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Wolfkisses: Clanmächte

von Katania de Groot (Autor:in)
382 Seiten
Reihe: Wolfkisses, Band 2

Zusammenfassung

Seit der Ankunft der Jäger hat sich ein Schatten über Los Angeles gelegt. In den Wäldern um die Stadt lauert der Tod und der brüchige Frieden zwischen den Clans wird erneut auf die Probe gestellt. In Cassidys Leben ist nichts mehr wie zuvor. Ihre Alpha Becca ist verschwunden, und nun zieht auch noch King bei ihnen ein. Als die Jäger die Schlinge um die Wölfin enger ziehen, scheint der unausstehliche Kerl ihre einzige Chance lebend davonzukommen. Aber kann sie dem Mann vertrauen, dessen Wolf sie vernichten will?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Katania de Groot

 

Wolfkisses

 

Clanmächte

Vorwort

 

Seit die Jäger in Los Angeles Einzug gehalten haben, schiebt sich ein leichter Schatten über die Stadt.

Waren die Clanrivalitäten bis jetzt die größte Sorge der Wölfe, sind es jetzt ihre Leben, die bedroht werden.

Angst breitet sich aus und obwohl auch dieses Mal die Romantik nicht zu kurz kommt, habe ich für euch wieder Triggerwarnungen im Buch angebracht.

 

Die Infos dazu findet ihr wieder auf den letzten Seiten im Buch.

Dort findet ihr auch das Personenregister.

 

Alles Liebe,

Katania

Kapitel 1

 

Stille lag wie eine dämpfende Decke über dem Raum. Alex sah aus dem Fenster, der Ausblick aus dem achten Stock des Hotels war beeindruckend. Am Horizont konnte er sehen, wie sich dunkle Wolken bedrohlich über dem Meer zusammenzogen, ganz als würden sie seine Laune widerspiegeln.

»Alex. Du kannst diese Entscheidung nicht ewig herauszögern.«

Christoph und Grace saßen auf den Sesseln vor ihm. Die Geschwister waren mit einem Anliegen zu ihm gekommen, das persönlicher nicht hätte sein können.

Alex riss seinen Blick von den Wellen los und sah Grace an.

»Das willst du doch gar nicht.«

»Bitte, wenn du einer Hochzeit nicht zustimmst, wird meine Mutter es als mein Versagen ansehen.« Grace flehte. Es war ein ungewohnter Anblick, die Tochter einer der mächtigsten Jägerfamilien so zu sehen.

»Was sollte das bringen? Du willst nach England zurück, ich möchte in Los Angeles bleiben. Dein Vater will hier Jäger stationieren und ich habe mich dafür gemeldet.«

Christoph stand auf. »Diskutiert das ohne mich weiter. Ihr kennt meine Meinung. Es wäre für jeden von uns dreien das Beste, wenn ihr beiden einfach heiraten würdet.«

Alex zuckte zusammen. Es war das erste Mal, dass Christoph seine Meinung zu dem Thema so deutlich aussprach.

Der Klang der sich schließenden Tür hatte etwas Endgültiges. Christoph hatte sie allein gelassen und Grace war ebenfalls aufgestanden. Unruhig lief sie im Raum auf und ab.

»Ich verstehe dich. Ich verstehe, warum du nicht in unsere Familie einheiraten willst. Aber es gibt keine Liebe für Jäger und wir wissen beide, wenn es zwischen uns schon keine Liebe gibt, dann doch zumindest Respekt. Das ist immerhin mehr, als die meisten Paare haben.«

Alex senkte den Blick. Er wollte zu einer möglichen Hochzeit nichts mehr hören. Heute nicht, morgen nicht. Am liebsten nie wieder.

»Du würdest nicht glücklich werden.«

»Meinst du, ich werde glücklich, wenn meine Mutter mich an eine der anderen Familien verkauft? Wir wissen nicht einmal, wen sie dafür in Betracht zieht, nur dass sie bereits verhandelt.«

Er sah auf. Grace stand wieder vor ihm. Die Verzweiflung in ihrem Blick ließ ihn fast nachgeben. Was bedeutete schon eine Hochzeit?

Das Weitergeben des Familiennamens und bestenfalls eine Freundin an seiner Seite. Mehr würde es mit keiner anderen Frau sein. Zumindest mit keiner, die vom Rat akzeptiert würde.

»Bitte Alex, komm mit mir nach Hause.«

Alex schüttelte den Kopf. Es war drei Wochen her, dass er Becca das letzte Mal gesehen hatte. Drei Wochen, in denen ihm klar geworden war, dass er sie mehr vermisste, als er für möglich gehalten hatte.

Er wollte bleiben, die Stadt beschützen. Becca beschützen. Zumindest für die erste Zeit.

»Es wäre auch für dein Herz besser. Das kühlere Wetter in England belastet es nicht so wie die Hitze hier.«

Alex‘ Stimme war schneidend, als er Grace unterbrach: »Meinem Herzen geht es seit drei Wochen wieder deutlich besser, ein Umstand, der nicht rechtfertigt, dass du mich länger auf die Ersatzbank schickst. Nicht, wenn wir doch wissen, dass es Wölfe in Los Angeles gibt. Bitte flieg einfach nach Hause und nimm um Himmels Willen deinen Bruder mit.«

Alex wollte nicht zurück in seine Heimat. Der Ortswechsel, weg von seinem Familienanwesen, hatte ihm gut getan. Es war Zeit für den nächsten Schritt. Weg von den Tosnys. Selbst wenn sie ihn aufgezogen hatten, in den letzten Wochen war ihm bewusst geworden, dass er seinen eigenen Weg gehen musste. Und vielleicht, mit genug Zeit, konnte er sogar Becca wiedertreffen. Irgendwann, wenn sie ihn nicht mehr hasste. Wenn sie ihm verzeihen könnte, dass er ein Jäger war.

Graces Hand lag auf dem Türknauf, als sie noch einen letzten Versuch startete. »Denk darüber nach Alex, bitte. Du bist der Einzige, der mich davor retten kann, in eine fremde Familie einzuheiraten.«

Die Hilflosigkeit auf ihrem Gesicht ließ Alex peinlich berührt aus dem Fenster blicken. Grace war es gewohnt, zu bekommen, was sie wollte, und in diesem Moment war ihr die Angst deutlich anzusehen. Er betrachtete das Meer, das unbeeindruckt von menschlichen Problemen seinen Gezeiten nachging. Die Wellen hoben sich in ihrem unbeeinflussbaren Rhythmus. Fast glaubte er, das Wasser rauschen zu hören. Ein absurd friedliches Bild.

Ein lauter Knall zerschnitt seine Gedanken.

Es war ein Geräusch, das er selbst bei ohrenbetäubendem Lärm jederzeit erkannt hätte. Eine Kugel, die den Lauf einer Waffe verlassen hatte. Sofort übernahm der Jäger in Alex das Kommando und dieser erlaubte ihm keine Panik. Alex sprang auf und sprintete auf die Tür zu. Grace war längst auf den Flur geeilt.

Das Bild, das sich ihm bot, als er aus der Suite stürmte, ließ ihn erstarren. Im gleichen Moment, in dem seine Füße stoppten, spürte er, wie sein Brustkorb sich krampfhaft zusammenzog.

Becca lag vor Christoph auf dem Boden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kroch sie rückwärts von dem Jäger weg. Doch hier wusste jeder, vor einer weiteren Kugel würde sie nicht fliehen können. Christoph zielte in aller Ruhe und unbeirrt auf ihren Kopf.

»Was ist hier los?« Alex hörte seine eigene Stimme durch den Flur hallen. Als könnte er Becca nur mit Worten aus dieser Situation befreien! Rauschen dröhnte ihm in den Ohren und für einen Moment hatte er Probleme, das Gleichgewicht zu halten.

»Werwolf«, fauchte Christoph, Antwort und Warnung zugleich. Alex’ Welt geriet ins Wanken.

Christoph versuchte Grace mit seiner freien Hand davon abzuhalten, näher an Becca heranzutreten. Doch im Gegensatz zu Alex brauchte die Jägerin keinerlei Bedenkzeit, um ihre Entscheidung zu treffen. Geschick entwand sie sich ihrem Bruder und gerade, als Becca den Mund öffnete, um etwas zu sagen, trat Grace mit voller Wucht zu. Christophs Warnung schien sie nicht zu überraschen. Im Gegenteil, sie wirkte, als hätte sich etwas bestätigt, das sie schon lange gewusst oder zumindest erwartet hatte.

Die Haut über Beccas Augenbraue platzte auf. Sofort überströmte Blut ihr bleiches Gesicht. Ihr Blick schien den von Alex zu suchen und mit schmerzverzerrter Miene stemmte sie sich vom Boden hoch. Zwischen die Geschwistern hindurch fixierte sie ihn. Seine Hände zitterten, als er Blut über ihre bebenden Lippen quellen sah.

Werwolf, hallte es in Alex‘ Ohren. Er machte einen Schritt auf sie zu. Hatte der Jäger recht? War Becca der Feind? Ein weiterer seiner Schritte brachte Alex näher an sie heran. War ihre ganze Anwesenheit hier nur ein Versuch gewesen, ihn zu manipulieren, ihn in eine Falle zu locken? War sie jetzt zurückgekommen, um ihn zu töten? Das Rauschen in seinen Ohren wurde lauter, Alex nahm kein anderes Geräusch mehr wahr. Trotz Beccas Verrats schrie alles in ihm danach, sie zu schützen.

Grace trat ein weiteres Mal in Beccas Gesicht. Dieses Mal traf sie die Schläfe der am Boden Liegenden.

Bewusstlos sackte Becca zusammen.

Grace war noch keinen ganzen Schritt zurückgetreten, als Christoph sich bereits über die Bewusstlose beugte. Er hatte eine Spritze aus seinem Jackett gezogen und rammte sie ihr in den Arm. Nur am Rande nahm Alex den zufriedenen Gesichtsausdruck des Jägers wahr, während er selbst nach vorne schnellte.

Noch ehe er seinen Ziehbruder erreicht hatte, hatte dieser die wässrig violette Flüssigkeit in ihr Fleisch geleert.

Wolfsbane. Konzentriert. Eine ganze Ampulle war eine viel zu hohe Dosis. Wenn Christoph recht hatte und Becca ein Werwolf war, würde sie nicht so schnell aufwachen. Vielleicht sogar nie wieder.

»Was hast du getan?« Entsetzt ging Alex neben Becca in die Knie. Hilflos sah er in ihr gequältes Gesicht.

»Was nötig war. Sie stellt eine Gefahr dar und zwar eine, die wir von diesem Flur entfernen sollten, bevor jemand kommt.«

Grace schob eilig einige auf dem Boden liegende Dokumente in eine Mappe und hob diese auf.

Das schmale Paket an ihre Brust drückend, legte sie Alex ihre freie Hand auf die Schulter. »Lass uns gehen. Christoph kümmert sich um alles.«

Alex schüttelte gereizt ihre Hand ab, er konnte Grace in diesem Moment nicht ertragen. »Verschwinde Grace, das hier ist noch nicht vorbei.«

»Natürlich ist es das. Sie ist ein Wolf, wir sind Jäger. Aber ich lasse euch mit diesem Problem alleine. Leichen entsorgen ist ja auch eigentlich eine klare Männerangelegenheit.« Grace wandte sich ab und stieg über die Bewusstlose, als würde nicht ein gefährliches Raubtier dort liegen, sondern lediglich ein schlafender Labrador.

Alex‘ Blick haftete an Becca. Sein Brustkorb zog sich zusammen, als sein Herz stockte. Seine Hände zitterten. Er sah auf, wandte sich verzweifelt an Christoph: »Bist du dir sicher? Weißt du genau, dass sie ein Wolf ist? Gibt es Beweise?«

Er brauchte Gewissheit.

»Sieh dir die Reaktion ihres Körpers an. Ich habe sie mit leichter Silbermunition verwundet.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Die Kugel steckt in ihrer Schulter.«

Blut lief von der Platzwunde an ihrer Augenbraue über ihr Gesicht und mischte sich mit dem der Schusswunde, ehe es auf den ohnehin roten Teppich tropfte.

Vorsichtig, um sie nicht weiter zu verletzen, schob Alex den getränkten Träger ihres Tanktops zur Seite. Sofort waren seine Finger klebrig und rot von ihrem Blut.

Auch in der Bewusstlosigkeit wehrte sich ihr Körper gegen das Silber unter ihrer Haut. Kleine Bläschen bildeten sich am Rand der Wunde, es wirkte, als würde ihr Blut schäumen. Trotz des Silbers und des Wolfsbane, die Wunde schloss sich. Langsam, doch deutlich sichtbar.

Alex hob die Hand, um ihr über die Wange zu streichen, ließ sie jedoch wieder sinken, als ihm bewusst wurde, was er da tat. Beccas Gesicht hatte nichts Friedliches an sich. Es war vor Schmerz verzogen und ihre Augenlider flatterten, als wollte sie sich wieder ins Leben kämpfen, doch gegen das Gift in ihren Adern würde sie keine Chance haben.

»Ziemlich hübsch für ein Tier, auch wenn ich Menschen bevorzuge.« Christophs Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Die Anzüglichkeit darin missfiel Alex. Doch er konnte ihm nicht widersprechen.

Er strich eine von Beccas Strähnen zur Seite, die durch das Blut in ihrem Gesicht klebte. »Ja, das ist sie.«

Alex zog seine Waffe. Im gleichen Moment verkrampfte sich sein Brustkorb. Er ignorierte das Gefühl der Enge und konzentrierte sich auf die unmögliche Aufgabe, die vor ihm lag. Die Pistole in seiner Hand schien Tonnen zu wiegen.

Genau wie die erste Waffe, die an diesem Tag abgefeuert worden war, enthielt sie Silberkugeln. Nicht die leichte Munition, die Christoph bevorzugte. Alex‘ Kugeln waren modifizierte Hollow Point Geschosse aus Silber. Sie platzten unter der Haut auf und verteilten sich im Fleisch des Getroffenen. Sie vergifteten den Wolf, selbst wenn er im ersten Moment entkam.

Christophs Kugeln waren die eines Forschers, Alex hatte die eines Jägers. Im Gegensatz zu seinem Ziehbruder machte Alex keine Gefangenen. Niemals.

Bilder blitzten auf, wie er vor Wochen mit Becca in seinem Hotelzimmer verschwunden war. Wie entsetzt sie über Milas Strafe gewesen war. Der Hass in ihren Augen, als sie ihm gesagt hatte, sie wolle ihn nie wieder sehen.

Der Kampf in seinem Inneren entspannte sich etwas. Sie hatte gewusst, dass er ein Jäger war. Damit musste ihr auch klar gewesen sein, welche Konsequenzen es für sie haben würde, zu ihm zu kommen.

Er überprüfte, ob das Magazin eingerastet war, und richtete die Waffe auf Beccas Kopf.

Als würde sie die Gefahr, die von ihm ausging, fühlen, stöhnte sie vor Schmerzen auf. Doch es war lediglich das Wolfsbane, das endlich seine volle Wirkung entfaltete. Und auch Alex‘ Herz schien noch einmal zu rebellieren. Sein Atem ging rasselnd, sein Oberkörper krümmte sich.

»Ich kann das nicht.« Alex senkte die Waffe wieder. Seine Schultern sackten herunter, als er verzweifelt zu Christoph aufsah.

»Verdammt Alex, verschwinde, bevor jemand die Polizei schickt.« Christoph zog Alex nach oben, weg von Becca. »Ich kümmere mich um sie, das muss nicht deine Aufgabe sein.«

Alex sah, wie Christoph einen Schalldämpfer auf seine Waffe schraubte.

»Geh jetzt«, forderte Christoph ihn noch einmal auf und diesmal ging Alex. Er taumelte in sein Zimmer. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und schnitt ihn so von der Szene auf dem Flur ab. Er stolperte zum Schreibtisch und goss sich ein Glas Whiskey ein. Seine Hände waren klebrig. Er starrte auf seine roten Finger.

»Sie ist ein Monster. Es ist unsere Aufgabe«, flüsterte er. Doch die Worte konnten die Leere nicht füllen, die ihn zu erdrücken drohte. Vor seinem inneren Auge erschien das Bild von ihr. Blutüberströmt. Das gleiche Blut, das ihm jetzt noch an den Händen klebte.

Alex fühlte nicht, wie seine Beine nachgaben, er spürte nur den Aufprall auf dem Boden. Der Schmerz in seiner Brust wurde unerträglich und im nächsten Moment verschwamm der Raum vor seinen Augen zu einem einheitlichen Farbbrei, bis endlich Dunkelheit die Erlösung brachte.

Kapitel 2

 

Die Luft flimmerte. Es wirkte, als wären große Pfützen auf der Straße, doch King wusste, dass es sich nur um optische Täuschungen handelte. Der Warith der Nekare war gerade ausgestiegen. Er ließ seine Tasche neben sich auf den Gehweg fallen und überprüfte auf seinem Handy, ob er sich verfahren hatte. Doch laut der Navigationsapp war er am richtigen Ort. August. Was für ein scheiß Monat, um aus seinem klimatisierten Apartment in ein heruntergekommenes Haus am Stadtrand zu ziehen. Im Moment war ihm nicht einmal klar, ob es in der Absteige, vor der er jetzt stand, Strom und fließend Wasser gab.

Die wegen der Hitze geschlossenen Fensterläden hingen schief in den Angeln. Der Lack war an mehreren Stellen aufgeplatzt und blätterte langsam auf die Überreste von verdorrtem Gras. Die Veranda sah ebenfalls nicht sonderlich vertrauenserweckend aus. Vermutlich würde das Ding in dem Moment zusammenbrechen, in dem er es wagte, die Treppe hinaufzusteigen.

Sein Wolf rebellierte. Auch die Clanmacht drängte King, in seinen Wagen zu steigen und nach Hause zu fahren. Diese Austauschgeschichte war ohnehin eine schlechte Idee gewesen. Sich freiwillig als Geisel für die Hazima zu melden, war ihm im ersten Moment richtig und vermutlich sogar ein wenig nobel vorgekommen. Drei Wochen später zweifelte er an dem ganzen Vorhaben und noch mehr an seinem Verstand. Es war sein schlechtes Gewissen Sofie gegenüber gewesen, das ihn in diese verdammte Lage getrieben hatte. Das und die Neugierde darauf, wie der Clan lebte, dessen Existenz seinem Vater ein Dorn im Auge war.

King sah die Straße entlang. Vielleicht hatte er auch einfach die falsche Adresse bekommen?

Mit einem leisen Knarzen öffnete sich die Tür und jagte damit seine Zweifel zum Teufel. Sein Wolf knurrte, als Cassidy auf die Veranda trat. Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht und musterte King abschätzig.

»Ist das alles?«, fragte sie mit einem Blick auf die Sporttasche neben ihm. Dann sah sie die Straße hinab, als würde sie einen Truck erwarten, der den Rest seiner Sachen brachte.

»Ich reise mit leichtem Gepäck.« King machte keine Anstalten, die Tasche aufzuheben oder sich sonst irgendwie zu bewegen. Im Moment blockierte die Wölfin ohnehin den Eingang und es sah nicht aus, als hätte sie vor, ihn ohne Bitte durchzulassen. Eine Bitte auf die sie lange warten konnte. Er war ein Warith, verdammt noch mal. Der Erbe des Alphas bat nicht darum, durchgelassen zu werden, und schon gar nicht ein Mädchen im Blumenkleid.

King seufzte. Er war noch nicht mal eingezogen, und schon verteidigte Cassidy ihr Revier. Der erste Machtkampf hatte begonnen. Durch die drei Stufen, die sie über ihm stand, sah sie auf ihn herab, aber etwas sagte ihm, dass sie keinerlei körperliche Überlegenheit brauchte, um ihm das Gefühl zu geben, unerwünscht zu sein. Sie musterte ihn, als wollte sie seine Gedanken bestätigen, dann schlenderte sie über die knarzenden Dielen der Veranda auf ihn zu. Barfuß stieg sie eine Stufe nach der anderen hinunter, ohne King dabei aus den Augen zu lassen. Nur wenige Zentimeter vor ihm blieb Cassidy stehen und sah ihm lauernd in die Augen, als würde sie erwarten, dass ein Dämon sich darin zeigte.

»Dass du dieses kleine Opfer bringst, ändert nichts daran, dass du dich Luke gegenüber wie ein Arsch verhalten hast.«

Sie war gut einen halben Kopf kleiner als er, hatte in diesem Moment jedoch weit mehr Kampfeslust als erwartet in den bernsteinfarbenen Augen. Das konnte sein Wolf nicht auf sich sitzen lassen. Er drängte King vorwärts. Knurrte und mahnte ihn, die Frau vor sich in ihre Schranken zu verweisen. Die Clanmacht wollte die Daichin im Staub liegen sehen. Doch King ließ sich nicht auf das Spiel ein. Noch nicht.

»Es ist eine grausame Welt da draußen, das lernst du auch noch«, antwortete er stattdessen in einem gelangweilten Tonfall, der sie zur Weißglut bringen sollte.

Cassidy verdrehte lediglich die Augen. Sie wandte sich von ihm weg, der Geruch von frischem Sommerregen streifte Kings Sinne.

»Vanessa, unsere Gastgeberin, ist drinnen. Sie wird dir alles zeigen. Wenn du Glück hast, sogar wie man sich benimmt.«

Als hätte sich ihr Interesse an King von einem Moment zum nächsten in Luft aufgelöst, schlenderte Cassidy den Gehweg entlang. Vermutlich, um jemand anderem das Leben schwer zu machen. Er sah ihr nach und unterdrückte dabei das Bedürfnis, ihr zu folgen.

King zügelte den Jagdreflex seines Wolfes und konzentrierte sich stattdessen wieder auf das Haus vor sich. Doch sofort lenkte die Clanmacht seine Gedanken wieder zurück zu der Wölfin. Ihr Geruch hing ihm noch immer in der Nase. Ein süßes Versprechen auf andauernde Rivalität. Zumindest würde es so nicht allzu langweilig werden. Mit einem Kopfschütteln hob er seine Tasche auf, um endgültig den Weg in sein neues Heim anzutreten.

 

***

 

Durch das Fenster sah Tyson, dass Cassidy mit Sunny auf der Veranda des Jungwolfhauses saß. Seit der Junge dem Job im Hotel nachging, galt er bei den Wölfen als erwachsen. Er war sofort weg von seiner Mutter, in die Wohngemeinschaft der Jungwölfe gezogen. Die Familienverhältnisse bei Sunny waren angespannt und für Sunny war es so am besten. Im Moment teilte er sich das Haus mit zwei anderen. Einem, verbesserte Tyson sich in Gedanken. Luke war an diesem Morgen ausgezogen. Cassidy war gerade noch rechtzeitig gekommen, um sich von ihm zu verabschieden, bevor dieser sich auf den Weg zu den Nekare gemacht hatte. Tyson war ein wenig in Sorge. Die Nekare-Clanmacht war dafür bekannt, die Gedanken ihrer Clanmitglieder zu korrumpieren. Aber Luke war so gutmütig, dass er vermutlich von keinem Interesse für die Aleashira sein würde, zumindest nicht für diese.

Zum wohl hundertsten Mal in den letzten drei Wochen griff Tyson nach dem Handy und wählte Beccas Nummer. Seit die Clanversammlung vorüber war, hatte er die Alpha der Daichin nicht mehr gesehen, dazu reagierte sie auf keinen seiner Anrufe, was eher selten vorkam. Normalerweise war er der Unzuverlässige, dessen Handy ständig ungeladen in irgendeiner Ecke herumlag.

Doch auch bei diesem Anruf erklärte die elektronische Stimme, dass der gewünschte Gesprächsteilnehmer nicht erreichbar war. Leise fluchte er. Zwar hatte sie nach den Verhandlungen mit Cage angekündigt, für einige Zeit in die Wälder zu verschwinden, aber als Packleader hieß das im Normalfall eine Woche. Längerer Urlaub war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnten. Auch wenn Tory sich in Beccas Abwesenheit immer um die administrative Seite des Jobs kümmerte. Es würde irgendwann unweigerlich zu einem Vorfall kommen, den sie als Alpha persönlich klären musste. Tory nahm seine Anrufe ebenfalls nicht entgegen, doch das war nichts Neues. Sie erreichte er ohnehin nur über Cassidy. Tyson nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und tigerte weiter durch sein Haus.

Sein Blick wanderte durch das Fenster zu den Jungwölfen, die ausgelassen lachten. Er fragte sich, ob King in Zukunft mit ihnen lachen würde. Er war der Letzte aus dem Rudel der Nekare, den er bei sich erwartet hätte. Tyson erinnerte sich daran, wie Becca ihm den Namen des Warith als mögliche Geisel zugeraunt hatte, nachdem Cage dem Pakt widerwillig zugestimmt hatte. Hätte sie die Forderung gestellt, hätte Cage sofort abgelehnt. Es gab nichts, was der älteste Los Angeles-Alpha mehr hasste als Becca und ihren Clan.

Tyson hatte diese Idee ohnehin für übertrieben gehalten. Doch ehe er Kings Schatten Jonah als Geisel hatte nominieren können, hatte King sich freiwillig gemeldet.

Tyson nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und sah zu Cassidy hinüber. Die kalte Flüssigkeit rann seine Kehle hinunter. Es war nutzlos, Alkohol zu trinken. Das Zeug wirkte bei ihm nicht, die Aleashira filterte das Gift sofort aus dem Blut. Aber wie viele andere mochte er den Geschmack von Bier und so landete es immer wieder in seinem Kühlschrank.

Cassidys Gesicht ließ sich lesen wie ein offenes Buch, es spiegelte ihre Gefühle zu jeder Zeit. Jetzt zum Beispiel hatte sie ganz offensichtlich kein Interesse daran, nach Hause zu gehen, und hielt sich stattdessen an ihrer halb leeren Flasche fest.

Tyson entschied, zwei Probleme auf einmal zu lösen.

Kaum, dass er die Haustür öffnete, sah Cassidy auf. Die Ähnlichkeit zu Becca war verblüffend. Die Moretti-Frauen teilten alle das gleiche widerspenstige Haar und die bernsteinfarbenen Augen, die im richtigen Licht fast golden wirkten.

Tyson betrat die Veranda und winkte Cassidy zu sich. Mit einem knappen Nicken gab sie ihm zu verstehen, dass sie seine Aufforderung bemerkt hatte. Er lächelte. Sie hatte die sture Art ihrer Mutter geerbt und würde sicher nicht sofort kommen, nur weil ein Alpha sie zu sich rief.

Tyson trat wieder ins Haus.

Fast zehn Minuten später hörte er die Dielen im Flur knarzen. Cassidy setzte sich zu ihm ins Wohnzimmer und wartete wortlos darauf, was Tyson ihr zu sagen hatte. Die Unterlippe hatte sie trotzig vorgeschoben und ihre Hände krallten sich in den Stoff ihres Kleides. Sie erwartete eine Standpauke und für einen Moment überlegte er, was sie wohl angestellt hatte. Bis jetzt war ihm nichts zu Ohren gekommen, aber so wie er sie kannte, war es nur eine Frage der Zeit.

»Hast du was von Becca gehört?«

Er verzichtete darauf, sie zu bitten, sich mit King zu vertragen. Es gab keinen Grund, King vor ihr zu schützen. Der Junge würde irgendwann den größten der ansässigen Clans leiten, spätestens dann konnte ihn niemand mehr vor seiner direkten Konkurrentin verteidigen. Cassidy hob und schüttelte den Kopf.

»Nein, Mom auch nicht, aber sie kümmert sich um die Post. Wenn du willst, kann ich schauen, ob Becca einen Hinweis darauf hinterlassen hat, wo sie hinwollte. Manchmal macht sie das, wenn sie länger unterwegs ist.«

Tyson war unschlüssig. Es war nicht seine Aufgabe, in einem anderen Rudel für Ruhe zu sorgen. Andererseits gehörte Cassidy nicht nur in seine, sondern auch in Beccas Verantwortung und es konnte nicht schaden, wenn sie sich umsah.

»Ja, sieh nach, ob du erfährst, was deine Alpha treibt und gib Tory und mir Bescheid, wenn du etwas Neues herausfindest.«

Noch bevor er den Satz beendet hatte, war Cassidy aufgesprungen. Im nächsten Moment verließ sie auch schon das Haus. Erst, als sie in Tysons Wagen stieg, wurde ihm klar, dass sie auf dem Weg nach draußen seine Schlüssel gestohlen hatte. Er nahm noch einen Schluck aus der mittlerweile halb leeren Flasche. Diese Geisel war beinahe schlimmer als ein Sack Flöhe. Er wägte den Gedanken ab. Vor ein paar Jahren hatte es einen Flohbefall im Rudel gegeben und keiner, wirklich keiner, wollte jemals wieder einen Wolf shampoonieren.

 

Kapitel 3

 

»Komm schon einmal rein, ich bin gleich bei dir!«

Eine freundliche Frauenstimme riss King aus seinen Gedanken. Er betrat den Flur, der sich zu einem kleinen, aber gemütlichen Wohnzimmer erweiterte, und sah sich in Ruhe um. Die Wände waren in kräftigen Farben gestrichen, wirkten aber trotz der bunten Muster nicht überladen. Es roch wie in einem Teeladen und die Sofas mit den großen Polstern luden dazu ein, sich darauf zu werfen und wohlzufühlen. Ein Kater öffnete träge ein Auge und musterte King. Es war ein Tier mit zerzaustem Fell, eine Narbe verlief über das Gesicht und ließ vermuten, dass er sein zweites Auge im Kampf verloren hatte, vermutlich zusammen mit einem Stück seines Ohrs. Der Kater stand auf und sprang vom Sofa. Auf drei Beinen stolzierte er an King vorbei zur Haustüre. Der herablassende Blick des Tiers sagte ihm, dass Cassidy mit dem schwergewichtigen Kater vermutlich hervorragend auskam. Mindestens zwei der drei Bewohner des Hauses konnten ihn also nicht leiden. Das fing ja gut an.

 

Verloren stand er im Wohnzimmer. Um nicht nichts zu tun, musterte er eine Buddha-Figur, die auf einer Kommode aus Treibholz thronte, während er auf die Frau wartete, in deren Haus er auf unbestimmte Zeit leben würde.

»Du hast leider Cassidy verpasst. Sie ist los, um Luke zu verabschieden und Sunny zu besuchen.« Vanessa hatte unbemerkt das Wohnzimmer betreten, während er sich auf den Kater konzentriert hatte. »Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein Warith sich mit den Omegas anfreundet? Andererseits war die Daichin schon immer sehr liebevoll. Es war vermutlich nicht zu vermeiden.«

King lächelte gequält. Cassidy war ebenfalls ein Warith. Die ernannte Nachfolgerin ihrer Tante Becca. Kein Wunder, dass sie sich benahm, als gehöre ihr die Welt. Cage, sein Vater, hatte King eine Aufgabe gegeben, die sich lohnte.

Der Warith musterte Vanessa. Sie war in Cages Alter. Ihre blonden Haare, die sie locker zu einem Zopf gebunden hatte, waren von silbernen Strähnen durchzogen. Die Ruhe, die sie ausstrahlte, färbte auf King ab. Sogar sein Wolf beruhigte sich in ihrer Anwesenheit.

»Cassidy und ich sind uns gerade noch begegnet.«

Vanessa hob eine Augenbraue. Kings Stimme ließ keinen Zweifel daran, wie diese Begegnung verlaufen war.

»Es wird keinen Ärger mit euch beiden geben, oder?«, fragte sie besorgt. »Ich weiß, zwei Warith in einem Haus sind eine Herausforderung, gerade wenn man die Geschichte eurer Clans bedenkt. Aber ihr werdet es mir doch nicht schwerer machen als nötig?«

King wurde von der Zuneigung, die sein Wolf für diese Frau empfand, fast überrollt. Etwas an ihr machte es ihm unmöglich, sie nicht vor jedem Ärger schützen zu wollen.

»Nein, wir werden uns benehmen.« Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der kurz vor einem Streich gerade noch erwischt worden war. Vielleicht war es ihre Rolle als Geschichtenwahrerin, die ihn so denken ließ. Sie hütete die Geschichte der Wölfe, egal, welchem Clan sie angehörten. Als Kind hatte er sie öfters gesehen. Vanessa war einst die beste Freundin seiner Mutter gewesen. Die beiden Frauen hatten sich oft getroffen, doch dann war seine Mutter zurück nach Europa gegangen und mit ihr war auch ihre beste Freundin aus Kings Leben verbannt worden.

»Was meinst du damit, wenn man die Geschichte unserer Clans bedenkt?« King hatte sich nie für die Vergangenheit der Aleashira interessiert. Er kannte das eine oder andere Märchen über ihre Entstehung, doch er wusste nicht, wie sie die Wölfe beeinflusste, deren Clans sie begleitete.

Vanessa deutete auf eine unscheinbare Tür. »Da geht es in dein Zimmer, richte dich erst einmal ein, ich mache uns Tee und dann kannst du mich alles fragen.«

 

King ging durch besagte Türe und warf seine Tasche auf das schmale Bett. Er hatte nicht gelogen, als er Cassidy gesagt hatte, dass er mit leichtem Gepäck reiste. Außer Kleidung und seinem Laptop hatte er nichts dabei. Kaum eine Minute, nachdem er sein Zimmer betreten hatte, verließ er es deshalb auch schon wieder. Er ging zu Vanessa in die Küche. Sie stand am Herd und kochte in einem altmodischen Teekessel Wasser auf. Er setzte sich an den Esstisch und beobachtete, wie sie verschiedene Kräuter zu einem Tee mischte.

Vanessa hatte keine Eile. Als der Kessel pfiff, goss sie das Wasser auf und kam mit zwei Tassen zu ihm an den Tisch.

»Cage hält nicht viel von den alten Geschichten, es wundert mich nicht, dass du sie nie gelernt hast.«

Sie schob ihm eine Tasse zu und ging noch einmal zur Anrichte, um Zucker und zwei Löffel zu holen.

»Er sagt, dass es nur Märchen sind, so wie Menschen an Sternzeichen glauben, glauben wir an die Clanmächte«, bestätigte King ihre Annahme.

Sie lachte. »Ganz falsch liegt er damit nicht, nur dass wir wissen, dass es die Clanmacht gibt. Sie heilt unsere Wunden, sie verbindet uns untereinander, sie warnt uns vor Gefahren und sorgt dafür, dass wir andere Wölfe erkennen. Aber es ist typisch für Cage. Der Mann kann sich in Sekundenbruchteilen in einen Wolf verwandeln, glaubt aber nicht an Magie.«

Sie rührte sich zwei Löffel Zucker in den Tee.

»Was ist denn nun die Geschichte zwischen Nekare und Daichin? Oder besser, was weißt du über das erste Rudel?«

King seufzte, als er ihr erzählte, auf welchem Stand er war: »Nur die grobe Geschichte. Jede Aleashira war einst Mitglied im ersten Rudel gewesen. Ihre Nachkommen sind mittlerweile über die ganze Welt verteilt, aber sie haben nie losgelassen, sondern wachen noch immer über sie. Es ist nicht bekannt, wie viele Clanmächte es gibt, da manche sich zurückziehen und nach einiger Zeit wieder auftauchen.« Er machte eine kurze Pause, doch Vanessas Blick ermutigte ihn weiterzusprechen. »Wie damals, als die Hazima und die Daichin sich vom Clan meines Vaters abgespaltet haben. Es macht ihn rasend, dass ihr eure eigenen Clanmächte habt und unsere Clanmacht hasst es, dass ausgerechnet die Daichin wieder aufgetaucht ist. Warum weiß ich nicht.«

Vanessa nickte langsam und nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Dann fangen wir ja nicht ganz am Anfang an. Gut. Daichin und Nekare haben im ersten Rudel zusammengelebt.

Damals, zur Zeit der ersten Wölfe. Und sie haben sich einmal geliebt, doch Daichin hat sich gegen Nekare entschieden, das hat sein Herz gebrochen. Von da an glaubte er nicht mehr an Beziehungen, sondern nur noch an Macht. Dein Vater ist ein gutes Beispiel dafür. Er war nicht immer so kaltherzig. Aber die Eifersucht der Clanmacht hat dafür gesorgt, dass er deine Mutter einsperren wollte. Sie ist nicht gegangen, sie ist geflohen. Und so wiederholt die Geschichte sich immer wieder.«

»Ich definiere mich nicht über meine Clanmacht. Ich kann sehr gut selbst entscheiden, wer ich sein will.«

Er verdrängte den Gedanken an seine Beziehung zu Sofie. An die Vorwürfe, die sie ihm gemacht hatte.

»Ist das so? Becca hat mir davon erzählt, wie du Cassidy das erste Mal getroffen hast. Dein Blick hat dich verraten. Du konntest dich nicht entscheiden, ob du ihr an die Gurgel gehen oder sie verführen willst. Eines davon bist du King, das andere ist die Clanmacht und sie wird von deinem Wolf unterstützt. Was meinst du, bist du stark genug, um deine Zukunft selbst zu wählen?« Sie stand auf. »Im Bücherschrank findest du noch ein paar Bücher zu dem Thema. Es gibt auch einige Abhandlungen darüber, wie Wölfe sich verändert haben, nachdem sie den Clan wechselten. Das heißt, wenn das Thema dich interessiert.«

Sie räumte ihre Tasse in die Spüle und wartet ab, ob King ihr noch eine Frage stellte. Der Warith schwieg.

»Ich muss zur Arbeit und auch wenn es schwer ist, versucht, euch zu vertragen.«

King nickte. Er hatte genug, worüber er nachdenken musste.

 

Kapitel 4

 

Die Wohnung, in die er ziehen sollte, lag in einem der Glasriesen der Stadt. Der Portier im unteren Stockwerk beobachtete neugierig, wie Luke durch den Haupteingang in das Gebäude stolperte. Mit seinen abgetragenen Jeans und der alten Sporttasche über der Schulter war er weit schäbiger gekleidet als das übliche Klientel, das hier ein und aus ging. Trotzdem grinste der junge Mann am Empfang ihm freundlich entgegen. Luke erkannte ihn als einen der Wölfe, die geholfen hatten, Sofie zu suchen.

»Hi!« Luke ging direkt auf das Stehpult zu. »Ich bin der Neue im Haus. Das ist hier doch ein Wohnhaus, oder?« Argwöhnisch wanderte sein Blick durch die Eingangshalle, die ihn eher an ein Bürogebäude erinnerte.

Eine fremde Aleashira streifte Lukes Gedanken, ehe der Portier antwortete.

»Ja, das ist es. Willkommen, ich bin Tom und habe hier generell die Frühschicht. Davon abgesehen habe ich auch deine Schlüsselkarte.«

Tom reichte Luke einen großen Briefumschlag, einen Stift und ein Formular, um den Empfang zu quittieren. »Schön, dich unter besseren Umständen wiederzutreffen.«

»Ja, wobei ich es mir nicht unbedingt einfach vorstelle, in einem fremden Clangebiet zu leben.« Tom nahm das unterzeichnete Papier wieder entgegen.

»Wenn hier alle so freundlich sind wie du, werde ich kein Problem haben.«

»Keine Chance. Ich bin eine unglaublich freundliche Ausnahmeerscheinung. Die anderen sind alle fiese, alte Köter, die kleine Kinder fressen.«

Luke lachte und Tom fuhr fort: »Der rechte Fahrstuhl bringt dich direkt in das Penthouse. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

»Nein, danke. Ich fürchte, ich muss alleine in die Höhle des Löwen.«

»So schlimm wird es nicht. King kann launisch sein, aber er ist in eurem Clan, dein Mitbewohner ist ein cooler Typ und unter uns: die Wohnung ist klasse.«

»Danke dir. Aber ich werde vermutlich ohnehin die meiste Zeit bei Sofie sein.«

»Siehst du, gar nicht so schlimm hier.«

Luke öffnete den Umschlag. Eine Schlüsselkarte und ein gefalteter Zettel fielen ihm entgegen. Er nickte Tom noch einmal zu, ehe er in den Fahrstuhl stieg.

Während der Aufzug sich auf den Weg nach oben machte, öffnete er den dünnen Brief.

Mit sauberer Handschrift stand dort ein einziger Satz:

 

Wenn du ihr wehtust, wirst du das nicht überleben.

 

Keine Unterschrift. Aber das war auch nicht nötig. Luke wusste, dass die Nachricht von King kam und dass er es ernst meinte. Die Aufzugtüren öffneten sich vor ihm und Luke betrat zum ersten Mal seine neue Wohnung.

»Hi«, begrüßte ihn eine unangenehm vertraute Stimme. Lukes Nackenhaare stellten sich augenblicklich auf. Der Wolf in ihm tobte und Luke ballte die Hände zu Fäusten, bereit, sich zu verteidigen. Jonah hob abwehrend die Arme.

»Sachte Junge, als Omega hast du mir besser gefallen.«

»Weil ein Omega sich nicht wehrt, wenn er angegriffen wird?«

Zu gut war Luke der Angriff vor Sofies Laden noch in Erinnerung, an dem auch sein Gegenüber teilgenommen hatte. Jonah stand hinter der Theke der offenen Küche. Er nahm die Hände wieder herunter und schnitt einen Apfel in zwei Hälften.

»Sicher, weil gerade du dem Befehl deines Warith widersprochen hättest.«

Luke entspannte sich. In diesem Punkt hatte der Nekare recht. Er hätte sich dem Befehl eines Warith nicht widersetzt. Nicht, dass es bei den Hazima einen gegeben hätte. Tyson hatte es nie für nötig gehalten, einen Erben zu ernennen.

»Das heißt nicht, dass es richtig war«, fuhr Jonah gelassen fort. »King hat übertrieben, immerhin warst du ja in irgendeiner Form zum Arbeiten in der Gegend.«

»Das klingt verdächtig nach einer richtig miesen Entschuldigung.« Luke grinste. Vielleicht hatte Tom recht, vielleicht war Jonah gar nicht so übel.

Jonah biss in den halben Apfel. »Bilde dir nichts darauf ein, Frischling. Ob du Vorstadtwolf mit uns mithalten kannst, wird sich erst zeigen.«

Er stieß sich von der Theke ab und ging gemächlich an Luke vorbei zum Aufzug. »Ich muss dann mal los, mal sehen, was die Welt heute Neues zu bieten hat.«

Er deute im Vorbeigehen auf eine Tür, nicht weit vom Eingang entfernt. »Das da ist übrigens dein Zimmer.«

 

Luke blieb alleine zurück. Er trat durch die Tür, die Jonah ihm gezeigt hatte. Das Geräusch seiner Schritte wurde von einem dicken Teppich verschluckt. Er fluchte leise, als er sah, dass seine Schuhe Abdrücke auf dem hellen Boden hinterlassen hatten. Das Bett war riesig. Kingsize. Luke grinste bei dem Gedanken. Ein riesiges Fenster ließ die Sonne herein und ermöglichte den Blick über die Stadt. Sein neues Zuhause hatte nichts Heimisches an sich. Es hätte genauso gut ein Hotelzimmer im Black Diamonds sein können. Es war absurd groß. Vor allem, wenn man bedachte, dass hier nur eine einzelne Person wohnen sollte. Luke stellte die Tasche auf das frisch bezogene Bett und wandte sich fast augenblicklich wieder dem Ausgang zu. Er hatte nicht vor, seine Zeit in dieser Wohnung zu verbringen. Es fühlte sich falsch an, hier zu sein, als wäre er ein störender Gegenstand in einer viel zu sauber riechenden Welt.

Kapitel 5

 

Cassidy parkte Tysons Pick-up in einer Seitenstraße. Die letzten Meter würde sie zu Fuß gehen müssen, zumindest, wenn sie nicht vorhatte, solange um den Block zu kreisen, bis ein Parkplatz in der Nähe frei wurde. Durch dieses Viertel zu laufen ließ das Heimweh in ihr aufkeimen. Seit einem halben Jahr wohnte sie nun bei den Hazima. Doch sie vermisste die alten Straßen. Sie passierte den Eisladen, in dem ihre beste Freundin arbeitete, und bemerkte im ersten Moment gar nicht, dass ein Mann vor ihr rüpelhaft durch die Passanten pflügte.

Erst, als er sie anrempelte, nahm sie ihn wahr.

Cassidy drehte sich empört zu dem Fremden um. »Was soll das? Hier ist ja wohl genug Platz für alle!«

In ihrer Drehung streifte sie das Emblem am Oberarm seiner Jeansjacke. Ihre Haut reagierte mit stechendem Schmerz. Instinktiv drehte sie die Schulter von dem Fremden weg.

»Wenn hier so viel Platz ist, dann kannst du mir aus dem Weg gehen«, pöbelte er in ihre Richtung.

Cassidy schnaubte. Ihr Wolf knurrte und wäre dem ungehobelten Kerl am liebsten an die Kehle gegangen. Doch der Punk war schon weitergegangen. Eine Passantin sah aus, als wollte sie Cassidy ansprechen, doch die winkte ab und setzte ihren Weg fort. Mit schnellen Schritten verschwand sie um die nächste Ecke. Sie blieb nicht stehen, um sich die Wunde an ihrem Arm anzusehen. Kaum hatte sie die Hauptstraße verlassen, rannte sie auch schon los. Es konnte Zufall sein, dass ein Mann mit Silber auf der Jacke durch die Straßen lief, aber Cassidy glaubte nicht daran. Außer Atem kam sie drei Straßen weiter an das alte Motel. Vom Haupteingang aus kam man in die Zimmer, die tageweise vermietet wurden. Cassidys Weg führte jedoch auf die Rückseite des Gebäudes. Zwanzig Wohnungen waren hier in den letzten Jahren entstanden. In jeder wohnte mindestens ein Wolf, in den meisten jedoch ganze Familien.

Sie sah die Fassade hinauf. Im vierten Stock lebte Tory, Cassidys Mutter. Beccas Wohnung war direkt darunter.

Cassidy schlüpfte in den kühlen Flur und ließ erleichtert die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Der Tag war für die Tonne. Zumindest große Teile davon. Die Wunde brannte noch, doch das schäumende Blut wusch bereits die kaum sichtbaren Silberpartikel aus ihrem Fleisch. Gleich würde sich das Gewebe schließen und bei ihrer Mutter konnte sie dann ein sauberes Shirt überziehen, das die zurückbleibende Narbe verdeckte.

 

***

 

Der Schlüssel lag schwer in Alex‘ Hand.

Grace, die nicht nur seine Ziehschwester, sondern auch seine Ärztin war, hatte ihm geraten, es ruhiger angehen zu lassen. Aber sie hatte auch das Bedürfnis ihn einzusperren. Er hatte es in dem neuen Haus nicht länger ausgehalten und war an diesem Vormittag regelrecht vor ihr geflüchtet.

Er hatte sich ohnehin zu lange vor dieser Aufgabe gedrückt. Erst hatte es fast eine Woche gedauert, dass sie ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatten, dann hatte Grace die Aufgabe als Wachhund übernommen.

Alex hätte einen anderen Jäger schicken können, um Beccas Wohnung nach Hinweisen auf Wölfe zu durchsuchen, doch er wollte nicht, dass jemand, den sie nicht kannte, in ihren Sachen stöberte. Außerdem wusste außer ihm ohnehin keiner, wo die Wohnung lag. Er hatte es nicht über sich gebracht, diese Information weiterzugeben. Er war so in Gedanken, dass er fast den dritten Stock verpasst hätte. Das Schloss entriegelte mit einem klackenden Geräusch. Die Tür war nur zugezogen und nicht abgeschlossen. Als hätte sie keine Angst vor einem Einbruch gehabt, nicht einmal, nachdem ein Jäger sie in ihrer eigenen Wohnung überrascht hatte.

Andererseits hatte er im Training auch keine Chance gegen sie gehabt und er war sich sicher, dass sie nicht ihre ganze Kraft genutzt hatte.

Sie war auch zu ihm gekommen. Warum auch immer. Sie hatte sich darauf verlassen, dass er keine Bedrohung für sie war und die Gefahr, die von Christoph ausging, unterschätzt. Was hatte sie überhaupt in dem Hotel gewollt? Becca hatte klar gemacht, dass sie ihn nicht mehr sehen wollte und trotzdem, war sie zu ihm gekommen.

Lautlos schwang die Tür nach innen auf. Alex hielt einen Moment inne, dann betrat er die Wohnung. Kaum war die Tür hinter ihm wieder ins Schloss gefallen, entspannte er sich ein wenig. Allein herzukommen war eine dumme Idee gewesen.

An einem Ort, an dem ein Werwolf lebte, gab es unweigerlich auch einen zweiten und meistens auch einen dritten. Wie es sich für Rudeltiere gehörte, rotteten sie sich zusammen und bildeten kleine Gemeinschaften innerhalb der Gesellschaft der Menschen.

So heruntergekommen das Motel von außen auch wirkte, sobald man die Wohnung betrat war davon nichts mehr zu bemerken.

Auf den ersten Blick war alles, wie Alex es in Erinnerung hatte.

Er atmete tief ein. Der typische Geruch, den leerstehende Räume annahmen, wenn über einen längeren Zeitraum kein Fenster geöffnet wurde, mischte sich mit dem Geruch von Becca. Ein Heim, das bereits ahnte, dass es verlassen worden war.

Er blieb in dem kleinen Flur stehen, um sich in Ruhe zu orientieren. Auf einer Kommode lagen ein paar Briefe. Alex hob die obersten auf und ging die Absender durch. Nur Werbung; der Poststempel war auf den Tag datiert, an dem Christoph Becca im Wald verscharrt hatte.

Diese Post war alltäglich. Es gab nichts, was darauf hindeutete, dass hier eine Bestie gelebt hatte. Doch was hatte er erwartet? Eine Ausgabe von >Werwolf Weekly<?

Fast erleichtert wandte er sich ab und betrat das Wohnzimmer.

Verwelkte Pflanzen standen auf dem Fensterbrett. Für sie kam jede Hilfe zu spät. Eine dünne Staubschicht hatte sich über die Möbel gelegt. Wie ein Geist verfolgten ihn die Gedanken an Becca, und umso länger er sich hier aufhielt, umso mehr kehrte die Erinnerung an sie zurück.

Es verdeutlichte ihm, wie schnell ihre Präsenz aus seiner Welt verschwand. Wie kalt es in den letzten Wochen geworden war. Er hatte zugelassen, dass sie starb. Mehr noch, er hätte sie selbst getötet, wenn Christoph ihm diese Aufgabe nicht abgenommen hätte. Fast augenblicklich hatte Alex es bereut. Doch schon lange, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, war es zu spät gewesen, um Becca zu retten.

Sein nächster Weg führte in die Küche. Die Äpfel im Obstkorb waren mittlerweile runzelig. Fruchtfliegen kreisten darum und er vermied es, den Kühlschrank zu öffnen. Es sah aus, als würde niemand kommen, um die Wohnung aufzulösen. Vielleicht hatte er sich geirrt, vielleicht gab es keine weiteren Wölfe in diesem Teil der Stadt.

Eher beiläufig warf er einen Blick in das Badezimmer. Unter dem Waschtischschrank blitzte etwas Rotes hervor. Es hatte die Farbe von frischem Blut. Alex zog den Stoff heraus und erkannte das Kleid, das er Becca gekauft hatte. Der Abend der Hochzeit war kaum zwei Monate her, doch es fühlte sich an, als wäre seitdem sein ganzes Leben vergangen. Er hängte das Kleidungsstück an einen Haken.

»Was machst du hier?«

Alex zuckte zusammen, seine Hand schnellte zu seiner Waffe, ehe er den Reflex unterdrückte, sie zu ziehen, und sich umdrehte. Auf der anderen Seite des Wohnzimmers stand eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, deren Haare genauso widerspenstig schienen wie die von Becca. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Nur das sommerliche Kleid, das sie trug, konnte er sich in Beccas Kleiderschrank nicht vorstellen.

Alex erinnerte sich an sie. Der euphorische Gesichtsausdruck von damals war einem verwirrten gewichen.

Er hatte sie hier im Haus getroffen. Es war der Abend gewesen, kurz bevor er mit Becca zusammen Christophs Geliebte aus dem Loch im Wald gezogen hatte. Ein Loch, in das ein Werwolf die Schwangere geworfen hatte.

»Ich kenne dich!« Er ging einige Schritte auf sie zu. »Du wohnst hier im Haus.«

Die Frau stolperte ein Stück zurück.

»Nicht mehr.« Sie ließ ihn nicht aus den Augen. »Wir sind in den letzten Wochen ausgezogen. Wo ist Becca? Ist sie bei dir?«

Die Bewegung ihrer Hand zog seinen Blick auf sich. Sie versuchte, eine frische Wunde zu verdecken. Eine, die in diesem Moment heilte. Trotz der Blasen, die das Blut warf, verschloss die Wunde sich und auch die Hand, die das Mädchen darübergelegt hatte, konnte den Schimmer nicht verbergen.

»Silber. Du bist wie sie.«

Der Satz kam ihm über die Lippen, noch ehe er an die Auswirkungen dieser Worte dachte.

»Wo ist sie?«

Die Stimme der jungen Frau war energisch, obwohl sie Schritt für Schritt weiter zur Wohnungstür zurückwich.

»Sie ist tot. Wir haben sie vor drei Wochen begraben«, antwortete Alex tonlos. Es endlich auszusprechen brachte ihm Erleichterung, die jedoch nur anhielt, bis die Wölfin die nächste Frage stellte.

»Und? Bist du zufrieden damit?«

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern drehte auf dem Absatz um und stürmte davon.

Noch ehe Alex die Wohnungstür erreicht hatte, hörte er, wie sie die Treppen hinunterrannte. Sein Instinkt schrie ihm zu, ihr zu folgen. Doch er verharrte regungslos im Türrahmen und lauschte, wie die Geräusche mit wachsender Entfernung immer leiser wurden.

Alex versuchte, sich an das Gespräch zwischen Becca und der Fremden zu erinnern. Sie hatte ihre Eltern besuchen wollen, hier in diesem Haus. Sie war ein Werwolf. Die Wunde an ihrem Arm war Silber geschuldet und sie sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Becca. War sie ihre Tochter? Warum war ihm die Ähnlichkeit nicht schon früher aufgefallen?

Selbst, wenn sie nicht ihre Tochter war. Verwandtschaft schien zu bestehen. Das Mädchen war der erste Hinweis auf den Aufenthaltsort der Werwölfe in Los Angeles. Wenn sie sich artgemäß verhielten, war er gerade von ihnen umgeben. Sein Herz raste, als er rasselnd Luft in seine Lungen sog.

Das war genau die Information, die Christoph für eine großzügig angelegte Reinigung gebraucht hätte. Alex‘ Hände zitterten. Das unsichtbare Band um seinen Brustkorb zog sich enger. Alex schnappte nach Luft, als ihn die Erkenntnis traf. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

Entweder er verriet seine Familie und alles, wofür er stand oder er zerstörte die Erinnerung an Becca und löschte auch den letzten Rest, der von ihr geblieben war, ein für alle Mal aus.

 

Kapitel 6

 

Cassidy warf Tysons Autoschlüssel auf die Kommode im Flur und ließ sich von innen gegen die Haustüre fallen. Mit dem Holz im Rücken sank sie auf den Boden. Sie zog ihre Knie an und atmete durch. Obwohl der kurze Sprint zurück zum Wagen mittlerweile einige Zeit zurücklag, zitterte sie.

Noch während der Fahrt hatte sie Tyson angerufen. Der Alpha war unterwegs, aber ebenfalls auf dem Weg nach Hause. Sobald er ankam, würden sie besprechen, wie sie weiter vorgehen wollten. Der verdammte Jäger hatte Beccas Rosenkranz ums Handgelenk getragen. Aber trotzdem, er hatte gelogen.

Cassidy konnte Becca schwach in ihren Gedanken spüren, sie war zwar nicht greifbar, aber sie war am Leben.

»Fuck.«

Sie strich sich zitternd die Haare aus der Stirn und besah die frische Narbe auf ihrem Arm.

Der Silberschimmer hob sich deutlich von ihrer sonnengebräunten Haut ab. Kaum eines ihrer Kleidungsstücke würde die Narbe verdecken.

Ein Geräusch aus dem Wohnzimmer ließ sie erschrocken aufsehen. Vanessa war bei Tyson. Eigentlich sollte Cassidy also alleine sein. Das hieß, wenn nicht der Kater mal wieder aufgetaucht war.

Langsam stand sie auf. Sie tastete sich an der Tür entlang nach oben. Den Wohnraum ließ sie dabei nicht aus den Augen. Das kühle Holz unter ihren Fingerspitzen beruhigte sie. Sie war zu Hause, sie war in Sicherheit. Wer auch immer auf sie wartete, konnte keine größere Gefahr darstellen als der Jäger in Beccas Wohnung. Cassidy ließ ihrem Wolf die Führung. Geräuschlos setzte sie einen Fuß vor den anderen und schlich sich an. Das Wohnzimmer war leer. Fast leer zumindest. Auf dem Tisch stand eine halb getrunkene Tasse Tee neben einem aufgeschlagenem Buch. Untypisch für einen Einbrecher. Cassidy seufzte und ließ ihre Vorsicht fallen.

»Du gibst zu schnell auf.«

Die Stimme hinter ihr ließ Cassidy herumfahren. Sofort war sie wieder voll konzentriert, ihr Körper spannte sich an, bereit loszuspringen und ihrem Gegenüber an die Kehle zu gehen.

Fast wäre sie mit King zusammengestoßen. Mit einem spöttischen Lächeln stand er vor ihr, sie legte den Kopf in den Nacken, um seinem musternden Blick zu begegnen. Zum zweiten Mal an diesem Tag stieg ihr sein Aftershave in die Nase. Irgendeine teure Marke, die sie nicht kannte. Cassidy trat einen Schritt zurück.

»Immerhin scheinst du halbwegs gute Reflexe zu haben«, ergänzte King seine Beobachtung. Wie schon bei ihrem Treffen vor ein paar Stunden, sah er arrogant auf sie herab.

»Was machst du hier?« Cassidy fauchte eher, als dass sie ihn fragte. Seine Anwesenheit brachte sie aus dem Konzept. Sogar die Clanmacht wirkte angespannt, sobald er so nah an ihr stand.

»Das Gleiche wie du. Ich wohne hier.«

»Das weiß ich. Ich wollte wissen, was du jetzt hier machst. Gibt es keinen anderen Ort, an dem du dringend sein müsstest? Vielleicht könntest du irgendwo einen Rangniederen verprügeln oder so. Das würde dir doch bestimmt Spaß machen.«

»Summerbreak, das Studium fängt erst in vier Wochen wieder an. Was ist deine Ausrede?«

»Ich war für Tyson unterwegs, aber das geht dich nichts an.«

Sie kratzte sich gedankenverloren an der frischen Narbe. Kings Blick folgte der Bewegung. Wie selbstverständlich griff er nach ihrem Arm.

Cassidy reagierte in der gleichen Sekunde. King hatte ihr Handgelenk noch nicht umfasst, da entwand sie es ihm schon wieder und trat mit voller Wucht gegen sein Knie. Mit einem knackenden Geräusch gab es nach. Er stürzte vor ihr auf den Boden. Cassidy nutzte Kings ausgestreckten Arm als Hebel, und stieß ihn mit dem Gesicht in den Teppich. Mit ihrem ganzen Gewicht drückte sie ihn nach unten. Ihre Lippen streiften sein Ohr, als sie ihm die einzige Warnung zuraunte, die er je von ihr bekommen würde: »Fass mich nicht an. Fass mich niemals an!«

Ein Knurren kam aus ihrer Kehle.

King sog scharf Luft ein. Cassidy konnte die Gänsehaut in seinem Nacken sehen.

»Du hast mir die Kniescheibe rausgeschlagen«, erklärte er in einem erstaunten Ton, etwas gedämpft dadurch, dass sein Gesicht in den Fasern des Langflors verschwand.

»Du hast mich angefasst. Ich hasse es, wenn Männer mich ungefragt anfassen.« Sie stand auf, löste ihren Griff und trat zurück. »Das nächste Mal renke ich dir den Kiefer aus. Dauerhaft.«

King kroch ein Stück vor und stützte sich an der Wand ab. Er biss die Zähne zusammen und streckte sein verletztes Bein. Mit einem widerlichen Knacken sprang die Kniescheibe an ihre natürliche Stelle zurück.

Cassidy beobachtete, wie sein Kiefer sich anspannte, als er schweigend den stechenden Schmerz ertrug, welcher jeder Heilung vorausging. Schweiß stand ihm auf der Stirn, doch nur Augenblicke später fiel die Anspannung von ihm ab. Der Schmerz war vermutlich noch nicht komplett vergangen, aber offensichtlich erträglicher. Es würden ein oder zwei Stunden vergehen, ehe er sein Bein wieder voll belasten konnte. Dennoch hatte Cassidy keine bleibenden Schäden angerichtet.

»Wäre ich nicht der Sohn eines Alphas, hättest du mich jetzt ins Krankenhaus fahren müssen.« King richtete seinen Blick wieder auf Cassidy, die gelangweilt mit den Schultern zuckte.

»Wärst du nicht der Sohn eines Alphas, hättest du vielleicht den Anstand, eine Frau nicht ungefragt anzufassen.«

»Ich wollte nur die Wunde sehen«, erwiderte er, als gäbe es ihm das Recht, über sie zu bestimmen. »Das war nichts Persönliches. Wenn du willst, dass ich dich so anfasse, wirst du mich darum bitten müssen.«

Automatisch deckte Cassidy die Narbe an ihrem Arm ab. Sie ignorierte das Prickeln in ihrem Nacken.

»Träum weiter«, schnaubte sie verächtlich. »Davon abgesehen: Dann habe ich dir eben unpersönlich die Kniescheibe rausgeschlagen. Nichts, was ich bereue. Das an meinem Arm ist gar nichts, zumindest nichts, was dich etwas angehen würde.«

»Wie kann man nur so stur sein?« King saß noch immer auf dem Boden, und sah zu Cassidy auf. »An dem Schimmer sieht man deutlich, dass es eine Silberverletzung ist. Die Jäger haben angefangen uns zu markieren und du bist ihnen dabei ins Netz gegangen.«

»Was interessiert dich das?« Schmollend schob sie ihre Unterlippe vor, er hatte recht und sie hasste es, das zuzugeben. »Euch Nekare sind doch eh alle egal, die nicht zu eurem Clan gehören. Außerdem ist es nicht klar, ob es ein Jäger war. Genauso gut ist es möglich, dass ich einfach nur in ein silbernes Emblem auf einer Jacke gerannt bin.« Cassidy ließ sich auf das Sofa fallen. »Ich bin nicht geblieben, um das auszudiskutieren.«

»Nicht? Dabei scheinst du mir ganz heiß drauf zu sein, dich über jede Kleinigkeit zu streiten.«

»Als Mr. Ich-Bin-Ohnehin-Was-Besseres bietest du dich ja geradezu dafür an.«

»Ich habe nie gesagt, dass ich etwas Besseres bin«, verteidigte King sich.

»Das musst du nicht. Meinst du, ich hätte nicht gesehen, wie du das Haus gemustert hast? Oder meinst du, ich kenne die Geschichten über deinen Lebensstil nicht? Eines steht fest, ich werde nicht eine deiner kleinen Eroberungen sein.«

King öffnete den Mund, nur um ihn ungläubig wieder zu schließen. Er setzte gerade zu einer Antwort an, als ein Klopfen an der Tür die beiden unterbrach.

Cassidy sprang auf.

Tyson konnte es nicht sein, dafür war es noch zu früh. Auch sonst erwartete sie niemanden.

»Du hast sie nicht zufällig direkt hierher geführt, oder?« Der Sarkasmus in seiner Frage mischte sich mit leiser Sorge.

Cassidy warf King einen vernichtenden Blick zu, reichte ihm dann jedoch die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Als er das Angebot für einen vorübergehenden Frieden annahm, zog sie ihn nach oben.

»Ich schätze, die Jäger würden nicht klopfen.« Sie strich eine Strähne zurück und schob sich an King vorbei zur Tür.

Kapitel 7

 

Das Flimmern der Lampe schmerzte in Beccas Augen. Sie brannte durchgehend, seitdem die Wölfin in diesem Raum aufgewacht war. Zusammen mit dem schrillen Signalton, der in unterschiedlichen Abständen in ihren Ohren dröhnte, war es unmöglich, auch nur zehn Minuten Schlaf zu finden.

Becca bewegte sich vorsichtig ein paar Millimeter. Der stechende Schmerz in ihrer Schulter lenkte sie von dem Klirren der Ketten ab, mit denen sie an die Wand gefesselt war. Die Kugel befand sich noch immer in ihrem Fleisch. Den Rand der Wunde umgaben feine Silberfäden, doch sie hatte den Versuch aufgegeben, das Projektil selbst herauszukratzen.

Sie ließ ihren Kopf gegen die Wand hinter sich sinken. Es konnte noch Stunden dauern, bis jemand zu ihr kam, oder auch nur Minuten. Die Ungewissheit nagte an ihr, genau wie die Schwäche, die sich immer weiter in ihrer Seele ausbreitete.

Drei Mal hatte sie Christoph angegriffen. Drei mal hatte sie es bereut.

Alles was ihr blieb, waren giftige Kommentare in Graces Richtung. Die Ärztin ging nicht gerade zimperlich mit ihrem Testobjekt um. Sie stach gerne daneben, wenn sie eine Vene suchte. Becca hasste Nadeln, doch mittlerweile waren die Blutabnahmen und die Medikamente, die ihr injiziert wurden, eine willkommene Abwechslung.

Ansonsten gab es nur Leere und Christoph. Schon das Aufblitzen seines Namens in ihren Gedanken ließ Becca zittern.

Ihr Kopf brummte, doch sie schaffte es nicht, die Gedanken von ihm abzulenken.

Die ersten Besuche hatte Christoph keine Fragen gestellt. Er hatte lediglich geredet. Mit ruhiger Stimme hatte er ihr erklärt, wo sie sich befand und was er von ihr erwartete.

Sie hatte ihn zur Hölle gewünscht. Es war das einzige Mal, dass er gelächelt hatte.

Irgendwann hatte er angefangen Fragen zu stellen. Belangloses Zeug, aber Becca antwortete nicht. Jede Antwort würde sie näher daran führen, ihr Rudel zu verraten.

Sie schätzte, dass er es zuerst fast zwei Wochen mit Schlafentzug und Hunger probiert hatte, ehe er zu drastischeren Maßnahmen gegriffen hatte. Doch trotz der Schmerzen, die er ihr zufügte, hatte Becca nicht aufgegeben. Sie konnte den Clan spüren. Schwach nur, aber doch tröstend. Das Rudel verließ sich auf ihr Schweigen und Becca verließ sich darauf, dass die Wölfe sie finden würden. Irgendwann.

 

Kapitel 8

 

Luke atmete tief durch. Selbst sein unerwartetes Treffen mit Jonah hatte ihn nicht halb so verunsichert wie der nächste Weg, den er zu gehen hatte.

In den letzten drei Wochen hatte er Sofie fast täglich bei der Arbeit gesehen, doch das hier war anders. Es war das erste Mal, dass sie sich wieder privat trafen. Jedes Mal, wenn sie ihn anlächelte, war es, als würde seine Welt stehenbleiben. Fahrig wischte er die Handflächen an seiner Jeans ab und fuhr sich ein letztes Mal mit den Fingern durch die Locken, ehe er die Tür zu ihrem Laden öffnete und in die Kühle trat.

Sofie stand an der Theke und überreichte einer Kundin einen frisch gebundenen Blumenstrauß. Der Duft von Jasmin wehte Luke durch die verschiedenen anderen Blumengerüche entgegen. Er konnte Sofies Geruch ohne Probleme aus dem der Blumen herausfiltern. Er setzte sich in seiner Nase fest und ließ den Wolf in ihm wohlig seufzen. Es war ungewohnt, das Tier so nah an der Oberfläche zu spüren, doch in Sofies Gegenwart benahm er sich ohnehin wie ein gutmütiger Teddy. Sofie lächelte ihn einen Moment an, dann verabschiedete sie sich von der Kundin, die behutsam ihren Einkauf an Luke vorbei nach draußen brachte. Erst als die ältere Dame den Laden verlassen hatte, kam Sofie um die Theke herum. Sie sagte nichts, sondern vergrub ihre Hände in Lukes Haar, um ihn zu sich herunter zu ziehen, bis ihre Lippen sich trafen.

»Du warst viel zu lange weg«, flüsterte sie, nachdem ihr Kuss, wie immer, zu schnell geendet hatte.

Luke strich ihr über die Wange.

»Jetzt bin ich hier und zu allem bereit.«

»Das trifft sich gut.« Sie grinste schelmisch. »Wir müssen zum Großmarkt, morgen ist wieder eine Lieferung für das Black Diamond dran und ich muss die Bestellung aufgeben, damit wir morgen in aller Frühe anfangen können. Und wenn wir gerade unterwegs sind, könnten wir doch am Strand vorbeisehen?«

Sie löste sich von ihm und schlenderte zur Tür, um abzuschließen. Als sie ihn auf dem Rückweg wieder passierte, legte er seinen Arm um ihre Taille und drehte sie zu sich.

»Ich bin heute bei Jonah eingezogen.«

Sie sah ihn mit großen Augen an und kicherte. »Wer um Himmels Willen dachte denn, dass es eine gute Idee wäre, euch beide in eine Wohnung zu stecken?«

»Er scheint ganz okay zu sein.« Seine Lippen streiften über ihre Haut. »Im weitesten Sinne hat er sich sogar dafür entschuldigt, mich mit King zusammen verprügelt zu haben.«

Sofie legte ihren Kopf an Lukes Brust.

Mit seinen Worten hatte er ein Bild gemalt, in dem alles in Ordnung war, doch das Herz in seiner Brust raste verräterisch.

Luke zog Sofie enger an sich und für einige Zeit genossen sie die Stille, umgeben von den Blumen, deren Geruch den Raum erfüllte. Als hätten sie nicht beide gewusst, wie brüchig der Frieden zwischen den Clans war. Als wäre ihnen nicht klar, wie schnell Luke vom Gast zum Feind werden konnte.

 

Kapitel 9

 

»Sunny.« Erstaunt starrte Cassidy den jüngeren Wolf an, der vor ihrer Tür stand.

»Heute ist nicht viel zu tun, mein Chef hat mich nach Hause geschickt, ich soll später wiederkommen«, erklärte der Junge sich. »Kann ich reinkommen?«

Augenblicklich fiel die Anspannung von den beiden Warith ab. Cassidy trat zur Seite. Sunny nahm die Einladung an und betrat das Haus. Sie schloss die Tür hinter dem Jungwolf, der es nicht wagte, King direkt anzusehen, und stattdessen ins Wohnzimmer schlich, um sich möglichst unauffällig auf eines der Sofas zu setzen und mit der Umgebung zu verschmelzen.

Cassidy war unterdessen in der Küche verschwunden und kam nur wenig später mit einem Filetiermesser wieder heraus. Sie ignorierte Kings fragenden Blick und wandte sich unbeirrt dem Badezimmer zu.

»Was hast du vor?«, fragte er sie. Cassidy hielt inne.

»Nach was sieht es denn aus? Ich kümmere mich darum, dass nicht jeder Jäger mich auf den ersten Blick als das erkennt, was ich bin.«

Sie setzte sich auf den Rand der Wanne. Schwere Schritte ließen sie zusammenzucken, als King sich an den Türrahmen lehnte.

»Von Privatsphäre hast du auch noch nie was gehört oder?«, keifte Cassidy genervt in seine Richtung. Er zuckte mit den Schultern.

»Natürlich habe ich das, aber irgendjemand muss bezeugen können, wie du dich selbst umgebracht hast.«

»Und du denkst, du wärst dafür der Richtige? Würde man nicht vielmehr vermuten, dass du mich auf dem Gewissen hast?«

King schmunzelte. »Ich würde mir an dir nicht die Hände schmutzig machen. Zu viel Papierkram.«

»Ach leck mich doch!« Mit dem Messer in der Hand versuchte sie, die Haut an ihrem rechten Oberarm straff zu ziehen, um besser an die Narbe zu kommen.

»Nicht vor unserem ersten Date.«

Seine Erwiderung brachte sie aus dem Konzept. Sie rutschte mit der Klinge ab, und hinterließ einen tiefen Schnitt an der falschen Stelle. Blut quoll heraus und lief ihren Arm herunter. Scharf saugte sie Luft zwischen den Zähnen ein. Sie schloss die Augen, während der Schnitt sich wieder schloss.

»Kannst du bitte gehen? Keine Ahnung, vielleicht zum Nordpol oder irgendwohin, wo du nie wieder eine Frau belästigen kannst.«

Cassidy konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe. Die Klinge berührte kalt ihren Arm, dieses Mal traf sie die richtige Stelle, doch sie ritze nur oberflächlich in die Haut. Cassidy fluchte.

»So wird das nichts«, stellte King trocken fest.

»Du hast leicht reden, du steht ja nur rum und tust gar nichts.« Cassidy war versucht, das Messer nach King zu werfen, befürchtete jedoch, dass es tatsächlich in dem Warith stecken bleiben würde. Tyson wäre sicher nicht sonderlich begeistert von einem derartigen Zwischenfall.

King sagte nichts, aber er ging auch nicht. Cassidy gab auf. Scheppernd landete das Messer in der Wanne. Ihre Schultern sackten nach unten. Diese Narbe würde sie nicht ohne Hilfe entfernen können. Keiner der beiden Warith bewegte sich. Kings erster Schritt durchbrach die unangenehme Stille. Mit dem zweiten stand er schon neben ihr. Sie sah auf. Ohne Cassidys Blick mit seinem loszulassen, beugte er sich wortlos über die Wanne. Er hob das Messer auf und Cassidy hielt für einen Moment den Atem an. Dann richtete King sich wieder auf. Mit einer Handbewegung, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen, bedeutete er ihr, zur Seite zu rutschen. Cassidys Wolf wollte flüchten, doch sie bewegte sich nicht. Auch nicht, als King sich seufzend neben sie setzte. Viel zu nah, da sie nicht bereit gewesen war, ihm Platz zu machen. Gänsehaut lief ihren Nacken entlang, als seine Haut ihre streifte. Er stellte die Füße in die Wanne zu ihren. In seinen Augen blitzte die Herausforderung. Mit einem raubtierhaften Grinsen hielt er Cassidy die offene Hand hin. »Ich bin nicht dein Vertrauter, ich bin nicht einmal jemand, den du leiden kannst. Ich werde niemals zögern dein Blut zu vergießen. Allein schon als Rache für vorhin.«

Cassidy sah ihm in die Augen. Sie suchte nach einem Anzeichen, dass er es ehrlich meinte. Sein Wolf streifte ihre Gedanken, sie konnte seine Gier spüren. Dieses Tier wollte tatsächlich ihr Blut sehen. Cassidy kannte King nicht genug, um ihn lesen zu können, aber auch so war sie sich sicher, dass er keine Skrupel kannte. Das Abkommen der Clans schützte sie. Es würde verhindern, dass er ihr absichtlich schadete. Aber reichte der lose Pakt oder war das hier die Gelegenheit, auf die er nur wartete? Sie schob ihre Zweifel zur Seite. Zaghaft reichte sie ihm die Hand. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als seine Finger ihr Handgelenk fest umgriffen. Wie eine Falle, die in diesem Moment zugeschnappt war.

»Dreh dich um, dann komm ich besser an die Stelle.«

Cassidy kam der Aufforderung nach und setzte sich mit dem Rücken zur Wanne. Sie nutzte diese Bewegung, um etwas Abstand zwischen sich und den zweiten Warith zu bringen. Ruhig, aber bestimmt, rutschte King wieder näher an sie heran, sodass er ihren Arm auf seinem Bein ablegen konnte. Er achtete darauf, einen Winkel zu wählen, mit dem er sie festhalten konnte, und trotzdem einen guten Blick auf seine Aufgabe hatte.

»Das wird wehtun«, erklärte er grinsend.

Einen Moment zögerte Cassidy, dann lehnte sie sich an seine Schulter und schloss die Augen.

»Fang an!«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und wartete darauf, dass der Schmerz einsetzte.

Kings Hand glitt erstaunlich sanft von Cassidys Handgelenk zu ihrem Ellenbogen und hinterließ auf dem Weg Gänsehaut. Sein Griff verstärkte sich und Cassidy musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht gegen den Warith zu wehren. Im nächsten Moment schnitt die Klinge in ihre Haut. Cassidy knurrte, King ließ das Messer unter die Narbe gleiten. Mit schnellen Schnitten entfernte er das verräterische Zeichen. Er konzentrierte sich voll auf die Aufgabe und zuckte nicht einmal, als Cassidys Zähne sich in seine Schulter bohrten.

Cassidy schmeckte Blut, doch er hielt ihren Arm unerbittlich in der regungslosen Position.

Das Geräusch, als das Messer in die Badewanne fiel, läutete die Erlösung ein. Cassidy wimmerte, ihr Gesicht an Kings Schulter vergraben. Die Heilung war meist schmerzhafter als die Verletzung und ihre Nägel gruben sich in Kings Arm, was dieser ebenfalls still ertrug.

»Es ist vorbei.«

Kings Stimme war sanft. Der Klang seiner Worte hallte wie ein Donnerschlag durch den stillen Raum. Cassidy entspannte sich. Sie öffnete die Augen und sah auf ihren Arm. Außer einer roten Narbe war nichts zu sehen. Kein verräterischer Silberhauch, keine Markierung, die sie sofort verriet. Sie strich über die noch empfindliche Stelle. In ein oder zwei Tagen würde man diese Narbe nicht mehr sehen. Sie sah auf das Blut in der Wanne und auf Kings T-Shirt und Hose. Erst in diesem Moment bemerkte sie, dass sie immer noch viel zu dicht bei ihm saß. Befangen rutschte sie von ihm weg.

»Die Klamotten sind hinüber, ich bezahle sie dir natürlich.« Gedanklich zählte sie die Überstunden zusammen, die dafür nötig wären.

»Es mag dich erstaunen, aber ich habe mehr als eine Hose und es ist mir ein besonderes Vergnügen, dich zu quälen. Wir sind quitt.«

Cassidy verdrehte die Augen. »Du bist unmöglich!« Sie musterte ihn, ehe sie aufstand und das Badezimmer verließ. Für einen Moment hatte die Sanftheit seiner Stimme sie vergessen lassen, dass er der Feind war. Etwas, das so schnell nicht wieder passieren würde.

»Gern geschehen«, rief er ihr nach, und öffnete den Wasserhahn, um mit der Brause ihr Blut in den Abguss zu spülen, ehe es in der Wanne festtrocknete.

 

Sunny saß auf dem Sofa und starrte auf seine Hände.

»Du hast nicht einmal daran gedacht, mich um Hilfe zu bitten.« Der Vorwurf war deutlich in seiner Stimme zu hören. Er sah auf und sein verletzter Blick traf Cassidy.

»Ich...«, setzte sie zu einer Entschuldigung an, doch es gab nichts, was sie sagen konnte, denn er hatte recht. Sie hatte seine Anwesenheit total vergessen.

»Denk mal drüber nach, wie sich das anfühlt, immer übergangen zu werden.« Er presste die Lippen zusammen, als wäre er selbst erstaunt darüber, dass er den Mut aufgebracht hatte, es anzusprechen. Er stand auf.

»Es tut mir leid«, versuchte Cassidy ihn zu beruhigen.

»Mir auch.« Er ließ sie stehen und verließ das Haus.

***

 

Tyson war unruhig. Bei Cassidys Anruf wäre er am liebsten sofort nach Hause gestürmt, doch vom anderen Ende der Stadt brauchte es nun einmal eine gute Stunde, ehe er wieder im Viertel war. Er hatte Vanessa von der Bücherei abgeholt, in der sie als Freiwillige arbeitete. Jetzt schloss er die Tür für sie auf, betrat das Haus jedoch zuerst.

Cassidys Anblick ließ ihn abrupt stehenbleiben. Ihr Kleid war voller Blut.

»Was ist passiert? Bist du verletzt?« Entsetzt sah er auf den sommerlichen Stoff. Lediglich Kings Jeans hatte mehr abbekommen. Was war hier passiert? Schafften die beiden es wirklich nicht, miteinander auszukommen, ohne sich sofort gegenseitig anzugreifen?

»Nein, alles in Ordnung. King hat mir die Markierung rausgeschnitten. Wir müssen überlegen, wie wir die Suche nach Becca koordinieren«, erwiderte Cassidy und lenkte im gleichen Moment von dem Thema ab.

Tysons Wolf knurrte. Ein Jäger behauptete, Becca begraben zu haben. Jemand hatte Cassidy markiert, seine beiden Geiseln standen in Blut gebadet vor ihm und dabei war er lediglich eine Stunde weg gewesen.

Tyson schüttelte den Kopf. Er setzte sich Cassidy gegenüber auf das Sofa und beschloss erst einmal auf das wichtigste Thema einzugehen: »Fassen wir zusammen, was wir wissen: Nach der Verhandlung mit Cage wollte sie in die Wälder, das ist drei Wochen her. Seitdem haben wir von ihr nichts gehört.«

»Nicht ganz.« Vanessa hatte den Raum betreten. Sie stellte sich hinter Tyson und legte ihrem Sohn beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Sie wollte noch einmal zu dem Jäger. Ich hatte für sie seine Vergangenheit ausgegraben und sie wollte ihn damit konfrontieren.«

Tyson fuhr zu seiner Mutter herum. »Warum sagst du mir das erst jetzt?«

»Weil ich nicht wusste, dass sie vermisst wird. Du hast mir nichts gesagt und sie ist der Alpha eines anderen Clans. Es ist vollkommen normal, dass wir uns wochenlang nicht sehen.« Vanessas Tonfall war ruhig wie immer und sie hatte recht. Allein den Überblick bei den Hazima zu behalten glich dem Versuch, Wasser mit einem löchrigen Eimer zu schöpfen.

»Dieser Jäger. Alex. Er war es, den ich ihn ihrer Wohnung getroffen habe. Er sagt, dass sie tot ist und er wirkt so überzeugt, dass ich mir sicher bin, dass er es auch glaubt. Aber ich kann ihr Echo in meinem Kopf spüren. Es ist schwach, als hätte sie sich abgeschottet, aber es ist da.«

Cassidys Worte hingen in dem Raum. Es dauerte eine Sekunde, bis Tyson die Aussage verarbeitet hatte, doch schon im nächsten Moment hatte er einen Entschluss gefasst: »Ich fahre jetzt in dieses Hotel und finde raus, was los ist.«

»Das bringt nichts. Sie sind nicht mehr dort.«

Cassidys Stimme ließ ihn innehalten.

Langsam drehte der Alpha sich zu der Warith um.

»Wie bitte?«

Cassidy zuckte zurück. »Sunny hat mir vor ein paar Tagen erzählt, dass sie ausgezogen sind. Einer der Jäger hatte Herzprobleme und nachdem er ins Krankenhaus eingeliefert worden ist, haben die anderen gepackt und sind verschwunden. Wir dachten, sie wären wieder nach Hause geflogen. Die Hochzeit ist ja immerhin vorbei.«

Die folgende Stille hielt nur, bis Tysons Faust in die Wand neben der Haustüre krachte. Die Rigipsplatte, die die Wand an dieser Stelle ausglich, splitterte. Das berstende Geräusch ließ alle Anwesenden zusammenzucken. Vanessa musterte das Loch in ihrer Wand unbeeindruckt.

»Tyson.« In ihrem Tonfall hörte man den Tadel, den nur eine Mutter mit bloßer Namensnennung zustandebringen konnte.

»Verdammt!« Tyson bebte. Vanessa umrundete das Sofa und setzte sich neben ihn.

»Wenn die Jäger noch in der Stadt sind, können wir sie vielleicht über den Immobilienmarkt finden«, schaltete der Warith der Nekare sich das erste Mal in das Gespräch ein. Der Junge hatte recht, aber er ließ Tyson keine Zeit zu reagieren, sondern redete sofort weiter: »Ich kann Jonah bitten, sich in der Firma meines Vaters umzuhören. Wenn jemand etwas finden kann, das verborgen wurde, dann er.«

»Dann steh nicht rum, sondern erledige das.« Tysons Stimme war schneidender als es ihm angemessen erschien, doch er konnte nicht anders.

Vanessa legte ihrem Sohn beruhigend eine Hand auf den Arm.

»Lass gut sein Tyson. Er will doch nur helfen.«

Der Alpha ignorierte seine Mutter und wandte sich wieder an seine erste Geisel: »Cassidy, ich will, dass du die nächste Zeit in unserem Viertel bleibst. Das Silber ist zwar nicht mehr zu sehen, aber sicher ist sicher.« Er sah, wie sie zu einem Einwand ansetzte und schnitt ihr das Wort ab, ehe sie überhaupt etwas sagen konnte. Seine Stimme schwoll zu einem Befehlston an, der von der Aleashira unterstrichen wurde. »Im Moment bin ich dein Alpha und du wirst tun was ich sage.«

In dem Wissen, dass sie ihm nicht lange gehorchen würde, wandte er sich an Vanessa: »Pass auf sie auf, ich will keinen Clankrieg, nur weil meine Geisel verletzt wurde.«

»Tyson, ich muss zur Arbeit. Ich habe nur noch drei Wochen um meine verdammten Studiengebühren zusammenzubekommen und weder dein, noch mein Clan hat genug Erspartes, um mir da auszuhelfen. Ich kann meinen Job nicht verlieren, nur weil du übervorsichtig bist. Niemand wird mich in der Öffentlichkeit, schon gar nicht in einem videoüberwachten Café, angreifen.«

Die Muskeln an Tysons Kiefer traten hervor, er hasste es, wenn Cassidy recht hatte. »Du wirst dich von jemandem hinbringen und abholen lassen. Ich will dich nicht alleine auf der Straße haben.«

Sein Blick blieb an dem Loch in der Wand hängen. »Ich komme später und repariere die Wand.«

Für ihn war das Gespräch beendet. Er öffnete die Tür vorsichtiger als nötig, aus Angst, dass er sie sonst aus den Angeln reißen würde.

Bevor er hinaustrat, warf er dennoch einen Blick zurück.

Cassidy starrte auf den Boden, als King sich ebenfalls in Bewegung setzte. Neben ihr blieb er stehen. »Wir finden sie.«

Der Warith hob die Hand, als wollte er sie ihr auf die Schulter legen, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne und ließ sie wieder sinken.

Tyson beobachtete die Szene. Er ignorierte den Blick, den Vanessa ihm zuwarf und atmete tief durch. Vielleicht sollte er Cassidy für eine Weile nach Hause schicken. Gerade in Abwesenheit ihres Alphas wäre es nur recht, wenn sie als Warith die Führung übernahm. Doch das würde er später mit ihr diskutieren. Er wandte sich wieder zur Tür.

»Tyson.« Es war Cassidys Stimme, die ihn noch einmal innehalten ließ.

»Was gibt es denn jetzt noch?« Gereizt drehte er sich zu ihr um.

»Ich möchte das Motel evakuieren.« In ihrer Stimme konnte er die folgende Bitte schon hören. »Wenn ein Jäger weiß, wo wir leben, ist es dort nicht mehr sicher. Kann ich ein paar der Clanmitglieder hier unterbringen?«

Als hätte sie seine Gedanken gehört. Tyson nickte widerstrebend.

»Du kannst deiner Mutter anbieten, zu mir zu kommen und im Jungwolfhaus sind auch zwei Plätze frei. Ich frag rum, wer sonst noch Platz hat und gebe dir dann Bescheid.«

 

Kapitel 10

 

Nachdem die junge Wölfin verschwunden war, hatte auch Alex sich beeilt, aus Beccas Wohnung zu kommen. Er wurde sowieso auf dem Anwesen der Jäger erwartet.

Er parkte seinen SUV in der Garage, in der auch Beccas Lexus inzwischen stand. Mit etwas Bestechung hatte Christoph den Wagen neu angemeldet, doch bis jetzt hatte keiner der Jäger ihn für sich beansprucht.

Alex‘ nächster Weg führte ihn in das ausladende Esszimmer, in dem die Familie sich längst um den großen Tisch versammelt hatte. Der Rosenkranz um sein Handgelenk schien zu brennen, als würde er den kommenden Verrat schon spüren. Alex erwartete, dass etwas in seinem Inneren sich sträuben würde, heute den Raum zu betreten, in dem Familie und Freunde auf ihn warteten. Doch die Wahrheit war, dass ihn seit Beccas Tod gar nichts mehr berührte.

Kaum, dass er eintrat, sahen ihm mehr Augenpaare entgegen, als er erwartet hatte.

Imogen thronte am Kopf der Tafel, Steve an ihrer Seite. Der andere Platz an ihrer Seite, und damit der erste Platz an der langen Kante des Tisches, war frei. Sie wollte Alex an diesem Abend in ihrer Nähe wissen. Auf den noch leeren Stuhl folgte Grace. Ihr gegenüber saß Christoph mit seiner Frau, gefolgt von Trish. Imogen hatte von Anfang an eine perverse Vorliebe dafür gehabt, Irene zu demütigen. Christophs schwangere Geliebte neben seine Frau zu setzen, war nur die Spitze des Eisbergs. Irene nahm es mit Gelassenheit. Fast hätte man meinen können, dass sie Mitleid mit Trish hatte.

Nicht nur die Tosnys waren anwesend. Fast ein Dutzend weiterer Gäste repräsentierten die Jägerfamilien, die vorhatten, nach Amerika zu expandieren. Alex sah sich instinktiv nach einem Vertreter der Familie Jones um. Doch wie schon seit Jahren mieden sie alles, was mit den Tosnys zu tun hatte. Die restlichen Gesandten der Familien konnten sein Interesse nicht wecken.

Mit Alex‘ Ankunft waren die Gespräche im Raum verstummt. Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf ihn. Es hatte den Anschein, dass sie bereits wussten, was an diesem Abend verkündet werden würde. Mehr noch — als wären sie nur gekommen, um seine unausweichlich folgende Niederlage zu bezeugen. Vielleicht waren sie aber auch einfach gekommen um zu erfahren, wie es in Los Angeles weitergehen würde, und Imogen würde sich den Moment nicht verderben lassen. Nach all den Jahren bekam sie endlich, was sie wollte und sie würde ihren Triumph bis zum Letzten auskosten.

Alex straffte die Schultern und schritt durch den Raum. Er würde ihnen nicht die Genugtuung geben, zu zögern.

Imogen wartete, bis er sich gesetzt hatte, dann ergriff sie das Wort: »Nachdem jetzt endlich alle da sind, habe ich etwas zu verkünden.« Sie stand auf, stellte sich hinter Alex. Die Berührung ihrer Hände auf seinen Schultern war leicht, schien jedoch das Gewicht der ganzen Welt auf ihn niederzudrücken. »Wir alle sind in diesem fürchterlichen Land, weil mein Sohn den Bund der Ehe eingegangen ist, und wohl auch, damit ich endlich meinen ersten Enkel bekomme.« Sie ignorierte Irene und lächelte stattdessen Trish wohlwollend zu, ehe sie ihre Ansprache wieder aufnahm. »Es hieß, hier seien weniger Werwölfe als in der Heimat und eine Feier stünde daher unter einem besseren Stern – und doch haben uns die Wölfe gefunden.« Einer der Gäste sah vielsagend zu Trish. Seit sie von einem Wolf in dieses Loch gesperrt worden war, hasste sie die Spezies mit fanatischer Inbrunst. Imogen schien den Blick nicht bemerkt zu haben, sie sprach unbeirrt weiter. »Wir haben uns heute hier versammelt, weil wir auch auf diesem Kontinent eine Bastion der Menschlichkeit errichten wollen. Deshalb freue ich mich umso mehr, euch mitteilen zu können, dass die Familie Villiers sich endlich wieder vergrößern wird.« Sie machte eine theatralische Pause und sah in die Runde. »Alexander hat um die Hand meiner bezaubernden Grace angehalten, um mit dem starken Blut der Tosnys das schwächer werdende der Villiers zu retten.«

Imogens Überraschung war gelungen. Christophs fragender Blick zeigte, dass Grace sogar ihrem Bruder gegenüber geschwiegen hatte.

Für einige Augenblicke war es gespenstisch ruhig in dem Raum. Dann ertönten die ersten Glückwünsche. Grace griff nach Alex‘ Hand und lächelte ihm fast schon liebevoll zu. Es war das erste Mal, dass er sie an diesem Abend bewusst wahrnahm.

»Alles wird gut«, flüsterte sie, dann beugte sie sich herüber und küsste Alex. Er erwiderte ihr Lächeln, als sie sich wieder auf ihren Stuhl zurücksinken ließ. Ganz so, wie es von ihm erwartet wurde. Vielleicht hatte Grace recht, vielleicht würde der nächste Wolf ihn töten und dann wäre endlich alles gut.

Imogen setzte sich wieder. Zu ihrer Missbilligung stand nun Steve an ihrer Stelle auf. Augenblicklich unterbrachen die Anwesenden das aufgeregte Geplauder. Der Patriarch der Familie neigte nicht dazu, Reden zu halten.

»Alexander«, er wandte sich direkt an den neuen Familienzuwachs, »du warst schon immer wie ein Sohn für mich. Seit ich dich aus dieser Hütte geholt habe, hast du härter trainiert als jeder andere. Du hast gnadenloser getötet. Mit den Jahren bist du zu einem hervorragenden Strategen und Kämpfer in unserem Krieg geworden. Es hat mich mit Stolz erfüllt, dich meinen Ziehsohn nennen zu können.« Er pausierte und sah sich in dem gefüllten Raum um. »Jetzt kann ich dich endlich einfach nur Sohn nennen. Es wurde auch Zeit.«

Alex brauchte nicht über den Tisch zu sehen, um zu wissen, dass Christophs Hände sich in die Stoffserviette krallten. Christoph war immer Imogens Liebling gewesen, Steve hingegen übersah ihn und seine Leistungen nur zu gerne.

»Alle hier wissen, dass wir planen, nach Amerika zu expandieren. Die meisten von uns sind deswegen heute Abend hier.« Er deutete auf die Gäste. »Aber ihr seid vor allem hier, weil ihr wissen möchtet, wer von uns den Kampf führen wird. Meine Entscheidung ist gefallen. Alexander wird nicht nur meine Tochter heiraten, er wird auch hier in Amerika für Ordnung sorgen.«

Alex wollte widersprechen, nach Beccas Tod wollte er nicht in Los Angeles bleiben, sondern nach Schottland zurückkehren, doch das laute Schaben von Stuhlfüßen über die Marmorfliesen unterbrach ihn und Steves Ansprache. Christoph war aufgesprungen. Der Stuhl hinter ihm kippte und es schepperte, als das Holz auf den Fließen aufprallte. Der Sohn der Tosnys schüttelte den Kopf, sichtlich nach Worten ringend. Dann warf er seine Serviette auf den Teller und stürmte aus dem Raum.

Steve ließ sich von diesem Auftritt nicht beeindrucken. Er hob sein Glas zu einem Toast. »Auf Alexander und Grace.«

Die Anwesenden folgten seinem Beispiel.

»Auf Alexander und Grace!«

Alex‘ Lächeln versteifte sich. Am liebsten hätte er den Raum mit Christoph zusammen verlassen, dennoch prostete er seinem Ziehvater zu. Steve hatte eine Entscheidung getroffen und an der war nicht mehr zu rütteln.

 

Kapitel 11

 

Es waren die kleinen Nuancen. Becca erkannte schon an der Art, wie der Riegel energisch zurückgeschoben wurde, dass es Christoph war, der draußen vor der Tür stand. Der Geruch von Kaffee, der den Raum flutete, noch bevor der Jäger überhaupt eintreten konnte, war der zweite Hinweis.

Es war ein Ritual, das Christoph peinlich genau bei jedem Besuch einhielt. Es lief immer exakt gleich ab. Auch heute zog er wieder den Stuhl vor die Matratze, auf welcher Becca kauerte. Weit genug entfernt, dass sie ihn nicht angreifen konnte, nah genug, um sie im Auge zu haben. Sie wussten beide, dass sie nicht angreifen würde. Zu klein die Chance, ihn zu überwältigen, zu groß der Schmerz, mit dem er sie bestrafen musste.

»Guten Morgen, Liebes.« Seine Stimme legte sich um ihre Nerven wie ein betäubender Mantel. Es war ein Schauspiel, und sie wusste, was von ihr erwartet wurde.

Becca sah nicht auf. Ihr Wolf winselte. Durch die Silbervergiftung und das Wolfsbane in ihrem Blut konnte sie ihn kaum noch spüren.

Christoph stellte den Becher neben sich auf den Boden. Automatisch leckte Becca sich über die spröden Lippen. Sie waren rissig, doch heute konnte sie kein Blut schmecken. Das Wasser, das sie bekam, war gerade zu viel, um an Dehydration zu sterben, aber zu wenig, als dass sie ihren Durst hätte löschen können. Vor allem wusste sie nie, wie lange die kleine Flasche halten musste. Es gab keine Zeit in ihrer Zelle. Entweder Christoph war da, oder er war weg. Ansonsten war sie allein. Das Wasser wurde nur erneuert, wenn er kam, was dafür sorgte, dass ihr Durst sie auf seine Besuche hinfiebern ließ. Auch dieses Mal hatte er eine kleine Flasche bei sich. Sie stand neben dem Stuhl und es war Becca fast unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden.

Der Inhalt der Flasche war vergiftet.

Sie wusste es und er wusste, dass sie es wusste. Jeder Schluck, den sie trank, tötete den Wolf in ihrem Inneren ein bisschen mehr. Jedes Mal, wenn sie zur Flasche griff, verriet sie ihre eigene Seele.

»Uns rennt langsam die Zeit davon«, erklärte Christoph. Er klang besorgt. »Alexander hat um Graces Hand angehalten, was heißt, dass sie ihm wohl bald sagen wird, wo du bist. Du weißt, was das bedeutet, oder?«

Becca nickte.

Es war Grace gewesen, die ihr bei einer Blutabnahme erzählt hatte, dass Alex ihren Tod wollte. Er musste nur erfahren, wo sie war, und es würde zu Ende sein – das waren ihre Worte gewesen. Zuerst hatte Becca ihr nicht geglaubt, aber Christoph sagte dasselbe und ihr Kerkermeister log nie. Außerdem hatte sie Alex‘ Gesicht gesehen, als er erfahren hatte, was sie war. Er hatte nicht eingegriffen, als Grace ihr ins Gesicht getreten hatte, obwohl sie schon angeschossen am Boden gelegen war.

»Becca, ich kann dich nur schützen, wenn du endlich mit mir zusammenarbeitest. Du bist seit Wochen hier, meinst du nicht, die Wölfe hätten dich längst gefunden, wenn sie nach dir suchen würden?«

Verzweiflung stieg in ihr auf. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht hatte die Welt sie bereits aufgegeben. Sie sagte nichts.

»Wenn du mir sagst, wo ich weitere Wölfe finde, dann kann ich damit argumentieren, dass du nützlich bist. Dass du kooperierst.« Er stand auf und kam zu ihr. Vor ihr ging er auf die Knie. Seine Hand strich über ihre Wange. »Bitte, ich will das hier nicht. Ich will dir keine Schmerzen zufügen. Das wollte ich nie.«

Becca schloss die Augen. Etwas in ihr warnte sie vor diesem Mann. Aber ein größer werdender Teil in ihr wollte ihm glauben.

Sie öffnete die Augen und sah ihn flehentlich an. »Ich kann dir nicht sagen, wo andere Wölfe leben, weil ich es nicht weiß. Auch wenn du mir nicht glaubst, ich war nie Teil eines Rudels.«

Die Enttäuschung in seinem Blick traf sie mehr, als sie zugeben wollte. Christoph zog die Hand zurück.

»Dann lässt du mir keine andere Wahl.«

Becca biss die Zähne aufeinander, bis ihr Kiefer sich versteifte. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wusste, was als Nächstes passieren würde. Immerhin hielt Christoph sich immer peinlich genau an das Protokoll.

 

Kapitel 12

 

King hatte die Location für das Treffen gewählt. Das Konbâta bot bis zum späten Abend eine ausgezeichnete Küche und verwandelte sich im Verlauf der Nacht in eine beliebte Cocktailbar. Seit der Eröffnung vor ein paar Wochen war es fast unmöglich, hier einen Tisch zu bekommen. Der Warith der Nekare aber war bereits Stammgast. Sein Vater hatte dem Besitzer diese Immobilie vermittelt, genau wie schon zwei Nachtclubs zuvor. Obwohl Cage nicht viel von den freien Wölfen hielt, hatte er mit Ashton eine Übereinkunft getroffen. King hinterfragte dies nicht. Er wusste, dass die Geschäfte seines Vaters wesentlich mehr umfassten als die legalen Immobilienverkäufe, doch womit sich sein Alpha die Taschen füllte, ging ihn nichts an.

Jonah saß bereits an der Bar. Er hatte einen Whiskey vor sich und unterhielt sich mit dem Barkeeper. Er sah King kommen und bestellte ihm den üblichen Drink.

»Du humpelst. Es ist nur leicht, aber ich kann es sehen.«

Wie gewöhnlich übersprang Jonah die Begrüßung.

»Auch eine Form, Hallo zu sagen. Deine Beobachtungsgabe hilft dir als Journalist sicherlich weiter«, stichelte King, bei dem Versuch das Thema zu wechseln. Jonahs Blick nach zu urteilen mit wenig Erfolg.

»King, das ist nicht witzig. Wenn Tysons Wölfe dich angreifen, verstoßen sie gegen das Abkommen. Dein Vater wartet nur auf so eine Gelegenheit.«

»Ich hatte nur eine Diskussion mit Cassidy.«

»Eine Diskussion? Sag mir bitte, dass du nicht versuchst hast, bei der kleinen Daichin zu landen.«

Jonah lachte ungläubig, doch King schüttelte den Kopf. »Die Jäger haben angefangen, die Wölfe zu markieren und sie dabei erwischt.«

»Und daraufhin hat sie dir das Knie gebrochen? Klingt total logisch.«

Sarkasmus tropfte regelrecht aus seinen Worten.

Eine Kellnerin unterbrach die beiden und brachte sie an ihren Tisch. Die Aleashira streckte sich neugierig nach ihr aus und stieß auf keinerlei Widerstand. Die Frau schien einer der freien Wölfe zu sein. King zog sein Jackett aus und hängte es über den Stuhl. Die Kellnerin musterte etwas an seinem Hals. Ihr Blick lenkte auch Jonas Aufmerksamkeit auf diese Stelle.

Kaum, dass die beiden sich gesetzt hatten, reichte sie ihnen die Speisekarten, nur um gleich darauf wieder Richtung Bar zu verschwinden.

»Cassidy hat dir also nicht nur das Knie gebrochen«, merkte Jonah nüchtern an.

King sah seinen Arm hinab und fluchte. Er hatte die Male, die Cassidy hinterlassen hatte, längst vergessen. Kratzer und Bisse, die von einem Wolf stammten, heilten anders. Zwar schloss die Wunde sich recht schnell, doch die Narben würden noch einige Tage zu sehen sein.

Wochen sogar, bei Verletzungen durch Wolfsklauen.

»Zu ihrer Verteidigung: ich hatte sie kurz vorher filetiert. Das könnte wehgetan haben.«

Jonah blieb der Mund offen stehen. Er blinzelte zweimal, ehe er antwortete: »Filetiert? Mit einem Messer? Habt ihr euch geprügelt oder war das Vorspiel?«

Die Bedienung kam wieder, sie hatte für jeden der Wölfe einen neuen Drink dabei. »Der geht aufs Haus.«

Sie wartete die Reaktion nicht ab, sondern war sofort wieder verschwunden.

»Es war ein Missverständnis«, antwortete King seinem Gegenüber gereizt. »Das Knie zumindest. Und nein, ich habe es nicht nötig, mich mit einer Zicke wie Cassidy abzugeben.«

Er zog die Serviette unter seinem Drink hervor und deutete auf die Nummer, welche die Kellnerin für ihn notiert hatte. Er schob das Stück Papier in die Tasche seines Jacketts. »Die ist ohnehin mehr mein Typ.«

»Ich wette, sie bricht dir nicht die Knie«, stellte Jonah trocken fest.

»Vielleicht tut sie es, wenn ich sie nett darum bitte? Davon abgesehen: Das wird Cassidy auch kein zweites Mal schaffen«, erwiderte King und nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Wie verträgst du dich mit Luke?«

Jonah lehnte sich zurück. »Blendend. Das heißt, ich habe ihn nur kurz gesehen, seitdem ist er wohl bei Sofie oder arbeiten, wer weiß das schon so genau.«

Eine Pause entstand, ehe King das Thema wechselte.

»Ich brauch deine Hilfe.« Mit diesem Satz hatte er sofort Jonahs gesamte Aufmerksamkeit. »Du musst für mich herausfinden, ob in den letzten sechs Wochen ein größeres Anwesen verkauft wurde und wenn ja, an wen.«

»Du hast Zugang zu den Firmen deines Vaters, du könntest es selbst herausfinden«, erwiderte Jonah und nippte an seinem Whiskey.

»Ja, aber du gehst bei Cage ein und aus. Wenn du es erledigst, ist es unauffälliger und mir wäre es lieber, wenn mein Vater nichts davon mitbekommen würde.«

»Du hast Geheimnisse vor deinem Alpha?«

»Du etwa nicht?«

Mit einem Seufzen gab Jonah nach. »Ich kümmere mich darum, aber es kann dauern. Zumindest wenn ich es halbwegs unauffällig machen soll. Es wäre nicht unbedingt von Vorteil, wenn er mich beim Schnüffeln erwischt.«

Als die Kellnerin zum Aufnehmen der Essenswünsche zu ihnen zurückkehrte, nutzte King die Gelegenheit. »Hast du heute noch etwas vor?«

Sie sah ihn erwartungsvoll an und schüttelte den Kopf. »Ich hab noch eine Stunde Dienst, ab dann ist noch nichts geplant.«

»Wir ziehen nachher noch durch die Clubs, hast du Lust uns zu begleiten?«

Sie grinste ihn frech an. »Mit dem Warith der Nekare durch die Clubs ziehen? Da fragst du noch?«

Bedeutungsvoll sah er zu Jonah. Wie er vermutet hatte, war er selbst für sie vermutlich von geringem Interesse. Von seinem Rang wurden Wölfe jedoch angezogen wie Motten vom Licht.

 

***

 

Die Wölfe aus dem Motel waren nicht sonderlich begeistert, ihre Wohnungen verlassen zu müssen.

Cassidy hatte allerdings mit mehr Schwierigkeiten gerechnet. Ihr Clan vertraute ihrem Urteil und noch bevor sie den Grund der Evakuierung nennen konnte, war schon geplant worden, wo die Anwohner des Motels unterkommen sollten.

Reges Treiben Endstand: Jeder packte eine Tasche mit dem, auf das er oder sie in den nächsten Tagen nicht verzichten konnte. Kaum war das geschafft, begannen sie ihr Hab und Gut in Kartons zu verstauen. Einer nach dem anderen wurde von den Wölfen in die zwei gemieteten LKW gebracht. Im Eiltempo leerten die Wohnungen sich. Das Lagerhaus, das Cassidy organisiert hatte, war nicht weit entfernt und dadurch, dass jeder anpackte, ging die Arbeit schnell von der Hand.

»Es war die richtige Entscheidung.«

Cassidy spürte ihre Mutter hinter sich, als sie dem ersten vollen Wagen hinterher sah.

»Ich weiß, trotzdem ist es nicht einfach. Ich bin in diesem Haus aufgewachsen«, erwiderte die Jüngere und schlenderte mit Tory in den kühleren Flur. Die Aufgabe, Beccas Sachen zu packen, würde den beiden Frauen zufallen.

Hilflos stand Cassidy in der Wohnung. Sie hatte viel Zeit bei ihrer Tante verbracht und erst als sie die ersten Bücher in einen Karton räumte, wurde ihr bewusst, dass sie Becca nie wiedersehen würde. Tränen drohten ihr die Sicht zu verschleiern und verstohlen wischte sie sich mit dem Arm über die Augen.

Es war Tory, die das rote Kleid an dem Haken im Badezimmer entdeckte. Mit dem Stoff in der Hand kam sie zu Cassidy.

»Das sieht nicht nach etwas aus, das meine Schwester tragen würde.«

Cassidy sah von dem Karton auf, den sie gerade packte.

»Nein, das ist von dem letzten Auftrag.«

Unschlüssig sahen sie das Kleidungsstück an, welches wie ein Fremdkörper in der Wohnung wirkte.

»Wir lassen es hier«, entschied Cassidy. Sie wollte dieses Teil nicht mit Becca in Verbindung bringen. Mit einem Bügel hängte sie das Kleid an einen gerade freigewordenen Nagel im Wohnzimmer und verschloss den letzten Karton. Fast augenblicklich brachte ein Wolf die Kiste zu dem LKW auf die Straße.

»In Beccas Wohnung sind wir fertig. Bleiben noch die zwei unteren Stockwerke.«

In diesem Moment kam Helen, Cassidys beste Freundin, mit einem Karton an Beccas Wohnungstür vorbei. »Cassidy, ich hab nachgedacht. Wenn deine Mutter nicht zu dem Alpha der Hazima ziehen will: Ich würde es tun. Dann sehen wir uns auch wieder öfter.«

Tory hatte Tysons Angebot, zu ihm zu ziehen, abgelehnt. Sie hatte einen Platz bei Freunden gefunden, Cassidy würde bei Vanessa bleiben. Alles in allem musste sie nur für drei Wölfe eine Alternative finden – Helen war eine davon. Sie hatte an diesem Tag mit weit mehr Schwierigkeiten gerechnet.

Cassidy grinste. »Und ich könnte etwas Verstärkung auf jeden Fall gebrauchen.« Sie sah auf den Karton. »Was ist da drin?«

»Ein paar alte Elektronikteile. Du erinnerst dich an das Filmprojekt, bei dem ich versucht habe, die Füchse im Wald zu filmen? Das ist die Kamera und der Bewegungsmelder dazu.«

Cassidy konnte sich gut daran erinnern. Die Füchsin war zu misstrauisch für die Technik gewesen und so waren alles, was Helen auf Band bekommen hatte, ein paar Vögel, ein Eichhörnchen und ein unvorsichtiger Wolf gewesen.

Sie deutete auf den Kram. »Kannst du die Kamera in Beccas Wohnung installieren? Am besten so, dass man sie nicht sofort sieht.«

»Klar!« Helen nickte begeistert. »Den Bewegungsmelder machen wir gleich an den Eingang, da ist diese Nische, die ihn gut verdecken wird. Die Kameras platzieren wir im Flur und im Wohnzimmer. Vielleicht können wir den Jägern so ein Gesicht geben.«

»Genau das ist der Plan.« Cassidy lächelte, als Helen sich mit Eifer an die Arbeit machte.

 

***

 

Es war bereits einige Stunden nach Mitternacht, als King sich auf den Weg zurück zu Vanessa machte. Jonah zu treffen, hatte ihn daran erinnert, dass zu Hause, in seinem eigenen Clan, ein Leben auf ihn wartete. Eines, in das er gerne so schnell wie möglich wieder zurückkehren wollte.

Möglichst leise betrat er das Wohnzimmer. Auf den Lippen hatte er noch den Geschmack der Kellnerin. Susy, erinnerte er sich, so hieß sie. Unwichtig, er hatte nicht vor, sie noch einmal zu treffen.

Der Vollmond schien hell durch das Fenster und so war es unnötig, das Licht einzuschalten. King war schon fast an dem Sofa vorbei, das seiner Zimmertür am nächsten stand, als eine Bewegung im Dunkeln ihn innehalten ließ.

Er bemerkte Cassidy, die über einem Buch eingeschlafen war und unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Selbst im Schlaf schien sie unruhig. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, das Licht doch anzuschalten, um sie unsanft zu wecken, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen ging er zu dem zweiten Sofa, um eine leichte Decke zu holen, die er über der Schlafenden ausbreitete. Sein Knie pochte und erinnerte ihn an den Tritt, den sie ihm verpasst hatte. Wieder bewegte sie sich im Schlaf. Dieses Mal um sich in den weichen Stoff zu kuscheln.

»Träum schön, Prinzessin«, flüsterte er und verschwand in seinem Zimmer.

 

Kapitel 13

 

Cassidy sah misstrauisch auf ihr Handy. Wie schon an den letzten drei Tagen hatte Tyson sie am frühen Morgen an dem Starbucks abgesetzt, in dem sie arbeitete. Eigentlich hätte er sie auch wieder abholen sollen, doch gerade hatte er ihr eine Nachricht geschrieben, dass er keine Zeit dafür hatte. Sie solle warten. Jemand würde kommen.

Cassidy holte ihre Tasche aus dem kleinen Spind im Hinterraum und pilgerte mit einem Frappuchino in der Hand auf die Terrasse, die direkt an den Parkplatz grenzte.

Die unbequemen Plastikstühle, die dort standen, wurden ohnehin kaum genutzt. Der perfekte Platz für etwas Ruhe.

Sie zog ihr Buch aus ihrer Tasche und begann zu lesen. Gut eine viertel Stunde verging, ehe sie aufschreckte.

Ein Motor heulte auf, als ein protziger, kupferfarbener Sportwagen viel zu schnell auf den Parkplatz einbog. Cassidy nahm einen Schluck von ihrem Getränk und sah demonstrativ in die andere Richtung. Weg von dem Fahrer, der den Wagen direkt auf den freien Platz vor ihrem Stuhl lenkte.

Der Motor verstummte.

Cassidy legte das Buch zur Seite und griff nach ihrem Handy. Sie wählte Tysons Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln hob er ab. Scheinbar hatte er auf diesen Anruf gewartet.

»Ich werde nicht in dieses Auto steigen.«

»Guten Mittag, Cassidy. Wenn King es geschafft hat, halbwegs pünktlich bei dir zu sein, wirst du es schaffen, ohne größere Szene in dieses Auto zu steigen.«

»Das kann nicht dein Ernst sein. Er ist ein Nekare, wir wissen nicht einmal, ob denen klar ist, was Verkehrsregeln sind!«

»Ich würde gerne weiter diskutieren, aber ich passe gerade mit Sunny einen Kleiderschrank bei einem wichtigen Kunden ein. Heute Abend beim Essen höre ich mir aber gerne deine Bedenken an.«

»Heute Abend könnte ich tot sein.«

Gleichmäßiges Piepen verriet ihr, dass Tyson das Gespräch beendet hatte.

Fassungslos starrte Cassidy auf ihr Handy, dann legte sie den Kopf in den Nacken und sah zu King auf, der mittlerweile vor ihr stand. Sie fühlte, wie sich der Blick ihrer Kollegin Tessa in in ihren Nacken brannte. Spätestens morgen würde es ein Kreuzverhör geben.

»Ich hab nicht ewig Zeit.« Ihm war anzusehen, dass er genauso gerne da war, wie Cassidy ihn hier hatte.

Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Es war eine Sache, King auf dem Clanland zu dulden. Auf ihn angewiesen zu sein, passte jedoch weder ihr noch ihrem Wolf.

»Ich nehme ein Taxi«, erwiderte sie.

»Dann hat Sunny unsere Wette wohl gewonnen und du heute ganz umsonst gearbeitet, weil dein Lohn für das Taxi draufgeht.« King setzte sich lässig auf den freien Stuhl neben Cassidy.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739486147
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Jäger Clanmächte Wandler Werwölfe Los Angeles Wolf Romantasy Romance Fantasy Urban Fantasy düster dark

Autor

  • Katania de Groot (Autor:in)

Katania de Groot liest seit zwanzig Jahren Fantasy. Zwischen Hund und alltäglichem Chaos, schreibt sie an ihrer Dark-Romantasy-Reihe Wolfkisses. Romantisch, düster und manchmal darf gelacht werden.