener Staub kroch ihr unaufhaltsam in die Nase und reizte ihre Schleimhäute.
     Der unangenehme Geruch einer großen Anzahl stark schwitzender Menschen ließ Alea angewidert ihre Nase rümpfen. Gedämpft drang das wütende Bellen mehrerer Hunde an ihr Ohr.
     Ihr Mund fühlte sich staubtrocken an und ihre Zunge klebte ihr am Gaumen. Ein starkes Durstgefühl beherrschte ihre Sinne und sie lechzte nach einem Schluck kühlen Wassers. Vergeblich beschattete sie mit der Hand ihre Augen, die von der grellen Sonne geblendet wurden.
     Lautes Stimmengemurmel erregte ihre Aufmerksamkeit. Ihr starr nach vorn gerichteter Blick entdeckte drei hochgewachsene Gestalten, die direkt vor ihr in der Mitte der Plattform zu der aufgebrachten Menge zu ihren Füßen sprachen. Mit weit ausgebreiteten und erhobenen Armen versuchten sie die wütende Menge zu beschwichtigen.
     Zwei große schlanke Männer mit dunklem halblangem Haar gewährten ihr gegen das Sonnenlicht einen ausgiebigen Blick auf ihre Silhouetten. Beide trugen lange Hosen und ärmellose Westen aus dunkelbraunem gegerbten Leder. Ihre Füße steckten in flachen, braunen, mokassinähnlichen Schuhen. Ihre Körperhaltung drückte entschlossene Kampfbereitschaft aus und sie zeigten den Stolz von erfolgreichen Kriegern.
     Die dritte im Bunde war eine Frau mit langem, fließendem, schwarzem Haar. Ihr zierlicher Körper war ebenfalls mit einer dunkelbraunen Hose und einem kurzärmligen Oberteil aus geschmeidigem Leder bekleidet, was ihre weibliche Rundungen betonte. Wie eine wilde Amazonenkriegerin trug sie ein silbernes Stirnband und ihre Haare wehten verwegen im Wind.
     Alea erkannte sie sofort. Vor ihr standen ihre Vorfahren: Turkes, Azur und Luna. Die Geschwister kehrten ihr noch immer den Rücken zu. Mit weittragenden Stimmen sprachen sie besänftigend auf die schwer bewaffnete Meute zu ihren Füßen ein.
     An Turkes linkem Oberarm blitzte das strahlende Gold seines Armreifs in der hellen Sonne auf. Der Türkisstein funkelte im Sonnenlicht und das gefährliche Schmuckstück hob sich deutlich von Turkes dunkel gebräunter Haut ab.
     Nur zu gut kannte Alea das unbeschreibliche Gefühl, das der Armreif verursachte, sobald er ihre Haut berührte. Wie verführerisch die Macht doch war, den Willen anderer Menschen zu manipulieren.
     Es wäre für Turkes ein Leichtes gewesen, die aufgebrachte Menge vor ihm in eine Herde aus willigen Sklaven zu verwandeln. Aber er tat es nicht. Mit laut erhobener Stimme redete er auf deren Anführer ein und versuchte, die aggressive Meute zu beschwichtigen. Vergeblich.
     Das wütende Murren der unzähligen Kehlen schwoll weiter an. Die bedrohliche Gefahr, die in der flirrenden Luft lag, konnte Alea am ganzen Körper spüren und ließ sie furchtsam erzittern. Hektisch blickte sie von Turkes zu Azur.
     Wie sein Bruder hatte er beide Arme erhoben, um die tobende Menge zu besänftigen. An seiner hochgereckten Hand schimmerte ein außergewöhnlicher Ring, der sofort Aleas ungeteiltes Interesse auf sich zog.
     In der Mitte eines achteckigen goldenen Rings schimmerte ein tiefblauer Edelstein. Er wurde an jeder Seite von mehreren, in der grellen Sonne hell blitzenden Diamanten eingerahmt. Dieser Ring war wie gemacht für seinen Träger. Eine geheimnisvolle Aura umgab ihn und seinen Besitzer.
     Lautes Brüllen und höhnisches Gelächter drangen an Aleas Ohr. Erschrocken beobachtete sie die mordlüsterne Menge, die unaufhaltsam näher zur Plattform vordrängte.
     Eine wütende Geste von Luna erregte ihre Neugier. In der Farbe ihres silbernen Stirnbands hielt sie ein großes Amulett in ihrer linken Hand. Darauf wand sich im Uhrzeigersinn eine goldfarbene Schlange um mysteriöse Zeichen und Linien. In der Mitte blitzte ein kristallklarer, geschliffener Edelstein im hellen Licht der grellen Sonne auf.
     Jedes Mal, wenn sie ihre Hand mit dem Amulett erhob und bedrohlich in Richtung der wütenden Menge richtete, brausten wütende Aufrufe einer Welle gleich durch die Schar der Tobenden.
     Der Lärm der zahllosen zornigen Ausrufe schwoll immer weiter an. Alea drückte sich voller Furcht beide Hände fest auf die Ohren. Ihr Herz raste. Sie spürte, wie die unkontrollierte Wut der Menschen immer schneller ihrem Höhepunkt zuraste.
     Plötzlich geschah es. Ohne Vorwarnung. Der Erdboden vor der Plattform riss auf. Tiefe Adern durchzogen den harten, trockenen Untergrund. Breite Spalten zerklüfteten das Gestein.
     Schreiend stürzte die aufgebrachte Menschenmenge innerhalb weniger Sekunden in die tiefen Schluchten. Die entsetzten Todesschreie aus unzähligen Kehlen gellten durch die karge Landschaft.
     Unbeweglich wie eine römische Statue verharrte Luna mit ausgestreckter Hand in der grellen Sonne. In ihrer anderen Hand schimmerte das unschuldige, silberne Amulett. Den Blick hatte sie starr auf die ausgedehnte, leere Ebene vor sich gerichtet.
     Ruckartig rissen ihre Brüder Turkes und Azur ihre Köpfe in ihre Richtung. Schreie des Entsetzens entflohen ihren Lippen. Fassungslos starrten sie ihre rachsüchtige Schwester an. Was hatte sie nur getan?
     Der Erdboden zu ihren Füßen hatte sich geschlossen und die tobende Menschenmenge vollständig unter sich begraben. Friedhofsstille senkte sich auf den Schauplatz des Verderbens herab. Alea zitterte wie Espenlaub am ganzen Leib.
     Völlig verstört haftete ihr Blick auf Lunas teuflischem Antlitz. Ein grausames Lächeln umspielte deren volle Lippen. In ihren Augen glitzerte pure Mordlust. Aus einer Laune heraus löschte sie mit einer kleinen Handbewegung unzählige Leben aus. Alle Menschen waren tot, sie hatte keinen einzigen verschont.
     Schweißgebadet erwachte Alea aus ihrem Traum.
     
     
Der Mond spiegelte sich für einen kurzen Moment im ruhigen Wasser des Pools, bevor er wieder von einer gemächlich dahinziehenden Wolke verschluckt wurde. Elias hatte nach seiner Rückkehr von der Geburtstagsfeier, zu der er sich geschickt eingeschmuggelt hatte, den starken Wunsch verspürt, noch ein wenig im Freien zu sitzen.
     Eigentlich kündigten die kühlen Temperaturen der letzten zwei Tage bereits einen kalten Herbst und den nahenden Winter an. Nichtsdestotrotz gab er seinem drängenden Wunsch nach. Eingehüllt in eine dicke, warme Jacke ließ er sich in seinem Lieblingsstuhl auf der Terrasse vor seinem Wohnzimmer nieder.
     Mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen saß er unter dem schützenden Hausdach und beobachtete die Wolken am dunklen Nachthimmel. Wie große Wattebäusche schienen sie übermütig den Mond zu umkreisen und ihn nach einem nur ihnen bekannten Muster zu jagen.
     Elias genoss die beruhigende Stille um ihn herum. So sehr ihm die laute, wummernde Musik bei der Feier gefallen hatte, so sehr behagte ihm in diesem Moment die friedliche Einsamkeit seines Gartens.
     Versonnen betrachtete er die blutrote Flüssigkeit in seinem Glas und schwenkte sie bedächtig hin und her. Genießerisch nahm er mit geschlossenen Augen einen Schluck davon. Er schmeckte das fruchtige Aroma des edlen Weins auf seiner Zunge. Auch er liebte die teuren und ausgefallenen Dinge im Leben – wie sein Vater.
     Während Elias das Schauspiel am Himmel beobachtete, sinnierte er über sich selbst und seine Ähnlichkeit mit seinem verblichenen Vater nach. Zu jung waren die Ereignisse, die zu seinem Tod geführt hatten, um bereits in der Schwärze des Vergessens versunken zu sein.
     Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er ebenso von Ehrgeiz und Machthunger zerfressen war wie sein von seiner eigenen Hand ermordeter Vater. Im Gegensatz zu ihm fasste er jedoch jede Art der Herausforderung als sportlichen Wettkampf auf, die seiner eigenen aktiven Beteiligung bedurfte und bei der er am Ende als Gewinner auf dem Podest stehen wollte.
     Wer war schneller? Wer war gerissener? Wer war immer einen Schritt voraus? Wer war erfolgreicher, natürlich mit geringstem Aufwand? Wer war der bessere Meister der Tarnung? Wer siegte am Ende? War er es oder sein Gegner?
     Nur wenn er die Schwachstellen seines Gegners kannte und schamlos ausnutzte, errang er den Sieg. Diese Grundeinstellung begleitete ihn durch sein bisheriges Leben und spornte ihn zu Höchstleistungen an, sofern er dies wollte.
     Anders als sein Vater verabscheute er das Quälen von Menschen. Weder war er blutrünstig noch sadistisch veranlagt. Hier musste sein väterliches Erbe eindeutig einen riesigen Bogen um ihn geschlagen haben.
     Elias bevorzugte es, seine Unternehmungen möglichst gewaltfrei mit chirurgischer Präzision zu planen und durchzuführen. Außerdem hatte er bisher in seinem Leben nur einen einzigen Menschen getötet – seinen eigenen Vater.
     Diese Tat stellte die einzige Handlung dar, die nicht von ihm geplant, sondern einer spontanen Eingebung folgend zu seinem eigenen Vorteil verübt worden war.
     Nun ja, bei dieser einen gewaltsamen Tat sollte es auch bleiben. Warum sollte er sich in Zukunft selbst die Hände schmutzig machen? Dafür hatte er doch Kira angeheuert, deren Aufgabe es war, ihm solch wenig erfreuliche Dinge abzunehmen.
     Aus seiner Sicht war sie wie geschaffen dafür. In ihrem hitzigen Inneren brodelte ständig ein heißer Vulkan aus Wut und Zorn, dessen Ursache er bisher noch nicht zu ergründen vermochte. Sein Job war es lediglich, diesen Vulkan im Zaum zu halten und ihn gewinnbringend für seine eigenen Ziele einzusetzen.
     Ebenso wie er sich der besonderen Fähigkeiten des Fremden bediente, der bei der Geburtstagsfeier zum Einsatz kam. Zufällig hatte er dessen Bekanntschaft bei seiner letzten Joggingrunde im Park gemacht. Auf einer Parkbank kamen sie während einer Verschnaufpause miteinander ins Gespräch. Wie so häufig erlaubte es ihm seine übliche sympathische Ausstrahlung sofort, den Fremden für sich zu gewinnen.
     Nach einem längeren Gespräch wusste er dessen besondere Fähigkeit zu schätzen. Ihm fiel sofort ein konkreter Anlass zur lohnenden Nutzung ein. Im Vertrauen hatte ihm der Fremde offenbart, dass er über besondere empathische Fähigkeiten verfügte.
     Dabei musste er das Zielobjekt lediglich berühren, wie es üblicherweise beim Händeschütteln im Rahmen einer Begrüßung stattfand. Zusätzlich musste er der betreffenden Person tief und fest in die Augen schauen, als ob er auf den Grund der Seele blicken wollte.
     Seine Fähigkeit beruhte auf dem Einfühlungsvermögen in andere Menschen, mit dessen Hilfe er deren Gedanken, Motive und Emotionen erkennen konnte. Allerdings war diese Fähigkeit bei ihm durch eine Laune der Natur derart stark ausgeprägt, sodass er die Stärken und Schwächen seiner ahnungslosen Opfer innerhalb von wenigen Sekunden ergründen konnte.
     Mit todsicherer Treffsicherheit erfuhr er dadurch über andere Menschen, was diese bewegte und was deren Achillesferse bildete. Somit stellte er das ideale Werkzeug für Elias dar, um wichtige Informationen über seine Feinde zu beschaffen.
     Von dem Fremden hatte Elias nach der Feier alles Wichtige über seine Gegner erfahren. Diese wertvollen Hinweise waren äußerst hilfreich bei seinen weiteren Planungen für die Zukunft.
     Grinsend blickte er zum Mond, der sich soeben wieder für einen kurzen Augenblick seinem zufriedenen Betrachter zeigte. Wie ein geschickt getarnter Verbündeter entsendete er sein silbernes Mondlicht, das seelenruhig auf seinen stillen Beobachter hinabfiel.
     Entspannt lehnte sich Elias in seinem Stuhl zurück. Sein augenblickliches Interesse galt weniger seinen nicht zu unterschätzenden Gegenspielern als vielmehr einem geheimnisvollen Gegenstand.
     Vorsichtig griff Elias in die rechte Tasche seiner Jacke und zog ein kunstvoll verziertes silbernes Kästchen hervor. Zärtlich strich er mit den Fingerspitzen die fein gearbeiteten Ornamente nach. Er spürte, wie ihn eine Welle der Erregung erfasste.
     Dieses kostbare Kleinod faszinierte ihn und brachte seine Augen vor Gier zum Leuchten. Unbedingt wollte er dessen unbezahlbaren Inhalt in den Händen halten. Geräuschlos öffnete er den Verschluss und schon schwang der Deckel zurück. Mit leicht nervösen Fingern tastete er im Inneren des Kästchens nach dem gesuchten Gegenstand.
     Das glänzende Gold fühlte sich kühl und glatt auf seiner Haut an. Mit angehaltenem Atem befreite er Lunas geheime Botschaft aus seinem Versteck. Die mysteriösen Goldplättchen zogen ihn sofort in ihren Bann.
     Elias spürte, wie sein Herz vor Aufregung schneller schlug. Er fühlte sich, als ob er unter dem Einfluss einer starken Droge einen euphorischen Rausch erlebte. In diesem Moment fühlte er sich einfach nur fantastisch und unbezwingbar.
     Behutsam legte er sich die dünnen Goldplättchen auf die Handfläche seiner linken Hand. Mit gierigen Augen betrachtete er das glänzende Gold, den wertvollsten Besitz seines unermesslich reichen Vaters.
     Vor seinem Tod hatte er Elias die exakte Handhabung der Goldplättchen gezeigt, um den Standort des Armreifs zu bestimmen, der allein für die Prinzessin bestimmt war. Leider hatte sein Vater trotz aller Bemühungen diesen Armreif nicht in seinen Besitz bringen können. Dieses Ziel war nun sein Vermächtnis geworden und daran arbeitete er mit Hochdruck.
     Sanft legte er die schimmernden Goldplättchen auf seinem Oberschenkel ab und griff nach dem zweiten Objekt, das sich im Dunkel des silbernen Kästchen vor seinen Augen verborgen hielt.
     Seine Finger brachten ein silbernes Amulett zum Vorschein, in dessen Mitte ein großer Kristall thronte und dessen geheimnisvolle Zeichen von einer goldenen Schlange umschlossen wurden. Ratlos drehte und wendete er dieses wertvolle Artefakt zwischen seinen Fingern.
     Er hatte keinerlei Ahnung, was es darstellte, geschweige denn, ob es irgendeinen Nutzen besaß. Sein Vater hatte es nicht geschafft, das Geheimnis des Amuletts zu ergründen. Das war nun seine Aufgabe und es war keine leichte.
     Neugierig betrachtete er den schlanken Leib der goldenen Schlange. Ihr Kopf zog seinen Blick magisch an. Für einen winzigen Moment bildete er sich ein, dass die Schlange zum Leben erwachte, um nach seinem Finger zu schnappen. Erschrocken ließ er das Amulett in seinen Schoß fallen.
     Durch die heftige Bewegung gerieten die auf seinem Oberschenkel abgelegten Goldplättchen ins Straucheln. Mit einem leisen Scheppern rutschten sie zu Boden. Gerade als Elias nach den Plättchen griff, zeigte sich der Mond in seiner vollen Schönheit am Firmament. Die Wolken hatten sich für einen kurzen Moment verzogen und gestatteten ihm, die Welt mit seinem Antlitz zu erfreuen.
     Was war denn das? Elias traute kaum seinen Augen. Überrascht hielt er die Luft an. War das die Nacht der Offenbarungen oder ging nur seine Fantasie mit ihm durch? Wie sollte er sich sonst diese merkwürdigen Erlebnisse in den letzten Minuten erklären?
     Neugierig und mit bis zum Hals klopfenden Herzen griff er nach den Goldplättchen, um sie aufzuheben. Seine Augen glänzten wie im Fieber. Wie in Trance verschlang er die Zeichen, die sich seinem überraschten Blick darboten. Auf der Rückseite der Plättchen erstrahlten mysteriöse silbrige Linien, sobald das helle Mondlicht darauf traf.
     Voller Verblüffung legte er sie neben sich auf ein niedriges Tischchen aus Glas. Aufgeregt las er Lunas geheimnisvolle Botschaft, die sich im hellem Mondlicht seinen staunenden Augen offenbarte: „… Stab des Verderbens – 3 sind 1.“

     
     

DIE JAGD BEGINNT

     
     
Misstrauisches Schweigen erfüllte den Raum. Alle Blicke waren unentwegt auf die beiden Gäste in ihrer Runde gerichtet. Wie bereits bei ihrem ersten Besuch fand ihr Treffen im privaten Arbeitszimmer ihres Vaters, König Tarro, statt.
     Alea mochte diesen Raum, in dem die Farben Creme und ein helles Gau vorherrschten. Trotz seiner praktischen Funktionalität verströmte dieses Büro eine wohnliche Atmosphäre, in der sie sich einfach wohlfühlte.
     Anders als bei ihrem letzten Zusammentreffen waren dieses Mal alle acht Plätze am Besprechungstisch belegt. Alea musterte der Reihe nach jeden von ihnen. Ihr Vater und ihre Mutter saßen links von ihr.
     König Tarro trug zu einer schwarzen Jeans einen schwarz-weiß gemusterten Pullover, der seine leuchtende Augenfarbe deutlich zur Geltung brachte. Seine angespannte Körperhaltung vermittelte den Eindruck, als ob er auf der Hut war.
     Ihre Mutter trug ebenfalls eine schwarze Hose in Kombination mit einem eleganten pastellblauen Pullover, der ihre hellblauen Augen besonders betonte. Mit unverhohlener Neugier ruhte ihr Blick unentwegt auf ihren Gästen.
     Auch Tajo, Matteo und André waren salopp gekleidet und komplettierten die Runde. Ihre langen Beine steckten in dunkelblauen Cargohosen, die sie zu legeren Hemden in den unterschiedlichsten Blautönen trugen.
     Alea selbst bevorzugte an diesem Tag eine dunkelgraue Jeans, zu der sie einen dünnen lachsfarbenen Pullover trug. Ihre goldblonde Haarflut ergoss sich über ihre Schultern und reflektierte das Licht der unzähligen Deckenstrahler im Raum.
     Es handelte sich eindeutig um ein privates Treffen und um keine geschäftliche Besprechung. Unauffällig ließ Alea ihre Augen wandern, die an ihren überraschenden Besuchern haften blieben. Wenn sie im Vorfeld ihres Treffen hätte raten dürfen, wäre sie nie im Leben darauf gekommen, dass ausgerechnet Alina, die Präsidentin von Lunara, sie um ein Treffen gebeten hatte.
     Seitdem bekannt war, dass ihr Bruder Alexander Lunara hinter den Überfällen auf Alea steckte und die Entführung von Tolin veranlasst hatte, herrschte weitestgehend Funkstille zwischen dem Königshaus und der Präsidentin. Beide Seiten brauchten Zeit, um die grausamen Geschehnisse zu verarbeiten. Umso überraschender war es für Alea, dass sie ihr nun am Tisch gegenübersaß.
     Wie üblich war Alina perfekt gestylt. Ihr kinnlanges, braunes, von einzelnen Silberfäden durchzogenes Haar umschmeichelte vorteilhaft ihr puppenhaftes Gesicht. Im Gegensatz zu ihrer letzten Begegnung trug sie dieses Mal kein dunkles Kostüm, sondern einen hellgrauen, lässigen Hosenanzug zu einer fließenden weißen Bluse.
     Ihr Gesicht wurde von ihren geheimnisvollen, silberglänzenden Augen beherrscht, mit denen sie ihrerseits alle Anwesenden aufmerksam musterte. Trotz der betonten Lässigkeit bot sie mit ihrem dezenten Make-up und den rosa lackierten Fingernägeln einen äußerst eleganten Anblick. Sie bemühte sich, eine stoische Ruhe auszustrahlen, die über ihre innere Unruhe und Aufregung hinwegtäuschen sollte.
     Alea spürte ihre Nervosität jedoch ganz deutlich. Durch einzelne Gesten wie das gelegentliche Zupfen an ihren braunen Haarspitzen verriet Alina ihre innere Gemütsverfassung.
     Die Person neben Alina zog jedoch die Blicke aller Anwesenden in besonderem Maße auf sich. Es war ihr erstgeborener Sohn Luca, ihr Nachfolger. Alea hatte ihn nur ein einziges Mal gesehen, nämlich beim Ball, der zu ihrem Geburtstag stattfand.
     Eine unheimliche Aura umgab den Mann, den Alea auf Anfang vierzig schätzte. Als attraktiv konnte er ganz und gar nicht bezeichnet werden. Im Gegenteil, er sah seiner Mutter in keinerlei Weise ähnlich, bis auf die silbernen Augen.
     Sein kurz geschnittenes braunes Haar, das kantige Gesicht und die breite Nase verliehen ihm das Aussehen eines bulligen Kämpfers, der einstecken konnte. Gefahr verströmte er aus jeder Pore seiner Haut.
     Alea musste sich bei seinem Anblick innerlich mehrmals schütteln. Seine schwarze Hose mit passendem Jackett und sein dunkelgraues Hemd unterstrichen seine düstere Ausstrahlung perfekt. Wie ein dunkler Racheengel saß er völlig bewegungslos an seinem Platz. Lediglich seine umherschweifenden Augen verrieten seine Neugier.
     Und dennoch, irgendetwas hatte Luca an sich, das Alea faszinierte und sie konnte nur schwer ihren Blick von ihm abwenden. Er war eindeutig ein gefährlicher und zugleich interessanter Mann, den sie lieber nicht zum Feind haben wollte.
     Die Mienen aller anderen am Tisch zeugten davon, dass es ihnen ebenso erging wie Alea. Gebannt musterten sie Luca und verfolgten jede noch so winzige Bewegung von ihm. Endlich unterbrach ihr Vater die allmählich bedrückend wirkende Stille.
     „Alina, Luca, ich heiße euch in unserer Runde willkommen“, begann er das Gespräch.
     „Allerdings muss ich zugeben, dass ich über euren unerwarteten Besuch sehr überrascht bin“, ergänzte er und musterte seine Gäste unablässig.
     „Vor allem, da ihr darauf bestanden habt, dass alle Anwesenden am Tisch unbedingt an diesem Gespräch teilnehmen sollten“, fügte er an und seine Augen verrieten sein Erstaunen.
     „Anscheinend handelt es sich um etwas sehr Wichtiges. Anders kann ich mir eure persönliche Anwesenheit nicht erklären. Also, um was geht es?“ Mit diesen Worten spielte Aleas Vater den Ball Alina zu und wartete auf eine erhellende Antwort.
     „Zuerst möchten wir euch allen danken, dass ihr unserer Bitte so schnell Folge geleistet habt“, begann Alina zu sprechen.
     „Und ja, Tarro, du hast recht. Es geht um etwas sehr Wichtiges und Dringendes.“ Alina schenkte König Tarro einen dankbaren Blick. Sie hüstelte verlegen.
     „Nun ja, …“, begann Alina zögerlich.
     „Wie soll ich es am besten formulieren?“, fragte sie mehr sich selbst und blickte um Unterstützung bittend zu ihrem Sohn.
     „Am besten direkt. Wir brauchen eure Hilfe“, ergänzte Luca, ohne zu zögern. Seine Stimme klang dunkel und energisch. Sie passte zu seinem Aussehen.
     Im ersten Moment herrschte erneut Stille im Raum. Alle starrten verblüfft abwechselnd auf Alina und ihren Sohn.
     König Tarro räusperte sich. „Ihr braucht unsere Hilfe?“, wiederholte er Lucas Worte gedehnt.
     „Bei was sollen wir euch helfen?“, hakte er nach.
     „Bei einer besonderen Angelegenheit, Tarro“, antwortete Alina und erhöhte mit ihrer Aussage weiter die Spannung im Raum.
     „Eine besondere Angelegenheit? Was versteht ihr darunter konkret?“, mischte sich nun Tajo ein, der seine Neugier nicht mehr bremsen konnte. Alle Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf Alina.
     „Eine Angelegenheit von größter Bedeutung und großer Tragweite …“, begann sie mit einer Antwort.
     „Ich glaube, es ist am besten, wenn ich euch von meinen jüngsten Erlebnissen berichte …“, fügte sie an und holte tief Luft.
     
Zwei Tage zuvor saß Alina noch spät abends an ihrem Schreibtisch in ihrem eleganten Büro. Endlich war es soweit. Sie hatte alles erledigt, was sie sich für diesen Tag vorgenommen hatte und wollte nun nach Hause gehen.
     Mit einer schwungvollen Bewegung riss sie ihren dünnen Mantel vom Garderobenständer, der in unmittelbarer Nähe zu ihrem Schreibtisch an der Wand stand. Da ihre Bewegung zu ausholend war, kollidierte ihre Hand unbeabsichtigt mit der benachbarten kleinen Wanduhr.
     Erschrocken versuchte sie in einem Reflex nach der Uhr zu greifen, als diese mit einem lauten Plumps zu Boden fiel. Eilig warf sie ihren Mantel auf den Schreibtisch und bückte sich nach der Uhr.
     Es war eines ihrer Lieblingsstücke in ihrem Büro. Umso mehr bedauerte sie es, dass dieses ausgefallene Kunstobjekt nun durch ihre Unvorsichtigkeit Schaden genommen haben könnte.
     Vorsichtig hob sie das kostbare Stück vom Boden auf. Taxierend suchten ihre Augen nach einer Beschädigung an dem dunkelbraunen Holz. Die Uhr sowie die kunstvollen Goldeinlegearbeiten schienen unversehrt zu sein. Das Gleiche galt auch für das dunkle Ziffernblatt mit den goldenen, geschwungenen Zeigern.
     Ein leises tickendes Geräusch bestätigte ihr, dass das Uhrwerk noch intakt war. Allem Anschein nach hatte ihr die Uhr den Sturz nicht übel genommen. Lediglich die fünf auffälligen, zierlichen Schlüssel, die am unteren Ende der Uhr befestigt waren und in hellem Gold und Silber glänzten, waren etwas in Unordnung geraten.
     Im Normalzustand baumelten die verschieden großen Schlüssel wie ein Windspiel in der Luft und schaukelten bei jedem Luftzug sacht im Wind. Durch den unsanften Aufprall am Boden hatten sie sich teilweise ineinander verhakt.
     Mit flinken Fingern zupfte Alina an den Schlüsseln und entwirrte die Verknotung. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Alles sah wieder so aus wie vorher. Wirklich alles? Mit Verwunderung hob sie ein kleines dunkelbraunes Holzplättchen vom Boden auf. Ratlos hielt sie es in ihrer Hand. Unschlüssig drehte und wendete sie es nach allen Seiten.
     „Wo kommt das denn her?“, fragte sie halblaut und ihre Augen suchten nach einer Erklärung.
     Erneut unterzog sie die kleine Wanduhr einer intensiven Prüfung. Nichts. Sie konnte keine Stelle auf der Vorderseite entdecken, zu der das kleine Holzplättchen passte. Kurz entschlossen wendete sie das Stück und legte es sacht auf ihrem prachtvollen Schreibtisch ab. Kaum hatte sie die Uhr auf der Tischplatte platziert, sprang ihr sofort ein kleines Schlüsselloch auf der Rückseite ins Auge.
     „Nanu, was ist das denn?“, murmelte sie überrascht vor sich hin.
     Die Rückseite der Uhr hatte sie noch nie einer ausgiebigen Inspektion unterzogen. Das kunstvolle Ührchen hing bislang als wunderschönes Schmuckstück an der Wand und zeigte einfach die Uhrzeit an. Auf die Idee, dass in der Uhr noch mehr stecken könnte, als sich auf den ersten Blick dem Betrachter offenbarte, war sie nie gekommen.
     Forschend begutachtete sie das Schlüsselloch, das sie förmlich dazu aufforderte, es aufzuschließen. Neugierig betastete sie mit ihrem rechten Zeigefinger die kleine Öffnung. Dann kam ihr eine Idee.
     „Vielleicht passt ja eines der fünf Schlüsselchen, die daran baumeln …“, sprach sie leise zu sich selbst.
     Immer wenn sie vor einem Rätsel stand, hatte sie die Angewohnheit, leise mit sich selbst zu reden. Das half ihr beim Denken. Ihr scharfer Verstand arbeitete auf Hochtouren. Plötzlich war sie sich sicher. Sie hatte soeben ein Geheimfach entdeckt, dessen Inhalt geduldig darauf wartete, von ihr gefunden zu werden.
     Entschlossen nahm sie einen Schlüssel nach dem anderen aus seiner Aufhängung und probierte, ob er in das kleine Schlüsselloch passte. Beim dritten Versuch hatte sie endlich Erfolg.
     Kaum drehte sich der Schlüssel in der Öffnung, schon sprang die Abdeckung einen Spalt breit auf. Ungeduldig zogen ihren schlanken Finger an dem Deckel und entblößten einen kleinen, silbrig schimmernden Gegenstand.
     Alina spürte, wie die Aufregung in ihr wuchs. Sollte sie etwas gefunden haben, das noch keiner ihrer Vorfahren vor ihr entdeckt hatte? Wie viele Jahrzehnte hing die Uhr bereits in ihrem Büro, ohne dass sie etwas von deren Geheimnis ahnte?
     Es war an der Zeit, dass sie das Rätsel löste. Als sie das Artefakt auf der Tischplatte neben der Uhr ablegte, fühlte sich das kühle Metall sonderbar vertraut zwischen ihren Fingerspitzen an. Verwirrt begutachtete sie den kleinen Gegenstand. Sie war sich jedoch ganz sicher, dass sie dieses seltsame Objekt noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Fasziniert betrachtete sie das Amulett, das sich ihr nun in seiner vollen Schönheit präsentierte.
     In der Mitte zog ein fein geschliffener Kristall ihre Aufmerksamkeit sofort auf sich. Das Licht der Raumbeleuchtung brach sich in schillernden Regenbogenfarben darin. Geheimnisvolle Linien umrahmten den Kristall. Am Rand des silbernen Amuletts wand sich eine zierliche goldene Schlange im Uhrzeigersinn um die fremden und merkwürdigen Zeichen.
     Kaum hatte sie das Amulett auf dem Schreibtisch abgelegt, fing die Schlange an, sich zu bewegen und zu drehen. Abrupt hielt sie plötzlich inne. Ein spitzer Aufschrei des Erschreckens entfloh Alinas Lippen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals.
     Erschrocken sprang sie zurück, um genügend Abstand zwischen sich und diesen mysteriösen Gegenstand zu bringen, der soeben ein unerwartetes Eigenleben entwickelt hatte. Vorsichtig lugte sie nach vorn. Es bewegte sich nichts mehr. Ihre Neugier siegte schließlich über ihr Erschrecken.
     Entschlossen nahm sie das Amulett erneut in die Hand und bewegte sich damit in Richtung der leuchtenden Stehlampe, die neben der Sitzecke im Raum stand. Im hellen Lichtschein der Lampe wollte sie das Amulett nochmals genauer betrachten. Doch soweit kam sie nicht.
     Sobald sie sich auf den Weg zur Stehlampe machte, setzte sich die kleine Schlange wieder in Bewegung. Auch dieses Mal endete die Bewegung abrupt.
     Forschend begutachtete sie das rätselhafte Tier aus Edelmetall, das wieder erstarrt war. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich in beiden Fällen der Schlangenkopf nur so weit drehte, bis er in eine bestimmte Richtung in ihrem Büro zeigte – exakt auf das linke Ende ihres Schreibtisches. Grübelnd trommelte sie mit dem Zeigerfinger gegen ihr Kinn.
     Sollte ihre spontane Vermutung stimmen? Um diese zu überprüfen, trat sie rasch einige Schritte zur Tür. Wie von ihr erwartet, drehte sich die Schlange erneut. Ihr Kopf wies ein weiteres Mal in die gleiche Richtung. Nur, auf was wies denn der Schlangenkopf hin?
     Ihr Forscherdrang gewann eindeutig die Oberhand. Wie von selbst setzten sich ihre Füße in Bewegung, um das Ziel des Schlangenkopfs zu erkunden. An der Seite ihres Schreibtisches angekommen erkannte sie, dass das Amulett geradewegs auf die große Schublade wies, die an dieser Stelle in das Möbelstück eingelassen war. Sofort kam ihr ein Gedanke.
     Flink zog sie mit leicht zitternden Fingern die Schublade auf. Aus ihren dunklen Tiefen beförderte sie ein mit kunstvollen Ornamenten verziertes silbriges Kästchen ans Licht.
     Ein Blick auf dessen Inhalt war ihr bislang immer verwehrt geblieben, da sie nicht wusste, wie es zu öffnen war. Kurz stutzte sie. Ihre Augen hefteten sich auf die kleinen Schlüssel der Uhr.
     „Könnte etwa einer davon zu diesem Kästchen passen?“, grübelte sie. Kurz entschlossen nahm sie einen nach dem anderen in die Hand und versuchte ihr Glück.
     Als sie den letzten silberfarbenen Schlüssel ansetzte und es ihr gelang, diesen im Schloss umzudrehen, drang ein ganz leises Klickgeräusch an ihr Ohr. Fieberhaft betasteten ihre Finger den Deckel und versuchten ihn anzuheben.
     Eine weitere Welle der Erregung erfasste Alina. Das Adrenalin pumpte ihr Blut in einem wilden Rhythmus durch ihren Körper. In diesem Moment fühlte sie sich wie auf einer geheimen Erkundungstour.
     Mit einem federnden Schwung öffnete sich das Kästchen und gab einen Blick auf seinen Inhalt frei. Grenzenlose Enttäuschung überflutete Alinas Innerstes. Sie wusste zwar nicht genau, was sie erwartet hatte, aber diese gähnende Leere war es auf jeden Fall nicht.
     Ungläubig suchten ihre Fingerspitzen den gesamten Boden des Kästchens ab und fanden nicht einmal ein kleines Staubkorn. Missmutig ließ sie sich in ihren großen Bürodrehstuhl plumpsen. Enttäuscht begutachtete sie das silberne Kästchen und schloss leise den Deckel.
     Einem Impuls folgend zog sie es zu sich heran und stellte es auf den Kopf. Ihre Augen fuhren jede einzelne kunstvolle Linie nach, in der Hoffnung irgendetwas zu entdecken. Nichts. Die Unterseite des Kästchens war anscheinend einfach nur ein Boden. Ihr Tatendrang war schlagartig verpufft. Frustriert betrachtete sie das kunstvolle Behältnis.
     Sollte sie sich derart getäuscht haben? Falls ja, weshalb zeigte dann der Schlangenkopf direkt auf das Kästchen? Das musste doch einen Grund haben, aber welchen? Konnte sie das Geheimnis lüften?
     Alina wollte noch nicht aufgeben. Ihr Forscherdrang meldete sich beharrlich zurück. Zielstrebig untersuchte sie alle Seitenflächen. Was war das? Täuschte sie sich? Nein. Perfekt getarnt, indem es sich völlig in ein geschwungenes Ornament einschmiegte, entdeckte Alina auf einer Längsseite im Abstand von einem Zentimeter zum Boden ein weiteres winziges Schlüsselloch.
     Dies war an diesem Abend eindeutig die Stunde der Schlüssel. Erneut probierte sie einen nach dem anderen aus. Der Kleinste passte und ließ sich geschmeidig in das Schloss einfügen.
     Alina spürte, wie ihr vor Aufregung das Herz bis zum Hals schlug. In diesem Moment konnte sie das berauschende Gefühl, das Schatzsucher bei der Entdeckung eines uralten, verschollenen Gegenstands empfanden, bestens nachvollziehen. Im Augenblick fühlte sie sich ebenfalls wie ein Schatzsucher auf der Jagd. Dieser Gedanke entlockte ihr ein kleines Lächeln – sie und ein Schatzjäger, wer hätte das jemals gedacht.
     Geräuschlos ließ sich der Schlüssel in der winzigen Öffnung drehen. Fast zeitgleich sprang eine flache Schublade hervor, die als doppelter Boden in das Kästchen eingearbeitet worden war. Alina schnappte überrascht nach Luft.
     Neugierig zog sie an der Schublade, um sie komplett zu öffnen. Eine kleine, gut erhaltene Papierrolle kam zum Vorschein. Mit bebenden Fingern entrollte sie das wertvolle Stück, um den Inhalt zu entschlüsseln.
     Fieberhaft überflog sie mit vor Erstaunen geweiteten Augen die warnenden Silben. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen, als sie die letzten Worte las: „… drei Teile zu finden, um die Gefahr für die Menschheit zu binden.
     
Gebannt hingen ihre Zuhörer an Alinas Lippen. Als sie ihre Schilderung beendete, herrschte tiefstes Schweigen im Raum. Mit einer geschmeidigen Bewegung griff Alina Lunara in ihre kleine Handtasche und zog einen in schwarzen Samt eingeschlagenen Gegenstand hervor. Vor aller Augen legte sie diesen direkt vor sich auf der Tischfläche ab. Bedächtig schlugen ihre langen Finger das Samttuch zurück.
     Alea bemerkte, wie sie vor Spannung die Luft anhielt. So wie ihr erging es auch allen anderen, die mit leicht vorgebeugten Oberkörpern keinen Moment der Enthüllung versäumen wollten.
     Kaum hatte Alina das dunkle Tuch zurückgeschlagen, erstrahlte das kleine Amulett in hellem Silber. Sein klarer Kristall funkelte mit der Deckenbeleuchtung um die Wette.
     „Oh, ist das schön …“, entfuhr es Aleas Mutter.
     „ … etwas unheimlich“, kommentierte ihr Vater.
     „ … sehr rätselhaft“, brummte André.
     Alea konnte ihren Blick nicht von dem Amulett abwenden. Vor Überraschung japste sie nach Luft. Konnte das denn wahr sein? Sie spürte, wie das Herz in ihrer Brust schneller schlug. Für einen winzigen Moment schloss sie die Augen. Ihre Augenlider flatterten, als ob sie dagegen einen zaghaften Protest einlegen wollten.
     Augenblicklich riss sie ihre Augen wieder auf, um ungläubig einen erneuten Blick auf dieses außergewöhnliche Stück zu werfen. Tief holte sie Luft. Es gab keinen Zweifel. Sie hatte es bereits einmal gesehen – in ihrem Traum, nur etwas größer, in Lunas Hand.
     Diese Erkenntnis schlug sie völlig in ihren Bann. Magisch zog dieses kleine Objekt, das auch nur ein harmloses Schmuckstück hätte sein können, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich. Überwältigt sog sie jede kleinste Einzelheit in sich auf.
     Fasziniert musterte sie diese Miniaturausgabe von Lunas Amulett. Beinahe hätte sie die Finger danach ausgestreckt, um es zu berühren. In ihren Fingerspitzen kribbelte es bereits. Ihre Augen saugten sich förmlich an dem Artefakt fest, um auf keinen Fall etwas zu übersehen. Ihr Blick verharrte an dem schlanken Leib des goldenen Reptils.
     „Die Schlange schaut aus, als ob sie sich jeden Moment bewegen würde …“, flüsterte Alea wie gebannt.
     Alina lächelte nachsichtig. Diese Wirkung des Amuletts konnte sie bestens nachvollziehen, da es ihr bei seiner Entdeckung nicht anders ergangen war.
     Tajo löste sich am schnellsten von allen aus seinem Bann.
     „Warum brauchst du nun unsere Hilfe, Alina?“, fragte er und er konnte das leichte Misstrauen in seiner Stimme nur schwer unterdrücken.
     „Es sieht so aus, als ob mein Bruder neben meinem Schwert auch den Inhalt des Kästchens aus meiner Schublade entwendet hat“, setzte sie an, seine Frage zu beantworten.
     „Kurz gesagt, ich weiß nicht, in wessen Hände der Inhalt nach seinem Tod gelandet ist“, ergänzte sie.
     „Ich weiß nur eines, wir müssen diese drei Teile schnellstens finden und dazu brauchen wir eure Hilfe“, erklärte sie und blickte jedem fest in die Augen.
     „Mein Sohn Luca wird sich auf die Suche danach begeben. Ich bitte euch nun, ihn zu begleiten, sodass aus dem Hause Turkeso und Azuro ihm mindestens je ein Vertreter zur Seite steht“, schloss Alina ihre Ausführungen und wartete gespannt auf die Reaktionen.
     „Durch deinen Vorschlag wären alle Fähigkeiten aus unseren drei Linien vereint …“, überlegte Matteo laut.
     „Ja, so ist es. Das wäre bei der Suche äußerst hilfreich, denn wir wissen nicht, was uns erwartet“, meldete sich Luca erneut zu Wort.
     Jeder von ihnen saß nachdenklich an seinem Platz und nickte unmerklich mit dem Kopf. Der Plan leuchtete ein. Gemeinsam wären sie ein beinahe unschlagbares Team.
     „Können wir auf eure Unterstützung hoffen?“, fragte Alina in die Runde. Ihre Stimme klang keineswegs so zuversichtlich, wie sie sich nach außen hin gab.
     Nach einem kurzen stummen Blickwechsel zwischen König Tarro, Tajo, Matteo, André und Alea stand ihre Entscheidung fest.
     „Ja, wir werden dir helfen, Luca“, beantwortete Tajo die Frage.
     Ein dankbares Lächeln stahl sich auf Alinas Lippen und sogar Lucas ernste Miene zeigte den winzigen Anflug eines Lächelns.
     „Aber warum gerade jetzt? Warum soll die Suche gerade jetzt starten und nicht später?“, fragte Matteo und sprach aus, was ihn beschäftigte und noch nicht beantwortet worden war.
     „Das hat seinen Grund“, entgegnete Alina und nestelte bereits ein weiteres Mal an ihrer Handtasche.
     „Wir gehen davon aus, dass nach dem Tod meines Bruders jemand den Inhalt des Kästchens an sich genommen hat …“, setzte Alina zu einer Erklärung an. Sofort ruckten alle Augenpaare hoch und fixierten sie voller ungeduldiger Erwartung.
     „… und außerdem kennt dieser unbekannte Jemand den Standort dieser drei Teile und deren Bedeutung.“
     „Was?“, platzte es aus Alea heraus.
     „Wie kommst du darauf, Alina?“, fragte sie König Tarro und seine Augen blickten sie ungläubig an.
     „Bist du dir sicher, Alina?“, stieß Tajo beinahe gleichzeitig mit Aleas Vater hervor.
     Beschwichtigend hob Alina ihre Hand und signalisierte ihre Bereitschaft, die Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten.
     „Ja, ich bin mir ganz sicher. Jemand kennt das Geheimnis.“ Zur Bestätigung ihrer Aussage zog sie ein Blatt Papier in der Größe eines gewöhnlichen Briefes aus ihrer Handtasche hervor.
     Sorgfältig faltete sie es auseinander und glättete die Seite. Anschließend drehte sie es um und legte es vor sich auf den Tisch, sodass alle einen Blick darauf werfen konnten.
     „Das wurde mir anonym zugeschickt.“ Ihre Stimme durchbrach die angespannte Stille.
     Auf dem ausgebreiteten Blatt Papier war die große Zeichnung des silbernen Amuletts einschließlich dessen sonderbare Zeichen und der angsteinflößenden Schlange zu sehen. Originalgetreu war jede Einzelheit von Alinas kleinem Amulett in aller Deutlichkeit abgebildet, nur eben größer. Darunter befanden sich drei konkrete Koordinaten.
     Hörbar schluckte Alina, bevor sie mit tiefster Besorgnis sprach: „Die Menschheit ist in Gefahr. Wir müssen handeln.“
     
     
     Was verheimlichte er alles vor ihr? Allmählich zweifelte Kira daran, dass ihr neuer Arbeitgeber, Elias Desilva, nur der sehr nette und sympathische junge Mann war, den er nach außen hin der Welt zeigte.
     Jedes Mal wenn sie ihm tief in seine unschuldigen hellblauen Augen schaute, verspürte sie das Gefühl, als ob sie in einen eiskalten, dunklen See blicken würde. Irgendwie war er ihr etwas unheimlich, obwohl sie nicht genau erklären konnte, an was das lag.
     Zudem hegte sie die größten Zweifel, ob sein Name auch tatsächlich sein Geburtsname war. Auch in dieser Hinsicht würde sie ihm zutrauen, dass er seine Umgebung täuschte.
     Natürlich hatte sie versucht, ihn zu durchleuchten. Vergeblich. Weder über ihn noch über seine Herkunft konnte sie etwas in Erfahrung bringen. Der ganze Mann stellte einfach nur ein großes Rätsel dar und das war schon sehr merkwürdig.
     Bei genauer Betrachtung wusste sie wirklich nicht, ob und inwieweit sie ihm trauen konnte. Auf den ersten Blick vermittelte er das Bild eines immer bestens gelaunten Surferboys, der einfach nur Spaß am Leben hatte und dieses in vollen Zügen genoss.
     Mit welcher wahren Arbeit er wohl seinen Lebensunterhalt bestritt? Sein Lebensstil war auf jeden Fall sehr kostspielig und diese schicke Stadtvilla, in der er anscheinend allein lebte, untermauerte ihre Einschätzung. War er etwa einer dieser verwöhnten Abkömmlinge reicher Eltern?
     Bei ihrem ersten Kennenlernen hatte er sich ihr gegenüber als Unternehmer vorgestellt, wobei er jedoch sein konkretes Betätigungsfeld sehr nebulös umschrieb. Nun ja, eigentlich konnte es ihr reichlich egal sein, womit er sein Geld verdiente, solange er ihr äußerst großzügiges Gehalt bezahlen konnte. Ja, das war es in der Tat. Ohne mit der Wimper zu zucken, war er bereit, eine wahrlich fürstliche Entlohnung für ihre Dienste hinzublättern.
     Seine Bedingungen hierzu waren aus ihrer Sicht fair und für die Höhe der Bezahlung auch gerechtfertigt: Loyalität, Verschwiegenheit, perfekte Auftragserledigung und gelegentlich nicht zu viele Fragen stellen. Sie hatte diese Rahmenbedingungen kommentarlos akzeptiert.
     Je länger sie über Elias nachdachte, umso mehr kam sie zu der Erkenntnis, dass irgendein verborgenes Geheimnis ihn wie ein unsichtbarer Mantel umgab. Zu ihrem Leidwesen bot er allerdings nicht den kleinsten Anhaltspunkt, was dies sein könnte.
     Grübelnd und mit weit ausholenden Schritten lief Kira durch die weitläufige Grünanlage. Sie liebte es, frühmorgens allein zu joggen. Zum einen bekam sie dadurch den Kopf frei, um sich auf den kommenden Tag vorzubereiten und zum anderen hatte sie währenddessen Zeit, über die verschiedensten Themen in Ruhe nachzudenken.
     An diesem herrlichen Morgen dachte sie über ihren neuen Auftraggeber nach. So klar wie dieser Morgen waren auch ihre Überlegungen. Der schwache Dunst hatte sich bereits verzogen und einem wolkenlosen Himmel Platz gemacht. Die Sonne ging allmählich auf und zeigte ihr rotgoldenes Antlitz am blauen Firmament.
     In der Nacht war es bereits sehr kühl und so erzeugte jeder ihrer Atemzüge ein kleines Wölkchen in der frischen Luft. Warm eingepackt in ein schwarzes Laufdress lief sie mit gleichmäßigen Schritten dahin.
     Wie üblich standen ihre pechschwarzen Haare in wilden Stacheln von ihrem Kopf ab und wippten im Takt der Bewegung nur geringfügig mit. Ihre dunklen Laufschuhe verursachten bei jedem Schritt ein leises knirschendes Geräusch auf dem Kiesweg, der sich wie ein breiter Fluss quer durch die Grünanlage zog.
     In ein paar Metern Entfernung entdeckte sie bereits die kleine Holzbank, auf der sie meist eine kleine Verschnaufpause einlegte. Da sie auch an diesem Morgen ein straffes Lauftempo vorgelegt hatte, vertrat sie die Meinung, dass ihr eine kleine Pause zustand. Außerdem war sie mit dem Grübeln über ihren neuen Arbeitgeber noch nicht fertig.
     Leicht erhitzt ließ Kira sich auf der Bank nieder. Vor ihrem inneren Auge sah sie Elias vor sich, wie er sie mit einem äußerst liebenswürdigen Lächeln begrüßte. Und dennoch, ihr Instinkt signalisierte ihr überdeutlich, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Unmerklich schüttelte sie ihren Kopf. Welches Geheimnis verbarg er vor ihr oder waren es etwa sogar mehrere?
     Erneut erinnerte sie sich an die Eiseskälte, die sie empfand, wenn sie ihm tief in die Augen blickte. Über die Tatsache, dass er ihr unheimlich war, ärgerte sie sich sehr. Ausgerechnet sie empfand dieses beängstigende Gefühl ihm gegenüber. Sie lachte laut auf.
     „Jetzt stell dich nicht so an …“, schimpfte sie halblaut mit sich selbst. Sie konnte es einfach nicht glauben, dass ausgerechnet sie sich gelegentlich in seiner Nähe unwohl fühlte.
     Schon seit ihren Kindertagen galt Kira als der rebellische, angstfreie Wildfang, der beharrlich und unnachgiebig seinen Kopf durchsetzte. Bereits im zarten Alter von drei Jahren behauptete ihre Mutter, dass sie es in puncto Furchtlosigkeit und Abenteuerlust mit jedem Jungen aufnehmen konnte.
     Zudem prügelte sie sich auch genauso oft, wie es im Allgemeinen kleine Jungs taten. Ihre Mutter tadelte sie häufig, wenn sie wieder einmal mit zerrissenen Kleidern und kleinen Verletzungen nach Hause gekommen war. Allerdings ließ ihr strahlendes Siegerlächeln dabei keinerlei Zweifel aufkommen, wer den Kampf gewonnen hatte.
     Je älter sie wurde, umso mehr stellte sie fest, dass sie andere Menschen nicht wirklich mochte. Als Menschenfreund konnte man sie wahrlich nicht bezeichnen. Nicht einmal eine Handvoll Menschen schafften es, auf ihrer persönlichen Skala einen Wert zu erreichen, den sie in ihren Augen für würdig empfand, um die betreffende Person in ihren Kreis der Vertrauten aufzunehmen. Wenn sie jemanden für den Preis des eigenbrötlerischsten Einzelgängers vorschlagen müsste, würde sie sich sofort selbst nominieren.
     Eine ihrer größten Schwächen neben ihrem hitzigen Temperament war ihre mangelnde Anpassungsfähigkeit. Das wurde ihr deutlich in der Zeit bewusst, als sie für mehrere Jahre auf der Erde gelebt hatte. Dort war es ihr eindeutig zu voll und zu laut. Überall eckte sie mit ihren unzähligen Mitmenschen an.
     Ihrer Meinung nach vermehrten sich die Menschen unkontrolliert und ihre Population raste unaufhaltsam auf die Marke von acht Milliarden Exemplaren zu. Wie sollte dieser Planet diese Anzahl an selbstsüchtigen und rücksichtlosen Individuen nur schadlos überstehen? Erneut schüttelte sie den Kopf, ohne es zu bemerken.
     Nein, ihr gefiel es in Alterra um ein Vielfaches besser. Kira liebte die Ruhe, die in dieser Welt über allem lag. Anders als auf der Erde verstopften in Alterra keine Fahrzeuge die Straßen, die schädliche Abgase und ohrenbetäubenden Lärm durch laut wummernde Motoren verursachten.
     Alle Autos fuhren geräuschlos mit kostenfreiem Strom. Jedes Fahrzeug erzeugte seinen Strom, den es zum Fahren benötigte, selbst. Die in der Karosserie sowie in den Autodächern eingebauten Module luden sich laufend selbständig auf, sodass Ladestationen im Landschaftsbild völlig fehlten.
     Schon seit langer Zeit produzierten sämtliche Fassaden und Dächer an allen Gebäuden Strom, der in äußerst leistungsfähigen Puffern gespeichert wurde. Hochempfindliche und leistungsfähige Einbauelemente speisten auch bei bedecktem Himmel ihre Erzeugnisse in das allgemeine Stromnetz ein. Alterra befreite sich schon in grauer Vorzeit von der Notwendigkeit fossiler Brennstoffe.
     Auch dies gefiel Kira an Alterra. Sie bevorzugte eindeutig die Sauberkeit und Ruhe, die ihr diese Welt bereitwillig anbot. Nur der Lärm, den die quirligen Bewohner selbst durch munteres Reden, fröhliches Lachen oder laute Musik erzeugten, schallte durch die Straßen.
     „Ja, es hätte hier so schön sein können“, flüsterte sie und nur der vorwitzige kleine Vogel, der sich soeben neben ihr auf der Bank niederließ, hörte ihr zu.
     Ohnmächtiger Zorn wallte in ihr auf. Das morgendliche Laufen half ihr dabei, ihn im Zaum zu halten. Wut und Zorn begleiteten sie ständig auf ihrem Weg, seit sie vor kurzem durch eines der ältesten Gefühle der Menschheit den Menschen verlor, den sie am meisten geliebt hatte.
     Sie spürte einen dicken Kloß in ihrem Hals. Blinzelnd verdrängte sie die aufsteigenden Tränen. Eisern biss sie die Zähne aufeinander. Der erlittene Schmerz lastete schwer auf ihrer Seele.
     Seit dem unerwarteten Ereignis fühlte sie sich wie eine willenlose Marionette, getrieben von ihren quälenden Empfindungen. Der Schock saß tief. Der Verlust wog schwer.
     Seither war ihr Herz zu einem harten Eisblock erstarrt. Kira wusste nur zu gut, dass es kaum etwas Gefährlicheres gab als das gebrochene Herz einer verschmähten Frau und dessen ungeahnte Folgen.
     Innerlich war sie völlig zerrissen und sie spürte, wie die Wut an dem hauchdünnen Seil ihrer Selbstbeherrschung unerbittlich zerrte. Elias Desilva bot ihr das an, nach dem sie sich am meisten verzehrte: Gnadenlose Vergeltung und alles vernichtende Rache.
     
     
Ein schöner Tag, der Elias ein kleines Stück näher an sein angestrebtes Ziel brachte, neigte sich seinem Ende zu. Soeben war er von seinen verschiedenen Unternehmungen nach Hause zurückgekehrt und bereitete sich nun auf einen gemütlichen Abend in seinen eigenen vier Wänden vor.
     „Gelegentlich brauche sogar ich einmal eine Verschnaufpause vom turbulenten Partyleben“, dachte er sich breit grinsend.
     Vor seinen Augen sah er nochmals die Bilder der spärlich bekleideten Blondine vorbeiziehen, die ihn in der vergangenen Nacht ganz schön auf Trab gehalten hatte. Zufrieden schnalzte er leise mit der Zunge. Ihre Nummer musste er sich unbedingt merken.
     Mit Begeisterung genoss er die vielfältigen Vorzüge seiner wechselnden weiblichen Bekanntschaften. Seiner Meinung nach war er für eine langfristige, monogame Beziehung nicht geschaffen. Außerdem war es noch keiner Frau gelungen, sein Interesse für längere Zeit zu binden, geschweige denn sein Herz zu erobern. Nein, er liebte die Abwechslung. Versonnen lächelte er zu den Sternen hoch.
     Die Sonne war bereits untergegangen und einzelne Wolkenfelder zogen träge am dunklen Abendhimmel entlang. Der Mond ließ sich noch nicht blicken und es war die Zeit des Vollmonds. Elias liebte den Schein des Vollmonds ganz besonders. Trotz der Dunkelheit erhellte sein silbriges Licht die Nacht und alles erschien ihm klarer und intensiver.
     Besonders liebte er es, bei Vollmond in dem warmen Wasser seines Swimmingpools ein paar Runden zu schwimmen. Auch an diesem Abend lockte ihn das verführerische Nass und schien ihn buchstäblich zu sich zu rufen.
     Mit großen Schritten lief er in sein geräumiges Ankleidezimmer, um sich umzuziehen. Mit flinken Fingern fischte er aus der untersten Schublade der Kommode, die ausschließlich für Badesachen reserviert war, eine farbenfrohe Badehose heraus.
     Mit ein paar schnellen Bewegungen hatte er seine Straßenkleidung gegen die sportliche Badehose getauscht. Deren frische, verschiedene Grüntöne, die geschickt ineinanderflossen, steigerten seine Lust auf das bevorstehende entspannende Bad. Vorteilhaft unterstrich sie seinen athletischen Körper, an dem kein Gramm Fett zu viel daran war.
     Kurz musterte sich Elias im großen Spiegel seines Ankleidezimmers. Langsam drehte er sich von links nach rechts und wieder zurück. Mit dem, was er sah, war er höchst zufrieden.
     Schließlich mussten sich die zahlreichen Stunden, die er regelmäßig im Fitnessstudio zubrachte, auch lohnen. Ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel und mit einem dicken, warmen Bademantel unter dem Arm trabte er in Richtung Garten los.
     Er spürte bereits die Vorfreude in sich aufsteigen. Darauf, einige Bahnen durch das warme Wasser zu ziehen. Inzwischen waren die Nächte bereits empfindlich frisch geworden. Umso mehr genoss er die wohlig warmen Fluten seines riesigen Pools.
     Schon griffen seine schlanken Finger nach der Fernbedienung, die auf dem niedrigen Tisch neben seines Lieblingsplatzes am Rande des Pools lag.
     Auf Knopfdruck fuhr die elastische Poolabdeckung nahezu geräuschlos ein. Über beinahe unsichtbare Rollen, die im Mauerwerk des Pools eingelassen waren, wurde die elektrische Abdeckung eingezogen und zugleich jeglicher Ballast beseitigt. Gerade in der kühleren Jahreszeit bot diese Abdeckung den idealen Schutz vor herabfallendem Laub und sonstigem Schmutz. Zudem hielt sie erfolgreich Insekten und andere kleine Plagegeister fern.
     Elias ließ seine Augen genießerisch über die nächtliche Szenerie gleiten. Unzählige Strahler, die am Beckenrand eingelassen waren, zeichneten exakt die Kontur des Pools nach und verbreiteten ein warmes, heimeliges Licht. Der überdimensionale Wassertropfen schimmerte einladend in dem glanzvollen Lichtermeer.
     Mit einem gekonnten Kopfsprung stieß er sich vom Beckenrand ab und tauchte in das warme Wasser ein. Es wurde ständig auf einer Temperatur von siebenunddreißig Grad gehalten, um eine ganzjährige Nutzung zu ermöglichen. Dank des kostenlosen Verbrauchs und der unerschöpflichen Stromproduktion in Alterra stellten elektrische Spielereien keinen Luxus dar.
     Mit weit ausholenden, kraulenden Armbewegungen und kräftigen Beinstößen pflügte Elias durch das Wasser, ohne sich einen Meter von der Stelle zu bewegen. Durch die eingebaute Gegenstromanlage konnte er kilometerweit und stundenlang Schwimmen, sofern er Lust dazu verspürte.
     An diesem Abend verlangten seine Muskeln nach anstrengender Betätigung und so schwamm er eine halbe Stunde ununterbrochen durch das wohltemperierte Wasser.
     Erschöpft und höchst zufrieden zog er sich in den Whirlpoolbereich zurück, der in der Spitze der Wassertropfenform seines Pools integriert war. Kaum hatte er es sich in einem der vier Sitze gemütlich gemacht, begann das Wasser um ihn herum zu sprudeln. Aus unzähligen Düsen brodelte das warme Wasser und massierte unablässig seine Haut.
     Ein genüssliches Stöhnen entfloh seinen Lippen, als er die Augen schloss und sich ganz dem entspannenden Wassergeblubber hingab. Nach einer weiteren halben Stunde, die er mit süßem Nichtstun verbrachte, stieg er gut gelaunt und völlig entspannt aus dem Pool.
     Wenige Minuten später kehrte er eingehüllt in warme Kleidung und mit einem Glas Rotwein in der Hand auf die Terrasse zurück. Nachdem er die Heizung seines Sessels eingeschaltet und das Glas abgestellt hatte, ließ er sich schwungvoll nieder.
     Mit lässig überschlagenen Beinen blickte er in die Nacht. Schwach roch er den zarten Duft der letzten Rosenblüten, die sich vehement der nächtlichen Kälte entgegenstemmten.
     An der Hauswand hinter Elias brannte eine Laterne und verströmte ein helles gelbliches Licht. Nun, da er es sich gemütlich eingerichtet hatte, konnte er seine Neugier kaum noch bezähmen. Ungeduldig zogen seine Finger das silberne Amulett aus seiner Jackentasche hervor, das er seinem Vater abgenommen hatte.
     Er spürte, wie ihn eine Welle der erwartungsvollen Erregung ergriff. Wieder einmal bestaunte er mit großen Augen die feinen eingeritzten Linien, deren Bedeutung er noch immer zu ergründen versuchte. Bisher gab ihm dieses mysteriöse Artefakt jedoch nur Rätsel auf, deren Lösung er noch keinen Schritt nähergekommen war.
     Im Gegensatz zu dem Amulett war Lunas Botschaft auf der Rückseite der Goldplättchen mehr als aufschlussreich für ihn gewesen. So wusste er nun alles, was er wissen musste und konnte gezielt seine nächsten Schritte planen.
     Das Einzige, was fehlte, war eine Gebrauchsanweisung für dieses ominöse Amulett, das er gerade einer erneuten gründlichen Prüfung unterzog.
     „Luna, warum hast du nur keine Anleitung hinterlassen, wie dieses Ding hier funktioniert?“, sprach er halblaut mit sich selbst.
     Mit einer Lupe in der Hand untersuchte er jede einzelne Einkerbung in dem harten Metall.
     „Knifflig, knifflig. Für was stehen diese Zeichen wohl?“, rätselte Elias und blickte angestrengt durch die Lupe.
     „Entsprechen die Symbole etwa den zwölf Monaten?“, murmelte er vor sich hin und zählte sie bereits ab. Nein, das passte nicht.
     „Passiert etwas, wenn ich darauf tippe?“ Grübelnd tippte er mit der Kuppe seines rechten Zeigefingers der Reihe nach auf jedes Zeichen. Auch das half nichts. Nichts geschah.
     „Und was soll diese Schlange bedeuten?“, grummelte er vor sich hin.
     Mit den Fingerspitzen fuhr er ihre Konturen ab, deren Metall sich kühl und glatt anfühlte. Vorsichtig rüttelte er an dem geschwungenen Schlangenkörper. Nichts ließ sich an dem Amulett bewegen.
     Seine besondere Aufmerksamkeit schenkte er den ungewöhnlichen Aussparungen, die in unregelmäßigen Abständen am Rand des Amuletts vorhanden waren. Eifrig wendete er das Metallstück und begutachtete intensiv dessen Rückseite. Im Gegensatz zur Vorderseite war diese jedoch völlig glatt und wies keinerlei Erhebungen oder Linien auf.
     Elias kam der Entschlüsselung des Rätsels, das dieses Amulett tief verborgen in sich trug, einfach nicht auf die Spur. Allmählich verließ ihn die Geduld.
     „Was soll ich nur machen, um dein Geheimnis zu lüften?“, brummte er leicht verstimmt vor sich hin. Langsam ärgerte er sich über Luna und ihr Erbe, das ihm keinerlei hilfreiche Hinweise überließ.
     Verdrießlich ließ er die Lupe sinken und legte sie auf dem Tischchen neben sich ab. Das Amulett lag unschuldig in seiner linken Handfläche. Beinahe erschien es Elias, als ob es sich über ihn und seinen mangelnden Erfolg lustig machen würde.
     Leicht verärgert blickte er zum Himmel empor. Genau in diesem Moment verzog sich eine große Wolke und entblößte den Vollmond in seiner ganzen Pracht. Geduldig schien er auf Elias hinunter und erhellte die Nacht mit seinem silberglänzenden Licht.
     Plötzlich geschah es. Wie gebannt starrte Elias das Amulett an. Auf seiner Haut spürte er ein ganz schwaches Vibrieren, das in Windeseile anschwoll. Der Kristall in der Mitte des Amuletts fing an zu leuchten. Auch das Metall erstrahlte in einem helleren Silberton.
     Erschrocken sprang er auf die Füße. Fasziniert betrachtete er das rätselhafte Amulett in seiner Hand. Der Kristall erstrahlte im Dunkel der Nacht immer heller und heller.
     Staunend murmelte Elias leise: „Silbern leuchtet also nicht nur der Mond, sondern auch dieses sonderbare Amulett. Nein, sogar noch heller …“
     Beinahe zeitgleich riss es ihn gewaltsam von den Beinen. Ohnmächtig glitt er zu Boden.
     
     

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752131659
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Liebesroman Portalreisen Artefakt Besondere Fähigkeiten Geheimnis Abenteuer Parallelwelt Portalstift Liebe

Autor

  • Lorena Liehmar (Autor:in)

Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann nahe einer Kleinstadt in Bayern. Bevor sie mit dem Schreiben begann, arbeitete sie jahrelang als Managerin bei einem deutschen Großkonzern. Ihr Berufsleben war geprägt von Zahlen, Daten und Fakten. Im Gegensatz hierzu lebt sie beim Schreiben ihre Kreativität aus und entführt die Leser*innen in eine geheimnisvolle Parallelwelt.
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Titel: Silbern leuchtet nicht nur der Mond