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Schuld stirbt nie

Thriller

von Marcus Ehrhardt (Autor:in)
312 Seiten

Zusammenfassung

Während einer Demonstration im Herzen Berlins explodieren zwei Reisebusse. Lennard Bruckmann verfolgt gebannt die Berichte über den Anschlag im TV, als er auf dem Bildschirm eine unmögliche Entdeckung macht: Unter den Teilnehmern der Demo erkennt er seine Jugendfreundin, seine Freundin, die vor 15 Jahren starb. Und für deren Tod Lennard sich verantwortlich fühlt. Besessen davon, sie zu finden, macht er sich auf die Suche, obwohl ihm niemand glaubt. Seine Recherchen sorgen für mächtig Wirbel und rufen schon bald die Polizei auf den Plan, denn auch die Ermittler zeigen großes Interesse an der Frau. Doch welches Geheimnis umgibt die Unbekannte? Und warum tauchen plötzlich weitere, gefährliche Mitspieler in diesem undurchsichtigen Spiel auf? Ein Spiel, dessen Ausmaß Lennards Vorstellungskraft bei weitem übersteigt. Ein Spiel, das nicht nur ihn in tödliche Gefahr bringt ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

SCHULD STIRBT NIE

 

 

 

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

Marcus Ehrhardt

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

 

Impressum:

 

© 2020

Marcus Ehrhardt

Klemensstraße 26

49377 Vechta

 

Herstellung und Verlag der Printausgabe:

BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 9783752660777

Korrektorat / Lektorat: Tanja Loibl

Covergestaltung: MTEL-Design

unter Verwendung eines Motivs

von Shutterstock Nr. 1046891332

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Jede Weitergabe oder
Vervielfältigung in jeglicher Form ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erlaubt.

Kapitel 1

 

 

 

Heute, Berlin

 

Die Menschenmenge drängte sich dicht durch die Straße, ganz so, als ob es die Seuche nicht gäbe. Das war ja auch der Grund für diese Demonstration, machte sich Nadja zum wiederholten Male klar, die im mittleren Bereich des Pulks mitlief. Keiner der Demonstranten nahm Notiz von der jungen Frau, die sich immer weiter nach vorn arbeitete, was sich einfacher gestalten würde, wenn sich die Teilnehmer an die Abstandsvorgaben hielten. Kommt jetzt auch nicht mehr darauf an, dachte sie grimmig und schob sich zwischen einer Gruppe Gleichgesinnter hindurch, die lachten und herumalberten, als befänden sie sich gerade auf einem Junggesellenabschied. Einzig die selbst gekritzelten Anti-Merkel-Sprüche auf ihren durchgeschwitzten Shirts passten nicht zu dieser Vorstellung.

»Hörst du mich?«, fragte Nadja, als ob sie mit einem unsichtbaren Begleiter sprechen würde. Sie schaute sich um, doch niemand starrte sie deswegen an. Auch den Polizisten der Hundertschaft, die sie nicht darum beneidete, in schwerer Montur quasi Spalier für den Demonstrationszug stehen zu müssen, schien sie nicht aufzufallen. Zumindest sah sie keinen Beamten, der sie fixierte und vielleicht auch noch etwas in sein Mikro sprach. Andererseits wunderte es Nadja auch nicht, hatte sie sich doch lange genug Gedanken über das Outfit gemacht, das sie heute trug, bei dem Unauffälligkeit an erster Stelle stand.

»Ja, tadellos«, hörte sie ihren Gesprächspartner über den mit einem Clip an ihrem Ohr befestigten Lautsprecher antworten, den ihr darüberfallendes Haar verdeckte.

»Lauter bitte, Juri«, wiederholte sie, weil die Geräuschkulisse um sie herum wie in Wellen immer wieder aufbrauste und abebbte, je nachdem, welche Teilnehmergruppe gerade meinte, ihren Forderungen lautstark Nachdruck verleihen zu müssen.

»Ja!«, sagte er wieder, deutlich lauter.

»So ist es besser«, bestätigte sie mit leicht bebender Stimme. »Wie lange habe ich noch?«

»Etwa eine halbe Minute.« Nadja schluckte. Die Zeit verging viel zu schnell, trotz der Planänderung. Noch vor wenigen Wochen hatten sie vorgehabt, diese Aktion während einer ›Fridays for Future‹-Demo zu starten. Es war einfach zu verlockend: so viele potentielle Opfer aus gutsituierten Elternhäusern, ein frontaler Schlag mitten ins Gesicht der Eliten.

Die Seuche durchkreuzte ihren Plan. Doch sie ließen sich nicht davon entmutigen, sondern warteten geduldig die nächste Gelegenheit ab. Und die war mit der heutigen Hygiene-Demo gekommen. Warum haderst du dann mit dir?, fragte sie sich gedanklich. Du wolltest es doch so, also zieh es jetzt durch!

»Alles klar«, sagte sie nur und griff in ihre Handtasche. Nur noch wenige Reihen liefen vor ihr, sie hatte also den Kopf des Protestzuges erreicht. Der kleine Metallkasten in ihrer Hand fühlte sich kühl an. Langsam zog sie ihn hervor und streckte ihren Arm aus. Einige Leute um sie herum wichen von ihr, als würde sie ihnen suspekt vorkommen. Wenn ihr wüsstet, ging es Nadja durch den Kopf.

»Jetzt«, hörte sie Juri sagen, dann schloss sie die Augen und drückte auf den Knopf, den sie leicht erhaben auf der Vorderseite des Kästchens unter ihrem Zeigefinger spürte. Klick! Für einen Moment schien Nadjas Welt stillzustehen – dann brach die Hölle los ...

Kapitel 2

 

 

 

Zur selben Zeit, nordöstliches Brandenburg

 

Jetzt stand es unwiederbringlich fest: Richard Bruckmann war fort. Tot und begraben. Das heißt, nicht ganz, denn noch stand ich vor der offenen, an die zwei Meter tiefen Grube, in gebührender Distanz zu den weiteren Teilnehmern der Trauerfeier. Eineinhalb Meter Mindestabstand, so lautete eine der Regeln, die als Schutz dienen sollten gegen das verdammte Covid-19-Virus, das uns und die ganze Welt vor ein paar Monaten überrollt und immer noch im Griff hatte. Unser Landkreis war bislang von der Pandemie weitestgehend verschont geblieben, nur eine Handvoll Menschen hatte sich infiziert und alle waren gut durch diese Krankheit gekommen. Von daher war es eine logische Folge, dass die Einheimischen es nicht zu genau nahmen mit den noch verbliebenen Einschränkungen, mit denen uns die Regierung belegt hatte.

»Ist doch eh alles eine Erfindung von denen da oben«, sagten sie, »Bill Gates will uns alle chippen und später ermorden«, »Alles Fake-News« oder »Das Virus ist auch nicht gefährlicher als `ne Grippe.« Ich hatte keine Ahnung, wer richtig lag, ob wir ohne den sogenannten Lockdown ähnlich glimpflich durch die Pandemie gekommen wären, oder, wie einige Studien nahelegten, wir zehntausende Menschenleben allein in Deutschland durch die strengen Maßnahmen gerettet hatten. Wie auch immer, solange ich nicht mit irgendwelchen abstrusen Verschwörungstheorien belästigt wurde, ließ ich jede Meinung gelten.

Die Mittagssonne schien durch das Geäst der ehrfurchterregenden alten Ulme, die neben der Grabstelle in den Himmel ragte. Ihre Zweige wiegten sich im seichten Südwestwind, wodurch die Schatten wie tanzende Ameisen um die Grube kreisten. Das hätte ihm gefallen, dessen war ich mir sicher. Genauso, wie er die fast 30 Grad Celsius begrüßt hätte, mit der die Sonne erbarmungslos auf die vornehmlich in Schwarz gekleidete Trauergemeinde niederbrannte. Neben sicher vielen ehrlichen Tränen rannen so weitaus mehr Schweißtropfen über die Gesichter der Menschen, die sich zum letzten Geleit des Mannes eingefunden hatten, der vielen ein Freund, einigen ein Vorbild und mir stets ein guter Berater gewesen war.

Der Pfarrer richtete erneut das Wort an die Menschen, nachdem er in der Kapelle zuvor bereits eine angemessene Abschiedsrede gehalten hatte. Was genau er sagte, verstand ich nicht, beziehungsweise, ich hörte nicht hin, denn ich war mit meinen Gedanken abgeschweift, erinnerte mich an Situationen, die ich mit dem Mann vor mir im Sarg erlebt hatte.

Erst der Arm Isabells an meiner Taille ließ mich wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren. Sie legte ihren Kopf an meine Schulter und drückte sich fest an mich. Auch meine Freundin hatte meinen Vater gemocht, wobei sie sich in den drei Jahren unserer Beziehung höchstens zehn oder zwölf Mal getroffen hatten.

»Wie geht´s dir, Lennard?«, fragte sie mich leise, kaum hörbar. Wie sollte es einem schon gehen, wenn der eigene Vater plötzlich und unerwartet starb, nachdem man als Einzelkind bereits seine Mutter verloren hatte? Fühlte ich mich einsam? Entwurzelt? Genau konnte ich es in diesem Moment gar nicht beschreiben, es war ein Sammelsurium von Emotionen, die sich seit der Nachricht seines Todes vor knapp zwei Wochen bei mir aufgestaut hatten.

»Okay«, antwortete ich deshalb lediglich. Isabell kannte mich gut genug, um sich im Augenblick damit zufriedenzugeben und mich nicht weiter zu bedrängen. Wie in Trance nahm ich in der Folge die anderen Trauergäste wahr, die nacheinander jeweils eine Schaufel Erde auf den Sargdeckel warfen, mir kondolierten und sich anschließend von der Grabstelle entfernten, bis sich am Schluss der Pfarrer von uns verabschiedete und neben mir nur noch Isabell und Philip standen. Da ich in den letzten Jahren in Berlin lebte und meinen Vater eher selten in unserem Heimatdorf in Brandenburg besucht hatte, war das Verhältnis zu den anderen Bewohnern merklich abgekühlt. Daher hatte ich mich gemeinsam mit Isabell gegen den hier üblichen Leichenschmaus entschieden, zu dem sonst Nachbarn und Freunde eingeladen wurden.

 

***

 

Mein Elternhaus kam mir seltsam fremd vor. Auch wenn ich hier meine gesamte Kindheit verbracht hatte, viele schöne, traurige, aber auch lustige Erlebnisse damit in Verbindung brachte, es war so gar nicht mehr dasselbe, wenn mein Vater nicht irgendwo herum zimmerte, in der Küche stand und Essen für uns zubereitete oder einfach ein philosophisches Gespräch über meine Zukunft mit mir auf der Veranda führte.

»Schade, dass Jonas nicht gekommen ist«, sagte Philip, während er die Kühlschranktür öffnete und eine Dose Bier herausholte. »Sonst noch jemand?«, fragte er, sie hochhaltend.

»Gern«, sagte Isabell, woraufhin er ihr die Dose zuwarf, die sie elegant auffing.

»Im Moment nicht«, erwiderte ich, ohne auf unseren Freund Jonas einzugehen, der sich seit dem Tod meinens Vaters weder hatte hören noch sehen lassen. Das wunderte mich allerdings auch nicht, denn wir hatten uns über die Zeit entfremdet und es musste Jahre her sein, dass ich ihn zufällig getroffen hatte. Getroffen, aber nicht gesprochen. Beim letzten Mal gingen wir nämlich lediglich aneinander vorbei und grüßten uns knapp. Durch meinen Wegzug nach Berlin zerbröckelten so ziemlich alle sozialen Verbindungen hier. Bei Philip sah es durch seine eher zwielichtigen neuen Bekannten, die ihm schließlich einen mehrmonatigen Knastaufenthalt eingebrockt hatten, nicht anders aus. Umso bemerkenswerter fand ich, dass er und Isabell sich gut verstanden, obwohl sie genau wussten, auf welche Art und Weise der jeweils andere den Lebensunterhalt verdiente. Isabell hatte mir diesbezüglich einmal verraten, dass es ihr komplett egal wäre, wenn er krumme Dinge drehte, auch wenn sie dadurch gegen eine Handvoll Dienstvorschriften verstoßen würde. Aufpassen müsste er nur, wenn er in ihrem Aufgabengebiet tätig werden oder zum Gewaltverbrecher mutieren würde. »Dann pack ich ihn an den Eiern«, hatte sie ernst gesagt und mit einer hochgezogenen Augenbraue hinzugefügt: »Du weißt, dass ich einen festen Griff habe.« Oh, ja, den hatte sie. Doch Philip neigte überhaupt nicht zur Gewalt, auch wenn er schon immer eine große Klappe hatte und durch seine kräftige Erscheinung bereits früher dafür gesorgt hatte, dass uns die älteren Jungs in Ruhe ließen. Und mit seinen Autoschiebereien – er war darin verstrickt gewesen, dass Luxuskarossen in Berlin gestohlen und zügig nach Polen und in die Ukraine zur weiteren Verwendung ›überführt‹ wurden – kam er Frau Polizeioberkommissarin Isabell Meyer nicht in die Quere, die bei der Drogenfahndung zu Hause war.

»Hast du denn noch Kontakt zu Jonas?«, wollte Isabell von Philip wissen.

»Nur sporadisch. Das letzte Mal hab ich ihn vor etlichen Wochen auf dem Sportplatz gesehen, als unser FC gespielt hat. Unterhalten hat er sich aber nicht mit mir.« Philip nahm einen großen Schluck. »Es geziemt sich für einen Studienrat wohl nicht, mit einem wie mir gesehen zu werden.«

»Er wird schon seine Gründe haben«, warf ich ein und bedeutete meinem Freund, mir jetzt doch ein Bier zu geben, was in der nächsten Sekunde in Form eines Dosengeschosses angeflogen kam. Es zischte, als ich die Lasche hochzog und der Schaum heraustrat. Ich schaffte es, das meiste davon abzutrinken. Nur wenig rann am Blech hinunter und tropfte auf die Holzdielen des Küchenbodens. Dann erhob ich den Arm: »Auf Richard Bruckmann.«

»Auf Richard Bruckmann«, sagte auch Philip, während er mit mir anstieß.

»Er war einer von den Guten und musste zu früh gehen«, fügte Isabell hinzu und sprach damit das aus, was wir alle dachten. Ihre Dose schepperte ebenfalls gegen unsere. Wie auf Kommando kippten wir den Gerstensaft gleichzeitig in uns hinein und nachdem Philip einen herzhaften Rülpser losgelassen hatte, wandte er sich mir zu.

»Was machst du mit der Bude? Willst du sie verkaufen oder vermieten?«

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Das Haus zu verkaufen, hört sich aber momentan für mich doch sehr endgültig an.« Zwangsläufig hatte ich mir den Kopf über diese Frage schon zerbrochen, was allerdings damit zu tun hatte, dass mir ein paar Tage nach Paps Tod sein Bankberater von den Hypotheken erzählt hatte, die er in den letzten Jahren aufgenommen hatte, sodass Belastungen von etwa hunderttausend Euro darauf lagen. Ich hatte keine Ahnung, was mein Vater mit der Kohle angestellt hatte und wollte auch nicht darüber nachdenken. Aber ich hätte meiner Freundin davon erzählen sollen, soviel war schon mal klar. Nun gut, das würde ich nachholen.

»Lass dir damit noch Zeit«, riet mir Isabell. »Es ist schließlich dein Elternhaus, wenn du es verkaufst, verkaufst du damit auch einen Teil von dir. Glaub mir, ich weiß, wie sich das anfühlt.«

»Mh.« Ich stimmte ihr nickend zu. Es war keine hohle Phrase, denn meine Freundin wusste, wovon sie sprach. Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie ein Teenager war. Dadurch verloren sie schließlich die kleine Villa in der Nähe der U-Bahn-Station Nikolassee im Berliner Bezirk Steglitz-Charlottenburg an die Bank, da sie nach der Trennung trotz ihrer gutbezahlten Jobs die Raten nicht mehr aufbringen konnten. Das Brummen ihres Smartphones unterbrach meinen Gedankengang und ich beobachtete, wie ihr die Gesichtszüge entglitten.

»Was?«, rief sie aufgebracht ins Gerät und fuhr sich mit der Hand durch die langen, blonden Haare, die sie jetzt offen trug, nachdem sie sie auf der Beerdigung zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Ich sah besorgt von ihr zu Philip, der mit gerunzelter Stirn fragend zurückblickte, und wieder zu Isabell. »Mh, verstehe, mh, alles klar, ich mach mich sofort auf den Weg«, erklärte sie dem Anrufer und beendete das Gespräch. Kopfschüttelnd schaute sie vom Display hoch.

»Was ist los?«, fragte ich mit sorgenvoller Stimme.

»Ich muss zurück nach Berlin. Es gab einen Vorfall mit wahrscheinlich terroristischem Hintergrund.« Einen Vorfall? Einen Anschlag? Ohne Konkretes zu wissen, beschlich mich ein seltsames Gefühl der Hilflosigkeit. Spätestens seitdem Ende 2016 ein gestohlener Sattelschlepper über 50 Besucher des Weihnachtsmarktes auf dem Breitscheidplatz in Charlottenburg angefahren und dabei elf Menschen getötet hatte, war mir und wahrscheinlich den meisten Deutschen klar, dass uns der Terror endgültig erreicht hatte. Sicher, die Gedanken an 9-11, die Anschlagsserie in Paris 2015 oder den Anschlag in Tunesien, bei dem etliche Touristen am Strand erschossen worden waren, ließen mir noch immer einen Schauer den Rücken hinunterlaufen, dennoch hatten diese Geschehnisse etwas nicht Greifbares, Abstraktes. Ganz anders als ein Vorfall quasi vor meiner Haustür. Philip reagierte etwas schneller als ich.

»Aber du bist doch bei der Drogenfahndung?«

»Richtig«, erwiderte sie auf seinen Einwurf, »doch in so einem Fall werden alle verfügbaren Kräfte mobilisiert. Das verläuft nach einem strengen Protokoll, über das ich dir leider keine Details sagen darf.« Sie trat auf mich zu und nahm mich in den Arm. »Tut mir leid, Schatz, ich muss los.«

»Ja, natürlich, nimm ruhig den Wagen. Phil kann mich zur Bahn bringen. Deine Sachen bring ich dann heute Abend mit.«

»Danke«, sagte sie und gab mir einen kurzen Kuss. »Mach´s gut, Philip, bis zum nächsten Mal.«

»Hau rein und holt euch das Dreckschwein.« Wir schauten meiner Freundin hinterher, wie sie nach ihrer Lederjacke und der Handtasche griff und auf die Tür zuging, die von der Küche zur Hofauffahrt führte, auf der unser Wagen parkte. »Tolle Frau«, sagte er anerkennend, nachdem wir hörten, wie sie vom Hof fuhr.

»Hast du ihr etwa wieder auf den Arsch geguckt?«, stichelte ich.

»Wenn sie so damit vor mir herumwackelt«, gab er zurück. »Aber nun mach die Glotze an, ich will wissen, was da passiert ist.«

»Oh, ja klar, ich auch.« Wir gingen ins Wohnzimmer, wo ich den alten Röhrenfernseher anschaltete, den mein Vater noch nicht gegen einen modernen Flatscreen eingetauscht hatte. Offizieller Grund dafür war seine unumstößliche Auffassung, dass dessen Bild schärfer und besser wäre. Insgeheim war ihm sicher bewusst gewesen, dass es rein nostalgische Gründe waren, denn der Grünstich des Gerätes konnte auch ihm nicht verborgen geblieben sein. Nach einer kurzen Vorlaufzeit materialisierte sich ein Bild auf der gewölbten Glasfront.

»Es ist doch immer wieder ein Genuss mit diesem Gerät, wenn nur das nervige Rauschen nicht wäre«, erklärte Philip, ließ sich auf den Sessel fallen und legte die Füße auf den kleinen Hocker. Sein zufriedener Gesichtsausdruck gefror in dem Moment, in dem wir das Bild auf der Mattscheibe erkennen konnten. »Oh, mein Gott!«, entfuhr es ihm und sein Mund blieb offen stehen.

»Das kann doch nicht wahr sein!« Fassungslos verfolgte ich die TV-Aufnahmen. Aus der Vogelperspektive – wahrscheinlich wurde von einem Helikopter oder einer Drohne aus gefilmt – erkannte ich den Straßenring, der sich wie ein Schal um die Siegessäule legte. Das war es aber auch schon mit der Normalität. Hektisch wirkende Zivilisten, uniformierte und schwer bewaffnete Cops einer Hundertschaft, blinkende Lichter von wie an einer Perlenschnur aufgereihten Polizei- und Rettungswagen sowie die der Feuerwehr auf der einen, schwarzer Rauch, der aus zwei brennenden Reisebussen aufstieg, auf der anderen Seite, ließen die Szenerie wirken wie nach einem Flieger- oder Raketenangriff. So, wie man es sonst in den Nachrichten über Beirut, Kabul oder Palästina sah. Nur war es jetzt in meiner Heimatstadt – mitten in Berlin, dem Herzen der Bundesrepublik, der Stadt, die in Deutschland wie keine zweite für Offenheit und Vielfalt stand.

Überall auf der mehrspurigen Straße lagen Geröll und Fahrzeugteile herum, die offensichtlich von den Bussen stammten. Eine neugierige Menschenmenge drängte zur Unfallstelle, die Handys gezückt, bereit, ein paar möglichst schockierende Bilder oder Videos zu machen, um sie später Freunden in den sozialen Netzwerken zeigen zu können. Mich widerten sie an, diese verdammten Schaulustigen, und ich wünschte mir, die Cops würden mal richtig durchgreifen. Doch die hatten Mühe, den Pöbel von der Unglücksstelle fernzuhalten.

»Mach mal den Ton lauter«, sagte Philip und erst jetzt fiel mir auf, dass das Gerät stummgeschaltet war.

»... aus bisher ungeklärter Ursache kam es zu zwei direkt aufeinanderfolgenden Explosionen zweier Reisebusse, die sofort danach Feuer fingen«, hörten wir die Nachrichtensprecherin sagen. »Nach Aussage der beiden Fahrer, die wie durch ein Wunder mit ein paar kleineren Brand- und Schürfwunden davongekommen sind, befanden sich zum Zeitpunkt der Explosionen keine Fahrgäste in den Bussen, teilte uns die Polizei mit. Die Teilnehmer der Hygiene-Demo, die heute planmäßig über die Straße des 17. Juni bis zum Reichstag ziehen wollten, um dort vor dem Bundestag zu demonstrieren, hatten die Fahrzeuge glücklicherweise noch nicht erreicht, als der Anschlag ausgeführt wurde. Somit ist nach momentanem Erkenntnisstand niemand zu größeren körperlichen Schäden gekommen. Einige Menschen wurden von herumfliegenden Fahrzeugteilen getroffen, wodurch es zu Prellungen und leichteren Schnittverletzungen gekommen ist. Die mit über 500 Einsatzkräften vertretene Polizei, die einen extremistischen Hintergrund nicht ausschließt, hat den Regierungsbezirk weiträumig abgeriegelt und in diesen Minuten sind Beamte mit Spürhunden damit beschäftigt, die Umgebung nach weiteren Gefahrenquellen abzusuchen. In wenigen Minuten erwarten wir eine Pressekonferenz des Innensenators, zu der wir live schalten werden.«

»Das ist doch Wahnsinn! Stell dir vor, die Leute wären gerade an den Bussen vorbeigelaufen, als die Bomben hochgegangen sind. Das hätte Tote gegeben.«

»Woher willst du wissen, dass es Bomben waren?«, fragte ich und kam mir selbst dämlich vor. Was hätte es sonst sein sollen, wenn zwei Busse gleichzeitig explodiert waren? Doch ich wollte es nicht wahrhaben, dass schon wieder Terror durch die Stadt gezogen war, wobei mich das überhaupt nicht wunderte, bei den ganzen Extremen: Rechte, Linke, Islamisten, Salafisten, Hooligans, Ostblockmafia, arabische Familienclans – scheinbar endlos war die Liste derer, die mir als Verursacher dieses Anschlags in den Sinn kamen.

»Dein Ernst?«

»Nein, natürlich nicht«, bestätigte ich kopfschüttelnd.

»Das Land geht vor die Hunde, sag ich dir.«

»Ach komm, wenn sich jeder mal etwas beruhigen und hinterfragen würde, ließe sich für die meisten Probleme eine Lösung finden«, antwortete ich mit meinem Optimismus, den einige für Naivität hielten, und wer weiß, vielleicht lagen sie damit auch richtig. Dennoch war ich nicht bereit, den Kopf in den Sand zu stecken.

»Ja, genau, Traumtänzer.« Philip sah mich mitleidig an. »Solange Männer die höchsten Positionen in den wichtigsten Regierungen dieser Welt besetzen, wird sich nichts daran ändern. Solange Macht, Geld, Religion und Testosteron der Antrieb sind, wird es immer schlimmer, glaub mir.« Natürlich lag er damit richtig. Ob es nun am Geschlecht lag, darüber konnte man streiten, aber ansonsten deckte sich das mit meiner Überzeugung: Die Politiker waren sich und den ihnen zugewandten Lobbyisten am nächsten, egal, was ihre eigenen Wähler dazu sagten. Aber ich hatte es längst aufgegeben, mich über diese Leute aufzuregen. Wie die meisten anderen meiner ostdeutschen Landsleute dachte ich, dass wir uns durch den Protest auf der Straße gegen die damalige Führung den Weg in die Freiheit erkämpft hatten, was im Großen und Ganzen ja auch so eingetroffen war. Doch niemand, den ich kannte, hatte damit gerechnet, dass uns der Kapitalismus mit seiner gnadenlosen Marktwirtschaft gesellschaftlich aushöhlen und an den Rand der Spaltung bringen würde. Auch wenn viele Freunde der wiedererstarkten Rechten Merkels Willkommensgeste von 2015 und den damit einhergegangenen Migrantenstrom dafür verantwortlich machten, wussten die meisten schon, dass die eigentlichen Spalter unseres reichen Landes in den Führungspositionen von Politik und Wirtschaft saßen. Davon jedenfalls war ich überzeugt, ohne mich diesbezüglich besonders zu engagieren oder gar dagegen anzukämpfen. Dafür war ich einfach nicht mehr der Typ. Ich mochte meinen Durchschnittsjob, fühlte mich in der 4-Zimmer-Wohnung in Wedding gemeinsam mit meiner überdurchschnittlich attraktiven Freundin wohl, kurzum: Mir gefiel mein Leben. Und dass man hin und wieder von Zweifeln belästigt wurde, war wohl normal und ging jedem so.

»Warten wir mal ab, was die gleich auf der Pressekonferenz dazu sagen.«

»Was schon? Die stochern im Dunkeln, werden versuchen, Panik in der Stadt zu verhindern, und wie üblich nichts ausschließen.«

Kapitel 3

 

 

 

Vor 15 Jahren

 

Es war einer dieser typischen Spätsommerabende auf unserer Veranda. Die schwüle Luft drückte und Bratwürste brutzelten neben den Steaks auf dem Rost. Jedes Mal, wenn mein Vater einen Schluck Bier darüber kippte, zischte und dampfte es wie verrückt und es roch so unglaublich lecker.

»Merk es dir, Lennard, erst das Bier gibt dem Grillfleisch den entscheidenden Kick«, sagte er immer wieder, als gehörte es zu seinem Vermächtnis und zählte zu den großen Errungenschaften des Universums.

»Okay, Paps, das mache ich«, erwiderte ich stets darauf und erntete dafür ein zufriedenes Lächeln von ihm. Früher hatte er oft gelacht, doch das hatte sich geändert, als meine Mutter vor einigen Jahren nach längerem Leiden einer Herzschwäche erlegen war. Wir vermissten sie sehr, doch ich versuchte, obwohl ich gerade mal zwölf Jahre alt war, ihm keine zusätzlichen Probleme zu bereiten. Deswegen strengte ich mich in der Schule an, versuchte, den üblichen Raufereien aus dem Wege zu gehen, und erledigte ohne zu Murren alles im Haushalt, was er mir auftrug.

Aber ich musste auch meine Grenzen austesten und eigene Erfahrungen sammeln. Das tat ich meist mit meinen Freunden Philip, Jonas und Jacqueline, die wir nur Jack nannten, da sie ihren Vornamen nicht mehr mochte, ihn vielmehr hasste, seitdem wir in der Schule den Film ›Der Schuh des Manitu‹ gesehen hatten. Wir besuchten alle dieselbe Klasse, wohnten nur ein paar Kilometer auseinander und verbrachten, wie jetzt in den Ferien, so gut wie jeden Tag gemeinsam.

»Hi, Herr Bruckmann«, riefen sie fast im Chor und ließen sich auf die Stühle neben mir fallen.

»Ach, da ist der Rest der Rasselbande ja«, begrüßte sie mein Vater und goss den nächsten Schluck Bier über das Fleisch. »Ihr habt Glück, es liegt genug für alle auf dem Grill.«

»Oh, klasse, Herr Bruckmann. Und wie das riecht«, sagte Jonas, dessen Lieblingsbeschäftigung Essen war, was man ihm auch ansah. Er griff nach einer Scheibe Brot. Die gute Laune von Jonas schien sich auf meinen Vater übertragen zu haben, denn er machte heute ausnahmsweise mal wieder einen zufriedenen Eindruck. Fast erinnerte es mich an damals. Es fehlte nur noch meine Mama, die mit einem, sich gefährlich neigendem Turm dampfender Waffeln aus der Küche kam, den sie einhändig auf einem Teller balancierte, wo er allerdings vom Sirup zusammengehalten und dadurch vom Umfallen abgehalten wurde. Auch meine Freunde hatten meine Mutter geliebt. Natürlich, warum hätte man diese herzensgute und meist gut gelaunte Frau auch nicht mögen sollen? Meine Freunde und Außenstehende bekamen es nicht mit, wenn sie sich wieder einmal stundenlang ins Schlafzimmer zurückgezogen, sowohl Tür als auch Fensterläden geschlossen hatte. An solchen Tagen war es damals für mich schon so gewesen, als würde sie nicht mehr da sein. Paps munterte mich dann immer damit auf, dass es Mama bald wieder besser ginge. Jack zupfte an meinem Ärmel und holte mich aus den Gedanken. Sie deutete zu meinem Vater, der uns der Reihe nach ansah.

»Und, was gedenkt eure Gang heute noch anzustellen?«

»Nichts, Paps«, sagte ich schnell, vielleicht etwas zu schnell.

»Nein, überhaupt nichts«, bestätigte Jack und warf mir einen verstohlenen Blick zu. Das machte sie ab und zu, doch heute fühlte es sich anders an. Es kribbelte plötzlich komisch in meinem Bauch. Natürlich wusste ich, was das bedeutete, doch ich versuchte, mir eindringlich einzureden, dass ich nur Hunger und dieses Gefühl auf gar keinen Fall mit den Rundungen zu tun hätte, die sich seit kurzer Zeit unter Jacks Klamotten abzeichneten. Schließlich waren wir vier die besten Freunde und ich hatte große Zweifel daran, dass es unsere Freundschaft aushalten würde, wenn Jack mit mir, Jonas oder Philip Sachen machen würde, die Mädchen und Jungs in unserem Alter nun mal ausprobierten. Nein, dazu dürfte es nie kommen.

»Wir wollen nur noch zu – ey, aua!« Philip konnte Jonas durch einen Tritt vor das Schienbein gerade noch rechtzeitig davon abhalten, unsere Pläne auszuposaunen.

»Paps, können wir die Petroleumlampe mitnehmen? Wir wollen unsere unterirdische Bude heute einweihen.« In den letzten Wochen hatten wir ein beachtliches Loch in den harten Waldboden gegraben und schon ein paar geeignete Sitzmöbel dort hintransportiert, die wir zu Hause aus den Schuppen und den Dachböden entwendet hatten. Heute wollten wir zumindest den Großteil der Nacht dort verbringen und dazu benötigten wir Licht.

»Ihr wisst schon, dass es seit Wochen nicht geregnet hat?«

»Ja, Herr Bruckmann«, erwiderte Philip, der meist unser Wortführer war. »Wir werden höllisch aufpassen und keinen Waldbrand auslösen.«

»Genau, Paps, außerdem fließt der Bach doch nur ein paar Meter neben der Bude.« Mein Vater nickte verständnisvoll und wandte sich wieder dem Essen zu. Wir vier tauschten verschwörerische Blicke aus, denn bevor wir unsere Bude einweihen würden, hatten wir noch etwas anderes vor.

 

***

 

Meine Augen klebten an Jack, die neben Philip vor mir und Jonas herlief, lachend und sich hin und wieder mit ihm stupsend. Sie benahm sich irgendwie komisch heute. Schon vorhin, als sie mir diesen seltsamen Blick zugeworfen hatte – und nun das übertrieben alberne Getue mit Philip. Eifersüchtig war ich nicht, jedenfalls nicht direkt, denn ich war mir supersicher, dass eine unausgesprochene Einigkeit zwischen uns bestand, dass niemand von uns jemals etwas mit Jack anfangen würde. Abgesehen davon dachte ich nicht einmal im Traum daran, dass sich irgendein Mädchen für mich entscheiden könnte, wenn der größere, kräftigere und deutlich älter wirkende Philip die Alternative wäre. Gegen Jonas würde ich mich wahrscheinlich durchsetzen können, redete ich mir damals ein, um mich selbst aufzubauen. Jonas schien meine Einschätzung zu teilen, denn wegen des Übergewichts litt sein Selbstbewusstsein doch arg und die anderen Jungs in der Schule, vor allem die älteren, machten es nicht besser, indem sie ihm immer mal wieder einen Spruch deswegen reindrückten. Was sie natürlich tunlichst unterließen, wenn ich und vor allem, wenn Philip in seiner Nähe waren.

»Findest du das gut?«, flüsterte er mir zu und deutete zu den beiden, die immer noch etwas herumblödelnd vor uns hergingen.

»Was meinst du?«, stellte ich mich dumm. Natürlich fand ich es nicht gut, aber mir war klar, dass es den Anfang vom Ende bedeutete, wenn wir daraus erstmal ein Thema machen würden. Was zwischen den beiden ablief, wenn ich es nicht mitbekam, war mir egal. Wenn wir es aber ansprächen, würde jeder den anderen anschreien, bis entweder Jack die Flucht antreten und die Gang verlassen würde oder sie richtig mit unserem Wortführer zusammenkäme, wodurch unser Team ebenfalls gesprengt wäre. Und ich wollte weder das eine noch das andere. Sie waren meine Freunde, meine Gang, und ich würde den Teufel tun, das aufs Spiel zu setzen.

»Na, dass die beiden so rummachen«, erklärte er überflüssigerweise. Bevor ich darauf reagieren konnte, warf uns Jack einen Blick über ihre Schulter zu.

»Wer zuerst da ist«, rief sie keck und lief los.

»Umpf«, hörte ich Jonas stöhnen, doch im nächsten Moment rannte er los, an mir und Philip vorbei, und heftete sich an Jacks Fersen. Philip sah ihnen hinterher und dann abschätzend zu mir. Wir konnten in etwa gleich schnell rennen, auf jeden Fall deutlich schneller als Jonas und Jack, und es waren noch dreihundert oder vierhundert Meter bis zu unserer selbstgebauten Unterkunft.

»Lauf schon«, sagte ich herausfordernd und spürte, wie meine Muskeln sich anspannten, bereit, ihm sofort nachzujagen.

»Komm schon, ich geb dir Vorsprung.«

»Pff«, grunzte ich und grinste ihn schräg an, sah aus den Augenwinkeln die beiden anderen, die gerade hinter der kleinen Anhöhe zwischen den Bäumen verschwanden. Lässig winkte ich ab. Philip reagierte darauf genauso, wie ich es erwartet hatte. Er lachte und schüttelte den Kopf. Jetzt oder nie, sagte ich mir und nutzte diesen kurzen Moment seiner Unachtsamkeit, wodurch ich einen Vorsprung von einigen Metern gewann, bis er begriff und ebenfalls startete.

»Du Hund!«, hörte ich ihn hinter mir rufen, während meine schnellen, kurzen Schritte vom weichen Waldboden abgefedert wurden und nur hin und wieder ein Knacken ertönte, wenn ich einen Zweig oder Ast erwischt hatte. Vor mir hörte ich Jack und Jonas lachen. Sie liefen fast nebeneinander und es war so gut wie ausgeschlossen, dass ich sie vor der Bude noch einholen würde. Was mir recht war, solange ich meinen dritten Platz nicht doch noch an Philip verlor, dessen Atem ich immer lauter hinter mir hören konnte.

»Jaaaa!«, rief Jonas triumphierend aus. Er hatte es geschafft, seinen Fuß einen Augenblick vor Jack auf die vor unserer Bude im Boden verlaufende Kiefernwurzel zu setzen, die als Ziellinie für unsere Wettrennen diente. Ich gönnte ihm diesen Sieg.

»Ich krieg dich!«, hörte ich Philip jetzt bedenklich nah an meinem Ohr, was mir den letzten Push gab. Ich machte drei, vier Sätze und lief als Dritter ein. Vor Erschöpfung schmiss ich mich keuchend auf den Boden. Im nächsten Moment warf sich Philip auf mich und direkt danach folgten Jack und Jonas. Ein paar Minuten dauerte die spielerische Rauferei, bis wir – vollkommen außer Atem und mit Laub behaftet – die Klappe hochzogen und nach unten stiegen. Durch ein paar Ritzen zwischen den Baumstämmen fiel Licht hinein, sodass wir nicht komplett im Dunkeln saßen, obwohl die Dämmerung bereits eingesetzt hatte. Wir hatten die Äste wie bei einem Floß mit Hanfseilen zusammengebunden, eine Plane darunter befestigt, sie dann über die Grube gelegt und das meiste mit Moos und Laub abgedeckt. So würde es drinnen auch dann trocken bleiben, wenn wir ein paar Regentage bekommen sollten.

»Wer hat die Hölzer?«, fragte Philip.

»Ich nicht«, sagte Jonas sofort und auch Jack verneinte.

»Leute, dass kann doch nicht –«, begann ich, doch das zischende Geräusch des Streichholzes, das Philip an der Schachtel entzündet hatte, ließ mich verstummen. »Idiot«, sagte ich nur, als ich sein Gesicht in dem Flackern sah.

»Macht euch mal locker«, sagte er kichernd und im nächsten Moment erhellte das Licht der Petroleumlampe das unterirdische Reich, in dem wir auf den mitgebrachten Hockern und übereinandergelegten Wolldecken saßen. Wir kramten unsere mitgebrachte Verpflegung aus den Rucksäcken und häuften Chips, Schokolade und Salzstangen in der Mitte zwischen uns auf, daneben platzierten wir Cola- und Wasserflaschen.

Lange dauerte es nicht, bis nur noch ein paar Chipskrümel übriggeblieben waren. An sich hätten die Knabbereien länger gehalten, doch wenn Jonas in der Nähe war, mussten wir anderen uns schon ranhalten, um zumindest einen Teil davon abzubekommen. Es faszinierte mich, wenn ich sah, welche Massen an Essen mein Freund verdrücken konnte. Andererseits war ich froh darüber, dass mich ein Sättigungsgefühl davon abhielt, so viel zu essen, dass ich auseinanderging wie ein Hefeteig.

Philip legte seine Jacke über die Lampe, sofort wurde es dunkel. Nur ganz schwach schien es rot durch den dicken Stoff der Jacke.

»Es ist stockfinster«, sagte er und nachdem wir seinem Blick nach oben gefolgt waren und ebenfalls erkannt hatten, dass wir zwischen den Ästen draußen nichts mehr sehen konnten, stimmten wir ihm murmelnd zu. Philip nickte, nahm die Jacke wieder von der Lampe, drehte stattdessen am Rädchen die Flamme und somit die Helligkeit herunter.

»Dann können wir ja loslegen«, flüsterte Jack, wobei sie uns nacheinander ansah, auf jedem unserer Gesichter einige Sekunden verharrend. Ich hielt den Augenkontakt nur einen Moment und erschrak fast, da das schwache Licht ihre Haut gespenstisch blass wirken ließ. Zum ersten Mal an diesem Abend durchlief mich ein seltsames, mir unbekanntes Gefühl, eher eine Vorahnung, die mir sagte, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ich schüttelte mich von den anderen unbemerkt, stand auf und folgte ihnen aus der Höhle.

»Seid ihr bereit, Freunde?«, wollte Philip wissen. »Gut, dann los«, zischte er, nachdem wir zustimmend genickt hatten, und setzte sich Richtung Nordosten in Bewegung. Übertrieben leise folgten wir ihm, obwohl uns außer Hasen, Rehen oder einem durch die Wälder streifenden Luchs eh niemand hören würde. Jedenfalls noch nicht. Bald hingegen, an unserem Ziel, würden wir gut damit beraten sein, die Klappe zu halten und keinen Mucks zu machen. Ich lief als Letzter hinter den anderen her, bildete die Nachhut, so wie eigentlich immer. Nur Jack und Jonas tauschten hin und wieder die Positionen, wobei ich es heute durchaus begrüßte, dass Jack direkt vor mir durch das Dickicht schlich und ich somit ihren etwas runder gewordenen Po die ganze Zeit vor Augen hatte – sofern ich ihn wegen der Lichtverhältnisse noch erkennen konnte.

Kapitel 4

 

 

 

Heute

 

Obwohl sie auf direktem Weg zur Dienststelle gefahren und die Straße überraschend frei gewesen war, kam Isabell als eine der Letzten an und verpasste dadurch die Einweisung durch ihren Dienststellenleiter. Sie hatte gerade die Tür zum Besprechungsraum erreicht, da wurde sie nach innen geöffnet und dicht hintereinander hergehend strömten die Kolleginnen und Kollegen an ihr vorbei nach draußen, wobei niemand großartig Notiz von ihr nahm. Erst Paul Kellermann hob grüßend den Kopf und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

»Na, ausgeschlafen?«, neckte er sie und fügte hinzu, dass er ihr alles unterwegs erklären würde. Isabell machte auf dem Absatz kehrt und ging neben ihm durch das Gebäude bis hinunter zur Tiefgarage, wo sie für sie etwas überraschend in einen Streifenwagen stiegen. In knappen Sätzen gab er wieder, was der Dienststellenleiter ihnen gerade aufgetragen hatte. Detailliert genug für Isabell, die grob mit dem Plan für ein derartiges Szenario vertraut gewesen war und insgeheim schon viel früher mit dem Eintreten eines solchen Falles gerechnet hatte.

Sie sollten eine ihnen zugewiesene Route auf- und abfahren und die Augen nach verdächtigen Dingen und Personen aufhalten, die im Zusammenhang mit den Explosionen stehen könnten. Alle Auffälligkeiten sollten dann an eine Einheit weitergegeben werden, die gerade noch von ganz oben zusammengestellt wurde. Nach wenigen Minuten hatten sie den Bezirk erreicht, in dem sie patrouillieren sollten, und befuhren so langsam, wie es der Verkehr zuließ, den rechten Fahrstreifen.

»Glaubst du auch nur ansatzweise, dass wir hier jemanden sehen, der noch mit dem Zünder der Bombe in der Hand durch die Gegend wetzt oder der ein Schild um den Hals trägt, auf dem er sich selbst der Tat bezichtigt?« Paul spuckte die Worte mehr aus, als sie zu sprechen. Falls ein Restzweifel daran bestanden hatte, ob er diesen Einsatz als sinnvoll erachtete – war er spätestens jetzt beseitigt. Bei freier Fahrt trennten sie etwa zehn Minuten Autofahrt oder dreißig Minuten schneller Fußweg vom Ort der Explosionen, doch hier war es wie immer. Die wenigen Passanten liefen unaufgeregt umher, die Vögel zwitscherten und auf einem angrenzenden Rasenplatz bolzten etwa fünf Jungs mit einem leuchtend gelben Ball, als ob es den Anschlag – die Faktenlage wies immer deutlicher darauf hin – vorhin gar nicht gegeben hätte.

»Na klar«, erwiderte Isabell ironisch, »und in seiner mitgeführten Aktentasche werden wir sämtliche Daten finden, mit deren Hilfe die Kollegen vom Staatsschutz alle noch inaktiven Terrorzellen ausheben können. Zudem werden wir beide mit der Ehrenmedaille des Bundeskriminalamts in Blech ausgezeichnet.« Langsam wandte sie den Kopf zu Paul und lächelte. »Komm schon, wir wissen doch beide, dass wir hier nur herumfahren, um Präsenz zu zeigen. Niemand erwartet von uns Drogenfahndern, dass wir auf Terroristenjagd gehen.«

»Jaah«, sagte er gedehnt, »deswegen müssen wir ja auch mit `nem Streifenwagen herumfahren. Das macht die ganze Tarnung zunichte.« Isabell lachte laut auf.

»Du meinst die Tarnung, die wir für unsere Undercover-Einsätze brauchen? Die, die wir zuletzt vor sagen wir mal fünf Jahren gemacht haben?« Sie dachte lächelnd an die alten Zeiten zurück, in denen sie direkt im Milieu recherchiert, sich über Kleindealer langsam an die dickeren Fische herangearbeitet und ein paar davon für längere Zeit hinter schwedischen Gardinen verschwinden lassen hatten. Das Lächeln verschwand jedoch so schnell, wie es auf ihren Lippen erschienen war, denn mit Spaß hatte diese Arbeit nur selten etwas zu tun gehabt. Im Gegenteil: Sie war von großem Leid und ausgeprägter Brutalität gezeichnet. Mehr als einmal war sie unfreiwillig Zeugin geworden, wie vermeintlich unzuverlässigen Dealern die Hand oder der Kiefer gebrochen wurde – als Warnung, die von den meisten verstanden worden war. Eingreifen können hätte sie nur unter Aufgabe ihrer Tarnung, was sie jedoch selbst in große, vielleicht sogar in Lebensgefahr gebracht hätte. So hatte Isabell nach drei zermürbenden, psychisch anstrengenden Jahren inkognito um den Wechsel in den regulären Dienst gebeten. Dass ihrem Wunsch entsprochen wurde, war nur Formsache, und so bildete sie seit dieser Zeit ein Team mit Paul, der kurz vor ihr aus dem Undercovereinsatz ausgeschieden war. Für beide war es beruhigend, als sie im Nachhinein feststellten, dass sie sich undercover mehrfach über den Weg gelaufen waren, ohne über die Tätigkeit des jeweils anderen Bescheid gewusst zu haben. Somit gab es zumindest in dieser Zeit kein Leck in ihrer Dienstelle, was die verdeckten Ermittlungen anging.

»Was hat die denn?«, riss er Isabell aus ihren Gedanken. Sie folgte seinem Blick und sah eine brünette, langhaarige, in ein beiges Sommerkleid gehüllte Frau, das deren sportliche Figur und perfekte Rundungen betonte. Was nicht zu dem eleganten Eindruck passte, war der Gang, mit dem sie den Gehweg entlang schwankte, als ob sie jeden Moment der Länge nach fallen würde. Isabells erster Impuls war, auszusteigen und der Schwankenden zu Hilfe zu kommen, doch Paul hielt sie davon ab, indem er seine Hand auf ihren Unterarm legte. Wieder folgte sie seinem Nicken, bis auch sie den Mann im Anzug erblickte, der sich gerade bei der Frau unterhakte und ihr damit offenbar den nötigen Halt gab. Sein Griff schien sehr stabil zu sein, denn augenblicklich straffte sich die Frau und das Schwanken war vorbei. Fast sah es aus, als wollte sie sich von ihm lösen, doch nach wenigen Schritten entspannte sie sich und sie gingen nebeneinander weiter. »Komisches Paar«, beantwortete Paul seine eigene Frage, wartete eine Lücke ab und fädelte wieder in den fließenden Verkehr ein. Isabell schaute den beiden einen Moment hinterher und zuckte mit den Achseln. »Apropos komisches Paar. Wie läuft es mit deinem Lennard?«, fragte er mit scheinbar neutraler Stimme.

»Mh«, machte Isabell nur, weiter aus dem Fenster schauend. Warum nur hatte sie ihrem Kollegen vor ein paar Wochen davon erzählt, dass es nicht mehr besonders harmonisch in ihrer Beziehung zuging? Warum hatte er ihr entlocken können, dass sie sich langsam von Lennard zurückgezogen hatte? Es ging ihn schlicht und einfach nichts an und mit seiner eher bullerigen Art war er an sich auch der Letzte, mit dem sie, mit dem überhaupt jemand über sein Privatleben sprechen wollte. Erst recht, wenn es um Probleme in eben diesem ging. Ihre Gedanken schweiften zu ihrem Freund, der in den letzten Monaten zunehmend mit sich selbst beschäftigt war. Der weder mit sich noch mit seinem beruflichen Leben zufrieden schien. Kaum noch ein Funke des Feuers war übriggeblieben, das beide zu Beginn ihrer Beziehung erfasst und regelmäßig in leidenschaftlichen Nächten hatte enden lassen. Immer häufiger beschlich sie das Gefühl, dass er unter einer psychischen Erkrankung litt. Manisch-depressiv beschrieb seine Stimmungsschwankungen wohl am ehesten. Doch sie war noch nicht bereit dazu – oder hatte einfach den Moment verpasst – mit ihm darüber und über eine eventuelle Therapie zu sprechen. Jedes Mal, wenn sie damit anfangen wollte, war er überraschenderweise wieder der Alte und es wäre ihr albern vorgekommen. »Sein Vater ist gerade gestorben, wie soll es ihm da schon gehen?« Sie spürte Pauls Blick, obwohl sie den ihren weiter in die Umgebung richtete.

»Ich wollte auch nicht wissen, wie es ihm geht, sondern wie es bei euch läuft. Aber ich verstehe schon, du willst nicht drüber quatschen. Kein Problem.« Er überholte einen Radfahrer, der plötzlich und viel zu nah an ihrem Gesicht vorbeirauschte.

»Pass doch auf!«

»Beruhig dich, der Abstand war groß genug. Wenn du deine Tage hast, lass deine schlechte Laune nicht an mir aus.«

»Du Arsch!«, zischte sie, doch nur Sekunden später musste sie lächeln. »Es ist einfach ... kompliziert. Verstehst du?«

»Ach, jetzt willst du dich doch erleichtern. Okay, nein, ich verstehe nicht.«

»Du machst es einem nicht einfach, dich zu mögen, weißt du das?«

»Natürlich weiß ich das, ich bin nicht für mein gutes Benehmen bekannt«, erwiderte er und fügte selbstgefällig hinzu: »Aber bekannt bin ich trotzdem.«

»Na ja, wir waren heute mit seinem alten Freund zusammen.«

»Dem Autoschieber?«

»Ja, genau«, bestätigte sie, obwohl sie Philip nicht als Kriminellen betrachtete, sondern eher als viel zu großen kleinen Jungen, der noch nicht erwachsen geworden war. »Da benahm sich Lennard wieder so unverkrampft wie bei unserem Kennenlernen; und das trotz des Verlustes seines Vaters.« Isabell guckte zu Paul, der mit ernstem Gesicht auf die Fahrbahn schaute und tatsächlich zuzuhören schien. »Aber ich befürchte, dass er heute Abend, wenn er nach Hause kommt, wieder in ein Loch fällt und ich es dann ausbaden muss.«

»Mh«, machte jetzt Paul und schob seinen kräftigen Kiefer nach vorn, wodurch er sie im Profil an einen der Daltons aus den Lucky-Luke-Comics erinnerte. Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, nicht loszuprusten. »Habt ihr mal an `ne Therapie gedacht? So ein Pärchenzeugs, also für die, die Probleme haben?«

»Wer bist du und wo hast du Paul gelassen?«, sagte sie mit gespielt überraschtem Gesicht. »Woher auf einmal die Empathie?«

»Das sind meine täglichen fünf Minuten, in denen du mich gerade erwischt hast. Beeil dich mit der Antwort, sie sind fast rum.« Angenehm von seiner verständnisvollen Phase überrumpelt, besann sie sich jedoch darauf, nicht weiter ins Detail zu gehen. Sie lenkte vom Thema ab, sodass sie sich einen Augenblick später mit Paul über die Entscheidung der Bundesländer unterhielt, die Fußball-Bundesliga unter Einhaltung eines strikten Hygienekonzeptes wieder den Spielbetrieb aufnehmen zu lassen. Während des Dienstes heute wollte sie sich keine Sorgen mehr über Lennards schwarze Phasen machen, schließlich war dieser Tag in Berlin auch kein gewöhnlicher Tag. Mit einem Ohr achteten sie stets auf den Funk, um sofort reagieren zu können, sollte sich an der aktuellen Situation etwas ändern und sie in irgendeiner Weise zum Eingreifen gezwungen sein.

 

***

 

Es hatte etwas von den früheren, den guten alten Zeiten, wie ich mit Philip und einem Kaltgetränk in der Hand vor der Flimmerkiste saß. Gut, früher war es dann eher Cola und kein Bier wie heute, dennoch erinnerte es mich daran und ließ ein leichtes Prickeln meinen Rücken hinunterlaufen. Die gute alte Zeit – leider war seitdem viel passiert, sodass nicht viel mehr als trübe Erinnerungen daran übriggeblieben waren.

Seit mindestens zwei Stunden verfolgten wir nun die Berichte auf mehreren Sendern. Es gab nur ein Thema. Selbst trashige Privatsender sahen sich verpflichtet, ihren Senf dazuzugeben und mit schnell zu Experten erklärten C-Promis über die Gründe und die Auswirkungen der Explosionen zu sprechen. Peinlich berührt schaltete ich schnell wieder zu einem Öffentlich-Rechtlichen. Obwohl die staatlichen Rundfunkanstalten zu Zeiten von Corona von den Leugnern und Verschwörungstheoretikern zu einem Teil des Komplotts von ›Gates and friends versus die ganze Welt‹ gemacht worden waren, mir kam deren Berichterstattung noch am seriösesten vor, auch wenn selbst ich hier und da etwas zu meckern hatte.

»Jedenfalls sind sich im Kern alle einig«, sagte Philip, als ob er mein inneres Zwiegespräch gehört hätte. Ich nickte.

»Ja, darin, dass sie sich nicht festlegen wollen oder können, bevor ein Bekennerschreiben oder nähere Indizien vorliegen.« Zum x-ten Mal in der letzten Stunde sah ich auf das Display meines Handys. Nichts. Klar, Isabell war im Dienst und hatte wahrscheinlich gerade Stress ohne Ende, dennoch hatte ich erwartet, dass sie mir ein paar Infos schicken würde, zumal ich sie zweimal angerufen hatte, seitdem sie vorhin weggefahren war.

»Besser, als wenn sie sich zu früh auf irgendwas versteifen und dem jeweils anderen Lager wieder Munition liefern.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er aufstand und sich in Richtung Küche bewegte. »Und hepp!«, rief er nur einen Moment später. Fast gleichzeitig kam die nächste Dose Bier geflogen, die ich gerade auffangen konnte, bevor sie vor meinen Füßen auf den Boden gefallen wäre.

»Danke, das ist aber die letzte für heute.«

»Lennard Bruckmann, bist du etwa mittlerweile auf dem Weg zu den anonymen Alkoholikern? Fahren musst du nicht mehr, schließlich bringe ich dich zur Bahn.«

»Damit hast du deine Frage doch selbst beantwortet: Ich versuche durch die Blume zu sagen, dass du nur noch das eine trinken sollst«, erwiderte ich und merkte schon, wie dürftig dieser Spruch war.

»Ich kann schon ganz gut selbst auf mich aufpassen, mein Freund. Auf dich will ich mich dabei jedenfalls nicht verlassen«, sagte Philip ernst und fügte hinzu: »Nichts für ungut.«

»Schon gut«, sagte ich und mit einem Schlag war jegliche Nostalgie verschwunden, die sich in den letzten Stunden wie eine alte, warme Wolldecke über mich gelegte hatte. Unrecht hatte Philip nicht damit, auch wenn er sich die Anspielung hätte sparen können. Auf andere aufzupassen war nicht gerade meine Superkraft, das galt heute und das galt schon damals, wie mir gerade wieder schmerzhaft bewusst wurde. Dabei lag es weniger daran, dass ich kein Verantwortungsbewusstsein hatte, sondern eher daran, dass ich zu oft gedankenverloren mit mir selbst beschäftigt war. Okay, so gesehen war es um mein Verantwortungsbewusstsein vielleicht doch nicht wirklich gut bestellt.

So kam es vor einigen Jahren dazu, dass mir Philips Beagle Trash abgehauen war. Ich hatte versprochen, über das Wochenende auf ihn aufzupassen, und dann sowas. Mein Vater und ich fanden ihn erst nach Stunden etwa zwei Kilometer von unserem Haus entfernt. Trash kauerte leicht verletzt und am ganzen Körper zitternd zwischen den Wurzeln einer gigantischen Eiche. Der Tierarzt meinte, Trash hätte sich vermutlich mit einem Wildschwein angelegt und dabei Glück gehabt, dass der Keiler ihn mit seinen Stoßzähnen nur gestreift hatte. Philip und vor allem seine Eltern waren verdammt sauer auf mich und hielten mir eine ordentliche Gardinenpredigt, die ich mehr als verdient hatte.

Aber vermutlich spielte Philip mit seiner Spitze eher darauf an, dass ich ihm vor ein paar Jahren kein Alibi geliefert und damit auch nicht verhindert hatte, dass er schließlich in den Knast musste. Da half es auch nichts, dass ich immer noch davon überzeugt war, richtig gehandelt und ihm dadurch überhaupt erst wieder ermöglicht zu haben, auf die rechte Spur zu kommen. Für ihn blieb es schlicht und ergreifend Verrat. In der Zeit danach hatten wir uns zwar langsam wieder angenähert und unsere Freundschaft reaktiviert, aber es war nie wieder wie davor. Das konnte es auch nicht sein, insbesondere wegen der Sache, wegen meines Versagens, das noch weiter in der Vergangenheit zurücklag. Ein Versagen, das mir heute noch zu schaffen machte und mich manches Mal aus dem Schlaf riss.

»Schalt doch nochmal aufs Zweite, da sieht die Kommentatorin wenigstens gut aus, auch wenn sie dasselbe Zeug quatscht wie die anderen.«

»Mh«, machte ich und drückte die Taste auf der Fernbedienung, auf der man früher mal die Zwei sehen konnte. Mittlerweile waren die meisten Zahlen abgegriffen. Wieder, oder eher immer noch lief eine Sondersendung. Gerade spielten sie Aufnahmen einer Drohne ein, die Bilder von oben lieferte, welche noch einmal das Ausmaß der Explosionen verdeutlichten. Es sah aus wie im Krieg. Langsam sank die Drohne nach unten, oder sie zoomte mit der Kamera heran – keine Ahnung, wodurch man das feststellen konnte – und zeigte eine Gruppe von etwa acht, neun oder zehn Menschen vor einem der mittlerweile unzählbaren Rettungswagen. Mindestens drei von den Leuten konnte ich anhand ihrer Jacken als Ärzte oder Sanitäter erkennen, die sich um jeweils einen oder zwei Verletzte kümmerten. Die Kamera kam immer näher und als das erst leicht verschwommene Bild nachjustiert und damit scharfgestellt wurde, fiel mir fast das Bier aus der Hand. »Das gibt es doch nicht!«, entfuhr es mir und ich schaute zu Philip. Ob es an meinen aufgerissenen Augen lag oder daran, was das TV gerade zeigte, wusste ich in diesem Moment nicht, aber sein Blick wirkte ebenso entgeistert, wie ich dreinschauen musste.

Kapitel 5

 

 

 

Vor 15 Jahren

 

Wir waren Post-Wende-Kinder, das heißt, als wir in den frühen 1990ern geboren wurden, gab es die DDR schon seit ein paar Jahren nicht mehr und in unserer Kindheit hatten wir von diesen Ossi-Wessi-Konflikten nur am Rande etwas mitbekommen. Mal waren es unsere Eltern, die über die arroganten Wessis schimpften, mal waren es die hauptsächlich älteren Männer, schon von einigen Bierchen besäuselt, die am Rande des Fußballplatzes darüber schwadronierten, dass unter Honecker nicht alles schlecht gewesen wäre und man am besten die Mauer wieder hochziehen sollte. Wir lachten nur darüber, weil wir keinen Schimmer davon hatten, wovon sie redeten oder was sie auch nur ansatzweise damit meinten.

Das änderte sich in dem Winter, als wir mit Herrn Mergenstein einen neuen Klassenlehrer bekamen. Er wechselte an unsere Schule, nachdem er einige Jahre in Düsseldorf unterrichtet hatte, stammte ursprünglich aber aus unserer Gegend, wie er uns bei seiner Vorstellung verraten hatte. Anders als die bisherigen Lehrer erzählte er gerne und vor allem viel von den letzten Jahren der DDR und bei ihm hörte es sich überhaupt nicht mehr so toll an, wie es uns sonst verkauft worden war. Total entsetzt waren wir über die Stasi-Geschichten und erst recht darüber, wie viele Menschen es bei uns gegeben hatte, die insgeheim als Spitzel für die Regierung arbeiteten. Die alles Systemkritische weitergeben hatten, was ihnen von Arbeitskollegen, Freunden, Nachbarn und manchmal von ihren eigenen Familienmitgliedern im Vertrauen erzählt worden war oder was sie zufällig aufgeschnappt hatten. Und das alles mehr oder weniger freiwillig.

»Das ist doch das Letzte!«, empörte sich Philip, als wieder mal eine Unterrichtsstunde vorbeigegangen war, in der uns Mergenstein offenbarte, dass mit Sicherheit noch der eine oder andere mit dunkler Stasi-Vergangenheit in einem unserer Dörfer leben würde.

»Das ist voll widerlich«, pflichtete Jack ihm bei und schoss einen auf dem Gehweg liegenden Kieselstein weg, der mit einem lauten Plong an einem Laternenmast landete. »Da kann man ja niemandem mehr vertrauen.«

Mir war äußerst unwohl dabei, wenn ich mir vorstellte, dass mein Vater auch zu diesen Spionen gehört haben könnte. Zwar hatte er mir schon vor einigen Wochen hoch und heilig versprochen, nie mit ›denen‹ kollaboriert zu haben – ich hatte nicht nachgefragt, sondern später das Wort selbst im Duden nachgeschlagen – doch wie konnte ich ihm das glauben? Wer würde denn freiwillig zugeben, seine Mitmenschen derart hintergangen zu haben? Wir hatten uns in den letzten Wochen viel damit beschäftigt und dabei herausgefunden, welchem Spießrutenlaufen diejenigen ausgesetzt wurden, deren geheime Identität aufgedeckt worden war. Im Internet fanden wir noch jede Menge anderer Details über die Stasi, die uns die Sprache verschlugen.

»Uns können wir vertrauen«, sagte Jonas überzeugt, »schließlich waren wir da noch nicht geboren.« Wir anderen murmelten zustimmend. »Und Herrn Mergenstein können wir vertrauen. Wenn er selbst darin verwickelt gewesen wäre, würde er sich bei dem Thema wohl nicht so echauffieren.«

»Echau-was?«, fragte Philip. »Du hörst dich schon selbst an wie ein Lehrer.« Jonas´ Gesicht nahm in Sekundenschnelle eine tiefrote Farbe an. Jack trat neben Jonas und legte ihren Arm um seine Schultern.

»Du brauchst dich nicht über ihn lustig zu machen, nur weil er intelligenter ist als wir drei zusammen«, verteidigte sie ihn.

»Dafür seid ihr sportlicher«, sagte Jonas und es klang wie eine Entschuldigung. Jetzt musste ich kichern.

»Also ich kann sehr gut damit leben, nicht der Klügste von uns zu sein, und du wirst dich ebenfalls daran gewöhnen müssen«, stichelte ich gegen Philip, woraufhin er mir einen tadelnden Blick zuwarf, welchen er jedoch nur kurz halten konnte. Lachend zogen wir weiter.

Ein paar Wochen später fanden wir bei einer Recherche im Internet zufällig einen älteren Zeitungsausschnitt, auf dem wir glaubten, jemanden wiederzuerkennen, der am Rand unseres Heimatdorfes etwas zurückgezogen im Wald in einem alten, ehemaligen Försterhaus lebte. Schon vorher hatten wir über Bernhard Mutschke seltsame Gerüchte gehört, doch die gingen eher in die Richtung, dass er ein Eigenbrötler war, der sich nichts aus seinen Mitmenschen machte und nur seine Ruhe haben wollte. Deswegen, so hieß es, war er vor etwa zehn Jahren aus Berlin hergezogen, nachdem er sich frühzeitig pensionieren lassen und die Hütte gekauft hatte. Gemäß dem Bild in der Zeitung waren wir jedoch davon überzeugt, dass er unter dem Namen IM Herbert, das IM stand für informeller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, die Leute ausspioniert hatte. Und so einen wollten wir nicht in unserer Gegend. Wir versuchten in der Folgezeit, unsere Eltern unauffällig darüber auszufragen, ob sie etwas von ihm wüssten. Doch weder Jonas noch Jack konnten etwas herausbekommen. Philips Vater hatte verächtlich abgewunken und ihm gesagt, dass Mutschke einer dieser versnobten Großstädter sei, dem man eh nicht weiter trauen sollte, als man spucken konnte. Lediglich bei meinem Vater gab es eine Reaktion. Er zog kaum merklich die Augenbrauen hoch, als ich ihn auf den einsam wohnenden Mann ansprach.

»Keine Ahnung, was ihr vorhabt«, sagte er damals in warnendem Ton, »aber lasst ihn besser in Ruhe. Der Mann ist nicht ohne.« Er war nicht weiter darauf eingegangen, hoffte wahrscheinlich, dass wir vernünftig genug wären, keine Dummheiten zu machen. Warum auch immer man das bei jungen Heranwachsenden erwarten konnte, die langsam aber sicher mit Testosteron geflutet wurden.

 

***

 

Wie auch immer, er hatte sich damit geirrt. Jetzt waren wir unterwegs von unserer unterirdischen Höhle aus und direkt vor uns begann schon die kleine Lichtung, hinter der das Grundstück zu Mutschkes Haus anschloss. Wir kauerten nebeneinander hinter einem Holunderbusch, niemand machte einen Mucks. Deutlich konnte ich das hechelnde Atmen Jonas´ hören, der Mühe gehabt hatte, mit uns Schritt zu halten, und dessen Puls sich langsam normalisierte.

»Okay, seid ihr bereit?«, fragte Philip entschlossen. Nein, natürlich nicht, dachte ich, doch ich nickte fest.

»Ja«, flüsterte Jack und ich meinte, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme wahrzunehmen.

»Wartet«, sagte Jonas schnaufend. »Lasst es uns nochmal schnell durchgehen. Damit nichts schief läuft.«

»Pah, was soll schon schieflaufen? Der alte Kerl kann uns doch nichts«, warf Philip ein.

»Er hat recht«, pflichtete ich Jonas bei. »Sicher ist sicher.«

»Na gut, ihr Pfeifen. Ich schleiche mich um das Haus zur Nordseite, Jonas nimmt die rechte Seite, du nimmst die Tür und Jack die linke Seite. Dein Pfiff ist dann unser Zeichen. Verstanden, ihr Luschen?«

»Ja, Chef«, erwiderte ich und verdrehte die Augen. Zu spät merkte ich, dass die anderen meine Mimik aufgrund der Dunkelheit nicht sehen konnten und ich mich dadurch etwas unterwürfig anhörte.

»Ich sammle auf dem Rückweg Jonas ein, du Jack und wir treffen uns im Hauptquartier. Da wird dann der Erfolg der Mission würdig gefeiert.« Theatralisch zog er etwas aus seiner Jacke hervor und machte kurz das Feuerzeug an, damit wir es sehen konnten.

»Ih«, sagte Jack, »wer von uns trinkt denn Wodka?«

»Alle, die unsern Sieg feiern wollen«, sagte Philip und lief los, bevor jemand widersprechen konnte.

»Der spinnt doch«, sagte Jonas etwas kläglich und deutete mit dem Kopf in Richtung der sich entfernenden Schritte Philips.

»Das klären wir später«, beschloss ich. »Los jetzt!«

»Na gut«, sagte er mit gedehnter Stimme und schlich ebenfalls aus unserem Versteck. Gerade wollte ich selbst aufstehen und loslaufen, da hielt mich Jack am Arm zurück.

»Warte mal eben, ich muss dir noch etwas sagen«, meinte sie und drehte sich zu mir.

»Was denn?«, wollte ich wissen. Anstatt zu antworten, kniete sie einfach nur da und sagte nichts. Dann lehnte sie sich zu mir und ich spürte erst ihren warmen Atem im Gesicht und kurz darauf, wie sie ihre Lippen auf die meinen legte. Aufspringen und wegrennen war mein erster Impuls, doch ich konnte mich nicht rühren. Es war unglaublich, im wahrsten Sinne des Wortes. Mit vielem hätte ich gerechnet, doch nicht damit. Heiß und kalt durchströmte es mich, sie duftete nach Apfelshampoo und schmeckte nach Pfefferminz. Doch so schnell, wie es begann, endete es auch. Sie löste sich von mir, sprang auf, winkte mir noch einmal zu und lief in Richtung ihrer vorgegebenen Position. Langsam zog ich mich, an einem Ast festhaltend, nach oben. Meine Beine fühlten sich an wie Pudding und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Und das nicht wegen meines Auftrages, den ich jetzt zu erfüllen hatte.

Nach ein paar tiefen Atemzügen durchströmte mich eine nie da gewesene Energie. Das tollste Mädchen der Welt hatte mich gerade geküsst! Die Probleme, die dadurch in unserer Gang entstehen würden, kamen mir plötzlich unwichtig vor. Irgendwie bekämen wir das schon geregelt. »Auf geht´s, Lennard, du bist dran!«, peitschte ich mich an und zog den Umschlag aus meiner Jacke. Darin steckte ein aus ausgeschnittenen Zeitungslettern zusammengeklebter Brief, der eine klare Botschaft trug:

 

Mutschke, wir wissen, dass du

ein mieses Stasi-Schwein bist.

Verpiss dich, wir wollen so einen wie

dich hier nicht haben!

 

Ich lief los. Die Kiesel knirschten unter den Sohlen meiner Sneakers. Kleine Zweige zerbrachen und machten dabei einen Krach wie Kanonenböller, wobei mir das sicher nur so vorkam und es wahrscheinlich kaum weiter als drei oder vier Meter zu hören war. Mit einem Schwung sprang ich über das gusseiserne Gartentor, denn ich wollte kein lautes Quietschen riskieren, was es vielleicht von sich gegeben hätte, hätte ich versucht, es auf normalem Wege zu öffnen. Noch etwa zehn Meter gepflasterter Weg trennten mich von der Haustür, vor der eine Glühlampe ohne Schirm an einem Kabel baumelte und ein diffuses Licht von sich gab. Der Kegel, den die Lampe erzeugte, reichte ungefähr drei Meter weit. Ich war kurz davor, ihn zu betreten und suchte schon nach der Klingel. Zwar wollten wir dem Mann einheizen und ihm einen ordentlichen Denkzettel verpassen, aber wir wollten ihn nicht aus Versehen verletzen, daher sollte ich ihn zur Haustür locken, bevor unsere eigentliche Aktion startete. Doch plötzlich schwang die Haustür nach innen auf.

»Was willst du hier?«, herrschte mich eine Stimme an, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Bernhard Mutschke sah ganz anders aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Wobei ich ihn bisher auch nur ein paar Mal im Vorbeigehen im Dorf gesehen hatte. Nun wirkte er viel größer, viel bedrohlicher, was auch daran liegen konnte, dass er zwei Stufen höher stand als ich. Seine laute Stimme klang heiser und kratzig, als ob er gerade unter einer Halsentzündung leiden würde. Von der Superkraft, die mich kurz nach Jacks Kuss erfüllt hatte, war nichts mehr zu spüren. Ohne weiter nachzudenken, schmetterte ich dem alten Mann, der gerade mit ausgestrecktem Arm einen Schritt auf mich zumachte, den Brief vor die Füße, wandte mich um und rannte weg. Um mich zu vergewissern, ob er mir folgte, warf ich einen Blick über die Schulter. Er verharrte nach wie vor auf dem Treppenabsatz, doch dummerweise vergaß ich das Tor, was ich schmerzhaft bezahlte. In vollem Tempo bremste mich die obere Querstrebe ab, als ich mit dem rechten Brustkorb dagegen krachte. Ein stechender Schmerz schien mir die gesamte Luft aus dem Körper zu ziehen und einen Moment lang war ich nicht in der Lage, einzuatmen. Nach Luft ringend zog ich mich über das Hindernis und kam etwas wackelig dahinter auf den Füßen zum Stehen. Aus dem Augenwinkel sah ich Mutschke jetzt hinter dem Tor, gerade griff er nach der eisernen Klinke. Mit letzter Kraft rannte ich los, während ich einen erbärmlichen Pfiff durch meine Finger absetzte. »Das hören sie nie«, ächzte ich und wollte zu einem neuen Versuch ansetzen, da vernahm ich den ersten Knall. Gleich darauf den zweiten, dritten und so weiter. Eine Scheibe nach der anderen zerbarst, unterbrochen vom Fluchen Mutschkes, der uns die Pest an den Hals wünschte, während er aufgebracht mit erhobenen Fäusten vor dem Haus hin- und herrannte. »Puh«, stöhnte ich, gerade auf der anderen Seite der Lichtung vom Waldrand verschluckt. Hatten sie mein Signal also doch gehört, zum Glück! Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er mich nicht am Rande des Lichtkegels erkannt hatte. Denn obwohl ich von der moralischen Richtigkeit unserer Aktion überzeugt war, hatte ich doch etwas Muffe vor meinem Vater, sollte Mutschke uns die Polizei auf den Hals hetzen.

Langsam nahm die Frequenz der Einschläge ab, was zum einen sicher daran lag, dass kaum noch Fenster in Mutschkes Haus unversehrt waren, zum anderen aber auch daran, dass jeder meiner drei Freunde nur eine begrenzte Anzahl von Kastanien als Munition für ihre Zwillen dabei hatte. Ich hatte einen schützenden Baumstamm gefunden. Ich lehnte mich an die dem Haus abgewandte Seite und rutschte daran hinunter, bis mein Hintern fast den Waldboden berührte. Mein Puls beruhigte sich und nur der Schweiß auf meiner Stirn würde einem Unbeteiligtem verraten, dass ich gerade einen gewaltigen Adrenalinausstoß hinter mir hatte. Strenggenommen waren es ja zwei, die ich innerhalb kurzer Zeit aushalten musste, wobei der erste – resultierend aus Jacks plötzlichem Kuss – deutlich tiefer in meine Eingeweide eingedrungen war. »Jetzt ist auch mal gut«, sagte ich leise und erhob mich, wobei ich mich gleichzeitig um den Baumstamm zog. »Na endlich.« Der letzte Einschlag in Mutschkes Haus war gefühlt Minuten her, wobei es sicher erst einige Sekunden gewesen waren. Nördlich von mir hörte ich deutlich, wie jemand durch den Wald rannte, und noch deutlicher hörte ich dabei ein Lachen. Philip. Er schien sich sehr zu amüsieren und irgendwie zogen sich meine Mundwinkel ebenfalls nach oben.

Jack müsste auch jeden Moment hier vorbeilaufen. Vorsichtig bewegte ich mich aus meinem Versteck und lugte durch Zweige, Sträucher und Büsche hindurch über die Lichtung, die in ein seltsam phosphoreszierendes Licht getaucht war und eine scheinbar unnatürliche Helligkeit ausstrahlte. Erst beim zweiten Hinschauen erkannte ich, dass es eine Taschenlampe mit einer wahnsinnig starken Leuchte war, die Mutschke in seiner Hand hielt und mit der er vom Haus aus in Richtung des Waldes für diese viel zu helle Ausleuchtung sorgte. Plötzlich blieb er stehen und hielt den Lichtstrahl genau auf mich. Sofort verschwand mein Grinsen, denn ich befürchtete, dass er mich deutlich erkennen konnte. Fast fühlte ich mich, als würde ich nackt dort stehen. Dann hörte ich etwas links von mir ein Knacken, gefolgt von den typischen Lauten, die Turnschuhe von sich geben, wenn man mit ihnen über trockenen Waldboden rannte. »Jack, puh, das wurde aber auch Zeit«, sagte ich mehr zu mir selbst. Umdrehen und hinterherrennen, das war mein eigentlicher Plan, doch irgendwie blieb ich wie versteinert stehen. Keine Ahnung, warum ich nicht weglief, obwohl Mutschke, mit der Taschenlampe in meine Richtung leuchtend, einige Schritte auf mich zugekommen war. Vielleicht brauchte ich in diesem Augenblick noch weiteren Nervenkitzel oder ich wollte insgeheim erwischt werden, oder wollte ich es gar auf eine direkte Konfrontation mit dem Stasi-Schwein ankommen lassen? Das würde ich wohl niemals erfahren und es war auch nicht wichtig, denn als Mutschke auf der Mitte der Lichtung stand, zuckte er mit den Schultern, ließ seufzend die Taschenlampe sinken und machte sich daran, wieder zu seinem Haus zu gehen.

Nachdem ich ihm einen Moment lang hinterhergeschaut hatte, wie er mit hängenden Schultern und schlurfenden Schritten von dannen zog, kam er mir so ganz und gar nicht mehr furchteinflößend vor wie zuvor, als er mich vor der Haustür überrascht hatte. Nein, er wirkte eher bemitleidenswert. Nein, auch nicht bemitleidenswert, vielmehr jämmerlich. Ja genau, ich denke, jämmerlich beschrieb es am besten. »Egal«, sagte und dachte ich gleichzeitig und setzte endlich an, hinter Jack herzulaufen. Ich wusst nicht, wie viel Vorsprung sie schon hatte, weil ich wirklich viel zu lange den alten Mann angestarrt hatte. Möglicherweise würde ich sie nicht einmal vor unserem Hauptquartier einholen. »Herausforderung angenommen«, sagte ich mir und beschleunigte meine Schritte.

 

***

 

Komplett außer Atem erreichte ich die kleine Anhöhe, von der es nur noch ein Katzensprung bis zu unserer Bude war. Wie erwartet konnte ich den Vorsprung von Jack nicht mehr einholen, was ich einerseits schade fand, andererseits war ich darüber auch heilfroh, denn wie um alles in der Welt sollte ich mich überhaupt verhalten, wo sie mich vorhin doch geküsst hatte? Erleichtert sah ich in der Ferne das Licht durch die Ritzen unserer Dachluke aufblitzen und hörte Philip aufgeregt plappern. Ich schüttelte mich, atmete tief durch und lief das letzte Stückchen. Mit einer fließenden Bewegung zog ich die hölzerne Öffnung nach oben und ließ mich in die unterirdische Behausung fallen.

»Tadaa!«, rief ich überschwänglich und sofort verstummte Philip und schaute mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, was nicht nur an der Petroleumlampe gelegen hatte. Auch Jonas musterte mich, als würde er auf den Wetterbericht warten oder in seinem Falle eher auf das Politbarometer. »Was ist los?«, wollte ich von ihnen wissen. »Und wo ist Jack?« Spätestens jetzt, als die beiden erst sich und dann mich ansahen, wusste ich, nein, wussten wir alle, dass etwas nicht stimmte.

»Wir dachten, sie wäre bei dir«, platzte es aus Jonas heraus.

»Nein«, erwiderte ich langsam. »Nachdem ich euch beide hab wegrennen hören, lief sie kurz darauf an der anderen Seite an mir vorbei. Ich bin vielleicht zehn Sekunden später hinter ihr her«, fuhr ich fort, obwohl mir schmerzhaft bewusst war, dass ich deutlich länger als zehn Sekunden dort herumgestanden hatte.

»Verdammt, du solltest doch auf sie aufpassen und sie einsammeln«, fauchte Philip und sämtliche Euphorie war mit einem Mal verflogen.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Jonas, deutlich leiser als eben und mit einem leichten Zittern in der Stimme.

»Sicher ist sie nur etwas vom Weg abgekommen und kommt gleich. Wäre bei der Stockfinsternis auch kein Wunder.« Philip setzte sich wieder, nachdem er gerade aufgesprungen war.

»Ich weiß nicht, Jack kennt hier genau wie wir jeden einzelnen Baum und jeden Kiesel. Die verläuft sich doch nicht.«

»Wir sollten sie suchen gehen«, pflichtete Jonas meinen Bedenken bei. »Selbst, wenn sie sich unten am Hang bei einer Abzweigung vertan hätte, müsste sie längst hier sein.«

»Vielleicht hat sie sich hingepackt und den Fuß gebrochen oder so«, nahm Philip die Situation nun auch etwas ernster.

»Also, was machen wir?«

»Wir beide gehen sie suchen«, beschloss Philip, »und du wartest hier, falls sie doch noch herkommt«, ergänzte er in Richtung Jonas. Der holte einen Notizblock aus seiner Jacke und kritzelte etwas mit einem Kugelschreiber darauf.

»Gute Idee«, warf ich ein.

»Oh, muss sich der Herr Professor dazu Notizen machen?«, zog Philip ihn auf, doch Jonas reagierte nicht auf dessen Spitze, sondern riss den obersten Zettel ab und legte ihn auf unseren provisorischen Tisch. Dann quetschte er sich zwischen Philip und mir hindurch nach draußen.

»Ich werde natürlich nicht hier rumsitzen. Zu dritt sind wir viel schneller und haben einen größeren Suchradius«, sagte er mit entschlossener Stimme. Philip sah mich augenrollend an und folgte unserem Freund. Bevor ich ebenfalls nach draußen kletterte, warf ich noch einen Blick auf den Zettel. »Wir suchen dich, Jack. Falls du vor uns hier bist, warte bitte. Gruß Jo.«, las ich und musste unweigerlich lächeln. Altklug, aber treffend. Das war unser Jonas.

»Okay, dann lass uns aufteilen«, schlug Philip vor, womit wir einverstanden waren. »Falls irgendetwas passiert, ihr wisst ja –.«

»Der Eulenruf«, erwiderten Jonas und ich fast gleichzeitig.

Wir besprachen unsere Routen, darauf bedacht, dass der Abstand zwischen uns nicht zu gering und natürlich auch nicht zu groß sein würde. Denn falls wir uns dabei sehen könnten, bräuchten wir eher Tage als Stunden, um das Areal abzusuchen, und falls wir einen Eulenruf nicht hören könnten, wäre nicht auszuschließen, dass noch jemandem etwas passierte. Verdammt, wir gingen irgendwie schon davon aus, dass Jack etwas zugestoßen wäre. Mein Magen verknotete sich bei dem Gedanken, dass sie mit einem gebrochenen Bein irgendwo wimmernd herumlag und auf Hilfe wartete – nicht schreien dürfend, damit Mutschke sie nicht fand – oder noch viel schlimmer, dass sie gestürzt sein und sich den Kopf gestoßen haben könnte und nun bewusstlos hinter einer Eiche lag und Blut aus ihrer Platzwunde in den Waldboden sickerte. Dass ihr etwas noch Schlimmeres passiert sein könnte, verbot ich mir, mir vorzustellen.

 

***

 

Zwei Stunden waren wir umhergeirrt, waren jeden kleinen Weg abgegangen, der zwischen Mutschkes Haus und unserem Hauptquartier lag, hatten jede Senke, jede Anhöhe durchsucht, waren hinter jede größere Wurzel gekrochen und hatten in jeder uns bekannten Höhle nachgesehen. Die Höhlen, wovon es etwa acht oder neun gab, waren das Überbleibsel längst vergangener Tage, als noch Bären in unserer Gegend heimisch gewesen waren, hatte uns Paps erzählt. Was wir ihm jedoch nicht so ganz abkauften.

»Nichts, keine Spur von ihr«, keuchte Jonas mit auf dem Oberschenkel aufgestützten Armen, als wir uns wieder im Hauptquartier getroffen hatten.

»Ich hab auch nichts«, sagte ich und sah hoffnungsvoll zu Philip, der grimmig zu Boden schaute.

»Dann hat Mutschke sie«, sagte er plötzlich und es klang alternativlos.

»Das müssen wir der Polizei melden«, sagte Jonas hektisch.

»Ich, äh, glaube nicht, dass er sie hat«, begann ich zäh.

»Hä? Wie kommst du darauf?«, fragte Philip sofort.

»Nun, äh«, druckste ich herum. »Ich hab ihn, also den Mutschke, noch eine Weile beobachtet, nachdem ihr losgerannt wart.«

»Etwa zehn Sekunden«, erinnerte mich Jonas an meine vorhin getroffene Aussage.

»Ja, vielleicht waren es ein paar mehr.«

»Ein paar? Wieviel? Fünf? Zehn?« Die Schärfe in Philips Stimme bereitete mir einen weiteren Schweißausbruch.

»Ach, keine Ahnung, vielleicht eine Minute. Mehr auf keinen Fall«, sagte ich trotzig und hoffte, damit einigermaßen richtig gelegen zu haben.

»Du solltest auf sie aufpassen! Sie aufsammeln!«, stauchte er mich zusammen und ließ noch einige weitere Beschimpfungen auf mich niederprasseln, ohne, dass ich ihm widersprechen konnte.

»Wartet mal«, unterbrach ihn Jonas und zog sich dadurch Philips zornigen Blick zu. Besser er als ich, dachte ich und hörte ihm dann zu, genau wie unser selbsternannter Anführer. »So wie Lennard es schildert, waren es nicht Jacks Schritte, sondern meine, die er gehört hat.«

»Du warst doch auf der anderen Hausseite«, sagte ich perplex.

»Ja, eigentlich schon, aber ich hatte von dort keine freie Sicht, daher bin ich auf die andere Seite geschlichen. Demnach muss ich es gewesen sein, der an dir vorbeigelaufen ist.«

»Dann hättest du doch Jack am Haus sehen müssen. Ich meine, du müsstest ihr doch fast auf die Füße getreten sein«, folgerte Philip verblüfft und auch ich war neugierig, was Jonas noch erzählen würde.

»Tja, seltsam. Ihr habt recht, an sich hätte sie sich ganz in der Nähe aufhalten müssen –.« Jonas fasste sich mit gespreizten Fingern an den Kopf und bewegte sie, wodurch er seine Kopfhaut hin- und herschob, was in Kombination mit unserer Beleuchtung echt gruselig aussah. Etwa so, wie ich mir immer einen wahnsinnigen Wissenschaftler vorgestellt hatte. »Nein, ich habe sie nicht gesehen.« Er nahm seine Hände runter und sah sofort wieder aus wie immer. Wie ein Zwölfjähriger, der etwas zu gut im Futter stand. »Das lässt nur zwei Schlüsse zu«, fuhr er fort und wir hingen gebannt an seinen Lippen.

»Schieß los«, ermunterte ich ihn.

»Entweder, Mutschke hat sie vor unserem Beschuss entdeckt und sich ihrer habhaft gemacht –.«

»Ihrer habhaft gemacht, ernsthaft?«, fuhr Philip dazwischen, doch ich bedeutete ihm mit einer Handbewegung, den Mund zu halten.

»Sie sich geschnappt, wenn es dir besser gefällt«, ergänzte Jonas. »Oder sie hat kalte Füße bekommen und hat sich nach Hause verdrückt, bevor du das Signal gegeben hast.« Einige Sekunden herrschte Stille. Totenstille, auch wenn ich dieses Wort überhaupt nicht in meinen Gedanken haben wollte.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Philip endlich. »Um sie zu schnappen, war niemals genug Zeit.«

»Das stimmt«, sagte ich überzeugt. »Wie hätte er so schnell wieder bei der Haustür sein sollen?«

»Eben«, sagte Philip, »und was das andere angeht: Jack hat mehr Mut als wir alle zusammen, die würde nie kneifen.« Auch dem pflichtete ich gedanklich bei, doch ich beließ es bei einem Nicken.

»Ich sehe keine andere Möglichkeit, als zu ihr nach Hause zu gehen und nachzufragen.« Wie wenig Mut wir drei tatsächlich hatten, hätte man in diesem Moment in unseren Gesichtern ablesen können, die alles andere als heldenhaft zu Boden sahen.

Kapitel 6

 

 

 

Heute

 

Erneut brummte das Handy in Isabells Tasche, woraufhin sie sich bemühte, nicht allzu auffällig durch den offenen Schlitz hinein und auf das Display zu gucken. Lennard, natürlich war es Lennard und damit dessen fünfter Versuch, sie zu erreichen. Dabei hatte sie ihm doch mehrfach klargemacht, dass sie während des Dienstes nur angerufen werden wollte, wenn es sich um etwas absolut Dringendes handelte, was schon das Niveau eines unmittelbar bevorstehenden Weltunterganges haben musste. Für alle anderen Fälle sollte er ihr eine Nachricht via WhatsApp oder Messenger schicken. In den ersten zweieinhalb Jahren ihrer Beziehung hatte dieses Agreement zwischen ihnen gut funktioniert, doch in den letzten Monaten hielt Lennard sich immer seltener daran. Wieder und wieder rief er sie wegen Belanglosigkeiten an und störte dadurch ihre Konzentration.

»Soll ich fragen?«, hörte sie Paul betont beiläufig sagen. Nein, sollte er nicht und Lennard sollte gefälligst aufhören, sie anzurufen. Isabell war heilfroh darüber, ihren Kollegen vorhin geschickt vom Thema Beziehung zwischen ihr und Lennard auf triviale Themen abgelenkt zu haben, doch mit jedem weiteren Anruf fühlte sich Paul berufen, seinen Senf dazuzugeben; auch wenn es für ihn eher ein Spiel war.

»Nein, sollst du nicht«, erwiderte sie knapp und drückte genervt an den Knöpfen ihres Smartphones herum, bis endlich das System herunterfuhr. »Und ab jetzt wirst du dazu auch keinen Anlass mehr bekommen.« Sie zog den Reißverschluss zu und ließ die dunkelblaue Kunstlederhandtasche auf den Boden zwischen ihre Füßen rutschen, die ebenfalls in dunkelblauen, perfekt zur Tasche passenden Pumps steckten. Aus dem Augenwinkel sah sie Paul schmunzeln. Klar, bereits zu Anfang ihres gemeinsamen Dienstes signalisierte er mal mehr, mal weniger deutlich sein Interesse an ihr auch über das Berufliche hinaus, doch diesen Zahn hatte sie ihm bei der erstbesten Gelegenheit gezogen. Die Trennungslinie zwischen Privatem und Dienstlichem gedachte sie nicht zu überschreiten. Auch wenn es in einigen Fällen gutging, kannte sie zu viele gescheiterte Kollegenehen oder eheähnliche Beziehungen, die danach zu äußerst krassen Spannungen in ganzen Abteilungen geführt, in Einzelfällen sogar kleine Firmen gesprengt hatten. Da spielte es auch keine Rolle, dass Paul ein durchaus imposanter, gutgebauter Kerl mit einer markant männlichen Gesichtsform war, der noch dazu mit einem eleganten Modegeschmack und einer nicht zu unterschätzenden Intelligenz punkten konnte. Doch selbst, wenn er statt seines eher rüden Wesens der Frauenversteher par excellence gewesen wäre, würde es mehr brauchen, als ein psychisches Loch und viel Alkohol, damit sie ihre Prinzipien über Bord werfen würde.

»Du weißt ja, ich bin immer für dich da«, schleimte er.

»Äh, ist deine Empathiezeit für heute nicht bereits abgelaufen?« Ausladend wirbelte er mit seinem linken Arm herum und sah übertrieben auf die Uhr. Langsam schüttelte er den Kopf.

»Ja, du hast recht«, korrigierte er sich, »also nerv mich nicht weiter mit deinen Pseudoproblemchen.«

»Gut, warum nicht gleich so?«, sagte sie, froh darüber, erneut vom Thema abgekommen zu sein. Bevor ihre Frotzelei in die nächste Runde gehen konnte, unterbrach sie eine Durchsage über Funk.

»An alle verfügbaren Einheiten in Rudow: Eine Anwohnerin meldet eine 058. Waltersdorfer Chaussee, Ecke Neuhofer Straße, in der Nähe der Post. Ich brauche jemanden, der sich das mal ansieht«, hörten sie eine Frauenstimme sagen, was sich wegen des statischen Rauschens aus dem Lautsprecher leicht kratzig anhörte. Isabell und Paul sahen sich an und waren sich sofort einig.

»Eine Belästigung? Dazu hab ich überhaupt keinen Nerv heute«, sagte Paul und sprach damit aus, was Isabell dachte.

»Ist nicht unser Fachgebiet, auch wenn wir gerade im gottverdammten Zentrum dieses Stadtteils fahren«, ergänzte Isabell, wodurch sie Paul ein zufriedenes Grunzen entlockte.

Als die Kollegin über Funk jedoch die beteiligten Personen näher beschrieb, wurden die beiden hellhörig.

»Das ist doch unser komisches Pärchen von vorhin, oder?«

»Ja, mit Sicherheit«, erwiderte Isabell und schaute ihn fragend an, woraufhin er nickte. Sie griff nach dem Handgerät und drückte die Sprechtaste. »Wagen 24, wir sind vor Ort und fahren hin.«

»Notiert«, kam es knapp zurück und das Rauschen war wieder fort. Während des sehr kurzen Gesprächs hatte Paul eine Lücke im Verkehr entdeckt und den Streifenwagen bereits gewendet. Er trat auf das Gaspedal, wodurch Isabell in den Sitz gedrückt wurde.

»Ruhig Blut, Brauner, es ist kein Mordanschlag, nur `ne Belästigung.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752132922
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Mord Stasi Berlin Brandenburg KGB Entführung BND FBI Terror Cosy Crime Whodunnit Krimi Noir Thriller Spannung Roman Abenteuer

Autor

  • Marcus Ehrhardt (Autor:in)

Der Autor, 1970 geboren, lebt im niedersächsischen Vechta. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder. Die Idee, Geschichten zu erzählen und Bücher daraus entstehen zu lassen, kam quasi über Nacht. Seinen großen Sympathien den USA gegenüber in all ihren Vielfalten und endlosen Weiten ist es geschuldet, dass einige seiner Titel eben dort verankert sind. Demgegenüber erscheinen immer wieder Titel, die vorrangig in seiner norddeutschen Heimat angesiedelt sind.