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Wolfkisses: Loyalität

von Katania de Groot (Autor:in)
380 Seiten
Reihe: Wolfkisses, Band 3

Zusammenfassung

Im Licht des neuen Morgens scheinen die Clans den Verrat der Nekare überstanden zu haben. Doch der Friede trügt: Cage holt bereits zum Gegenschlag aus, und auch die Jäger planen ihre nächsten Schritte. Während Cassidy versucht, King zu vergessen, ist dieser noch längst nicht mit ihr fertig... Band 3 der Wolfkisses-Reihe

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Katania de Groot

Wolfkisses

Loyalität

 

Band 3 der Reihe

Vorwort

 

Willkommen zurück in Los Angeles!

King und Cassidy haben sich entschieden, die Sicherheit der Clans vor ihr eigenes Glück zu stellen. Ob das gut gehen kann?

Wie in den vorherigen Büchern findet ihr die Informationen zu den Triggern auf den letzten Seiten. Diese können Spoiler enthalten.

In diesem Buch anders: Das Personenregister findet ihr auf der Wolfkisses - Homepage:

www.wolfkisses.de


Dort gibt es auch weitere Informationen zu der Reihe und noch einmal eine Triggerliste.

Aber jetzt wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen!

Alles Liebe,

Katania

Kapitel 1

 

Das Tor zur Lagerhalle, die auch ihr Labor beinhaltete, stand einen Spalt breit offen. Alarmiert stellte Grace den Motor ab. Sie griff zielsicher in das Handschuhfach und holte die Waffe heraus, die sie dort geladen aufbewahrte. Obwohl sie sich selbst um die Glock kümmerte, überprüfte sie gewohnheitsmäßig das Magazin.

Sie öffnete die Autotür und stieg aus. Grace war sich sicher, dass sie das Tor am Vorabend ordnungsgemäß verriegelt hatte. Das hieß, jemand musste nach ihr hier gewesen sein. Jemand, der es nicht für nötig erachtete, die Sicherheitsvorkehrungen zu befolgen. Und das wiederum bedeutete nichts Gutes.

Sie trat in das dämmrige Licht der Halle, die nur durch ein paar verschmutzte Deckenfenster beleuchtet war, und sah sich misstrauisch um. Außer dem gleichmäßigen Klackern ihrer Absätze, das von den Wänden widerhallte, hörte sie lediglich das Summen der Belüftungsanlage, die Büro und Labor auf einer angenehmen Temperatur hielt.

Auf den ersten Blick konnte sie keine Veränderungen wahrnehmen. Erst, als sie sich den rostigen Containern näherte, die sie als Zellen nutzten, bemerkte sie die offenstehenden Türen.

»Verdammt!« Jemand war ihnen auf die Schliche gekommen.

Sie senkte die Waffe, als sie einen Blick in die einzelnen Einheiten warf.

Die Einbrecher hatten wohl gefunden, was sie gesucht hatten, denn die Versuchsobjekte waren weg.

Bei dem vorletzten Container hielt Grace inne, als ihr ein Funkeln ins Auge stach, von etwas, das halb unter der dünnen Matratze verborgen war.

Mit wenigen Schritten überbrückte sie die Distanz, bückte sich nach dem Ding und hob es neugierig auf. Die Haarspange ihres letzten Zugangs. Sie erinnerte sich daran, sie in den dunklen Locken der jungen Wölfin gesehen zu haben. In Graces frisch manikürten Händen wirkte das Schmuckstück jedoch eher wie ein Kinderspielzeug. Etwas Billiges, das man auf dem Touristenmarkt bekam – fehlte nur noch die Aufschrift: I Love L.A. Grace schnaubte. Blech, nicht einmal echtes Silber. Andererseits, kein Werwolf würde silbernen Schmuck tragen.

Gewohnheitsmäßig drehte sie die Spange um, um sich auch den Verschluss anzusehen, als ein mattes Blinken sie auf die versteckte Elektronik hinwies. Mit dem Daumennagel strich sie über den unauffällig eingearbeiteten Sender. So hatten die Wölfe das Labor also gefunden - das Miststück hatte sich absichtlich gefangen nehmen lassen!

Sie dachte an die junge Frau, die der anderen Gefangenen zum Verwechseln ähnlich gesehen hatte. Cassidy, so hieß sie doch. War es darum gegangen? Die Helfer zum Versteck der Jäger zu führen, um die zerbrochene Frau zu retten?

Grace warf einen Blick in den letzten Container. Es war der, in dem Becca inhaftiert gewesen war. Hatte die junge Wölfin für sie ihr Leben riskiert?

Aber woher hätte sie wissen sollen, dass Becca überhaupt noch lebte? Graces‘ Studien zufolge zerbrach die Verbindung zur Clanmacht, wenn die Fähigkeit, sich zu wandeln, erst einmal ausgemerzt war.

Oder war es um etwas ganz anderes gegangen?

Grace ballte die Faust um den elektrischen Verräter, bevor sie ihn angewidert fallen ließ. Bestimmt hatten diese abstoßenden Tiere ihn mit Absicht hier platziert, in der Hoffnung, ein Jäger wäre dumm genug, ihn mitzunehmen und die Feinde so zu einem weiteren Versteck zu führen.

Dieses Spiel würden die Jäger sicherlich nicht mitspielen.

Sie stand auf und strich den Blazer ihres Kostüms glatt. Erst danach drehte sie der Zelle den Rücken zu, wobei sie ihre Pumps gezielt auf die Spange setzte, die unter dem Gewicht knackte. Der Verschluss und auch die elektrischen Teile brachen.

Grace ging zurück zum Eingang der Lagerhalle und fuhr ihren Wagen durch das immer noch geöffnete Rolltor hinein. Sorgfältig schloss sie es von innen ab - außer ihr war niemand anwesend und es war ihr lieber, wenn es auch dabei blieb.

Erst danach durchquerte sie die Halle abermals, diesmal in Richtung der Büros. Sie betrat die Abstellkammer, in der alibimäßig ein alter Staubsauger und ein Besen an einen unscheinbaren Spind gelehnt standen, ignorierte die Putzutensilien und öffnete stattdessen den Schrank. Eine fast unsichtbar eingearbeitete Rückwand ließ sich mit sanftem Druck nach oben schieben und gab den Blick auf einen mit Touchscreen ausgestatten Monitor frei. Mithilfe eines versteckten Fingerabdrucksensors entsperrte sie den Computer. Auf ihm wurden die Überwachungsdaten gespeichert, zu denen sie allein Zugang hatte und von denen niemand sonst wusste. Es gehörte nicht zum Standard, die Labore, die ihr Vater fast überall errichten ließ, mit Kameras auszustatten, aber Grace traute Christoph bei diesem Projekt nicht. Ihr Bruder war unberechenbar und sie traute ihm zu, dass er aus irgendwelchen Gründen Mitleid mit Rebecca Moretti bekommen hatte. Seit das Weibsbild ihm die Adresse dieses Werwolfhauses gegeben und damit ihren gesamten Clan verraten hatte, hatte Christoph noch mehr Zeit in ihrer Zelle verbracht.

Belohnung, so hatte ihr Bruder es genannt und damit gerechtfertigt, wieso er sie dabei so wenig leiden ließ. Zu wenig für Graces‘ Geschmack. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie an der angegebenen Adresse nur leere Räume vorgefunden hatten.

Grace startete die Aufnahme an der Stelle, an der sie selbst das Labor zum letzten Mal verlassen hatte.

Der Zeitstempel verriet ihr, dass Christoph tatsächlich noch einmal bei seinem Lieblingsobjekt gewesen war. Drei Stunden später hatte aber auch er die Halle verlassen. Sie konnte deutlich sehen, wie er die Alarmanlage aktivierte, ehe er das Licht ausschaltete und ging.

Ihre Vermutung, dass Christoph weich geworden war, schien sich also nicht zu bestätigen; zumindest hatte er sein neues Lieblingsspielzeug nicht befreit. Vielleicht würde es ihnen jetzt, wo es weg war, trotzdem zugutekommen, dass er so viel Zeit dafür investiert hatte.

Das Objekt hatte wie zu erwarten eine Abhängigkeit zu seinem Foltermeister entwickelt. Wie tief Christoph allerdings wirklich in ihren Kopf eingedrungen war, würde sich in den nächsten Tagen zeigen: Von einem Angriff auf Alex über die Rückkehr zu Christoph war alles eine Option. Selbst die Möglichkeit eines Blutrausches stand im Raum, doch davon würden sie höchstens aus der Zeitung erfahren.

Ein Lächeln umspielte Graces Lippen. Nun, da Becca frei war, schien die nahe Zukunft unberechenbar.

Sie schob den fast schon aufregenden Gedanken zur Seite und konzentrierte sich wieder auf die Aufnahme, die im Schnelldurchlauf vor ihr ablief.

In der Halle auf dem Bildschirm war es endgültig dunkel geworden. Auch durch die Dachfenster fiel kein Licht mehr auf den Betonboden darunter.

Erst ein paar Stunden nachdem Christoph gegangen war, wurde das Tor erneut geöffnet.

Ohne es zu merken, beugte Grace sich ein wenig näher zum Monitor, als könnte sie dann besser sehen, was als Nächstes geschah. Autoscheinwerfer beleuchteten die Halle und Alex trat ein. Grace erstarrte. Nicht, dass sie Alex diesen Verrat nicht zugetraut hätte, aber woher wusste er von dieser Halle? Steve und Christoph hatten sich alle Mühe gegeben, das Projekt vor ihm zu verheimlichen.

Zwei Pick-ups, deren Fahrer Grace nicht kannte, folgten ihrem Ex-Verlobten nach innen. Sie runzelte die Stirn. Wie lange arbeitete er schon mit Leuten aus Los Angeles zusammen? Wie war er mit ihnen in Kontakt geraten? Waren es Wölfe, oder einfach Handlanger?

Sie verlangsamte die Aufnahme erst, als Alex Beccas Zelle betrat, und schaltete auf Standbild, als er mit der Frau im Arm wieder herauskam.

Sie presste ihre Lippen vor Wut zusammen, zwang sich dann aber, ruhig durchzuatmen. Eigentlich war es egal. Nein, besser, denn es kam ihr gelegen. Mit diesen Bildern hatte sie Alex wieder in der Hand. Es galt nur noch, den richtigen Zeitpunkt für ihren nächsten Schachzug abzuwarten.

Bei dem Gedanken besserte sich ihre Laune deutlich.

Vergnügt öffnete sie die Schublade, in der sich der Laptop mit den Daten befand, und entfernte die Kabel, die ihn mit Strom versorgten. Dieses Druckmittel würde sie um keinen Preis hierlassen.

Ihr nächster Weg führte sie in das mit Planen abgetrennte Labor. Dort entfernte sie die Festplatte ihres PCs, ehe sie die Proben aus einem Kühler entnahm. Diese hatte sie den Wölfen abgenommen, um die Veränderung in ihrem Blut zu dokumentieren. Dass die Tiere weg waren, hieß gar nichts. Sie würde ihre Forschung trotzdem fortsetzen, und vielleicht gab es für den ein oder anderen doch noch einen Weg der Heilung.

Zufrieden sah sie sich um. Jetzt blieb nur noch, einen Anruf zu tätigen, damit Christoph ein Team zur Spurenbeseitigung schickte. Sobald die mit der Lagerhalle fertig wären, wären auch die letzten Hinweise verschwunden, die vielleicht noch in ihre Richtung deuteten.

Grace brachte den Laptop ins Auto und setzte sich hinters Steuer. Im Rückspiegel überprüfte sie, ob ihr Lippenstift noch saß, ehe sie zu ihrem Telefon griff.

Sie war froh, dass sie weder Christoph noch ihrem Vater persönlich mitteilen musste, was passiert war. Ihre eigene Arbeit war unangetastet, doch die der beiden schien verloren. Sie glaubte kaum, dass auch nur einer von ihnen es allzu gut aufnehmen würde.

Tief Luft holend wählte sie Christophs Nummer aus ihren Kontakten. Erst nachdem es einige Male geklingelt hatte, hob er ab.

»Was willst du?« Er klang, als hätte sie ihn geweckt. Kein Wunder, die Sonne ging gerade erst auf und er hatte am Vorabend nach billigem Parfüm und Alkohol gerochen. Wie damals, als er sich Trish angelacht hatte. Hoffentlich hatte er das neue Flittchen nicht auch noch geschwängert.

»Die Testobjekte sind weg«, erwiderte Grace mitleidlos. Sie wusste, dass sie gelassener klang, als sie war. Doch vor ihrem Bruder konnte sie sich keine Schwäche eingestehen.

»Was?« Verständnislosigkeit schwappte durch die Telefonverbindung.

»Die Tiere in Halle Drei. Jemand hat sie befreit.«

Sie konnte regelrecht hören, wie die Müdigkeit von ihrem Bruder abfiel. »Verdammt!«

Grace zuckte bei seinem Tonfall zusammen und beeilte sich, weiterzusprechen, damit sie das Gespräch schnell beenden konnte. »Ich habe sowohl die Proben dabei als auch die Daten, die ich brauche, und bringe sie an einen sicheren Ort. Kümmerst du dich darum, dass Vater es erfährt?«

Christoph knirschte hörbar mit den Zähnen.

Diese Aufgabe ihm zu übertragen war eine reine Sicherheitsmaßnahme: Steve würde außer sich sein und Grace dachte nicht daran, diejenige zu sein, an der beide Männer ihre Wut ausließen. Besser, sie gingen sich gegenseitig an die Gurgel.

Nun klang es fast, als würde ihr Bruder knurren. Sie konnte es verstehen. Sein Projekt war noch nicht abgeschlossen, irgendwer hatte ihm sein Spielzeug weggenommen und obwohl er selbst nichts für das Verschwinden der Tiere konnte, würde Steve die Schuld ihm, seinem ältesten Sohn, geben.

»Christoph, kümmerst du dich auch um die Spurenbeseitigung?«, setzte sie ihre zweite Frage hinterher, auch wenn sie stattdessen lieber aufgelegt hätte.

Sie hörte, wie er tief durchatmete, nur um dann mit einer gefährlich freundlichen Stimme zu antworten: »Ja, natürlich, Liebes. Ich kümmere mich um alles.«

Liebes. Ein kalter Schauer lief Grace über den Rücken. Es war die Phrase, die Christoph nur zu zwei Gelegenheiten benutzte: Wenn er mit einem Testobjekt arbeitete oder wenn kalte Wut in ihm brannte.

Sie erwiderte nichts mehr, sondern legte endlich auf und nahm sich vor, ihm in nächster Zeit aus dem Weg zu gehen.

 

***

 

»Wo warst du gestern Abend?«

Christoph stellte die Frage, noch während er in das Zimmer stürmte, was auch das letzte bisschen Schlaf von Eliza abschüttelte. Sie streckte den Kopf unter der dünnen Decke hervor und während sie sich die blonden Locken aus dem Gesicht strich, musterte sie ihn aus zusammengekniffenen Augen.

Der Jäger hatte sich bedrohlich über dem Bett aufgebaut, jedoch entglitt ihm sein Gesichtsausdruck, als er Eliza erkannte. Verdutzt sah er auf sie herunter, anscheinend unsicher, ob sie sich nicht doch noch in Alex verwandeln würde.

»Was willst du?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage und gähnte unbeeindruckt des morgendlichen Besuchers.

Als wäre es vollkommen alltäglich, dass Christoph in ihr Schlafzimmer einbrach. Andererseits sah auch sein Haar aus, als hätte es heute noch keinen Kamm gesehen. Verwuschelt standen die braunen Strähnen in alle Richtungen ab.

»Wo ist Alex?« Sein Ton hatte an Schärfe verloren, doch sein Blick huschte wachsam umher, als würde er erwarten, dass sein Ziehbruder sich im Badezimmer oder gar im Schrank versteckte.

Was hatte Alex nun schon wieder angestellt?

»Kannst du dich erstmal für eine Frage entscheiden? Entweder wo ich gestern war oder wo Alex jetzt ist«, kaufte Eliza sich Zeit, während sie weiter die kleinen Hinweise beobachtete, die Christophs Nervosität anzeigten. Die meisten hatten Probleme damit wahrzunehmen, was den Jäger wirklich bewegte, doch es war ihm nie lange gelungen, seine Emotionen auch vor ihr zu verbergen. Allerdings galt das in beide Richtungen und Christophs Augen verengten sich in dem Moment, in dem ihm klar wurde, dass sie ihn hinhielt. Seine Nervosität schlug wieder in Wut um.

»Eliza, sag mir einfach, was ich wissen will«, knurrte er gereizt.

Eliza ließ sich von seinem Gehabe nicht beeindrucken. Sie streckte sich erst einmal ausgiebig. Die hauchdünne Decke deutete mehr von ihrem Körper an, als sie verhüllte, und die Jägerin hatte vor, diesen Umstand für sich zu nutzen.

»Ich war gestern Abend mit Alex im Dojo«, antwortete sie schließlich mit einem Schulterzucken. »Es ist etwas hitziger geworden und irgendwann haben wir unser Training zwischen die Laken verlegt. Aber das ist etwas, das ich dir nicht näher erklären muss, oder?« Die Jägerin wusste nicht, was sie zu dieser Lüge verleitet hatte, doch allein Christophs ungläubiges Gesicht war es wert. Sie setzte sich auf und lächelte Christoph möglichst unschuldig an. »Und wo Alex heute Morgen ist, kann ich dir nicht sagen. Ich habe wohl verschlafen. Normalerweise bin ich um diese Zeit schon im Wald und laufe meine Runde.«

Das wiederum war die Wahrheit. Sie hatte keine Ahnung, wo Alex sich gerade befand. Allerdings hoffte sie, dass er nicht zu den Wölfen gegangen war. Über einen Ausrutscher konnte sie schweigen, einen weiteren würde sie melden müssen. Sie schluckte nervös. Ihr Gesicht neigte dazu, sie bei jeder Lüge bloßzustellen. So dicht wie möglich an der Wahrheit zu bleiben und Christoph mit der Umgebung abzulenken, war die einzige Chance, mit ihrer Flunkerei durchzukommen. Also schlug Eliza die Decke zurück und stand auf. »Und genau das werde ich jetzt nachholen. Das heißt, du musst den ersten Kurs übernehmen. Es ist zwar nur eine Anfängergruppe, die Krav Maga lernen will, aber es sind ein paar vielversprechende Kerle dabei. Und seien wir ehrlich: Keiner möchte mich mies gelaunt auf die Neuen loslassen, die du noch als Fußsoldaten rekrutieren willst.«

Christophs Blick glitt an Elizas Körper entlang. Sie wusste genau, was er sah. Verwuschelte Haare, nackte Beine, ein T-Shirt seines Ziehbruders, das sich wie eine Eroberungsflagge um ihren Körper schmiegte. Absolut nichts deutete darauf hin, dass Schlafen das Einzige war, was sie und Alex in diesem Bett gemeinsam taten.

»Eliza, sag mir bitte Bescheid, wenn du was von Alex hörst. Es ist wichtig.« Christophs Stimme war nun eindringlich. Wieder hatte er seine Taktik geändert. Die Wut, von der sie wusste, dass Christoph sie gerne wie ein Schutzschild zur Schau stellte, schien leiser Sorge gewichen zu sein, während er ihre Bitte gekonnt ignorierte. Sie konnte jedoch nicht zuordnen, ob ihr Gegenüber sich um Alex oder um sich selbst Gedanken machte. Vielleicht lag sie aber auch falsch und er versuchte lediglich, sie zu manipulieren.

Ohne Christophs Anwesenheit weiter zu beachten, drehte sie sich von ihm weg, hin zur Kommode, in der ihre Sachen verstaut waren. Sie öffnete die oberste Schublade, schob unauffällig den zusammengefalteten Zettel von ihren Sportsachen und fischte stattdessen eine der Laufhosen heraus.

»Was ist jetzt, übernimmst du meinen Kurs?«, fragte sie in einem genervten Tonfall, während sie auch ein frisches Shirt und einen Sport-BH aus der Schublade zog. Wenn der Jäger mit wechselnden Emotionen zum Ziel kommen wollte, konnte sie ohne Probleme in das Spiel einsteigen.

»Ich habe keine Zeit dafür«, wehrte Christoph ab. Jetzt, wo sie ihn sich genauer ansah, wirkte er gehetzt. Seine Blicke wanderten immer wieder zu seiner Armbanduhr, als würde ihm die Zeit davonlaufen. Fehlte nur noch, dass er seinen Vater vorschob.

»Dann sage ich die Krav Maga Stunde ab.« Sie schob die Lade mit ihrer Hüfte zu und wandte sich gleichgültig zu ihm um. »Schade, weil dir damit ein paar vielversprechende Rekruten durch die Lappen gehen.«

Sie wussten beide, dass das eine Katastrophe wäre. Wenn die erste Stunde ausfiel, würde das ein unseriöses Licht auf das Dojo werfen und gut die Hälfte der Interessierten würde nicht wiederkommen. Selbst wenn kein Jägermaterial dabei war, diente das Trainingscenter noch immer als gewinnbringende Tarnung, während sie hier versuchten, Struktur in die amerikanischen Jäger zu bringen.

Christoph fluchte. »Na gut, aber du schuldest mir was. Und wenn du was von Alex hörst, sagst du mir sofort Bescheid!«

»Dir Bescheid zu geben wird wie immer meine oberste Priorität sein.« Sie verbarg den sarkastischen Unterton erst gar nicht. Er war selbst schuld, dass er sie geweckt hatte.

Christoph ignorierend, drehte sie sich wieder ihrer Kommode zu. Eliza schlüpfte aus ihrem Shirt, um sich stattdessen den Sport-BH und die Laufhose anzuziehen.

Das Geräusch von leisen Schritten, gefolgt vom Klicken der sich schließenden Tür, verriet ihr, dass Christoph gegangen war.

Sie ließ das Top, welches sie gerade in die Hand genommen hatte, fallen und riss die Schublade wieder auf.

Der Zettel war von Alex. Er wusste nur zu gut, dass sie ihn hier finden würde, ohne dass ein überraschender Besucher ihn zuvor in die Hände bekam. Hin und wieder benutzte er also doch seinen Kopf.

Die Nachricht war kurz:

 

Sean ist tot. Er ist nicht im Kampf gestorben. Habe den nächsten Flug nach Frankreich genommen, bin am Freitag wieder da.

 

Eliza wurde schlecht. Blass setzte sie sich auf das Bett und las den Zettel ein weiteres Mal. Sean. Einer der Jäger, die ihre mysteriöse Krankheit teilten.

Er war auch ihr Freund gewesen; und der von Christoph. Alex hatte kein Recht gehabt, alleine zu fliegen.

Sie zerknüllte den Zettel und schleuderte ihn wütend in die Ecke. Sean war zwei Jahre jünger als sie gewesen. Wie konnte es sein, dass er tot war?

Sie schloss die Augen und wartete ab, bis die Tränen nicht länger damit drohten, auszubrechen.

Das Bitterste daran war: Der Kampf, den er verloren hatte, stand ihr noch bevor. Wenn die Forschungsabteilung keine neuen Erkenntnisse fand, würden sie und Alex genauso verlieren wie er. Das Leben der meisten Jäger war kurz, aber ihres war gerade noch ein wenig kürzer geworden.

Eliza stand auf. Sie hob den Zettel vom Boden und schob ihn in die Tasche ihrer Hose. Sie würde laufen. Ein Lauf durch den Wald hatte schon immer ihre Emotionen beruhigt.

Kapitel 2

 

King hob den Kopf, nur um ihn augenblicklich wieder auf das Sofapolster sinken zu lassen. Sein Schädel dröhnte. In seinen Ohren klingelte es und die Welt schien sich konstant zu drehen. Er schloss die Augen, in der Hoffnung, sie damit anhalten zu können, doch der Geruch nach Bier und Wodka stieg ihm in die Nase und verstärkte seine Übelkeit noch mehr.

Immerhin. Die Befreiungsaktion war ein Erfolg gewesen. Becca war wieder zu Hause und die Jäger hatten keine Ahnung, wer sie gerettet hatte. Ob Cage schon davon erfahren hatte? Bestimmt. Es war unmöglich, etwas vor dem Alpha des Rudels geheim zu halten.

Mühsam drehte King sich auf den Rücken, eine Entscheidung, die er sofort bereute. Obwohl das Licht der ersten Strahlen noch lange nicht die übliche Intensität der Sonne von Los Angeles erreicht hatte, schien es sich doch durch seine Augenlider zu brennen.

Vorsichtig blinzelte er, doch der Raum um ihn herum festigte sich im Dunst der Alkoholnachwirkung nicht wirklich. Er stöhnte.

Alles nur, um seinen Vater davon zu überzeugen, dass er nichts mit dem Verschwinden der Daichin-Alphas aus dem Lager der Jäger zu tun hatte.

Um den Schein zu wahren, hatte King den Alkoholkonsum nachgeholt, den er der Öffentlichkeit am Vorabend zuerst nur vorgespielt hatte. Zusammen mit Jonah hatte er gefeiert, aber trotz ihres Sieges war der fade Nachgeschmack geblieben. Cassidy hatte von ihm das bekommen, was sie sich am meisten gewünscht hatte: Sie hatte ihre Alpha zurück. Die Tante, die sie vergötterte.

Dafür hatte er Cassidy verloren.

King schloss die Augen wieder, nicht fähig, dem Schmerz zu widerstehen, den die Welt heute für ihn bereithielt. Aber zumindest für den Augenblick hatte der Alkohol ihn genug betäubt, um die Gedanken an die weiße Wölfin zu verdrängen.

King hatte sich regelrecht in die Bewusstlosigkeit getrunken, mit dem festen Vorsatz, die nächsten Tage das Haus nicht zu verlassen. Trotzdem wünschte er sich in diesem Moment, er hätte mehr getrunken, denn noch immer jagten ihn die Gedanken.

»Willst du nicht rangehen?«, fragte Jonah verdächtig gut gelaunt.

»Was?«

»Das Telefon. Es klingelt schon seit einer Stunde immer wieder.«

King blinzelte und hob unter Anstrengung den Kopf vom Sofakissen, um nach seinem Freund zu sehen. Jonah stand in der Küche. Seine Haare waren noch feucht von der Dusche und nichts deutete darauf hin, dass er am Vorabend mindestens genauso viel getrunken hatte wie King selbst.

Elende Clanmacht. Zwar war er noch immer der Warith des Clans, doch den Zugriff auf die Heilung verwehrte sein Vater ihm weiterhin. Jonah hatte dieses Problem nicht.

»Ich hasse dich«, grummelte der Warith der Nekare in Richtung seines Freundes und bewegte sich in eine sitzende Position. Doch selbst die Zeitlupe, die er sich zugetraut hatte, war zu schnell. Der Druck in seinem Kopf schwoll an und zwang ihn fast wieder auf die Kissen.

Doch Jonah hatte recht. Das Klingeln, das er hörte, war gar nicht in seinem Kopf. Es war das Klingeln des Telefons. Ungewohnt, denn eigentlich rief niemand auf dem Festnetz an. Leider schien dies keiner dem penetranten Anrufer mitgeteilt zu haben. »Warum gehst du nicht dran?«

»Nichts Gutes passiert, wenn man an ein Festnetztelefon geht«, erwiderte Jonah gelassen. »Davon abgesehen: Es ist dein Anschluss, nicht meiner.«

King zog eine Grimasse, quälte sich torkelnd durch den Raum und hob ab.

Rückwirkend wäre es vermutlich klüger gewesen, mit dem Stechen zu leben, das der penetrante Ton in seinem Kopf verursachte, oder das Kabel aus der Wand zu reißen. Die persönliche Assistentin seines Vaters war in ihrer Beharrlichkeit nämlich nicht weniger anstrengend. Vermutlich einer der Gründe, warum sie auch nach fünf Jahren noch für Cage arbeitete. Sie machte King klar, dass sein Vater ihn erwartete. Sofort. Keine seiner Ausreden schien sie zu beeindrucken und schließlich stimmte er seinem unausweichlichen Schicksal zu.

Jonah war so gnädig zu warten, bis King ebenfalls in den Aufzug gestiegen war. Vielleicht wollte er aber auch nur sichergehen, dass sein Freund den Weg zum Aufzug überhaupt fand. Er würde ihn nicht begleiten, auch wenn King es sich wünschte, denn Jonah kehrte heute als Geisel zu den Hazima zurück. Nachdem er die Nacht schon außerhalb des ihm zugestandenen Bereichs verbracht hatte, war es dringend nötig, sich dort heute sehen zu lassen. Allein schon, um den Schein zu wahren – so wie alles, was sie gerade taten, nur diesem einen Zweck diente.

King selbst hatte nicht mehr das Glück, in einem fremden Clan zu wohnen. Stattdessen musste er bei seinem Vater antanzen. Alleine. So früh am Morgen bedeutete das nie etwas Gutes.

Während Jonah auf seine Triumph stieg, um zu Tyson zurückzukehren, nahm King sich ein Taxi und fuhr zum Glasturm. Mit etwas Glück hatte Cage doch irgendwie erfahren, dass es sein Sohn gewesen war, der die Geiseln aus dem verhassten Clan befreit hatte, und richtete ihn wortlos hin. Dann wären zumindest die Kopfschmerzen und der Kater nicht länger ein Problem.

Oder Cassidy.

King wusste, dass er mit ihrer Rettung den Plan seines Alphas ganz schön durcheinandergebracht hatte. Cage hatte davon geträumt, den Clan der Daichin zu übernehmen, indem er Cassidys Willen mit Hilfe der Jäger brach und sie dazu zwang, Cage die Treue zu schwören. Sie hätte ihn zu ihrem Warith gemacht. Und dann, das wusste jeder, hätte er sie umgebracht, damit ihre Clanmacht auf ihn überging.

Nach der Aktion, bei der King sie seinem Vater ausgeliefert hatte, würde sich Cassidy zum Glück hüten, auch nur in die Nähe des Clangebiets zu kommen. Damit war sie außer Reichweite und in Sicherheit. Vorerst zumindest.

***

Die Aufwärtsbewegung des Fahrstuhls verschlimmerte die Übelkeit, die schon während der Fahrt immer penetranter geworden war. Allerdings war King sich sicher, dass der Fahrer eine höllische Freude dabei empfunden hatte, möglichst schnell um jede einzelne Kurve zu fahren.

Mit einem Ping öffneten sich die Türen und King stolperte in den marmornen Vorraum.

Erleichtert darüber, Boden unter den Füßen zu haben, der sich nicht bewegte, torkelte er durch die Halle und auf direktem Weg in Cages Büro. Er hielt sich nicht damit auf, darauf zu warten, dass er hereingebeten wurde, sondern stolperte sofort hinein und ließ sich auf einen der Besucherstühle fallen. Gott allein wusste, wie er es in diesem Zustand wieder nach Hause schaffen sollte.

Die Stühle waren neu. Noch unbequemer als die Letzten. Scheinbar hatte Cage sich nach dem letzten Zwischenfall dazu entschlossen, nicht nur das Blut entfernen zu lassen, sondern die ganze Einrichtung auszutauschen. Der Gedanke an den Jäger, der Cassidy fast getötet hatte, weckte Kings Wut. Für einen Moment lenkte sie ihn ab, doch der Geruch von Neuwagen, der von den neuen Stühlen aufstieg, holte ihn in die Gegenwart zurück und schlug King weiter auf den Magen. Die Übelkeit zähmte ihn schneller, als eine kalte Dusche es gekonnt hätte.

Die Welt drehte sich karussellartig.

So viel zu festem Boden.

Er stützte sein Gesicht in seinen Händen ab und betete, dass es aufhörte. Betete, dass er aufwachte und bei Vanessa in dem kleinen Zimmer war, nur eine Wand entfernt von Cassidy. Oder besser noch, im gleichen Bett.

Wie ertrugen die Menschen es, sich jedes Wochenende in den Clubs zu betrinken, wenn der Preis dafür Leiden am nächsten Tag bedeutete? Hassten sie sich selbst so sehr? Oder sahen sie es als gerechte Strafe für ihre zahllosen Fehler?

Der Gedanke an seinen letzten Morgen mit Cassidy schoss ihm durch den Kopf. Er hatte in der Nacht davor ebenfalls getrunken gehabt, aber soweit er sich erinnerte, war der Kater ausgeblieben. Warum?

»Ich würde dir ja einen Stuhl anbieten, aber du hast dich ja schon selbst bedient.« Die schneidende Stimme seines Vaters ließ King zusammenzucken. King verscheuchte die Frage nach der unerwarteten Heilung. Er knurrte stattdessen und sah auf, seinem Vater direkt in die Augen. Sie waren genauso grün wie seine eigenen und machten es Cage unmöglich zu leugnen, dass er sein Vater war.

»Kann ich nicht einmal einen Tag Ruhe haben? Ich habe dir die kleine Daichin doch geliefert.« Es zerriss ihn fast, in diesem herablassenden Ton über Cassidy zu reden. Doch es war genau das, was von ihm als Warith der Nekare erwartet wurde.

»Darüber wollte ich mit dir sprechen.« Die Schärfe war aus Cages Stimme verschwunden und etwas gewichen, das King einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Unsicher runzelte er die Stirn, während sein Vater mit fürsorglicher Stimme weitersprach. »Die Halle, in der wir die Alpha der Daichin gefangen gehalten haben, ist abgebrannt.«

Abgebrannt? Ein Zittern durchlief Kings Körper. Der Gedanke, dass Cassidy ohne ihren Plan noch in der Halle gewesen wäre, verstärkte seine Übelkeit. Und auch, wenn er wusste, dass der Brand wahrscheinlich dazu gedient hatte, die Spuren zu vertuschen, übernahmen seine Reflexe. Zusammen mit der Übelkeit seines Katers reagierte sein Körper auf die Vorstellung von Cassidy, die in Flammen stand. Der Warith zog in letzter Sekunde den Designermülleimer zu sich, der eher als Dekoration diente, als nützlich zu sein, und übergab sich. Er krallte sich an dem metallenen Rand fest und würgte geräuschvoll. Ihr Plan hätte Cassidy fast getötet. Er hätte fast Cassidy getötet.

King war dankbar, Cage in diesem Moment nicht ansehen zu müssen. Er kannte seinen Alpha gut genug, um zu wissen, dass er jede Reaktion beobachtete und die Besorgnis in seiner Stimme kaufte er ihm nicht ab.

»Herrgott, King, das ist widerlich«, herrschte Cage seinen Warith an.

King hob den Kopf aus dem Eimer und sah in das vor Ekel verzogene Gesicht seines Vaters.

»Sie ist tot? Ich habe sie umgebracht?« Ein weiteres Würgen schüttelte seinen Körper, ließ seine Überraschung über diesen Unfall glaubwürdig wirken. Tonlos stammelte er die nächste Frage: »Ich habe eine Alpha auf dem Gewissen?«

Die Blässe, die ebenfalls eine Nebenwirkung der Alkoholvergiftung war, würde ihm jetzt helfen.

In diesem Moment erbarmte sich Cage seines Sohnes. »Nein. Die Halle wurde angezündet, um das Verschwinden meiner Gefangenen zu verschleiern. Sie ist letzte Nacht geflohen und ich weiß nicht, wie.«

King atmete auf.

Verärgert fuhr der Alpha fort: »Kein Grund, erleichtert zu sein. Mir wäre es lieber, sie wäre tot. Wir wissen nicht, wo sie ist oder wie sie es angestellt hat. Im Moment ist sogar unklar, ob die Jäger uns hintergangen haben oder ob das Miststück uns einfach nur vorführt.«

»Tot nützt sie dir auch nichts«, warf King ein. »Wer weiß, welchen Wolf die Aleashira als Nächstes gewählt hätte, wenn Cassidy gestorben wäre. Wenn sie lebt, haben wir immerhin noch eine Chance, dass wir sie irgendwie umdrehen können. Die Daichin sind noch nicht verloren für dich.« Selbst in seinen Ohren klang es lahm. Die eine Chance, die Cage gehabt hatte, war durch Cassidys Flucht vereitelt worden. Und noch schlimmer: Anstatt Cassidy auf die Seite der Nekare zu ziehen, wie es Kings Auftrag gewesen wäre, hatte die Alpha King auf ihre Seite gezogen. Ein Versagen, von dem Cage niemals erfahren durfte.

»Mein Plan funktioniert nicht, wenn keiner von uns Zugriff auf sie hat. Aber den Daichin gehen langsam die Wölfe aus, die das Zeug zum Alpha haben. Wer auch immer als Nächstes an der Reihe gewesen wäre, hätte vielleicht nicht so penetrant darauf bestanden, den Clan zu behalten. So oder so. In der ganzen Angelegenheit bist du der Einzige, der mich nicht enttäuscht hat.«

King versteifte sich. Das war ein Satz, den er von seinem Vater noch nie gehört hatte, einer, den zu hören er nie gehofft hätte, und für einen Moment überkam ihn ein schlechtes Gewissen.

Ein stechender Schmerz fuhr in Kings Kopf und ließ ihn stöhnen, doch im nächsten Moment war er wieder fort und auch sein Magen beruhigte sich augenblicklich. Die Clanmacht hatte die Vergiftungserscheinungen eliminiert.

King konnte es nicht glauben. Sein Alpha hatte ihm vergeben und ihm den Zugang zur Clanmacht wieder gewährt?

»Schau nicht so überrascht, du bist immerhin mein Sohn.«

Cage öffnete die Schublade und holte einen kleinen Karton heraus. Er schob ihn über den Tisch zu King hinüber, der das Logo der Firma sofort erkannte.

»Ein neues Handy? Ich bin keine dreizehn mehr, ich kann mir so etwas mittlerweile selbst kaufen.« Trotz der Einwände befreite King den Apparat aus seiner Verpackung.

»Wozu? Die Firma hat etliche der neuesten Generation auf Reserve. Ich habe es von der IT gleich einrichten lassen wie dein Voriges, auch deine Nummer hat sich nicht verändert. Versuch einfach, es nicht gleich in irgendeinen Kanal zu werfen.«

King schaltete es ein, stand auf und schob das Handy in seine Hosentasche. Er war sich sicher, dass es genauso verwanzt war wie das, das er gestern Abend zerstört hatte. Im Moment mochte Cage ihm vielleicht über den Weg trauen, doch sein Vater hatte schon immer mehr von Kontrolle gehalten als von Vertrauen.

King schüttelte den Kopf, als er an den Peilsender in seinem Arm dachte. Sie hatten ihn herausgeschnitten, um seine Abwesenheit am vorherigen Abend zu verschleiern. Anstatt ihn wieder einzusetzen, trug er ihn nun an einer Kette um den Hals. Hauptsache Cage glaubte zu wissen, wo er sich befand.

»Sag mir Bescheid, wenn du was Neues erfährst. Ich wüsste zu gerne, wo Cassidy steckt«, verabschiedete King sich.

Cage brummte etwas, das eine Zustimmung sein konnte. Dem Warith brannte es unter den Fingernägeln, noch etwas zu sagen, doch sein Vater hatte sich wieder dem Monitor seines PCs zugewandt. Ein deutliches Zeichen, dass er dieses Gespräch für beendet ansah.

Seufzend ging King zur Tür.

Jetzt, wo der Kater verschwunden war und er wieder halbwegs gerade denken konnte, musste er dringend einen Weg finden, sich seinem Alpha wieder anzunähern.

Was würde Cage von ihm erwarten, was er als Nächstes tat?

Er sah auf das neue Handy und grinste. Kaum, dass die Bürotür hinter ihm zugefallen war, tippte er eine Nachricht an Jonah:

 

Hab von Cage ein neues Handy bekommen. Cassidy ist verschwunden. Unklar ob Flucht oder Verrat der Jäger.

 

Den Verdacht weiter von sich abzulenken konnte schon mal kein schlechter Anfang sein und mehr als diese Nachricht brauchte es nicht, um seine Glaubwürdigkeit zu untermauern. Cage trackte mit Sicherheit auch bei diesem Handy jedes Gespräch mit, und es wäre seinem Vater bestimmt seltsam vorgekommen, hätte King diese Information nicht sofort mit Jonah geteilt.

 

***

 

Sie wollte die Augen nicht öffnen. Nicht den neuen Tag begrüßen und nicht darüber nachdenken, was sie alles geopfert hatte. Stattdessen drehte Cassidy sich um und kuschelte sich noch einmal in ihre Decke. Die Umarmung des Stoffes verschaffte ihr nicht den erhofften Trost. Zwar haftete der Geruch von King noch leicht an ihrem Kissen, doch er war nur noch eine vage Erinnerung, die bereits von neuen Gerüchen überdeckt wurde. Helen hatte nicht zugelassen, dass Cassidy die Nacht alleine verbrachte, und sich kurzerhand zu ihr ins Bett gekuschelt, um ihr den Trost zu spenden, den nur die Anwesenheit eines anderen Menschen geben konnte.

Am Morgen war Cassidy jedoch alleine aufgewacht. Luxus, wenn man bedachte, dass ihr Bett eigentlich nicht breit genug für zwei ausgewachsene Personen war. Dafür fühlte sie sich taub, als wäre sie in Watte gepackt. Die Auswirkungen ihres Handelns waren noch nicht vollständig in ihrem Verstand angekommen und über ihren Gedanken hing immer noch der Schleier der Verdrängung.

Helen hätte drüben bei Tyson im Haus bleiben können, wo sie wohnte, seit die Jäger das Motel der Daichin gestürmt hatten. Dank der vielen Daichin im Gebiet der Hazima war Cassidy, die ursprünglich als Geisel hierhergekommen war, wenigstens nicht mehr allein in dem ihr immer noch fremden Clan. Seit gestern war auch Becca wieder dazugekommen. Sie hatten sie ebenfalls bei Tyson untergebracht und Helen hatte nicht nur Cassidy trösten, sondern auch ihrer Alpha die nötige Ruhe geben wollen.

Ihrer ehemaligen Alpha, verbesserte Cassidy sich selbst. Es war unwahrscheinlich, dass Becca dieses Amt jemals wieder übernehmen konnte. Sie war zwar nicht tot, wie sie zuerst geglaubt hatten, aber der Wolf in ihrer Tante war weg und die Clanmacht beachtete die geschundene Frau nicht weiter.

Sah also nicht so aus, als könnte Cassidy die Verantwortung so schnell wieder abgeben.

»Becca ist zu Hause«, flüsterte Cassidy und zwang sich dazu, die Augen zu öffnen. Sie starrte an die Tapete, die an dieser Stelle so abgerieben war, dass man schon die Wand darunter erahnen konnte.

»Becca ist zu Hause«, wiederholte sie und schob die Decke von ihrem Körper. Cassidy weigerte sich, daran zu denken, welchen Pakt sie mit King eingegangen war. Weigerte sich, an seinen letzten Blick zu denken, an den letzten Kuss.

»Becca ist zu Hause«, sagte sie ein drittes Mal und setzte sich auf. »Und das ist alles, was zählt.«

Das Schluchzen, das sie unterdrückte, strafte ihre Worte Lügen. Schlussendlich hatte Cage doch gewonnen. Sie hatte King gegen Becca getauscht und mit ihm war etwas gegangen, an das sie nie geglaubt hatte. Er hatte ein Stück von ihr selbst mitgenommen und nichts konnte es ersetzen.

Die eine Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, würde sie in den Augen der Nekare zu seiner Trophäe machen. Etwas, das sie nie hatte sein wollen. Dass er sie ausgeliefert hatte, würde seinen Status im Clan stärken. Viel wichtiger, es würde ihn vor seinem Vater stärken, der keinen Grund mehr hatte, seine Treue anzuzweifeln.

Cassidy schlüpfte in Shorts und ein Top und verdrängte den Gedanken an King. In den nächsten Tagen würde sie auch ohne den Warith der Nekare genug zu tun haben. Mit etwas Glück genug, um ihn zumindest zeitweise aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie überprüfte ihr Handy, doch wie erwartet zeigte das Display keine neue Nachricht. Von wem auch? Helen hatte bei ihr geschlafen. Tory, Cassidys Mutter, kümmerte sich zusammen mit Tyson um die gebrochene Alpha und King ... Sie stockte bei dem Gedanken. King würde ihr in nächster Zeit nicht schreiben. Sie würden gar nicht miteinander schreiben, zumindest nicht, solange es keine Clanangelegenheiten betraf.

Cassidys Blick glitt zur Wanduhr, deren Zeiger mit leisem Ticken unermüdlich voran rückten. Ob Valerie schon da war? Bestimmt. Sie hatte die Ärztin noch in der Nacht angerufen und sie gebeten, sich Becca anzusehen. Sie wollte Gewissheit darüber, wie es ihrer Tante ging. Sie vertraute dem Tierarzt zwar, den die Hazima für solche Fälle riefen, aber die auf menschliche Chirurgie spezialisierte Daichin war trotzdem ihre beste Option. Vor allem jetzt, da Beccas Wolf verschwunden war.

Wieder ein Gedanke, den Cassidy vertrieb, ehe sie die Bürste durch ihr dunkles, lockiges Haar zog. Prüfend sah sie in den Spiegel. Trotz der Clanmacht konnte sie die dunklen Ringe unter ihren Augen sehen. Sie lachte freudlos. Die Aleashira heilte nun einmal keine Verletzungen, die man sich selbst zufügte. Und in diesen Schlamassel hatte sie sich ganz alleine katapultiert.

Cassidy straffte ihre Schultern. Es war Zeit, sich dem neuen Tag zu stellen.

Kapitel 3

 

Es kam für Valerie nicht oft vor, dass die Alpha ihres Clans mitten in der Nacht anrief und die Ärztin darum bat, in ein fremdes Territorium zu fahren. Schon gar nicht, um einen unbekannten Patienten zu behandeln. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete, und sie hatte auch nicht gefragt. Cassidy hatte sie gebeten, zu kommen, und seinem Alpha schlug man so eine Bitte nicht ab. Dehydration und Unterernährung. Das waren ihre einzigen Informationen, aber das war genug, um zu wissen, welche Utensilien sie mitbringen musste.

Sie parkte ihren Jeep auf der Straße vor Tysons Garten und rieb sich müde über die Augen. In der Nachtschicht war die Hölle los gewesen. Man hätte meinen können, dass die Leute in einer Sonntagnacht vorsichtiger waren, gerade wenn man bedachte, wie schnell sie kaputt gingen. Trotzdem war sie kaum aus dem OP herausgekommen.

Sie atmete durch und stieg aus, ehe sie die große Sporttasche vom Rücksitz nahm. Ein schmaler Weg führte über den Rasenstreifen vor dem Haus direkt zu der Veranda mit der Eingangstür. Sie hatte die oberste Stufe kaum erreicht, als die Tür von innen aufgerissen wurde. Tory stand auf der Schwelle und Valerie wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas Wichtiges verpasst hatte.

Bei den Daichin war allgemein bekannt, dass Tory dem charismatischen Alpha der Hazima aus dem Weg ging, wann immer er auftauchte, um zum Beispiel wie früher für Becca irgendetwas am Motel zu reparieren. Als Cassidy sich bereit erklärt hatte, als Geisel zu den Hazima zu ziehen, hatte man den Streit zwischen Becca und ihrer Schwester bis zu Valerie hinunter ins Erdgeschoss hören können. Torys Worte waren wenig schmeichelhaft gewesen und jeder im Clan war tagelang sowohl der Alpha, als auch ihrer Zwillingsschwester aus dem Weg gegangen.

Obwohl es mehr als ein Gerücht gab, wusste keiner genau, was zwischen den Dreien vorgefallen war. Klar war nur: Tory hatte es Tyson nie verziehen.

»Deine Patientin ist drinnen.« Mehr sagte Tory nicht. Ein harter Zug um ihre Lippen ließ sie älter wirken, als sie war. Sie sah müde aus und ihre sonst geglätteten dunklen Haare wellten sich in einem lockeren Pferdeschwanz. Mit einer kaum wahrnehmbaren Geste deutete sie Valerie den Weg.

Verunsichert durch Torys Verhalten trat die Ärztin ein. Die Rollläden waren halb geschlossen und sperrten die noch schwache Morgensonne größtenteils aus. Nur einige Sonnenstrahlen hatten sich durch die Ritzen verirrt und spendeten gerade genug Licht, dass man überhaupt etwas sah.

»Sie reagiert nicht gut auf das Licht«, erklärte Tory, als sie neben sie trat.

»Wer reagiert nicht gut auf das Licht?«, fragte Valerie gereizt nach. Sie hatte genug von der Geheimniskrämerei. Gleichzeitig sah sie sich in dem schummrigen Licht um und erstarrte, als sie die ausgemergelte Person entdeckte, die auf dem Sofa saß. Eine Decke war über ihre Beine ausgebreitet. Strähnig und nass hingen die Haare herab. Sie wirkten fast schwarz und waren viel kürzer, als die Patientin sie gewöhnlich trug. Ihre sonst sonnengebräunte Haut war so blass, dass sie durchscheinend wirkte, und Valerie konnte deutlich sehen, wie die Knochen sich abzeichneten.

Zu deutlich.

Dehydration und Unterernährung, schoss es ihr durch den Kopf.

Trotz des erbärmlichen Zustandes erkannte sie ihre Alpha sofort. Ihre tote Alpha.

»Becca«, beantwortete sie sich die Frage selbst und wusste nun auch, warum sie versucht hatten, die Identität ihrer Patientin geheim zu halten. Sie schluckte, um ihr Entsetzen zu verbergen. »Was ist passiert?«

Eine Alpha - auch eine ehemalige Alpha – sollte nicht in einen solchen Zustand geraten. Die Clanmacht verhinderte es.

Valeries Wolf sträubte sich, warnte sie davor, näher zu treten. Becca fühlte sich falsch an. Etwas fehlte. Sie saß auf dem Sofa und schien teilnahmslos durch die Anwesenden hindurch zu sehen.

»Die Jäger«, antwortete eine tiefe Stimme hinter ihr und die Ärztin fuhr herum.

Unbemerkt war Tyson aus der Küche getreten. Er hatte eine Tasse dabei, die er vorsichtig mit beiden Händen trug, um sie auf den Wohnzimmertisch vor Becca abzustellen. Bei seinem Anblick wirkte es, als würde diese aus ihrer Trance erwachen. Mit schreckgeweiteten Augen sah sie zu Tyson hoch, dessen braune Augen sie besorgt musterten. Es schien einen Moment zu dauern, bis sie realisiert hatte, wer er war.

»Du musst etwas trinken. Die Brühe tut dir gut, selbst wenn es nur kleine Schlucke sind.« Fürsorge klang in seiner Stimme mit.

Gehetzt sah sie sich um, kam aber der Aufforderung nach und griff nach der Tasse, ehe sie vorsichtig einen kleinen Schluck nahm. Sie schloss die Augen. Ein Zittern lief über ihren Körper.

Langsam näherte Valerie sich ihrer Patientin. Sie hatte in der Notaufnahme schon viel Schlimmes gesehen, doch das waren alles Fremde gewesen. Das hier war Becca. Die Frau, mit der sie als Jugendliche manchmal zusammen abgehangen hatte, mit der sie jahrelang in einem Haus gewohnt hatte. Ihre Alpha, die immer für sie da gewesen war. Valerie stellte ihre Tasche auf dem Tisch ab und setzte sich neben die Patientin, die ihre Augen wieder aufgerissen hatte, aber es vermied, einen der Anwesenden direkt anzusehen.

»Valerie.« Beccas Stimme klang rau, als würde ihr sogar das leise Flüstern Schmerzen bereiten. Es lag Verzweiflung darin, aber auch Erkennen.

»Ich bin hier, um dir zu helfen«, erklärte die Ärztin und musste sich zwingen, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Ich würde dich gerne untersuchen, wenn das okay für dich ist.«

Kaum hatte Valerie die Untersuchung erwähnt, versteifte Becca sich. Etwas Brühe lief aus der Tasse und sie hätte sie vermutlich komplett verschüttet, wäre Tysons Reaktion nur etwas langsamer gewesen. Er nahm ihr den Becher aus der Hand und stellte so sicher, dass sie sich an dem Getränk nicht verbrühte.

Becca zitterte. Sie wagte es nicht, aufzusehen, sondern nickte lediglich steif.

»Ich brauche etwas mehr Licht.« Valerie sah Tyson an. Es war eine Anweisung, keine Bitte. Wenn sie in ihrer Rolle als Ärztin war, war es ihr egal, ob sie sich im Haus eines Alphas befand. Sie hatte eine Patientin und diese hatte Priorität. Dem musste sich auch Tyson unterordnen.

Tyson zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er nickte Tory zu, die den Dimmer der Lampe nutzte, um die Helligkeit im Raum langsam zu erhöhen.

Erst mit dem Licht konnte Valerie die geschundene Haut besser erkennen. Dunkle Blutergüsse zogen sich über Beccas Arme. Sie erkannte tiefe Striemen und kleinflächige Verbrennungen, von denen sich die Haut ablöste. Stromverletzungen? Teilweise war das Gewebe um ihre Handgelenke bereits vernarbt, doch einige der Schnitte waren frisch. Bei einem Menschen hätte sie darauf geschätzt, dass sie nicht älter waren als ein paar Tage.

Gänsehaut lief Valeries Nacken hinab. Bei einem Menschen. Das war es, was das unangenehme Gefühl in ihr hervorrief. Erst jetzt fiel Valerie auf, was ihr Wolf längst gewittert hatte. In diesem Raum war ein Mensch. Was auch immer die Jäger mit Becca angestellt hatten, es hatte ihren Wolf getötet.

»Du heilst nicht«, stellte sie mit belegter Stimme fest und versuchte bei dieser Erkenntnis nicht allzu entsetzt zu klingen. Sie wandte sich Tory zu. »Sie heilt wie ein Mensch, nicht wie eine Alpha.« Bisher hatte sie nur ihre Arme gesehen und sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie der Rest ihres Körpers aussah. »Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.«

»Sie bleibt hier.« Barsch hallte Tysons Stimme durch den Raum.

Becca sackte in sich zusammen, ihre schmale Gestalt wurde noch kleiner. Angestrengt sah sie auf den Boden. Ihre Lippen bewegten sich und sie murmelte vor sich hin, zu leise, als dass Valerie die Worte verstanden hätte, aber es klang wie ein Gebet oder ein Mantra.

»Sie ist eine Daichin, du hast ihr nichts zu sagen«, entgegnete Valerie und stand auf. Schützend stellte sie sich zwischen den Alpha und ihre Patientin. »Ich bin ihre Ärztin und ich sage, sie muss in ein Krankenhaus. Sie wurde misshandelt. Wer weiß, welche inneren Verletzungen sie hat? Wir müssen sie vollständig untersuchen und dann müssen wir sie sorgfältig behandeln. Nur so kann sie wieder gesund werden.«

Sie lieferte sich ein Blickduell mit Tyson. Ihr Wolf winselte und hielt es für keine gute Idee, aber die ganze Situation war ohnehin seltsam. Warum war Becca am Leben? Warum war sie hier? Wer hatte sie so lange versteckt und wer war in der Lage, einem Wolf so etwas anzutun?

»Valerie.« Beccas Stimme war nur ein Flüstern, doch die Ärztin drehte sich sofort wieder zu ihr um. »Ich will hierbleiben, ich kann nicht in ein Krankenhaus gehen, nicht so. Hier wird mich niemand vermuten. Hier bin ich sicher.«

Es klang, als würde sie etwas wiederholen, das man ihr eingetrichtert hatte. In ihrem jetzigen Zustand war schwer zu erkennen, was Becca wollte und was für sie der Weg des geringsten Widerstands war, aber wenn sie sich weigerte mitzukommen, hatte Valerie keine Chance.

Sie unterdrückte ein Knurren und nahm wieder neben ihrer Patientin Platz.

»In Ordnung.« Mit langsamen Bewegungen holte sie ein Stethoskop aus ihrer Tasche und deutete Becca, sich aufrecht hinzusetzen. Das schwarze Tank-Top, das die Wölfin trug, verdeckte die Blessuren nur unzureichend. Valerie konnte Schnitte sowie weitere Hämatome entdecken, unter dem Stoff zogen sich die Stromverbrennungen über ihren Körper. Sie wärmte den Kopf des Stethoskops vorsichtig in ihren Händen auf, ehe sie es auf die geschundene Haut legte. Beccas Atem ging flach, aber gleichmäßig, und auch ihr Herz pumpte erstaunlich kräftig. Ein wenig zu schnell, aber die Situation schien sie zu überfordern und Valerie schob es auf die Angst, die fast greifbar von Becca ausging.

Trotzdem verhielt die Patientin sich so ruhig wie möglich. Als sie auch den Blutdruck gemessen hatte, nahm sie das Stethoskop vorsichtig aus den Ohren.

»Wer hat dir die Wunden zugefügt?«

Valerie erwartete keine Antwort, doch Beccas Lippen bewegten sich und sie flüsterte leise einen Namen. »Christoph Tosney.«

Ein Zittern schüttelte den geschundenen Körper, als würde er versuchen, eine Erinnerung loszuwerden, die sich in ihn eingebrannt hatte.

»Wir finden ihn«, versprach Tyson leise. »Wir finden ihn und dann werden wir ihn töten.«

Ruckartig sah Becca auf. Als wäre die Schwäche von ihr abgefallen, fixierte sie Tyson mit eisernem Blick. »Nein. Sein Tod ist mein Privileg. Niemand außer mir wird diesem Mann auch nur ein Haar krümmen. Niemand außer mir wird ihn zur Strecke bringen.«

Genauso plötzlich, wie dieser Funke Leben in ihren Augen aufgeleuchtet war, verschwand er wieder. Als hätte Beccas kleine Eskapade all ihre verbleibende Kraft aufgebraucht.

Valerie erhob sich. »Ich lege dir einen Zugang, darüber können wir dich mit Flüssigkeit versorgen. Das hilft gegen die Dehydratation und ist auch für die Verbrennungen wichtig. Außerdem habe ich Nahrungsergänzungsmittel dabei, die dafür sorgen werden, dass du dich möglichst schnell erholst. Wenn es schlimmer wird, können wir dir auch Nahrung über die Venen geben, aber ich würde es lieber zuerst so probieren. Was die Wunden betrifft, vor allem die Verbrennungen: Ich werde dich mit einer antibiotischen Salbe behandeln, um eine Infektion zu verhindern.« Sie holte alle nötigen Utensilien aus der Tasche. »Und falls du Schmerzmittel brauchst, lasse ich dir auch etwas da, ja?«

Becca nickte abwesend und ließ die Behandlung über sich ergehen, als wäre sie selbst gar nicht anwesend. Vorsichtig legte Valerie ihr einen Venenzugang, entfernte die abgestorbenen Hautteile von den Verbrennungen und bestrich sie mit einer Salbe, bevor sie alle Wunden sorgfältig verband. Dann kümmerte sie sich um die kleineren Verletzungen.

Als sie fertig war, erklärte Valerie Tyson und Tory die Handhabung des Zugangs und der Infusionen und wie sie die Wunden zu versorgen hatten. Mehr gab es für sie im Moment nicht zu tun. Auch wenn sie gerne einen Ultraschall oder noch besser ein CT durchgeführt hätte, um innere Verletzungen auszuschließen. Oder wenigstens ein EKG geschrieben hätte. Aber solange Becca sich weigerte, mit ihr ins Krankenhaus zu kommen, konnte sie nicht viel für sie tun.

Tory nahm den Platz neben Becca ein, während Tyson der Ärztin deutete, ihm in die Küche zu folgen.

»Wie schlimm ist es?« Auch diesmal konnte Valerie deutlich die Sorge in seiner Stimme hören.

»Ich bin Chirurgin, keine Psychologin. Wenn sie keine gröberen Verletzungen hat – was ich nicht ausschließen kann, solange ich keine sinnvollen Untersuchungen mit ihr durchführen kann«, sie warf dem Alpha einen strengen Blick zu, »bekommen wir sie körperlich vermutlich wieder hin. Sie muss essen und trinken, damit ihr Körper sich erholt. Aber sie muss auch über das reden, was sie erlebt hat.« Valerie betrachtete Tyson. Etwas an seinen Bewegungen wirkte angestrengt. »Was ist mit dir? Ich sehe, du hast Schmerzen.«

Er erwiderte ihren Blick und beantwortete ihre Frage ohne Umschweife. »Ich habe eine Kugel abbekommen, gestern. Sie steckt noch. Ich werde Dylan demnächst bitten, sie rauszuholen.«

»Wo?«

»Hier.« Er deutete auf seine Schulter, in der Nähe des Schlüsselbeins.

Sie nickte ihm auffordernd zu. »Shirt weg.«

Er verdrehte die Augen, zog das Shirt aber am Kragen so weit hinunter, dass sie gute Sicht auf die sonnengebräunte Stelle hatte. Wie für einen Alpha zu erwarten war, sah man gar nichts.

»Mhm.« Sie betrachtete das Schlüsselbein einen Moment lang kritisch, dann sah sie Tyson wieder ins Gesicht. »Das kannst du natürlich dem Tierarzt überlassen, aber gerade steckst du in Menschenform und dafür bin ich die Expertin. Wenn ich heute Abend zu Becca komme, fahre ich vorher im Krankenhaus vorbei und bringe das nötige Besteck mit, um sie zu entfernen. Ich werde dann auch Beccas Blut abnehmen. Ich will wissen, wie sich die Zusammensetzung verändert hat.«

Tyson musterte sie eingehend, bevor er widerstrebend nickte. Immerhin schien dieser Alpha zu verstehen, dass eine ärztliche Anweisung über seinem Status stand.

Valerie kritzelte einige Dinge auf eine Liste und reichte sie Tyson. »Besorg das.« Sie schulterte die Tasche und nickte Tyson noch einmal zu, dann verließ sie das Haus.

Christoph Tosney, echote es in ihren Gedanken.

Becca konnte Anspruch auf seinen Tod erheben, aber Valerie wusste nicht, ob die ehemalige Alpha jemals wieder stark genug werden würde, es mit einem Jäger aufzunehmen.

Kapitel 4

 

Das Bild, das sich Cassidy zeigte, als sie die Küche betrat, war auf eine absurde Art idyllisch. Jonah saß am Küchentisch. Er hatte seinen Laptop vor sich und tippte. Seine braunen Haare waren verwuschelt, wie immer, wenn er den Motorradhelm noch nicht lange abgenommen hatte, aber es gab ihm das Aussehen, als wäre er gerade erst aufgestanden. Neben Jonah stand eine Tasse mit Tee und mit dem verschlissenen T-Shirt, das er trug, wirkte der Nekare, als gehörte er in dieses Bild. Ihm gegenüber saß Helen. Ihre grauen Augen funkelten streitsüchtig, während sie an einer Tasse nippte und Jonah nicht für eine Sekunde aus den Augen ließ. Irgendwann in den letzten Tagen hatte sie sich die Haare nachgefärbt und das Blau, in dem sie nun strahlten, ließ die Szene wie einen Comic wirken. Wie immer in Vanessas Küche, lag der Geruch von Gewürzen und Tee in der Luft und gab der Szene einen friedlichen Anstrich. Doch das Misstrauen, das von Helen ausging, war fast greifbar.

Jonah sah kurz auf, um Cassidy grüßend zuzunicken, ehe er sich wieder dem Bildschirm zuwandte. Nach der letzten Nacht hatte sie ihn nicht wieder in ihrem Clangebiet erwartet. Trotzdem schien er sich keinerlei Sorgen darüber zu machen, dass die Aktion vom Vortag Konsequenzen nach sich ziehen könnte.

»Er ist vor ungefähr zwanzig Minuten einfach hier aufgetaucht. Jetzt benimmt er sich so, als wäre nichts passiert. Er sagt, seine Sachen sind ohnehin noch hier und er wird weiterhin die Geisel sein. Zumindest bis Cage sich umentscheidet und jemand anderen schickt«, beantwortete Helen die Frage, die unausgesprochen im Raum hing. Helens Blicken fehlte nicht viel Abscheu, und sie hätten Jonah getötet, oder zumindest ernsthaft verletzt.

»Warum gehst du nicht ins Jungwolfhaus?« Cassidy sprach den Eindringling direkt an. Ihre Stimme war etwas schärfer als beabsichtigt. Doch ihn zu sehen, erinnerte sie an King und daran, dass sie sich nicht von jeder Kleinigkeit an ihn erinnern lassen sollte.

»Weil Vanessa dort gestern die befreiten Wölfe untergebracht hat und nicht einmal mehr Platz für einen Hundekorb ist. Davon abgesehen bin ich zu alt, um mir das Haus mit einer Drogensüchtigen zu teilen.«

Cassidy griff sich einen Apfel aus der Obstschale und biss hinein. »Und warum arbeitest du von unserer Küche aus?«

Genervt sah Jonah auf. »Homeoffice. Das ist ja jetzt erst einmal mein Zuhause, oder?«

»Über was schreibst du?« Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen, aber sie würde die Stille, die unweigerlich folgte, sobald das Gespräch abbrach, nicht ertragen.

Jonah gab auf und wandte seine Aufmerksamkeit Cassidy zu. »Über ein Feuer, das in einer Lagerhalle ausgebrochen ist. Die Ursache war angeblich ein Drogenlabor, das in die Luft geflogen ist«, antwortete er mit vielsagendem Blick. »Cassidy, was willst du? Deine Freundin hat mich schon mit allerlei Beleidigungen eingedeckt, der Punkt auf der Tagesordnung wäre also erledigt.«

»Ich habe ihn nicht beleidigt«, mischte Helen sich sofort ein. »Ich habe ihm lediglich erklärt, dass er und sein Kumpel unfassbar fahrlässige Idioten sind und dass sie uns alle in unnötige Gefahr gebracht haben.«

»Du hast uns dabei geholfen«, erinnerte Cassidy ihre Freundin, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen. »Immerhin hast du mir den Peilsender gegeben und warst unser Backup-Plan für den Fall, dass sie mich an einen anderen Ort gebracht hätten.«

Cassidy setzte sich ebenfalls und biss ein weiteres Mal in den Apfel. Jonah verdrehte die Augen.

»Jetzt hatte ich gehofft, dass Helen irgendwann geht, stattdessen setzt sich auch noch die andere dazu«, murmelte er, schloss mit Nachdruck seinen Laptop und sah die beiden jungen Frauen missmutig an. Sein Handy vibrierte. Er warf einen Blick darauf und hob erstaunt eine Augenbraue.

Cassidy ließ inzwischen ein versöhnliches Lächeln sehen. »Danke dir, ohne eure Hilfe hätten wir die Wölfe da nicht rausholen können.«

Jonah brummte etwas, das sie nicht verstand, ignorierte sie aber sonst und tippte stattdessen eine Antwort. Cassidy wartete ab, bis er das Handy wieder zur Seite legte, ehe sie beiläufig die eine Frage stellte, die sie wirklich interessierte. »Wie geht es ihm?«

Jeder im Raum wusste, wie der anwesende Elefant heiß, den sie adressierte. Mit ernster Miene sah Jonah sie an. »Das gestern war nur die eine Hälfte des Plans. Cassidy, wenn du King und dein Rudel nicht unnötig gefährden willst, musst du dich auch an die andere Hälfte halten.«

»Ich weiß, ich wollte nur ...«

»Nein, Cassidy, kein ich wollte nur. Du wolltest diese eine Tür, die unbedingt verschlossen bleiben muss, einen Spalt weit öffnen. Aber du bekommst von mir keine Informationen über King. Kümmere dich um deinen Teil des Plans und such dir jemanden, mit dem du ausgehen kannst. Das sollte dir ja nicht schwerfallen, wenn man bedenkt, wie offensichtlich Sunny dir hinterherhechelt.«

Cassidy sah auf ihre Hände, die zitterten, obwohl sie die Finger ineinander verschränkt hatte. Jonahs Worte enthielten nichts als die Wahrheit, die sie bereits kannte, dennoch trafen sie Cassidy mit voller Wucht. »Danke Jonah, ich weiß, welches Theater angebracht ist und was von mir erwartet wird. Und Sunny weiß auch schon Bescheid und ist einverstanden. Ich dachte nur ...«

»Nein, du hast eben nicht gedacht. King hätte dich zu seinem Vater gebracht, mit oder ohne diesen Plan. Er mag derzeit vernarrt in dich sein, aber seine Loyalität ist stärker als seine Gefühle für dich.« Das Mitleid in seinem Gesicht unterstrich jeden Punkt, den er hervorbrachte. Doch er hatte nicht vor, sie zu schonen, und sprach weiter, ehe sie etwas einwerfen konnte. »Die Clanmacht ist stärker, sogar sein verdammter Wolf ist stärker und nichts davon will dich in seiner Nähe. Hör auf, dir das Gegenteil einzureden. Für ihn warst du ein Abenteuer. Ich wette mit dir, er macht heute schon weiter, als hätte er dich nie getroffen.«

»Wow, das war ja mal super empathisch.«

Während Cassidy Jonah noch wortlos anstarrte, war Helen aufgesprungen. Sie knurrte und es wirkte, als wollte sie Jonah am liebsten mit einem stumpfen Messer an die Kehle gehen.

Die Alpha griff nach dem Arm ihrer Freundin und zog sie energisch zurück nach unten.

»Lass gut sein, Helen, er hat recht«, sagte sie emotionslos. Jonahs Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Doch sie waren auch nötig gewesen. Die Verbindung zwischen ihr und King stellte eine Gefahr für zu viele Wölfe dar. Eine, die sie um jeden Preis vermeiden mussten.

Helen wandte sich ungläubig Cassidy zu. »Wirklich? Glaubst du wirklich, dass King sich heute schon eine Neue geangelt hat?«

»Ich glaube, dass es King in Gefahr bringt, wenn sein Vater erfährt, dass er mir wichtig ist. Weil ich glaube, dass Cage sich ein Ziel gesetzt hat und vor nichts zurückschreckt, um es zu erreichen.« Sie schluckte. »Nicht einmal davor, seinen einzigen Sohn zu verletzen.«

Jonah stand auf und nahm den Laptop an sich. Er zuckte mit den Schultern. »King braucht sich ohnehin keine Neue zu angeln. Er trifft sich weiter mit Susy, wie er es die letzten Wochen schon getan hat. Aber Cass hat recht. Jede Zuneigung, die sie in seine Richtung zeigt, könnte für ihn mit Schmerz und Gefahr enden, und das lasse ich nicht zu.«

Cassidy blinzelte, um die Feuchtigkeit aus ihren Augen zu vertreiben.

»Ihr Nekare seid wirklich widerlich!« Wieder war Helen aufgesprungen. Schützend baute sie sich zwischen Jonah und Cassidy auf, doch auch das machte seine Worte nicht ungeschehen. Sie waren gesagt und gehört worden. Damit wurden sie zu einer Tatsache, die keiner im Raum ignorieren konnte.

»Helen, setz dich.« Cassidys Stimme war fest. Jonah hatte recht, sie hatte King gegen Becca getauscht. Es war der einzig richtige Weg gewesen und sie würde es jederzeit wieder tun. Die Konsequenzen zu ertragen war ein kleiner Preis dafür, dass sie die Wölfe befreit hatten.

Seufzend griff sie nach ihrem Handy.

Sie wählte Sunnys Nummer aus den Favoriten. Es klingelte zwei Mal, ehe am anderen Ende abgehoben wurde.

»Cassidy.« Sie hörte das Meer im Hintergrund rauschen.

»Geht es dir gut?« Eine Frage, die ohnehin überflüssig war. Nachdem Sunny am vergangenen Abend davongestürmt war, hatten sie noch ein paar Nachrichten getauscht. Sie wusste, wie mies es ihm ging. Plötzlich seiner Mutter gegenüberzustehen, war für den jungen Wolf zu viel gewesen. Aber er wollte nicht darüber reden, das akzeptierte sie. Stattdessen hatte er sich auf ihre Bitte gestürzt, die nächsten Wochen zum Schein mit ihm auszugehen.

»Ich bin bei Marai.« Als würde die Aussage, dass er sich bei der Meerhexe befand, ihre Frage beantworten. »Aber ich komme später wieder.«

»Das ist gut. Vanessa hat deine Mutter im Jungwolfhaus untergebracht. Sie kümmert sich gerade um sie, aber wir können auch einen anderen Ort für Layla suchen.«

Stille. Im Hintergrund schrie eine Möwe. Cassidy dachte schon, Sunny hätte das Telefon einfach weggeworfen, doch plötzlich antwortete er wieder. »Ich übernehme das. Sie ist immerhin meine Mutter.«

»Es muss nicht deine Aufgabe sein.«

»Es ist alles in Ordnung. Ich will es machen.«

»Ich wollte dich fragen, ob du Lust hättest, ins Kino zu gehen. Ich glaube, wir könnten beide eine Abwechslung gebrauchen«, wechselte Cassidy das Thema. Weg von dem Problem Layla, das seine Schatten bereits vorauswarf, hin zu etwas Erfreulicherem. Es würde kein Date werden, aber das wussten die Nekare ja nicht.

Sie hörte Sunny aufatmen. »Gerne. Ablenkung ist gut und es passt zu dem Plan, Cage an der Nase herumzuführen. Aber morgen habe ich schon was vor, wie wäre es mit Mittwoch?«

»Das wäre perfekt.«

Wieder entstand Stille.

Schließlich beendete Sunny das Gespräch. »Wir sehen uns später.«

Erleichtert ließ Cassidy das Handy sinken.

»Wenn ihr euch an dem Abend genauso verhaltet, nimmt dir keiner ab, dass King dir egal ist.«

Mit säuerlicher Miene wandte Cassidy sich zu Jonah um, auch wenn seine Einschätzung durchaus zutreffend war.

»Tja, ich habe ja noch um die sechzig Stunden Zeit, deinen besten Kumpel zu vergessen. Wird sicher einfach mit der wandelnden, motzenden Erinnerung an ihn direkt in meiner Küche.«

Jonah grinste. Sein Gesichtsausdruck erinnerte Cassidy schmerzhaft an King, wenn er wusste, dass er recht hatte, sie es sich aber auf keinen Fall eingestehen wollte.

»Ich weiß, du wirst dein Bestes geben«, sagte er versöhnlich.

»Es ist nur ein Kinobesuch.« Als hätte Helen ihre Gedanken gehört, legte sie Cassidy die Hand auf die Schulter.

Cassidy nickte. Sie nahm den Trost dieser Geste gerne an, genau wie den, der in der Tatsache lag, dass sie King schützte. Selbst wenn das hieß, mit jemandem auszugehen, den sie als ihren kleinen Bruder sah.

 

***

 

Jonahs Antwort kam in Textform, während King noch auf den Fahrstuhl wartete.

 

Cassidy ist zu Hause. Sie benimmt sich, als wäre nichts passiert.

 

King brauchte keine ganze Sekunde, um sich für seinen nächsten Zug zu entscheiden. Auf dem Absatz machte er kehrt und ging zu seinem Vater zurück. Vor der Bürotür des Alphas kam ihm Duke entgegen, den Papierkorb, in welchen King hineingekotzt hatte, in der Hand, um den Inhalt zu entsorgen. Oder auch den ganzen Mülleimer. Cage bestand auf Perfektion. Was nicht perfekt war, wurde ersetzt. Vermutlich war die Tatsache, dass King keine Geschwister hatte, das Einzige, was Cage dazu veranlasste, ihm seine Eskapaden immer wieder zu verzeihen. Er dachte dabei weniger an sein erstes Auto, einen Maserati, der keine fünf Kilometer weit gekommen war, ehe er ihn um einen Baum gewickelt hatte, sondern mehr an die vielen Male, die er seinen Vater in Bezug auf den Clan enttäuscht hatte. Zum Beispiel, als er es sich nicht hatte nehmen lassen, einen Menschen zu daten und Cage damit vor dem Clan wie einen Idioten hatte dastehen lassen. Sofie war wundervoll. Sie war sanft und mitfühlend und damals hatte er gedacht, dass sie eine echte Chance hatten. Aber das, was er damals empfunden hatte, war kein Vergleich zu dem, was er für Cassidy fühlte. Etwas sagte King, dass sein Vater auch nicht zufrieden wäre, wüsste er, dass sein Herz mittlerweile für eine Alpha schlug.

Duke sah King missmutig an, trat jedoch wortlos zur Seite und ließ ihn eintreten.

»Cassidy ist bei Tyson. Jonah hat mir gerade die Nachricht geschickt und ich dachte, es könnte dich interessieren, dass deine neuen Geschäftspartner dich anscheinend nicht hintergangen haben.«

Cage sah vom Bildschirm seines Computers auf. Er wirkte zufrieden, was mit Sicherheit daran lag, dass er sich der Loyalität seines Sohnes sicher glaubte.

Cage schloss ein Programm auf dem Desktop und lehnte sich zurück. »Dann wissen wir zumindest, wo wir ansetzen müssen. Ich will, dass Jonah sie davon überzeugt, dass es das Beste für sie und ihren Clan wäre, mir die Treue zu schwören. Umso schneller sie das tut, desto weniger ihrer Wölfe werden sterben.«

King zuckte mit den Schultern. »Wie genau soll er das anstellen? Es ist ein Wunder, wenn Tyson ihn nicht für die Entführung seiner Warith zur Verantwortung zieht, oder wenn Cassidy Jonah auch nur eine Sekunde lang zuhört. Falls du dich daran erinnerst, habe ich sie entführt, ihr Drogen verabreicht und sie an die Jäger ausgeliefert, während Jonah daneben gestanden hat und nichts unternahm, um mich aufzuhalten.«

Cages Lächeln hatte mehr von einer Hyäne als von einem Wolf. »Und das arme Mädchen hat bis zum letzten Moment gehofft, dass du dich anders entscheidest und sie rettest. Es hat ihr das Herz gebrochen, als du ihr die Spritze verabreicht hast. Dir wird sie wohl nie verzeihen, da hast du recht. Aber sie ist in Bezug auf dich immer noch verwundbar, da wird er doch ansetzen können.«

Kings Gedanken rasten. Er hatte gehofft, Jonah wäre bei den Hazima in Sicherheit, aber wenn er keine Ergebnisse lieferte, würde Cage ihn ohne Zweifel nach Hause beordern. Und was er ihm dann antat – daran wollte King lieber gar nicht erst denken.

»Ich lasse mir etwas einfallen«, versprach er. »Aber da wäre noch etwas ganz anderes«, wechselte er schnell das Thema hin zu dem Plan, der ihn noch einmal zu Cage zurückgehen hatte lassen. Mit etwas Glück würde der Alpha dann auch vergessen, dass er Jonah einen Auftrag hatte geben wollen. »Ich möchte Teil deiner Geschäfte werden. Die paar Wochen in der Vorstadtsiedlung haben mir mehr als gereicht. Das ist ein Leben, in das ich auf keinen Fall zurückkehren möchte.«

Amüsiert blickte Cage in das Gesicht seines Sohnes. Offensichtlich suchte er nach einem Hinweis, was diesen Sinneswandel mit sich brachte.

»Es wird sicher kein Problem sein, eine Aufgabe für dich zu finden«, sagte er schließlich. »Aber jetzt hau ab, ich habe zu tun. Wenn ich dich brauche, lasse ich es dich wissen.«

King ließ sich das nicht zweimal sagen. Er huschte aus dem Raum, möglichst geräuschlos, wie er es schon als Kind gelernt hatte, und gratulierte sich selbst dafür, eine schmale Brücke zu seinem Vater geschlagen zu haben.

Mit sich selbst zufrieden stieg er in den Aufzug. Der erste Schritt in Richtung Clanübernahme war getan, einige weitere mussten noch folgen. Unter anderem galt es herauszufinden, welches Geheimnis Cage hütete, das dafür sorgte, dass er sogar für die Jäger unantastbar war.

Kapitel 5

 

Tyson starrte seit einer guten halben Stunde auf den Zettel, den Valerie ihm geschrieben hatte. Er faltete ihn wieder zusammen und schüttelte den Kopf. Die Liste bestand nur aus drei Dingen. Nachdenklich faltete er das kleine Blatt ein weiteres Mal auseinander und sah noch einmal drauf. Doch die Wörter hatten sich auch nach dem wohl zehnten Versuch nicht verändert.

Valerie hatte ihm aufgetragen, Schnaps zu besorgen. Das war einfach. Auch die drei Wölfe, die ihn ruhig halten sollten, waren kein Problem. Die schwierigere Aufgabe brachte der dritte Punkt auf der Liste mit sich. Wo zur Hölle sollte er Kokain herbekommen?

Klar, er war in Los Angeles, theoretisch gab es Drogen an jeder Ecke, doch die gehörten einfach nicht zu seiner Lebensrealität.

Er warf einen zweifelnden Blick zu Tory hinüber. Die saß am Küchentisch, hatte ihren Laptop vor sich und arbeitete. Aber selbst, wenn sie nicht arbeitete, wäre sie die letzte Person, die ihm helfen würde. Automatisch wanderte sein Blick zu Becca, die teilnahmslos auf dem Sofa saß. Eingewickelt in eine Decke, weil sie trotz der Hitze fror.

Wütend zerknüllte er den Zettel. Er war versucht, ihn in eine Ecke zu schleudern, doch alles, was er damit erreichen würde, wäre, dass er ihn später wieder aufheben musste.

»Frag Layla oder Jonah.«

Tyson fuhr herum. Beccas raue Stimme hatte die Stille so unerwartet durchbrochen, dass er fast vom Stuhl gefallen wäre.

Seine Reaktion ließ Becca erschrocken zurückzucken. Furchtsam senkte sie den Kopf und versank regelrecht im Sofapolster. Als hätte sie etwas falsch gemacht und wartete nun darauf, bestraft zu werden.

Tory sah von ihrem Laptop auf und warf Becca einen verständnislosen Blick zu.

»Valerie hat ihm eine Liste dagelassen. Er versucht seit einer halben Stunde herauszufinden, woher er Kokain bekommen soll«, erklärte Becca mit leiser Stimme.

Tory zuckte mit den Schultern, als wäre diese Frage nichts Ungewöhnliches, und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit.

»Woher weißt du, was auf der Liste steht?«

Valerie hatte die Liste in der Küche geschrieben, während Becca im Wohnzimmer gewesen war. Sie konnte unmöglich einen Blick darauf geworfen haben. Neugierig bewegte Tyson sich auf sie zu und setzte sich auf den Sessel, der ihr schräg gegenüber stand.

»Ihr habt Dylan, wir haben Valerie. Du bist nicht der erste Wolf, dem sie einen Gegenstand aus dem Körper holt, der dort nicht hingehört. Auch nicht der erste Alpha. Du solltest gleich rübergehen. Auch Jonah wird eine Zeit brauchen, um deine Bestellung in der nötigen Menge zu besorgen.« Sie lächelte, doch es wirkte gequält.

Tyson bemühte sich, die Sorge auf seinem Gesicht nicht allzu deutlich zu zeigen, doch die knochigen Finger, die nun nach einem Glas Milch griffen, riefen ihm deutlich in Erinnerung, dass sie noch einen langen Weg zu gehen hatte. Er stand auf und wandte sich der Tür zu, als ihre Stimme ihn noch einmal zurückrief. »Ich wäre gerne dabei.« Sie zögerte. »Wenn Valerie kommt, bei der Operation«, setzte Becca vorsichtig nach.

Sie hatte das Glas auf den Tisch zurückgestellt und die Decke wieder eng um sich geschlungen, als wollte sie die Narben und Striemen verbergen, die ihren Körper verunstalteten.

Tyson nickte langsam. Vielleicht tat es ihr gut. Vielleicht war es ein Schritt zurück zu ihr selbst. Oder es zeigte ihr einfach nur, dass auch ein Alpha hin und wieder schwach und wehrlos sein durfte. Dass auch er um Hilfe bitten musste.

Tyson war bereit, alles zu versuchen, was Becca helfen könnte.

***

Tyson klopfte, bevor er das Haus seiner Mutter betrat. Genau wie bei seinem eigenen war die Tür bei Vanessa nie abgeschlossen. Die Nachbarn in der Siedlung gehörten alle zum Clan und jede fremde Person wäre sofort aufgefallen. Es gab keine besseren Wachhunde als Wolfswandler.

Vanessa saß im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie hatte einen Stapel Bücher und Klebeband vor sich auf dem Tisch und klebte mit Engelsgeduld herausgefallene Seiten zurück an den Platz, an dem sie fehlten.

»Komm rein oder bleib draußen, aber mach um Himmelswillen diese Tür zu, damit die Hitze draußen bleibt.« Sie hatte nicht einmal aufgesehen, holte dies aber nun mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht nach. »Ist bei euch alles in Ordnung? Hat Tory dich rausgeschmissen?«

»Nein. Ich suche nur Jonah. Sein Motorrad steht draußen und ich hatte gehofft, dass er da ist.«

»Er ist in der Küche und arbeitet. Ein fleißiger junger Mann. Sehr höflich und sehr zuvorkommend. Ich glaube, dass es Cassidy guttut, dass er da ist.«

Tyson schmunzelte. Das war die Art seiner Mutter, ihm zu sagen, dass sie nicht zulassen würde, dass Jonah ein Haar gekrümmt wurde, egal wie Cage sich verhalten hatte.

Sie hatte sich schon immer schnell an Streuner gewöhnt. Genau wie diese elende dreibeinige Katze, die neben ihr saß und Tyson in diesem Moment lauernd beobachtete. Der Kater war groß für seine Rasse, aber im Vergleich zu einem Wolf noch immer lediglich ein Happen. Trotzdem hatte er das Ego eines Tigers und gerade zuckte sein Schwanz nervös hin und her. Es gab fast niemanden, der mit dem Kater auskam, doch Cassidy und Vanessa schien das Tier zu vergöttern.

»Du weißt, dass du ihn wieder auswildern musst, oder?«

»Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.« In ihrer ruhigen Art lag eine Drohung, die sie nicht auszusprechen brauchte. Sie prüfte die letzte Seite, und als sie damit zufrieden war, wandte sie sich der nächsten zu.

Tyson schüttelte den Kopf und trat durch den Perlenvorhang hindurch in die Küche.

Kaum, dass Jonah den Alpha entdeckte, sah er sich nervös um und schien einen zweiten Ausweg aus der Küche zu suchen.

»Ich frage lieber nicht, was du angestellt hast.« Tyson setzte sich. »Ich wollte dich um deine Hilfe bitten.«

Jonah klappte mit sichtlicher Erleichterung den Laptop zu und schob ihn zur Seite, wartete auf Tysons nächste Worte.

Es gab nicht viele Möglichkeiten, seine Geisel in der Küche seiner Mutter darum zu bitten, ihm Kokain zu besorgen, also fiel Tyson mit der Tür ins Haus: »Ich brauche Kokain.«

»Und da dachtest du, du fragst mal den Nachbarn?« Jonah grinste belustigt. »Ich meine, wenn du schon in der Siedlung fragst, warum nicht Layla, die kennt sich mit Drogen ja wunderbar aus.« Ein versteckter Vorwurf schwang in Jonahs Stimme mit.

»Ich komme zu dir, weil du eng mit Cage zusammenarbeitest und wir alle wissen, dass er ein florierendes Gewerbe aufgebaut hat. Die Chance, dass du unkompliziert an den Stoff kommst, ist einfach größer, als wenn ich Layla darum bitte.« Er seufzte. »Und bei dir kann ich mir sicher sein, dass nicht die Hälfte auf dem Weg hierher verschwindet.«

»Also Kokain. Wie viel?«

»Tyson Juan Santos!« Vanessas verärgerte Stimme ließ den Alpha zusammenzucken. In diesem Moment hörte er auch das verräterische Geräusch des Perlenvorhangs, der die Küche vom Rest des Hauses abtrennte. Vanessa war zu ihnen gekommen und sie war wütend. »In meiner Küche werden keine Drogengeschäfte abgeschlossen! Jonah sollte hier in Sicherheit sein! Wo ziehst du den Jungen denn jetzt schon wieder mit rein?«

»Mom, bitte.«

»Nein, Tyson. Ich habe dich nicht dazu erzogen, mit Drogen zu hantieren.«

Er verfluchte innerlich Valerie, die ihm die Liste gegeben hatte, und Eliza, die ihm die Kugel überhaupt erst verpasst hatte.

Hilfesuchend sah Tyson zu Jonah, doch dieser schien vollauf damit beschäftigt zu sein, nicht laut loszulachen.

»Hör mir doch bitte eine Minute lang zu!«, wandte er sich noch einmal an seine Mutter.

»Ich habe jeden Tag mit Kindern zu tun, die in einer drogenbelasteten Umgebung aufwachsen. Meinst du wirklich, ich will das Zeug nun auch noch in der Nachbarschaft?« Es gab nicht viel, was Vanessa aufregte, aber gerade hatte er einen Nerv getroffen. »Du weißt genau, wie Sunny unter dem ständigen High seiner Mutter gelitten hat!«

»Es ist für eine Operation!« Tyson hatte den Satz dazwischengerufen, als sie Luft geholt hatte, aber er hatte seine Wirkung getan. Nun starrte sie ihn nur noch böse an. »Valerie will die Kugel aus meiner Schulter entfernen, was ich begrüße, denn mit der Kugel kann ich nur eingeschränkt arbeiten.«

»Wozu braucht sie dann bitte Kokain?«

Tyson seufzte. »Ich habe keine Ahnung. Aber sie wird es heute Abend sicherlich erklären. Komm doch mit rüber, es sieht sowieso aus, als würde das Ganze in eine verdammte Party ausarten.« Er drehte sich wieder zu Jonah. »Also was ist, kannst du mir helfen?«

»Bekomme ich dann auch eine Einladung zu dieser Party?«

Tyson knurrte.

Grinsend hob Jonah die Hände. »Schon gut, böser Wolf. Ich bringe dir dein Partyzubehör rechtzeitig.«

Tyson stand auf und wollte sich an Vanessa vorbei aus der Küche schieben, doch die hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und versperrte den Weg. Mit dem Kinn deutete sie in Jonahs Richtung.

Ergeben seufzte Tyson. »Jonah, wir brauchen wohl auch die ein oder andere helfende Hand, es wäre also wunderbar, wenn du mit rüberkommen würdest.«

Jonah unterdrückte ein Lachen. »Kein Problem, ich werde da sein.«

Vanessa nickte zufrieden und trat zur Seite.

Es waren Momente wie diese, die Tyson daran zweifeln ließen, ob er im Rudel wirklich das Sagen hatte.

Kapitel 6

 

Die Luft veränderte sich. Die Spannung, die plötzlich darin lag, kündigte Steve Tosney an, lange bevor er überhaupt zu sehen war. Selbst die Adepten, die den Kurs am späten Nachmittag belegten, spürten es und wirkten mit einem Mal verunsichert, als der hochgewachsene, dunkelhaarige Mann im Anzug das Dojo betrat. Mit unbeeindrucktem Gesichtsausdruck ließ er seinen Blick über die Trainierenden gleiten.

Christoph seufzte. Dabei waren die Neuen ihm gegenüber gerade ein wenig aufgetaut.

Steves Schritte hallten durch den Raum. Zielgerichtet steuerte er auf seinen Sohn zu. »Ich will dich im Büro sprechen. Sofort.«

Seine schneidende Stimme ließ die Rekruten zusammenzucken. Der Ton duldete keinen Widerspruch, und als wären sie Schuljungen, die man bei einem Streich ertappt hatte, sahen die sechs jungen Männer betreten auf die Matte.

Steve ließ Christoph keine Zeit zu antworten, sondern drehte sofort ab, um sich in die hinteren Räume zu begeben. Genervt sah sich sein Sohn um und stellte erleichtert fest, dass Eliza inzwischen hinten an den Sandsäcken trainierte. Er pfiff und kaum, dass die Blondine den Kopf zu ihm gedreht hatte, winkte er sie zu sich. Sie rollte mit den Augen, schlenderte aber trotzdem zu ihm.

»Eliza, übernimmst du bitte, bevor Steve wiederkommt und hier alles anzündet?«, murmelte er in der Hoffnung, dass sie nicht zu viele Fragen stellen und seiner Bitte einfach nachkommen würde.

Sie seufzte theatralisch, als sie den Blick über die Gruppe junger Männer schweifen ließ, dann zuckte sie mit den Schultern. »Geh schon, aber sorg dafür, dass er möglichst schnell wieder abhaut«, raunte sie ihm zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit vollkommen auf das Training der neuen Rekruten richtete. Er hoffte nur, dass sie die armen Kerle für den ersten Tag nicht zu hart rannahm.

Christoph folgte seinem Vater, der längst hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte. Der Stuhl, auf dem er saß, war der einzige im ganzen Raum und zeigte deutlich, wer in diesem Gebäude das Sagen hatte. Als wäre es nötig gewesen, jemanden extra darauf hinzuweisen.

Steve musterte die Trainingskleidung seines Sohnes und schüttelte den Kopf, um seine Missbilligung auszudrücken. Doch die Zeiten, in denen die Jäger in Uniform trainiert hatten, waren seit Jahren vorbei. Sein Vater würde mit dieser Undiszipliniertheit, wie er es nannte, klarkommen müssen. Es gab Christoph ein kleines Gefühl der Genugtuung.

»Ich habe Nachricht aus Frankreich bekommen. Alexander ist vor ein paar Stunden gelandet und befindet sich jetzt in der Forschungseinrichtung. Es gab einen Toten, Herzversagen. Das Medikament wirkt nicht mehr so gut wie noch vor zwei Jahren.«

Christoph entspannte sich. Das Hauptproblem seines Vaters schien dieses Mal nicht bei ihm zu liegen.

Davon abgesehen, wenn Alex vor wenigen Stunden gelandet war, hatte er einen Teil der Nacht vermutlich am Flughafen verbracht und wer auch immer die Gefangenen befreit hatte, hatte wohl kaum Zeit gehabt, neben einem Flughafenbesuch noch mit Eliza zu schlafen und am anderen Ende der Stadt einzubrechen.

Auch Alex besaß nur einen Körper und war wie alle anderen der Zeit unterworfen.

»Was Alex macht oder wo er sich gerade befindet, betrifft mich nur sekundär.« Christoph hatte kein Interesse daran, über seinen Ziehbruder zu diskutieren, und er vermutete auch, dass sein Vater nicht wegen dieser Information in das Dojo gekommen war.

Steve nickte. Sein Blick lag aufmerksam auf seinem Sohn. »Das stimmt, aber das bringt uns zu einem Punkt, der dich wiederum sehr wohl betrifft. Der Rat hat zugestimmt, dass meine Anwesenheit in Los Angeles nützlicher ist als in London, wo wir ohnehin alles unter Kontrolle haben. Während deine Mutter also nächste Woche zurückfliegt, werde ich die Leitung in dieser Stadt übernehmen.«

Christoph versteifte sich. Die Aussicht darauf, dass sein Vater bald wieder nach London zurückkehren musste, hatte seinen Unmut in letzter Zeit besänftigt. Nun sah es jedoch so aus, als würde er den alten Mann nicht loswerden. Als ob es nicht schlimm genug war, Alex unterstellt zu sein. Wenn sein Vater blieb, war auch das letzte bisschen Freiheit, das er sich erhofft hatte, unweigerlich verschwunden.

Christoph unterdrückte den Impuls, mit den Zähnen zu knirschen, um seinem Vater zu zeigen, dass es ihm ein weiteres Mal gelungen war, ihn zu überrumpeln. »Fantastisch, dann können wir ja endlich mit der eigentlichen Jagd beginnen. Ich weiß ohnehin nicht, warum Alex sich so viel Zeit gelassen hat«, sagte Christoph stattdessen.

Steve schnaubte. »Du bist zu voreilig. Bevor wir hier irgendetwas töten, möchte ich, dass du meinen Geschäftspartner vor Ort kennenlernst. Er ist es, der uns die geeignetsten Ziele mitteilt, und er wird auch dafür sorgen, dass die Familie hier in der Geschäftswelt Fuß fassen kann.« Sein Vater stand auf und strich wie immer sein Jackett glatt. »Davon abgesehen wirst du dich um das Training kümmern müssen, bis Alexander zurückkommt.«

»Und wann soll ich deinen Geschäftspartner treffen?«

Obwohl Christoph nicht kleiner war als Steve, schaffte dieser es mit Leichtigkeit, auf seinen Sohn herabzusehen.

»Du bekommst die entsprechenden Informationen von mir, sobald es so weit ist.«

Ohne sich mit der Frage aufzuhalten, ob sein Sohn noch etwas zu sagen hatte, verließ er das Büro und Christoph blieb alleine zurück.

Lautlos zählte er bis zehn und unterdrückte das Bedürfnis, etwas kaputt zu schlagen. Die Aussicht darauf, dass sein Vater es endlich für angebracht hielt, ihn in die Nebengeschäfte einzuweisen, war nur ein schwacher Trost.

Seine Gedanken wanderten zurück zu Becca.

Er fluchte leise. Sie unter Kontrolle zu haben, hätte die Säuberung um einiges einfacher gestaltet, auch, wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering war, dass sie sich jemals wieder genug erholt hätte, um einsatzfähig zu sein. Was für Konsequenzen es wohl gehabt hätte, eine gebrochene Alpha auf die Stadt loszulassen?

Seine geheime Waffe.

Die Wölfe hätten gezögert, sich gegen sie zu verteidigen, und er war sich sicher, dass es nicht mehr lange gedauert hätte, bis sie ihm all ihre Geheimnisse anvertraut hätte.

Doch nun war sie in den falschen Händen gelandet. Ohne seine Führung standen die Chancen nicht schlecht, dass sie früher oder später Amok laufen würde. Etwas, das die Wölfe vermutlich nicht so konsequent verhindern würden, wie er es getan hätte. Immerhin war sie ihre Alpha und sie würden immer versuchen, sie zu schützen.

Kapitel 7

 

Zum zweiten Mal an diesem Tag fuhr Valerie in das fremde Clangebiet. Sie hatte ihre Ausrüstung um ein OP-Besteck erweitert. Tyson die Kugel zu entfernen, würde kein allzu schwerer Eingriff werden, aber die Tatsache, dass sie an einem schnell heilenden Alpha herumschneiden musste, den sie noch dazu kaum kannte, machte sie dann doch ein wenig nervös.

Menschen waren zwar wesentlich anfälliger für bleibende Schäden, aber sie konnten auch betäubt werden, was dafür sorgte, dass sie nicht unnötig herumzappelten. Tyson war ein härterer Brocken. Dank der Clanmacht wäre er den ganzen Eingriff über wach und selbst mit dem Cocktail, den sie ihm verabreichen würde … Jeder einzelne Schnitt musste bei vollem Bewusstsein gesetzt werden.

Sie parkte an der gleichen Stelle wie schon am Morgen und stieg aus dem hellblauen Jeep, der schon bessere Tage gesehen hatte.

Dieses Mal musste sie klingeln, ehe die Tür geöffnet wurde. Cassidy stand vor ihr und grinste sie an.

»Ich hab gehört, wir spielen heute Alpha Aufschneiden

Valerie verdrehte die Augen. »Ich spiele Alpha Aufschneiden, du spielst Alpha Stillhalten. Dein Job ist dabei viel näher an seinen großen, scharfen Zähnen.«

Cassidy verzog das Gesicht zu einer theatralischen Grimasse und trat zur Seite, um Valerie hereinzulassen. Ihre aufgesetzte Fröhlichkeit täuschte nicht über die gedrückte Stimmung hinweg, die sich unweigerlich auf ihr Gesicht schlich, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Auch die sorgenvollen Blicke, welche die junge Alpha immer wieder zu Becca warf, zeigten Valerie deutlich, dass die Anwesenden angespannter waren, als es im ersten Moment den Anschein erweckte.

»Ist Tory gar nicht da?«, fragte Valerie nach, allerdings mehr, um überhaupt etwas zu sagen, als aus echtem Interesse.

»Sie arbeitet noch zwei Stunden und Becca fühlt sich nachts in Tysons Anwesenheit ohnehin am Wohlsten. Meine Mutter wird morgen wiederkommen, während er arbeitet, damit Becca nicht alleine ist.«

Becca sah auf, als sie hörte, wie Valerie näherkam. Ihre Augen wirkten nicht mehr so abwesend und der Hauch von Tod, der sie am Morgen noch umweht hatte, war fast komplett verschwunden. Schon die erste Infusion mit Flüssigkeit hatte Wunder gewirkt. Für die Nacht würde Valerie diese gegen eine mit Schmerzmitteln und einem leichten Beruhigungsmittel austauschen. Damit wäre es für Becca einfacher, zur Ruhe zu kommen. Etwas, das sie dringend benötigte, um wieder gesund zu werden.

Wie schon am Morgen stellte die Ärztin ihre Tasche auf den Tisch und holte das Paket mit den Infusionen heraus. Sie hatte die Bestandteile bereits im Krankenhaus gemischt und beschriftet, sodass man sie nur noch anschließen musste. Daneben stellte sie ein paar kleinere Flaschen in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Vanille, Aprikose und Schokolade. »Ich habe genug Nahrungsergänzungsmittel für eine Woche abgezweigt, dann sollte es dir so gut gehen, dass wir den Rest auch so hinbekommen«, erklärte sie, während sie die alte Infusion abnahm und die neue anhängte.

Die Ärztin hatte Tyson schon am Morgen gezeigt, wie er die leere Infusion entfernen und den Venenzugang verschließen konnte, und nun sah Cassidy ihr aufmerksam zu. »Ich würde gerne morgen früh noch einmal eine Untersuchung durchführen. Einfach um sicherzugehen, dass dein Zustand sich wirklich bessert.«

Becca brauchte kurz, um zu reagieren, nickte dann aber zustimmend.

»Und wenn es dir in zwei, drei Tagen besser geht, möchte ich dich für eine komplette Untersuchung ins Krankenhaus bringen. Du musst nicht dableiben, aber ich habe dort die Möglichkeit, dich zu röntgen und ein CT zu machen, um auszuschließen, dass du Knochenbrüche oder andere bleibende Schäden davongetragen hast. Und wir können auch deine Blutwerte im Labor überprüfen lassen.«

Valerie befürchtete, dass sie sich damit zu weit vorgewagt hatte, doch nach einiger Zeit nickte Becca wieder und die Ärztin atmete erleichtert auf. Sie wandte sich Cassidy zu. »Wo ist mein zweiter Patient? Und wo soll die Operation durchgeführt werden?«

»Er kommt gleich. Er bringt Jonah zum Festhalten mit und Schnaps, wozu auch immer.« Cassidy ging ein paar Schritte mit Valerie, bis sie an dem großen Esstisch ankamen. »Wir glauben, diese Platte hier ist am geeignetsten. Wenn nötig, können wir ihn hier auch festbinden.«

Grimmig nickte Valerie. »Was ist mit Becca? Es wird Blut fließen, Tyson wird sich wehren. Ich kann das Fluchen und Schreien praktisch schon hören. Das ist nicht unbedingt die beste Umgebung für eine Traumapatientin.«

»Sie hat darum gebeten, dabei zu sein, und wir werden ihr diesen Wunsch nicht ausschlagen.«

»Ihr müsst nicht so reden, als wäre ich nicht im Raum.«

Ertappt zuckten beide Wölfinnen zusammen.

Becca schlug die Decke zurück. Umständlich löste sie ihren Schneidersitz und stand auf. Mit wackeligen Beinen und den Ständer für den Tropf neben sich herschiebend, durchquerte sie langsam den Raum. Valerie bemerkte, wie Cassidy gespannt die Luft anhielt, und auch sie hatte sich bereits zum Sprung bereit gemacht. Doch die ehemalige Alpha meisterte die kurze Strecke, die ihr bestimmt wie ein Marathon vorkommen musste, und ließ sich bei ihnen angekommen erschöpft auf einen Stuhl sinken.

»Du musst nicht dabei sein«, flüsterte Cassidy.

Becca schüttelte den Kopf. »Ich muss nicht, aber ich will. Und darum geht es doch, das ist doch das Ziel, oder? Dass ich wieder tun und lassen kann, was ich will. Ohne mich zu fragen, ob Christoph es mir erlauben würde.«

Valerie fröstelte bei dem Gedanken an den Jäger, der Becca derart zugerichtet hatte. Es würde sie ohnehin alle Willenskraft kosten, ihren hippokratischen Eid nicht für diesen eiskalten Egomanen zu brechen. In ihr gab es nichts als Verachtung für diesen Mann.

Mit dem Befehl von Becca in den Ohren, dass der Tod des Mannes ihr gehörte, betete Valerie inständig dafür, dass sie ihm nie begegnen würde.

In diesem Moment flog die Tür auf und Tyson polterte herein. In jeder Hand hielt er eine Flasche Schnaps. Obwohl er versuchte, die Tür mit dem Fuß offen zu halten, fiel sie krachend hinter ihm ins Schloss. Die anwesenden Frauen sahen ihn vorwurfsvoll an, doch bevor er sich in irgendeiner Weise rechtfertigen konnte, öffnete die Tür sich ein zweites Mal und eine Aura von Gelassenheit flutete den Raum.

Die Anwesenheit von Marai und Vanessa verschluckte jede Entschuldigung, die Tyson vielleicht auf den Lippen gelegen hatte, und erklärte auch seine Verrenkung bei dem Versuch, den beiden die Tür offenzuhalten. Dass ein weiterer Wolf den beiden Frauen folgte, ging im ersten Moment komplett unter.

»Marai«, begrüßte Cassidy die junge Frau, die zusammen mit der Geschichtenwahrerin durch die Tür getreten war. Ihr Name war zugleich Titel, aber auch Warnung.

Nun wusste jeder im Raum, dass die Meerhexe anwesend war.

Valerie war dankbar dafür, denn sie hätte hinter der jungen Frau mit dem freundlichen Lächeln nie die gefürchtete Hexe erwartet, deren bloßer Name Wölfe in Angst und Schrecken versetzte.

»Vanessa hat mich angerufen und mir von eurem geplanten Experiment berichtet.« Ihre Stimme klang weich und melodisch. Bei all den Geschichten, die man über sie erzählte, hätte Valerie eine alte, verbitterte Frau erwartet. Marai war jedoch das Gegenteil davon. Ihre dunklen Augen waren aufmerksam, und schwarze Löckchen umspielten ihr freundliches Gesicht. Leidlich die weißen Tattoos auf ihrer kastanienbraunen Haut ließen erahnen, dass mehr in ihr steckte, denn die weißen Linien schienen regelrecht zu glühen.

»Es ist kein Experiment«, wehrte Tyson die Behauptung seiner Mutter ab, doch er klang selbst nicht sonderlich überzeugt.

»Tyson ist ein Alpha«, sprang Valerie ein und erklärte, was sie vor einigen Monaten schon einmal Becca erklärt hatte. »Wenn ich sein Fleisch lange genug öffnen will, damit ich die Kugel heraus bekomme, müssen wir seine Heilkräfte anderweitig ablenken. Die Alternative wäre, ihm die Schulter mit Klauen aufzureißen, aber dazu gibt es keine Studien. Keiner weiß, wie das heilen würde – aber vermutlich schlecht.«

Cassidy zuckte bei diesen Worten zusammen und Valerie wurde unweigerlich an den Rücken ihrer jungen Alpha erinnert, der an ein Schlachtfeld erinnerte. Sie hatte die Narben untersucht, aber nichts dagegen tun können, solange das Mädchen nicht zustimmte, sie im Rahmen einer längeren Operation zu entfernen. Mit der Zeit würden sie auch so verblassen, aber bis dahin blieben sie ein Mahnmal auf dem Rücken der jungen Frau. Valerie wusste, dass der Warith der Nekare keine andere Möglichkeit gehabt hatte, als die Silberfragmente mit seinen Klauen aus ihr herauszukratzen. Eine einzelne Silberkugel konnte die Clanmacht in Schach halten, mehrere Giftherde, die auf den Körper verteilt waren, schaffte sie jedoch nicht. Trotzdem lief ihr bei dem Gedanken an den Schmerz, den das bedeutet haben musste, eine Gänsehaut über den Rücken.

»Und wie willst du seinen Körper ablenken?«, fragte Vanessa wenig überzeugt und holte die Ärztin so wieder aus ihren Gedanken.

Valerie blies die Backen auf. »Naja, am einfachsten mit …«

Jonah trat an den Tisch und warf einen kleinen Beutel mit weißem Pulver darauf. Obwohl es fast kein Geräusch verursachte, unterbrach er damit die beginnende Diskussion für einen Augenblick.

»… einer Überdosis Kokain, gemischt mit einer Alkoholvergiftung?«, ergänzte Marai fassungslos.

Valerie zuckte die Schultern. »Tödlich für einen Menschen, aber bei einem Alpha gibt es mir mit etwas Glück die zehn Minuten, die ich brauche, um die Kugel zu entfernen.«

»Ich bin immer noch der Meinung, dass das barbarisch ist.« Vanessa schüttelte den Kopf. Ihr war anzusehen, dass allein der Gedanke daran, dass ihr Sohn sich dieser Prozedur unterzog, sie schaudern ließ.

»Ich kann ihn nicht ohne Betäubung operieren.« Valerie hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und stand nun direkt vor der Hexe. »Wenn jemand hier ein Problem damit hat, dann darf er gerne draußen warten.«

Marai ließ sich von der drohenden Nähe nicht beeindrucken. »Ich kann den Alpha ruhig halten, ihm seine Schmerzen nehmen und die Heilung verzögern. Für ungefähr zehn Minuten. Ganz ohne Drogen.«

Valerie blinzelte. »Was? Das ist nicht möglich.«

»Du verwandelst dich in einen Wolf, wann immer dir danach ist, aber das ist nicht möglich?« Die Locken der Hexe wackelten, als sie lachte, und Valerie musste zugeben, dass diese Aussage ihre Worte ins Lächerliche zog.

»Wie funktioniert es?«, fragte sie nach.

»Magie.« Wie um ihre Antwort zu unterstreichen, leuchteten die weißen Linien auf Marais dunkler Haut silbern auf. Sie erinnerten Valerie an Sternschnuppen in der Nacht.

»Es kann nicht schaden, es zu versuchen.« Beccas Stimme war noch immer schwach, aber allein die Tatsache, dass sie sprach, versicherte ihr das Gehör der Anwesenden. »Wir bereiten alles vor und sollte es nicht klappen, können wir immer noch auf den Cocktail zurückgreifen.«

Für einige lange Sekunden wagte keiner im Raum es, Partei zu ergreifen.

»Ich bin ohnehin mehr der mystische Heilungen-Typ«, brummte Tyson und entschied sich damit.

»Na gut. Aber ich kann für nichts garantieren.« Trotz ihres kraftlosen Widerspruchs war Valerie längst eingeknickt. Zu groß war die Neugier darauf, ob sich mit Marais Hilfe wirklich bessere Möglichkeiten für die Versorgung von Wölfen ergaben.

»Ich werde mir trotzdem nicht ansehen, wie du meinen Sohn aufschneidest«, entschuldigte Vanessa sich. »Ich bin nur gekommen, um Marai zu bringen und sicherzugehen, dass Tyson Jonah nicht gleich wieder rauswirft.« Zwar war sie die erste Anlaufstelle der Hazima, wenn es um die Versorgung von Wunden ging, dennoch konnte sie es offenbar nicht ertragen, wenn jemand vor ihren Augen verletzt wurde. Schon gar nicht ihr eigener Sohn. »Sagt mir einfach Bescheid, wie es gelaufen ist«, bat sie und verschwand genauso leise, wie sie gekommen war.

 

***

 

Während die Frauen sich darauf einigten, wie sie ihn in den nächsten Minuten quälen würden, hatte Tyson sich in die Küche zurückgezogen. Einerseits, um nicht im Weg zu stehen, andererseits, um seinen Mut zu sammeln.

Nachdenklich sah er den kleinen Luftblasen zu, die in dem gläsernen Wasserkocher ihren Weg an die Oberfläche suchten. Teekochen beruhigte ihn. Es war etwas, das er von seiner Mutter übernommen hatte. Selbst in dem Moment, in dem sie erfahren hatte, dass ihr Mann gestorben war, hatte sie ruhig reagiert. Tyson erinnerte sich noch gut daran. Sie hatte die schlechte Nachricht in seinem Gesicht gelesen, kaum, dass er zur Tür hereingekommen war, und er hatte an ihren Augen gesehen, wie sie in tausend Splitter zerbrach. Vanessa hatte sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt, war wortlos in die Küche gegangen und hatte Tee aufgesetzt. Sie hatte gewusst, was als Nächstes passieren würde, dass die Aleashira innerhalb einer Stunde ihr Recht einfordern und einen neuen Alpha wählen würde, und so war sie für ihn stark geblieben, obwohl es sie all ihre Kraft gekostet haben musste.

Große Blasen wühlten das Wasser mittlerweile auf und der Wasserkocher piepte. Tysons Hände griffen automatisch nach der Kanne und gossen das heiße Wasser über die losen Teeblätter. Augenblicklich färbte es sich rot. Sein Blick lag auf dem Beutel mit dem weißen Pulver, das auf der Anrichte lag, wo es nicht im Weg war, doch seine Gedanken waren bei dem bevorstehenden Eingriff.

Tyson war immer Warith oder Alpha gewesen. Er hatte nie das Problem gehabt, dass Wunden nicht heilten. Wenn er sich verletzte, streiften Schmerzen seine Gedanken, nur um sofort wieder zu verschwinden. Doch diese Kugel hatte sich unter den Knochen gedrückt, wo sie feststeckte. Da sie nicht aus Silber bestand, beließ die Aleashira es dabei, doch jede Wandlung konnte den kleinen Gegenstand wandern lassen und er wollte nicht herausfinden, in welche Richtung.

»Verwechsle das Zeug nicht mit Zucker«, scherzte Cassidy und deutete auf das kleine Päckchen. Sie wartete hier mit ihm, während Marai und Valerie den Tisch vorbereiteten.

Abwesend nickte er. »Wir spülen es im Klo runter, sobald wir wissen, dass Marais Magie auch bei mir funktioniert.«

Die Drogen zu vernichten war eine Sicherheitsmaßnahme. Auch wenn es bei Wölfen nicht lange wirkte und die Chancen auf Abhängigkeit eher gering waren, gab es immer wieder einige Ausnahmen, wie Layla seit Jahren eindrucksvoll bewies. Waren die Drogen erst einmal vernichtet, war zumindest sicher, dass sie nicht in falsche Hände gerieten.

Er stellte einige Tassen und die Teekanne auf ein Tablett und folgte Cassidy. Valerie hatte Jonah ins offene Wohnzimmer gescheucht, wo dieser auf dem Sofa saß und das Treiben interessiert beobachtete.

»Alles wird gut gehen, es ist nur ein kleiner Eingriff. Schlimmstenfalls tut es weh und die Heilung zieht sich etwas.« Nicht gerade beruhigende Worte, die Cassidy ihm sagte, als er das Tablett auf dem Wohnzimmertisch abstellte. Dabei hatte sie recht. Der Eingriff war wirklich nicht groß, aber sollte die Aleashira in einem ungünstigen Moment mit der Heilung beginnen, konnte das Gewebe trotzdem falsch zusammenwachsen. Klar, mit der Zeit und einigen Wandlungen würde sich das wieder legen, doch bis dahin war es ein schmerzhafter Weg, der Tyson bei der Arbeit einschränken würde.

Resigniert schüttelte er den Kopf. »Cassidy. Sprich mir bitte nie wieder Mut zu.«

»Ich habe nur versucht, zu helfen.« Sie schmollte, was seine Laune deutlich hob. In Momenten wie diesen erinnerte sie ihn sehr an ihre Mutter, damals als sie sich kennengelernt hatten. Eine ungestüme Wölfin in den Wäldern.

»Es ist so weit, wir können anfangen«, holte Valerie ihn in die Gegenwart zurück, zu dem Eingriff, der ihm bevorstand. Schicksalsergeben seufzte Tyson. Er entfernte das Teesieb aus der Kanne und stellte es zum Abtropfen auf den kleinen Teller. Danach erst zog er sich sein Shirt über den Kopf und trat an den improvisierten Operationstisch. Marai hatte bereits am Kopfende platzgenommen, als Tyson sich auf die Platte legte, die mit einem grünen Tuch abgedeckt war. Mit der Hand tastete er an der Tischkante entlang, unsicher, ob er sich festhalten oder lieber ruhig daliegen sollte.

Knochige Finger schoben sich in seine. Becca hatte sich neben ihn gesetzt. Eine kleine Geste, die ihn sofort beruhigte, auch wenn es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, sie zu beruhigen.

Valerie wusch und desinfizierte sich ausgiebig die Hände, bevor sie die sterilen Handschuhe überzog. Ihre glatten, hellbraunen Haare waren zurückgebunden und verschwanden unter einer Kappe aus Kunststoff, um ihren Körper lag ein dünner OP-Mantel, den sie vermutlich ebenfalls im Krankenhaus hatte mitgehen lassen.

Mithilfe einer schmalen Zange griff sie sich einen runden Tupfer aus einer Schale mit einer orange-braunen Flüssigkeit und begann damit großzügig die Haut an seinem Schlüsselbein bis zur Schulter und ein Stück den Hals hinauf zu desinfizieren. Die Kugel war knapp darunter eingeschlagen und er konnte regelrecht fühlen, wie sie sich in ihm bewegte. Als sie fertig war, warf sie den gebrauchten Tupfer in eine kleine Schale und wiederholte den Vorgang zwei weitere Male. Der Alpha hatte einen beißenden Geruch erwartet, doch die Flüssigkeit schien einfach gar keinen zu haben.

Erst als Valerie zufrieden war, nickte sie Marai zu. Tyson schloss die Augen, als er die fast unmerkliche Berührung von Marais Händen an seiner Schläfe spürte. Kälte ging von ihren Fingerspitzen aus. Es fühle sich an, als breitete sich eine schwere Decke erst über seinen Körper, anschließend auch um die Clanmacht, gefolgt von einer dünnen Eisschicht.

Erschrocken riss er die Augen auf, doch anstelle der hellen Zimmerdecke mit der strahlenden Deckenleuchte war da nur Dunkelheit.

***

»Es ist fantastisch!«

Es war Valeries Stimme, die Tyson hörte, als das taube Gefühl um seinen Kopf langsam verschwand. Noch konnte er nichts spüren, doch die Dunkelheit wich Stück um Stück vor ihm zurück. Als würde jemand eine Schicht Zuckerwatte nach der anderen entfernen.

»Gleich setzt die Heilung ein.« Es war nur ein Nebensatz, den Marai während ihres Gespräches mit Valerie an ihn richtete. Aber es genügte, um ihn auf den stechenden Schmerz vorzubereiten, der schon im nächsten Moment durch sein Fleisch jagte. Mit einem zischenden Geräusch zog Tyson Luft in die Lungen, die Muskeln um seine Kiefer verspannten sich, nur um sich kurz darauf wieder zu entspannen.

Es war vorbei. Er riss die Augen auf. Dieses Mal gelang es ihm ohne Probleme.

Vorsichtig setzte er sich auf. Valerie hatte ihre OP-Kleidung bereits abgelegt und einen Großteil ihrer Instrumente wieder verpackt; sie war in ein Gespräch mit Marai vertieft, begeistert über die Möglichkeiten, die sich ihr mit der Meerhexe als Hilfe bei Operationen bot.

Tysons Empfindungen waren noch immer gedämpft. Seine Handflächen waren taub, als würde er Beccas Haut unter seinen Fingern nur durch Watte spüren.

»Das Gefühl vergeht gleich.«

Er zuckte zusammen, als Marai plötzlich wieder neben ihm stand und ihn ansprach. Sie wirkte blass. Die letzten Minuten hatten ihr sichtlich einiges abverlangt. Wie hatte sie sich so anschleichen können? Normalerweise hörte er, wenn jemand an ihn herantrat. Er rieb sich über die Augen, um den Schleier zu entfernen, der noch immer über seiner Sicht lag.

»Warum fühlt es sich so an?«

Die Meerhexe warf einen kurzen Seitenblick auf Becca, ehe sie ihm antwortete: »So sehen Menschen die Welt, wenn der Wolf die Sinne nicht schärft. Es dauert noch zehn Minuten, dann ist auch das vorbei.«

Tyson sah sich hilflos um. Die Welt war leiser, weniger intensiv, fast erschreckend. War es das, was Becca dauerhaft durchmachte? Sie hatte seine Hand nicht losgelassen und lächelte ihn mit zusammengepressten Lippen an.

»Ich muss los, zur Nachtschicht.« Valerie stand bereits an der Tür und auch Marai hatte ihre Tasche schon geschultert. So, wie er sie kannte, wollte sie so schnell wie möglich zurück an den Strand. Sie fühlte sich bei den Wölfen nicht halb so wohl wie am Wasser.

»Danke«, rief Tyson den beiden Frauen nach, aber die Tür fiel schon ins Schloss.

»Was willst du mit dem Projektil machen?«

Beccas Bemerkung ließ ihn den Kopf drehen. In einem Wasserglas auf dem Tisch lag die Kugel. Ein harmloses Stück Metall. Kein Silber. Andererseits, warum sollte Eliza in der Trainingshalle auch Silber laden? Wie wahrscheinlich war es, dass ein Wolf sich dorthin verirrte?

»Ich entsorge das.« Vorsichtig stand Tyson auf. Obwohl seine Augen und Ohren noch nicht wieder so gut funktionierten, wie er es gewohnt war, sein Gleichgewichtssinn schien nicht von Marais Magie beeinträchtigt worden zu sein.

Er brachte das Glas in die Küche und fischte das Stück Eisen heraus. Die Hand schon über dem Mülleimer, entschied er sich doch anders und ließ es stattdessen in seine Hosentasche gleiten, ehe er zu den anderen zurück ins Wohnzimmer ging.

Becca hatte sich mittlerweile zu den jüngeren Wölfen gesetzt. Alle drei sahen ihn an, kaum dass er den Raum betrat.

»Ashton hat geschrieben.« Cassidy teilte es ihm eher beiläufig mit. »Er will mich zum Essen ins Konbâta einladen.«

»Sagt er, warum er dich einladen möchte?« Misstrauen wuchs in Tyson. Ashton mochte seine Sache als Führer der freien Wölfe gut machen, doch irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass der Kerl noch etwas Größeres im Schilde führte.

»Es geht um die Besprechung von Clanangelegenheiten«, antwortete Cassidy. »Zum Beispiel das Wegerecht der Reviere. Ich werde auf jeden Fall hingehen.«

»Keiner sagt, dass du nicht hingehen sollst.« Beccas Stimme war erstaunlich eindringlich, als sie das Wort ergriff. Die Tatsache, dass auch ein anderer Alpha Schwäche zeigte, schien Beccas Selbstwertgefühl gutgetan zu haben. Entweder das oder das Bedürfnis, ihrer Tochter zu helfen, verlieh ihr neue Energie. »Du solltest nur wissen, dass Ashton immer einen Hintergedanken hat. Er hat noch nie einen anderen Alpha zum Essen eingeladen, was heißt, dass das hier keine einfache Einladung ist. Er will der Öffentlichkeit demonstrieren, dass du zu ihm kommst. In seinem Lokal sind alle Rudel vertreten, und wenn du falsch auftrittst, bist du vor den Augen der Nekare sein Bittsteller und kein gleichwertiger Verhandlungspartner mehr. Du kannst es dir nicht leisten, dass Cages Clan dich als schwach ansieht.«

Jonah nickte zustimmend. »Becca hat recht. Er hat das Konbâta nicht nur gewählt, weil es sein Lokal ist. Dort sind an jedem Abend hochrangige Nekare zu Gast, und die werden jeden deiner Schritte beobachten. Wenn du da so hingehst, wie du nun einmal bist, wird herausstechen, dass dein Rudel in der Nahrungskette sehr weit unten angesiedelt ist. Das macht es Cage leichter, dich anzugreifen.«

Cassidy ignorierte den Seitenhieb auf ihren Status und ließ sich schwer gegen die Lehne des Sofas sinken. »Ich kann also nur absagen, aber dann wird es keine Verhandlung über die Reviere geben. Oder ich gehe in geschwächter Position hin.« Sie seufzte. »Und zwar weil das Lokal, in das ich eingeladen wurde, weit über meinem Budget liegt und euch Proletenwölfen der Schein wichtiger ist als die Tatsache, dass ich verdammt nochmal einen Clan leite?« Sie sah Jonah an, der lediglich entschuldigend mit den Schultern zuckte.

»Oder du nimmst dieses unverschämt teure rote Kleid, das ich von dem Jäger geschenkt bekommen habe, und zeigst Ashton und den Nekare, dass wir keine Bittsteller sind.«

Beccas Vorschlag war gut, dennoch zuckte Tyson zusammen. Er hatte das rote Kleid, das sie von Alex geschenkt bekommen hatte, nie gesehen, aber Helen und Cassidy hatten darüber geredet, nachdem sie das Motel ausgeräumt hatten.

»Ein wenig overdressed, meinst du nicht?« Cassidy sah Becca zweifelnd an.

»Generell ja, aber es sollte sich weit außerhalb von Ashtons Preisklasse bewegen, egal was er an diesem Abend auffährt. Du bist eine Alpha. Im Gegensatz zu ihm hast du zwei uralte Clanmächte an deiner Seite, zwei der ersten Wölfe. Hin und wieder ist es wichtig zu demonstrieren, dass man die mächtigste Person im Raum ist.«

Tyson hatte nicht erwartet, dass Becca je wieder so viele Sätze zu claninternen Besprechungen beifügen würde, und atmete erleichtert auf. Er war froh, dass sie Cassidy wieder unterstützen konnte - für sie selbst, für Cassidy und auch für den Clan.

Nun sah die junge Alpha hilfesuchend zu Jonah, der als einziger Nekare im Raum den Feind verkörperte. Dieser zuckte mit den Schultern. »Cassidy, das hier hat wenig mit dir zu tun. Es ist Politik. Ich würde Becca an deiner Stelle vertrauen. Wenn du nicht vorhast, dir einen Designeranzug zu kaufen, dann nimm das Kleid.«

»Wenn es noch da ist«, murmelte Cassidy. »Wir haben es in der Wohnung gelassen, dann kamen die Jäger und seitdem war keiner von uns mehr im Haus.«

»Nachschauen schadet nicht.« Tyson wünschte sich, er hätte Cassidy mehr Rückhalt geben können, so, wie sie es verdiente. Doch für den Moment waren Ratschläge alles, was Becca und er anzubieten hatten.

Cassidy zuckte mit den Schultern. »Ich bin morgen ohnehin dort, weil ich mich mit einem Immobilienmakler treffe. Vielleicht haben es die Jäger ja dagelassen.«

Tysons Blick schnellte von Cassidy zu Becca. Immerhin hatte sie die Adresse des Motels verraten, und wie Tyson erwartet hatte, blickte sie nun beschämt auf ihre Hände. Ihre Finger knoteten sich ineinander, als würde sie versuchen, sich von den Gedanken abzulenken, die sowohl ihre alte Wohnung als auch das Kleid, das Alex ihr geschenkt hatte, unweigerlich hervorrufen würden.

Cassidy stand auf und Jonah tat es ihr gleich. Der Nekare sah peinlich berührt weg, als Cassidy zu Becca trat und ihre Arme um sie schlang. Die junge Alpha drückte vorsichtig den mageren Körper an sich, ehe sie sich aufrichtete. »Ich bin so dankbar, dass du wieder da bist.«

Das Tyson Cassidys Flüstern hörte, machte ihm bewusst, dass seine Sinne sich wieder normalisiert hatten.

Becca lächelte gequält. Sie drückte Cassidys Hand, ehe auch Jonah sich verabschiedete und die beiden zu Vanessa gingen, um ihr zu sagen, dass die Operation gut verlaufen war.

Kapitel 8

 

Christoph schlenderte die Treppe in den Keller hinunter. Die große Küche im untersten Stockwerk des Hauses hatte nichts Gemütliches an sich. Edelstahl, wohin man sah. Fleckenfrei natürlich, denn Imogen sorgte dafür, dass die Angestellten ihre Arbeiten mit Perfektion verrichteten.

Irene, seine Frau, hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die Küche hier wesentlich besser mit Essbarem bestückt war als ihr Gegenstück im Erdgeschoss. Was auch daran lag, dass die Haushälterin das Essen für die Familie hier unten zubereitete, während die Küche oben der Dekoration diente. Ein Umstand, um den Christoph sich noch nie Gedanken gemacht hatte. Die letzten Wochen hatte er ohnehin täglich außer Haus gefrühstückt, doch heute gab es keinen Grund, das Grundstück so früh zu verlassen.

Missmutig sah er in den Kühlschrank. Er war voll, doch es befand sich nichts darin, was auch nur annähernd seinen Appetit getroffen hätte. Andererseits wusste er gerade auch nicht so genau, wonach ihm der Sinn überhaupt stand.

Mit einem Seufzen schloss er den Kühlschrank wieder.

»Vermisst du deine morgendliche Folterrunde?« Graces neckender Tonfall half nicht dabei, seine Laune zu bessern.

Christoph, der sie eintreten gehört hatte, zuckte mit den Schultern und drehte sich zu seiner Schwester um. »Wieso? Willst du dich als Ersatz anbieten?« Gleich darauf schüttelte er jedoch verächtlich den Kopf. »Nein, ich vermisse meine morgendliche Folterrunde nicht«, präzisierte er. »Sie ist ein nötiges Übel. Aber ich warte noch immer auf die Reaktion unseres Vaters. Immerhin haben wir zwei Alphas aus der Lagerhalle verloren.«

Grace musterte ihn, ehe sie den Kopf schüttelte. »Wir haben gar nichts verloren. Die Jäger, die uns die Wölfin gebracht haben, haben schlampig gearbeitet. In ihrer Haarspange war ein Sender. Fast, als hätte sie ihre Gefangennahme geplant.«

Christoph sah auf – diese Information war ihm neu. Die Wölfe in Los Angeles verhielten sich bei weitem nicht so, wie er es erwartet hatte.

Als wären sie Menschen und keine Tiere.

Er verdrängte diesen Gedanken. »Woher hatten die Jäger das Mädchen eigentlich? Und welches Ziel hat Steve mit ihr verfolgt?«

Graces Gesicht zeigte nur zu deutlich, dass auch sie keine Informationen von ihrem Vater bekommen hatte. Oder - und das war wahrscheinlicher - sie war nicht bereit, diese zu teilen. Schnell wechselte Christoph das Thema, um nicht zu zeigen, wie sehr es ihn traf, dass sein Vater ihm noch immer nicht vertraute. »Was denkst du, wie lange hat sie noch?«

Er musste keinen Namen nennen. Grace wusste auch so, dass er nach Becca fragte.

Seine Schwester nahm einen Schluck Kaffee, doch Christoph kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich Zeit kaufte. Trotz seiner wachsenden Ungeduld wartete er, bis sie ihm nicht länger ausweichen konnte.

»Eine Woche, vielleicht zwei. Das kommt darauf an, wie gut sie sich körperlich erholt. Allerdings wurde sie in kein Krankenhaus eingeliefert, was vermutlich heißt, dass sie sie irgendwo in einer Wohnung untergebracht haben.«

Ungeduldig tippte er mit seinen Fingerspitzen auf die Anrichte. Grace wusste genau, auf welche Informationen er wartete. Warum musste sie immer ein Spiel aus allem machen?

Sie seufzte und wurde in ihrer Erklärung etwas genauer. »Ich habe an ihr ein Präparat mit Langzeitwirkung ausprobiert. Die ersten Tage sollte sie noch keine Symptome zeigen. Ich würde sagen, sie hat eine fünfzig-fünfzig Chance zu überleben. Mit etwas Glück gibt es bald einen Wolf weniger, um den wir uns kümmern müssen.«

Christoph achtete darauf, dass Grace die Verachtung nicht in seinem Gesicht lesen konnte. »Sie war kein Wolf mehr, als sie mir gestohlen wurde.«

»Sie war ein Testobjekt, Christoph. Sie wurde nicht dir gestohlen«, wies Grace ihn mit scharfer Stimme zurecht, »sondern der Forschung.«

Christoph schnaubte. »Ich weiß sehr genau, dass sie ein Forschungsobjekt war. Immerhin habe ich mich perfekt an dein Protokoll gehalten, oder nicht?«

»Bis auf die Tatsache, dass du sie fast hättest sterben lassen. Sei froh, dass ich Steve nichts von dem Vorfall erzählt habe. Er hätte seine ganz eigenen Theorien dazu.«

Die hatte Christoph auch. Von Verrat aus den eigenen Reihen zu Wölfen, die klüger waren, als sie sein sollten, häuften sie sich. Er musterte Grace. Hatte seine Schwester Becca genug gehasst, um sie und die anderen Testobjekte einfach zu beseitigen? Alex mochte ein Alibi haben, aber ihre Gelassenheit über den Ausbruch war ihm von Anfang an verdächtig vorgekommen. Als wüsste sie etwas, das sie nicht mit ihm teilte. Aber ob sie wirklich kaltblütig genug war, ihren Vater dermaßen zu belügen?

»Wäre sie tot, müssten wir uns jetzt keine Gedanken darüber machen, dass demnächst ein offensichtlich gefolterter Körper in der Leichenhalle auftaucht«, schoss er zurück. »Wir hätten uns anderweitig um sie kümmern können.«

Er war einen Schritt auf Grace zugetreten, aber sie hielt seinem Blick unbeeindruckt stand. »Wenn du dein Schoßhündchen rechtzeitig findest, kann ich ihr helfen. Aber unter uns: Los Angeles hat vier Millionen Einwohner und die Wölfe sind abgetaucht. Deine Chancen stehen eher gering. Es ist ein kalter Entzug. Ihre Überlebenschancen hängen davon ab, wie gut sie sich erholt. Vielleicht auch davon, wie stark ihr Herz ist. Immerhin hat es zweimal ausgesetzt - das wird Schäden hinterlassen haben. Und ich habe das Präparat nicht darauf ausgelegt, dass man es absetzt. Im Gegenteil: Es ist eher so eine Friss-Oder-Stirb-Sache. Sie ist vielleicht dem Labor entkommen, mir aber mit Sicherheit nicht.«

Sie grinste, ehe sie einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee nahm und Christoph in der Küche stehen ließ.

Vier Millionen Einwohner - und einer von ihnen war eine tickende Zeitbombe, die sich entweder als Fehlzündung herausstellen oder größtmögliche Vernichtung mit sich bringen würde.

Er schauderte bei dem Gedanken daran, dass es zu Kollateralschäden kommen könnte. Ausgelöst von ihrer Nachlässigkeit, obwohl sie hier waren, um genau dies zu verhindern.

Kapitel 9

 

Das Gefühl, das in King vorherrschte, war ihm bis zu diesem Tag unbekannt gewesen. Mit seiner aktuellen Laune ging er sich selbst auf die Nerven. Wäre da nicht die kochende Wut in ihm gewesen, hätte er die Situation vielleicht witzig gefunden. Zumindest Jonah schien sich zu amüsieren. Er folgte King, der seit einer Stunde ziellos durch die Straßen von Los Angeles streifte, und gestattete sich das Grinsen lediglich, wenn er glaubte, dass King nicht in seine Richtung sah. Immerhin hatte er den Anstand gehabt, in den letzten fünfzehn Minuten kein Wort zu sagen.

Sah so sein neues Leben aus? Unzufriedenheit gepaart mit Slapstick? King sah sich um. Wo war er überhaupt? Diese Straßen kannte er nicht. Er wusste nicht einmal, wie er hergekommen war. Andererseits war es auch egal. Aktuell hatte er ohnehin kein bestimmtes Ziel.

»Der Artikel über das abgebrannte Drogenlabor hat meinem Chef so gut gefallen, dass er mir eine Praktikantin aufs Auge gedrückt hat«, durchbrach Jonah auf einmal die Stille der letzten Viertelstunde.

King blieb stehen und musterte seinen Freund. Langsam zogen seine Mundwinkel sich zu einem Grinsen nach oben, als ihm klar wurde, was der unscheinbare Satz, den Jonah ihm grade anvertraut hatte, bedeutete.

»Du sollst Babysitten? Eine Praktikantin? Ist sie hübsch?«

Mit einem theatralischen Seufzen ging Jonah weiter. King beeilte sich, wieder aufzuschließen.

»Davon abgesehen, dass sie eine Praktikantin ist und ich nicht im Weißen Haus arbeite, ist sie vor allem nervig. Sie hat einen Blog, hält sich für eine große Journalistin und ihr Daddy ist mein Chef.«

Jonah sah sich um. Auch er schien nach etwas vertrautem Ausschau zu halten.

»Wohin laufen wir überhaupt?«

Die schlechte Laune kehrte mit einem Schlag zurück.

»Keine Ahnung.« Wütend kickte der Warith gegen einen Stein, der von der nächsten Mauer abprallte und auf die Straße hüpfte.

Sein Wolf war unruhig. Seit die Clanmacht sich wieder in seine Gedanken gesetzt hatte, schien er sich zu winden. Auch das Laufen durch die Stadtlandschaft brachte keine Linderung, aber er konnte nicht in den Wald, um seinem Wolf freien Lauf zu lassen. Nicht jetzt. Nicht, wenn er auf Cages Anruf wartete, in der Hoffnung, dass sein Vater ihm eine Aufgabe gab, die ihn näher an die Informationen brachte, die er brauchte.

Eine Bewegung auf der anderen Straßenseite erregte seine Aufmerksamkeit. King blieb stehen. Er atmete tief durch und wandte sich seinem Begleiter zu. Über die Schulter seines Freundes fiel sein Blick auf den gegenüber liegenden Gehweg.

»Fuck!«

Schnell griff er Jonah am Arm und zog ihn in den nächsten Hauseingang. Seinem Freund blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Selbst, als der Warith nach draußen spähte, stellte Jonah keine Fragen, sondern nahm das untypische Verhalten seines Warith einfach hin.

»Willst du mich verarschen?« King biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte.

»Wieso denn? Du benimmst dich seltsam«, verteidigte sich sein Freund. »Ich warte nur ab, dass du mir sagst, was los ist.«

»Nicht du.« Gereizt fuhr King seinen Begleiter an und deutete dann auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Cassidy.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752122411
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Jäger Werwolf Dark Romance Wandler Fantasy Los Angeles Wolf Liebe Romantasy düster dark Urban Fantasy

Autor

  • Katania de Groot (Autor:in)

Katania de Groot liest seit zwanzig Jahren Fantasy. Zwischen Hund und alltäglichem Chaos, schreibt sie an ihrer Dark-Romantasy-Reihe Wolfkisses. Romantisch, düster und manchmal darf gelacht werden.
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Titel: Wolfkisses: Loyalität