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Zeitspiele

Detektiv Gummimann Roman

von Tino Keller (Autor:in)
240 Seiten

Zusammenfassung

Die Überwachung einer gestohlenen Geige, scheint zuerst keinen Zusammenhang mit den Diebstählen in einer Basler Chemiefabrik zu haben. Doch dann beginnen die Schwierigkeiten. Eine Perücke führt ihn zu einer Fabrik, in der eigenartige Versuche gemacht werden, die ihn fast in den Tod führen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


St. Martin

Die Gasse war schmal. Der kleine, etwas zu dicke Mann blickte in das Schaufenster. Viele Menschen gingen an ihm vorbei und bestaunten die schönen alten Häuser mit ihren verzierten Erkern. Nicht so der Dicke. Auch am Schaufenster war er nicht interessiert, sondern an einem Touristen, der einen alten Brunnen mit einem steinernen Ritter, aus dessen Lanze Wasser sprudelte, fotografierte. Der Mann ging weiter. Der Dicke folgte ihm möglichst unauffällig, fotografierte dabei die Umgebung und natürlich zufällig auch ihn.

St. Martin am Rhein war ein Touristenmagnet, weit über die Landesgrenzen bekannt. Die Häuser aus dem sechzehnten Jahrhundert, die alten Brunnen und die verwinkelten Gassen waren berühmt. Die Meistergasse, in der die Beschattung stattfand, war wahrscheinlich eine der schönsten Sehenswürdigkeit der Gegend.

In einem Souvenirladen kaufte der Mann, der Mitte fünfzig sein musste, eine Ansichtskarte. Er sah aus wie ein typischer Tourist: einfach gekleidet mit blauen Jeans und einem, dem Wetter entsprechenden, kurzärmligen, bunten Hemd. Sein schütteres, fast weisses Haar war mit einem Strohhut bedeckt. Sein Gesicht war schon leicht runzlig mit einem kurzen, grau melierten Bart, und einer grossen Charakternase. Unter den zahlreichen Touristen fiel er nicht auf. Sogar die dunkelbraune Umhängetasche aus Leder und den etwas altmodischen Fotoapparat, den er bei sich trug, waren unauffällig und passten zu ihm.

Der kleine Dicke stand vor dem Geschäft und schaute ihm durch das Schaufenster zu. Als der Mann den Laden wieder verliess, hängte er sich erneut an ihn. Bei den vielen Touristen war es schwierig, ihn nicht zu verlieren. Klein zu sein, war in dieser Gasse schlecht. Oft war er einfach nicht gross genug, ihn zwischen den Menschen noch zu sehen. Der Mann betrat die Fischerstube, das bekannteste Gasthaus in ganz St. Martin.

Der Dicke aber verschwand in einer ruhigen Seitengasse, die in einem Hinterhof endete. Noch einen Blick zurück, um sicher zu sein, von niemanden gesehen zu werden, dann verzog er sich in einen Hauseingang. Dort veränderte er sein Aussehen, indem er sich gross und schlank machte. Die unauffällige, graue Manchesterhose und ein schwarzweisses T-Shirt wechselte er nicht. Zurück in der Meistergasse ging auch er in die Fischerstube und setzte sich so an einen Tisch beim Eingang, dass er den Mann, der einen Kaffee und ein Stück Schwarzwälder Torte vor sich hatte, weiter beobachten konnte. Was jetzt kommen würde, kannte er. Als der Mann fertig gegessen und den Kaffee ausgetrunken hatte, bekam er die Rechnung. Diese erhielt er in einem Mäppchen, im Gegensatz zu den anderen Gästen, die nur eine Quittung bekamen. Dann nahm er die Rechnung aus dem Mäppchen, sah sie sich kurz an, nickte, unterschrieb, gab sie zurück und nahm eine Kopie entgegen. Es war das vierte Mal, dass er genau diesen Vorgang in diesem Lokal beobachten konnte, und nie hatte er ihn zahlen sehen. Der Schlanke machte noch ein paar Aufnahmen, indem er den Fotoapparat in die Richtung des Zahlenden auf den Tisch stellte und blind abdrückte. Daraufhin zahlte auch er und wartete bis der Mann das Lokal verliess.

Dann verfolgte er ihn noch kurz durch die Meistergasse weiter, bis dieser zum Marktplatz abbog und im Hotel ›zum goldenen Drachen‹ verschwand. Seit vier Tagen die gleiche Prozedur mit kleinen Abweichungen.

Gummimann setzte sich aufs Bett. Sein Zimmer im Gasthaus ›Zur Sonne war klein, bestand nur aus einem Bett, einem kleinen Tisch, zwei Stühlen, einer Kommode, auf der der Fernseher stand, und einem Beistelltischchen mit dem Telefon und natürlich der Bibel.

Solche Beschattungsaufträge liebte er nicht, aber sie gehörten zu seinem Job, und dafür waren seine Fähigkeiten, sich gross oder klein, dick oder dünn zu machen, geradezu ideal. Seine Auftraggeber wussten nicht, dass er sich so verändern konnte, nur, dass er ein guter Detektiv war. Er wollte es möglichst geheim halten.

Der jetzige Auftrag entwickelte sich zu einer langweiligen Sache. Dabei hatte es sich so interessant angehört, als er ihn von Peter Voss angenommen hatte. Wichtig sei er, sagte Voss damals. Er meinte, der Mann sei vielleicht ein Spion und er traue ihm nicht über den Weg. Und jetzt, jeden Tag das gleiche Restaurant, die gleiche komische Bezahlweise, die gleiche Gasse, der gleiche Weg. Immerhin, St. Martin war schön, für ihn fast Ferien und dieser Voss zahlte alles. Das Hotel, die Reise, das Essen und die Arbeit. Und Gummimann war teuer. Dafür konnte er sich schon etwas langweilen.

Bevor er zum Nachtessen in die Gaststube ging, wollte er sich noch die Fotos anschauen. Er steckte die Speicherkarte vom Fotoapparat in seinen Laptop und begann die Bilder durchzusehen: Da waren die vom Morgen. Der Mann, der Jan Selig hiess, machte seinen Spaziergang dem Rhein entlang. Dann das Mittagessen im Gasthaus ›Krone‹, das er versteckt hatte aufnehmen müssen. Selig sass immer am gleichen Platz. Meistens ass er Spaghetti, obwohl es eine grosse Auswahl bester Speisen gab. Auch der Nachmittag gestaltete sich meistens ähnlich: ein Spaziergang durch die Altstadt, der in der Meistergasse mit dem Besuch in der Fischerstube endete.

Wirklich, seit vier Tagen fast das gleiche Zeremoniell. Gummimann gähnte und schaute sich die letzten Bilder an, als ihm eine Frau auffiel. Nicht etwa, weil sie besonders hübsch gewesen wäre, sondern weil sie ihm bekannt vorkam. Auf einem anderen Bild hatte er sie schon einmal gesehen. Gespannt begann er, die Fotos nach ihr zu durchsuchen. Und tatsächlich! Auf den heimlichen Bildern in der Fischerstube sass sie an einem Tisch in der Ecke. Auch auf den Bildern von der Meistergasse war sie zwischen den Touristen zu sehen. Nun, es konnte Zufall sein, die meisten Besucher gingen in die Meistergasse und in die Fischerstube. Doch er fand sie auch auf Bildern vom Spaziergang am Rhein und im Gasthaus ›Krone‹. Das konnte kein Zufall sein!

Gummimann lehnte sich zurück, blickte ins Leere und liess den heutigen Tag nochmals an sich vorbeiziehen. Seine Überlegungen, warum die Frau ihm beim Beschatten nicht aufgefallen war, brachten keine vernünftigen Erklärungen. Sicher sie benahm sich sehr unauffällig, wie auch er das versuchte, aber gerade darum hätte sie ihm auffallen müssen. Möglicherweise war es trotzdem nur ein Zufall. Viele der Touristen wählten diese oder ähnliche Routen.

Es klopfte an der Tür. Gummimann zuckte zusammen, er war noch stark in Gedanken vertieft.

Es klopfte ein zweites Mal. »Herr Gummimann sind Sie da?«, erklang eine Frauenstimme durch die Tür. »Wir haben einen Platz für Sie in der Gaststube reserviert, und ich wollte Sie fragen, ob Sie noch kommen? Herr Gummimann sind Sie da?«

»Ja, ja, ich komme, ich hätte es fast vergessen, danke Frau Rothschild«, antwortete er und erhob sich.

Sie wartete vor der Tür auf ihn. Auf dem Weg bis zur Gaststube, zwei Stockwerke ohne Lift, erzählte sie ihm ihr halbes Leben. Sie konnte dabei nicht genug betonen, dass sie ganz entfernt mit diesem Baron von Rothschild verwandt sei.

Wie jeden Tag war der Tisch am Fenster für ihn reserviert, mit Blick auf den Rhein. Gummimann setzte sich und die nette Frau Rothschild lächelte ihn an und gab ihm die Speisekarte. Sie war die Seele des Gasthauses ›zur Sonne‹. Mittleren Alters, klein, etwas mollig, sie hatte ihre langen Haare nach oben gekämmt und mit einer goldenen Schleife zusammengebunden und trug ein Dirndl mit einer grünen Schürze. Ihre freundliche Art gab jedem das Gefühl, der wichtigste Gast hier zu sein.

Nach kurzem Warten fragte sie: »Haben Sie gewählt, Herr Gummimann?«

»Ja«, sagte er, »ich nehme das vorgeschlagene Menü und ein stilles Wasser.«

»Gerne, Herr Gummimann«, sagte sie lächelnd, »eine gute Wahl«, und ging zur Küche.

Während er auf das Essen wartete, schaute er hinaus auf die Promenade und den Rhein. Es waren nicht mehr viele Leute unterwegs. Die meisten waren wohl beim Nachtessen oder schauten sich einen Krimi im Fernsehen an. Da erschien vor dem Fenster eine Frau in Begleitung eines Mannes. Sie diskutierten heftig. Gummimann erschrak, war das die Frau von den Bildern? Womöglich verfolgte sie ihn und nicht Jan Selig? Die Frau trug einen Hosenanzug mit einem etwas zu bunten Blumenaufdruck. Dieser wäre ihm sicher aufgefallen. Auch waren die Haare zu kurz – nein, das war sie nicht. Die Frau und ihr Begleiter gingen weiter.

Die Suppe wurde gebracht. Frau Rothschild lächelte und wünschte ihm einen guten Appetit. Gummimann bedankte sich und begann zu essen. Plötzlich entdeckte er, zwei Tische vor ihm, eine Frau, die mit einem Spiegel ihr Gesicht puderte. Er sah sie nur von hinten. Sie hatte lange blonde Haare und hielt den Spiegel so, dass sie ihn darin sehen konnte. Vor Schreck verschluckte er sich beinahe. Das musste sie sein, so wie sie sich benahm. Was wollte sie von ihm? Sie hatte bemerkt, wie er sie beobachtete, hielt die Hand in die Luft und ohne sich umzudrehen winkte sie ihm mit den Fingern. Sollte sie das sein, dann hatte er sich vollkommen unprofessionell verhalten. Gummimann war es peinlich, schaute weg und schlürfte weiter seine Suppe.

Ein kleiner, ziemlich dicker, älterer Mann mit sehr wenig Haaren betrat von der Toilette her die Gaststube. Lachend winkte er der Frau zu, durchquerte den Raum und ging zu ihr. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht bückte er sich hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und erhob sich, dabei drehte sie sich zu Gummimann um und winkte ihm zum Abschied. Gummimann erschrak, als er sie sah, winkte aber höflichkeitshalber zurück. Es war ein stark geschminkter Mann in Frauenkleidern. Mit einem übertrieben weiblichen Getue verliess sie, dem kleinen Dicken eingehängt, das Lokal.

So was hatte er noch nie erlebt, es ärgerte ihn. Warum verfolgte ihn diese Frau in seinen Gedanken, obwohl er sie nur auf Fotos gesehen hatte, und sie vielleicht nur zufällig dort war.

Frau Rothschild räumte die Suppe ab und brachte die Hauptspeise. Gummimann bedankte sich und schüttelte gedankenversunken den Kopf.

Wieder in seinem Zimmer beschloss Gummimann, die Frau auch auf den Bildern der vorigen Tage zu suchen. Dazu schaltete er seinen Laptop wieder an und wartete, bis er hochgefahren war. Dann startete er die Suche auf den Bildern von den anderen Tagen. Zuerst sah er nur viele Menschen am Rhein und der Meistergasse, natürlich mit Jan Selig. Auf einem Bild entdeckte er eine Frau, die dieser von heute glich. Sie hatte aber wesentlich längere Haare und war blond. Sie war auch anders gekleidet, was nicht viel aussagte, denn Kleider wechseln konnte jeder oder jede. Er tat es ja auch, wenn er jemanden verfolgte. Auf diesem Bild trug sie einen auffälligen roten Hut, um jemanden zu beschatten eher ungeeignet. Sofort durchsuchte er die weiteren Bilder nach dieser Hutträgerin, fand sie aber kein zweites Mal. Er wollte schon aufgeben, als ihm eine Dame auffiel, die ihre langen braunen Haare hinten durch ein hellblaues Baseballcap gezogen hatte. Sie trug kurze, enganliegende, hellbraune Shorts und ein weisses T-Shirt mit einem Walaufdruck. Und wirklich, er fand sie auf vielen Fotos. Der Vergleich mit den neuesten Bildern bestätigte den Verdacht: Es war dieselbe Dame. Als er sie auch noch auf den Bildern von vor drei und vier Tagen mit anderer Haarfarbe und Frisur und anderen Kleidern entdeckte, sie trug vermutlich verschiedene Perücken, war es ihm klar, sie verfolgte diesen Selig oder ihn.

Zuerst musste er tief durchatmen, er war richtig aufgewühlt. Er als Beschatter wurde beschattet und dabei hatte er sich solche Mühe gegeben, immer anders aufzutreten, andere Körpergrösse, andere Figur, andere Kleider und trotzdem wurde er bemerkt. Der Gedanke, Jan Selig könnte der Beschattete sein, beruhigte ihn zwar etwas, aber er zweifelte.

Am Fenster schaute er von oben über die sonst so belebte Einkaufsstrasse. Er sah, wie einige Autos langsam am Hotel vorbeifuhren, wie die letzten Touristen in ihre Hotels gingen oder noch einen Nachtclub aufsuchten. Am Abend war hier nicht viel los.

Seine Überlegung, Peter Voss anzurufen und ihm alles zu erzählen, verwarf er wieder. Zuerst wollte er morgen die Dame zur Rede stellen. Trotzdem musste er mit jemandem darüber reden, und wer wäre dafür nicht besser geeignet, als sein Freund Sir Clearwater. Er kannte ihn seit ewig, und sie hatten viel zusammen erlebt. Wenn Gummimann Sorgen oder schwierige Fälle hatte, war er der beste Ratgeber. Manchmal brauchte er einfach jemanden, der ihm zuhörte.

Clearwater arbeitete beim Geheimdienst, war schon ein älterer Herr, wobei niemand sein wirkliches Alter kannte. Er war sehr seriös und strahlte viel Autorität aus, alle hatten grossen Respekt vor ihm. Sein Erkennungszeichen war ein weisser Anzug mit einem weissen Panama-Hut.

Mit seinem Handy wählte er Clearwaters Geschäftsnummer. Es läutete zwei Mal, dann wurde abgenommen.

»Clearwater. Herr Gummimann, was gibt mir so spät noch die Ehre?«, sagte er erfreut.

»Sie haben meinen Namen auf dem Display gesehen. Guten Abend Sir Clearwater, ich brauche wieder einmal Ihren Rat.«

»Wir haben schon lange nicht mehr miteinander gesprochen, sind Sie an einem neuen Fall?«

»Ja, ein Beschattungsauftrag, in Deutschland, in St. Martin am Rhein, eher langweilig, aber gut bezahlt.«

»Das ist doch gut, etwas entspannter als ihr letztes Abenteuer in der anderen Welt.«

»Das ist es«, Gummimann musste lachen, »viel entspannter, fast zu entspannt.«

»Und Sie wollen mit mir über Ihren langweiligen Auftrag sprechen?«

»Ja und nein«, Gummimann zögerte: »Vielleicht ist nichts, aber ich erzähle Ihnen, worum es geht.«

Und er erzählte Clearwater von der geheimnisvollen Beschatterin. Und seiner Unsicherheit, wer überhaupt von ihr beschattet wurde.

»Das heisst«, fasste Clearwater zusammen, »jemand beobachtet Sie oder Selig und Sie wissen nicht, warum, habe ich das richtig verstanden, und was ist jetzt Ihre Frage?«

»Eigentlich keine Frage, aber ich bin unsicher, wie ich mich verhalten soll. Ich dachte mir, die Dame morgen zur Rede zu stellen.«

»Warum müssen sie Selig beschatten?«

»Genau weiss ich das nicht. Dieser Voss, das ist der Auftraggeber, sagte etwas von einem Spion, was ich mir aber kaum vorstellen kann.«

»Spion? Unwahrscheinlich. Vermutlich steckt etwas anderes dahinter. Ich würde noch mit dem ›zur Rede stellen‹ warten. Klären Sie zuerst ab, ob Sie oder Selig beschattet werden, und dann versuchen Sie herauszufinden, wer diese Dame ist und auch, warum Sie Selig wirklich beschatten müssen. Ich weiss nicht, ob Ihnen das hilft, aber das ist meine Meinung.«

»Doch das hilft mir. Vielen Dank Sir Clearwater, ich lasse Sie wieder arbeiten.«

»Nicht arbeiten, eigentlich habe ich schon lange Feierabend.«

Sie verabschiedeten sich. Gummimann hängte auf und lehnte sich etwas entspannter auf seinem Stuhl zurück. Dann zog er seine Schuhe aus und legte sich aufs Bett. Um sich abzulenken, nahm er sein Buch, natürlich ein Krimi, und begann zu lesen. Nach einer Seite legte er es wieder auf das Beistelltischchen. Er hatte keine Ahnung, was er gelesen hatte. Seine Gedanken waren woanders. Es ärgerte ihn, dass er die Beschatterin nicht bemerkt hatte. Ihm als bekannter Detektiv sollte sowas nicht passieren. An Schlaf war nicht zu denken. Um seine Gedanken frei zu bekommen, war ein Spaziergang immer noch das Beste. Obwohl es schon 22.00 Uhr war, zog er seine Schuhe an, vergewisserte sich, dass er sein Handy dabeihatte, und verliess das Zimmer.

Im Hotel war es ruhig, alle schienen zu schlafen, auch der Concierge an der Rezeption. Dieser erschrak, als Gummimann ihn sanft weckte, indem er kräftig auf die Rezeptionsglocke schlug, und ihm den Zimmerschlüssel gab.

Draussen war es angenehm kühl. Einfach so ziellos durch die ausgestorbenen Strassen von St. Martin zu gehen, war jetzt die beste Entspannung. Einige Katzen flüchteten, eine Wasserratte überquerte am Flussufer die Strasse und verschwand irgendwo, ein Betrunkener lag am Boden und schlief laut schnarchend.

Bei seinem nächtlichen Spaziergang kam er am Hotel ›Zum goldenen Drachen‹ vorbei, in dem Selig wohnte. Auch dort waren die meisten Zimmer dunkel, nur der Empfang war beleuchtet. Er blieb kurz stehen und betrachtete das Hotel. Es war mit roten Bändern verziert, die man sogar im Dunkeln erkennen konnte, und hatte ein geschwungenes Dach. Den Eingang bewachten zwei goldene Drachenstatuen und darüber hing ein Bild, eines ebenfalls goldenen Drachen, auf blauem Hintergrund. Es war alles ziemlich chinesisch angehaucht und passte überhaupt nicht zum sehr traditionellen St. Martin. Wer war nur auf diese verrückte Idee gekommen, so etwas hier aufzustellen? Gummimann schüttelte den Kopf.

Langsam wurde er müde und dachte ans Umkehren. Von diesem Hotel zu seinem waren es nur ungefähr zehn Minuten. Er wollte gerade in die Gasse für den Heimweg einbiegen, als er eine Person entdeckte, die sich aus dem Schatten eines Hauses gelöst hatte. Zuerst dachte er, es wäre auch eine gestresste Person wie er, die nicht schlafen konnte, doch sicherheitshalber zog er sich an eine dunkle Stelle in eine Seitengasse zurück, und liess sie an ihm vorbeiziehen.

Da traf es ihn wie ein Blitz. Es war die Frau aus den Fotos! Doch es machte nicht den Anschein, als würde sie ihn suchen, sondern sie ging schnellen Schrittes, ohne nach rechts oder links zu schauen, an der Gasse und am Hotel vorbei.

Was machte die Dame um elf vor dem Hotel, in dem Selig sein Zimmer hatte? Gummimann wurde neugierig. Nachdem sie einen gewissen Vorsprung hatte, begann er, ihr zu folgen. Das war nicht einfach, bei einer nächtlichen Verfolgung ist alles ruhig und man hört jedes Geräusch. Indem er sich etwas kleiner machte, wurden seine Schritte auf den Pflastersteinen etwas leiser, aber dafür musste er schneller gehen, was wiederum mehr Lärm machte. Auf den Zehenspitzen schlich er den Wänden entlang, immer bereit, in einem Hauseingang zu verschwinden. Die Dame ging Richtung Rhein, bog aber kurz davor in eine kleine Gasse zum grossen Parkplatz ab. Die Gasse war kurz. Es gab dort keine Hauseingänge oder andere Versteckmöglichkeiten, nur eine Laterne in der Wegmitte. Gummimann musste warten, bis die Frau den Parkplatz erreicht hatte, dann rannte er los, um sie nicht zu verlieren und sah gerade noch, wie sie in ein dunkles, schwarzes oder blaues Auto einstieg. Jemand musste auf sie gewartet haben. Die Autonummer konnte nicht erkennen, sah nur den CH-Aufkleber.

Etwas enttäuscht, nicht mehr herausgefunden zu haben, ging Gummimann in sein Zimmer zurück. Morgen würde er sie vermutlich beim Beschatten von Selig sehen.

 

Pünktlich, wie an jedem der fünf Tage, wartete Gummimann etwas versteckt vor dem ›Goldenen Drachen‹, um Selig abzupassen. Wie jeden Morgen hielt ein Auto der Post vor dem Hotel, und der Briefträger brachte auf einem Handwagen die Post an die Rezeption. Dann verliess wie jeden Tag ein vornehmer Herr in einem dunkelgrauen Anzug mit einer Zeitung in der Hand das Gebäude. Doch von Selig war nichts zu sehen, der müsste jetzt eigentlich kommen. Gummimann wartete. Hatte er ihn verpasst? Nach einer halben Stunde wurde er langsam ungeduldig. Er wartete nochmals kurz und ging vor den Hoteleingang. Durch die Glastüren versuchte er, hineinzuspähen. Doch da war ausser dem Concierge, der mit einer älteren Dame diskutierte niemand, kein Selig. Nach längerem Überlegen beschloss er, sich im Hotel nach Selig zu erkundigen.

Die ältere Dame war noch immer am Diskutieren: »Ich garantiere Ihnen!«, sagte sie fast schreiend, »sollte ich nochmals von einem solchen Lärm aus dem Schlaf gerissen werden, dann bin ich das letzte Mal in diesem Hotel gewesen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, klar. Ich möchte mich nochmals dafür entschuldigen.« Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. »Es wird nie wieder vorkommen.«

Der etwas mollige Concierge machte ein verzweifeltes Gesicht, nickte aber Gummimann begrüssend zu. Die resolute Dame warf ihm nochmals einen vernichtenden Blick zu und ging.

Der Concierge blickte sich um und kam näher zu Gummimann, der jetzt an der Theke stand: »Mit Frau von Steinhausen haben wir oft solche Probleme. Gestern, so gegen halb elf hat ein Gast ausgecheckt, und das hat etwas Lärm verursacht. Eigentlich harmlos, aber die Steinhausen ist erwacht, und das Resultat haben Sie vorher gehört. Aber ich nehme nicht an, Sie sind deswegen gekommen. Wollen Sie ein Zimmer?«

»Nein.« Gummimann schüttelte den Kopf. »Ich will kein Zimmer, ich möchte mich nach Herrn Selig erkundigen, wir haben abgemacht, und er ist nicht gekommen.«

»Das scheint ein begehrter Mann zu sein. Schon heute Morgen hat eine Dame nach seiner Adresse gefragt, aber die habe ich nicht. Er war auch der Grund für Frau von Steinhausens Aufregung. Es war Herr Selig, der uns gestern so spät noch verlassen hat.«

»Kann man denn bei euch noch so spät auschecken?«

»Nein, aber er hat schon am frühen Abend bezahlt und gehen kann er natürlich auch noch spät.«

Gummimann war etwas verwirrt: »Aber, Sie haben doch bei der Ankunft seine Adresse erhalten und auf der Abrechnung sollte sie auch stehen, oder mindestens die Kreditkartennummer.«

»Da haben Sie recht, sollten wir eigentlich haben. Aber leider stimmt die Adresse nicht, und Selig hat bar bezahlt, es gibt also keine Kreditkartennummer.«

Gummimann bedankte sich und verliess das Hotel. Bevor er weiterging, suchte er die Umgebung nach der Dame ab, er hoffte sie zu treffen. Obwohl ihm Clearwater abgeraten hatte, wollte er mit ihr reden. Doch er fand sie nicht. Vermutlich war sie, im Gegensatz zu Gummimann selbst, gestern einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen und hatte beobachten können, wie Selig abreiste.

Langsam wurde es für Gummimann interessant, sein Detektivinstinkt erwachte. Er wollte mehr über Selig herausfinden, auch warum er ihn beschatten musste. Ebenfalls wollte er wissen, wer die Dame war, die hinter Selig her war. Er schien wichtig zu sein, so wichtig, dass mindestens zwei Personen grosses Interesse an ihm hatten. Es gab viele offene Fragen, auch warum Selig mitten in der Nacht das Hotel verlassen hatte. Musste er flüchten? Wollte er nicht gesehen werden?

Für seine Ermittlungen ging Gummimann in die Meistergasse, in den Gasthof zur Fischerstube. Seligs eigenartige Art, dort zu zahlen, könnte ein erster Anhaltspunkt sein. Er setzte sich diesmal nicht an den Tisch beim Fenster, sondern an den Tisch, an dem Selig zu sitzen pflegte. Es war Morgen, es hatte noch nicht viele Touristen unterwegs, die Gaststube war ziemlich leer.

Gummimann bestellte einen Kaffee mit Sahne und ein Croissant. Als der Kellner, der ihn auch gestern bedient hatte, ihm das Bestellte brachte, winkte er ihn zu sich.

»Ich hätte eine Frage. Gestern am späteren Nachmittag haben sie an diesem Tisch einen Herrn bedient und ihm die Rechnung in einem Mäppchen gebracht, und er musste nur unterschreiben.«

»Ja, das war Herr Selig.« Der Kellner schaute ihn verwundert an. »Warum, stimmt etwas nicht?«

»Doch, doch, es war nur eigenartig, wie er bezahlt hat, macht er das mittels einer Kreditkarte?«

Der Kellner schüttelte den Kopf, und einige Schuppen lösten sich aus seinen Haaren. Gummimann hielt vorsichtshalber die Hand über den Kaffee.

»Nein, er musste nicht zahlen, nur bestätigen, die Firma Zellerwald übernahm die Kosten. Lediglich eine Kopie der Rechnung wollte er haben.«

»Die Firma ist von hier, in St. Martin?«

Er liess die Hand über dem Kaffee, aber der Kellner sagte, diesmal ohne Kopfschütteln: »Keine Ahnung, weiss ich nicht.«

Gummimann bedankte sich und ass sein zweites Morgenessen. Zellerwald, war eher ein seltener Name, überlegte er. Die Firma sollte doch zu finden sein.

Nachdem er bezahlt hatte, ging er zurück ins Hotel. Mit Hilfe von Google begann er nach der Firma zu suchen. Die meisten Einträge waren über den Zeller Wald, aber es gab einen Eintrag von einer Firma Zellerwald, die nicht weit von St. Martin entfernt war. Sie revidierte Musikinstrumente. Mit gemischten Gefühlen studierte Gummimann die Angaben zu dieser Firma. Was konnte Selig damit zu tun haben?

Da die Firma nicht weit entfernt war, beschloss Gummimann, hinzugehen. Doch zuerst musste er Voss über die Abreise von Selig informieren. Schliesslich bezahlte er seinen Aufenthalt hier, und es gehörte zu seiner Aufgabe, ihn über alle Aktivitäten Seligs zu informieren.

Wie immer telefonierte er nicht mit dem Hoteltelefon, sondern mit seinem Handy. Nach nur einmal Klingeln, hatte er Voss am Apparat.

»Voss«, sagte eine etwas grelle Stimme.

»Hier Gummimann, hallo Herr Voss, ich wollte Ihnen die neusten Informationen durchgeben. Herr Selig ist gestern abgereist.«

»Abgereist, gestern? Und Sie informieren mich erst jetzt!«, die Stimme wurde schneidender, unangenehmer.

Gummimann versuchte, ihm alles zu erklären, aber Voss liess sich nicht beruhigen. Immer wieder machte er ihm Vorwürfe, warum er ihn nicht besser überwacht hätte, warum er die Informationen erst jetzt durchgäbe. Für diese ungenügende Auskunft und für so eine schwache Arbeit würde er ihn nicht bezahlen.

»Hat er sich mit jemandem getroffen, hatte er ein Paket dabei? Wohin ist er gefahren?«

Gummimann spürte eine gewisse Wut aufkommen, warum bloss reagierte dieser Voss so unangemessen? Aus diesem Grund entschloss er sich, nur das Wichtigste zu erzählen. Mit diesem Voss, da stimmte auch etwas nicht.

»Er hat niemanden getroffen, von einem Paket weiss ich nichts, und wohin er abgereist ist, weiss ich auch nicht. Auch im Hotel hat er keine Adresse hinterlassen. Die, die er dort angegeben hatte, war falsch.«

Voss brummelte etwas Unverständliches und meinte dann: »Gut, schicken Sie mir ein Email mit der Rechnung und ihren Bankangaben.«

Damit hängte er auf, ohne sich zu verabschieden. Gummimann schaute entgeistert das Handy an und schüttelte den Kopf. Er war wütend, dieser Voss wollte ihn nicht verstehen, Gummimann hasste solche Anschuldigungen.

»Schwache Arbeit, ungenügende Auskunft«, wiederholte er mehrmals laut und begann voller Wut seinen Koffer zu packen, indem er alles hineinschmiss. Als er ihn dann nicht schliessen konnte, setzte er sich auf sein Bett und versuchte sich mit tief Ein- und Ausatmen zu beruhigen. Nach ein paar Minuten gelang ihm dies sogar. Er packte alles wieder aus, legte die Kleider sauber zusammen und startete zum zweiten, vernünftigeren Versuch. Und siehe da, alles hatte Platz, der Koffer liess sich problemlos schliessen.

Die Firma war ausserhalb von St. Martin in einem kleinen Weiler mit höchstens zwanzig Häusern. Die Fahrt dorthin führte ihn durch grosse Wälder und weitere kleine Dörfer. Sein Navi leistete gute Dienste, so dass er wirklich nach dreissig Minuten die Firma Zellerwald erreichte. Eigentlich sah das Gebäude nicht nach einer Firma aus, mehr wie ein Bauernhaus mit einem hässlichen Anbau mit Flachdach.

Gummimann stellte sein Auto vor dem Anbau ab und stieg aus. Einige Kühe waren zu hören und ein Hund bellte, er war aber angebunden. Über der Tür vom Anbau hing ein Schild mit der Aufschrift Zellerwald, Inhaber Peter Roth. Die Tür öffnete sich, und ein junger Mann kam auf ihn zu.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fragte dieser misstrauisch.

»Sind Sie Peter Roth?«

Gummimann lächelte und versuchte, so vertrauenswürdig wie möglich zu wirken. Er reichte ihm die Hand zum Gruss. Der junge Mann, immer noch misstrauisch, nahm sie aber nicht an, und so zog er sie wieder zurück.

»Das ist mein Vater. Was wollen Sie von ihm?«

»Ich hätte nur ein paar Fragen.«

»Sind Sie von der Polizei?« Er schaute ihn fragend an, schien aber keine Angst zu haben.

»Nein, ich habe ein Musikgeschäft, und man sagte mir, sie verkaufen auch Instrumente.«

»Verkaufen? Nein. Da hat man Sie falsch informiert.« Er wurde freundlicher. Das Misstrauen war noch da, aber die Neugier überwiegte. »Wir revidieren Instrumente jeglicher Art. Blas- und Streichinstrumente, das ist meistens die Aufgabe meines Vaters. Ich revidiere Orgeln, in Kirchen und so. Wer hat Ihnen von unserem Geschäft erzählt?«

»Jan Selig, aber ich muss ihn falsch verstanden haben.« Gummimann versuchte, die Reaktion des jungen Herrn Roth zu erkennen.

»Jan Selig? Das wundert mich, er verlangte von uns höchste Verschwiegenheit. Ja, ich kenne ihn. Er hat eine Geige, eine Stradivari 1710, zur Revision gegeben.« Er kam näher zu Gummimann, schaute sich wichtig um und sagte leiser: »Das Instrument hat einen Wert von 1,5 Millionen Euro. Es soll bald wieder jemand darauf spielen.«

»Ja, ich weiss, er hat sie gestern geholt«, mutmasste Gummimann, obwohl er zum ersten Mal davon hörte. »Wir haben uns oft in der Fischerstube getroffen, wir kennen uns schon lange und wohnen fast am gleichen Ort.« Er spekulierte, er wusste, es war riskant, er kannte Selig nur vom Beschatten, und er hatte auch keine Ahnung wo er wohnte.

»Ja, er holte sie gestern gegen Mitternacht, sie wurde erst dann fertig. Eigentlich hätte die Geige schon vor fünf Tagen fertig sein sollen, aber Vater schaffte es nicht, und wir boten Selig an, dass er ein Zvieri – wie er es nennt – von uns spendiert bekommt. Und Zellerwald, also wir, haben es bezahlt. Selig kommt auch aus der Schweiz wie Sie, das hörte man schon an der Sprache. Und er hat eine Schweizer BS-Autonummer. Bad-Säckingen oder so, aber das ist eigentlich geheim. Selig wollte nicht, dass wir wissen, woher er kommt, aber man interessiert sich doch für seine Kunden.

Ich muss wieder an die Arbeit, oder haben Sie noch Instrumente zum Revidieren?«

»Nein. Aber ich werde mir den Namen Zellerwald merken, ich habe oft Kunden, die froh um eine gute Adresse für ihre Instrumente sind.«

Gummimann schmunzelte, er hatte mehr erfahren, als er Roth gefragt hatte. Mit einem Händedruck verabschiedete er sich, und fuhr nach Hause, zurück in die Schweiz, seine Arbeit hier in Deutschland war erledigt.

 

Zu Hause in Wallgisdorf, einem kleinen Dorf im Baselland, von den Einheimischen Wallgis genannt, war Gummimanns erste Handlung, das Leeren des Briefkastens. Er wohnte im Parterre eines dreistöckigen Hauses. Im zweiten Stock wohnte Frau Änishänslin. Normalerweise erschien bei seiner Heimkehr immer ihr Kopf im Treppenhaus, denn sie wusste viel zu erzählen. Aber heute blieb es ruhig. Er war fast etwas enttäuscht, nicht den neusten Klatsch zu erfahren. Die Zeitungen hatte sie aus dem Milchkasten geholt und ihm vor die Haustür gelegt. Das tat sie immer, wenn er nicht da war. Sie war nett, etwas zu gesprächig, doch er war froh, dass sie das tat, sonst wäre in seinem Milchkasten nicht genug Platz gewesen. Er kämpfte schon genug mit der Menge des Inhalts seines Briefkastens, das meiste war Werbung, trotz seines Kein-Reklame-Klebers.

Den Koffer hatte er noch unausgepackt im Schlafzimmer aufs Bett gelegt, und nun sass er am Küchentisch und sortierte die Post. Werbung auf den rechten Haufen, die Rechnungen links. Die Müdigkeit von den drei Stunden Autofahrt steckte noch in seinen Knochen. Nach dem Essen, er hatte sich unterwegs eine Pizza gekauft, und wollte er sich etwas hinlegen. Die Pizza war gerade noch geniessbar, mit grossem Hunger ass er sie. Jetzt wäre das Mittagsschläfchen an der Reihe gewesen, aber das Klingeln seines Telefons kam ihm zuvor.

»Gummimann«, nahm er sein drahtloses Festnetztelefon ab.

»Kommissär Meierhans. Sie sind wieder im Lande, Herr Gummimann. Sir Clearwater hat mir gesagt, Sie kämen vermutlich heute wieder zurück.«

»Ja, ich hatte im Ausland zu tun, aber womit kann ich Ihnen helfen?«

Gummimann hatte eigentlich im Moment keine Lust, einen Fall zu übernehmen, Voss vom vorigen Fall hatte gut bezahlt. Des Geldes wegen hätte er jetzt auch Ferien machen können, denn er wusste, die Bezahlung durch den Staat war eher schlecht.

»Werkspionage, Herr Gummimann. In einer Chemiefabrik hier in Basel wurden vermutlich wichtige Unterlagen gestohlen. Ich darf Ihnen noch nicht sagen, um welche Firma es sich handelt. Zuerst muss ich die Zustimmung der Direktion dort einholen, dann kann ich mehr sagen. Darf ich dort Ihre Mithilfe erwähnen?«

Gummimann zögerte zuerst, war schlussendlich aber damit einverstanden. Sie machten ab, dass sich Kommissär Meierhans bei ihm melden würde, sobald er das Einverständnis hatte. Eigentlich wollte er das nicht, aber er bekam Interesse an diesem Fall, sah nur seine Rolle noch nicht. Werkspionage, wo könnte er helfen, in einen Computer klettern? Der Gedanke amüsierte ihn.

Das Mittagsschläfchen wollte er nicht auslassen und danach noch kurz joggen.

 

Einsatz in Basel

Mitten in seiner Joggingrunde, er war auf dem Heimweg den vorderen Wallgberg hinunter, erreichte ihn der Anruf von Meierhans. Durch die Bäume hindurch sah er noch ein wenig von Basel, als er stoppte und sein Handy abnahm.

»Gummimann.«

»Hallo, Herr Gummimann, hier Meierhans. Es hat geklappt, die Direktion hat zugesagt. Morgen früh um neun Uhr müssten wir dort sein. Ich schicke Ihnen einen Kollegen, der Sie abholt. Geht das? Ist das in Ordnung?«

»Guten Abend Herr Meierhans«, Gummimann musste wieder Luft holen, vom Joggen war er atemlos. »Ja, das geht. Sie müssen entschuldigen, bin gerade am Joggen. Was ist das für eine Firma, ist sie gross?«

»Das ist in Basel die Firma BalmerMed AG, nicht besonders gross, aber sehr innovativ. Der Inhaber ist Doktor Sergio Balmer, noch relativ jung und sehr fortschrittlich.«

»Wissen Sie schon, was meine Aufgabe dabei sein wird?«

»Nein, das müssen wir morgen mit Herrn Balmer besprechen.«

»Ja, gut. Ich bin gespannt.«

Damit verabschiedeten sie sich und Gummimann joggte nach Hause.

Wieder in seiner Wohnung stellte er seinen Computer an. Während dieser hochfuhr, zog er sich um. Der Begrüssungsklang war zu hören und er setzte sich vor den Bildschirm und gab auf Google BalmerMed ein. Es gab mehrere Einträge, die sich alle um die Homepage dieser Firma drehten. Gummimann wollte wissen, wo er morgen hinkommen würde. Er klickte auf den ersten Eintrag, und ein Foto der Firma erschien mit den Gesichtern vieler glücklicher Angestellten. Lächelnd las er die Entstehungsgeschichte und ein kurzes Portrait über Sergio Ballmer, den CEO der Firma. Nochmals schaute er das Foto der Firma an und wollte die Homepage wieder schliessen, als ihm ein älteres Gesicht mit Bart und Charakternase auffiel. Zuerst glaubte er an eine Täuschung. Doch auf der Seite eines Labors, in dem geforscht wurde, fand er den Namen als Verantwortlicher dieser Abteilung: Jan Selig. Es war dieser Selig, den er in St. Martin im Auftrag von Voss beschattet hatte, da bestand kein Zweifel. Aber warum interessierte sich Voss für Selig, was für eine Verbindung gab es zwischen den beiden? Nun suchte Gummimann nach Voss. Er hatte mit ihm nur eine Begegnung in einem Restaurant gehabt, als sie seinen Auftrag besprachen. Bald wurde er fündig. Peter Voss war Inhaber einer Firma, die hauptsächlich mit Musikinstrumenten und mit alten und aktuellen Tonträgern handelte. Wusste er etwas von der wertvollen Geige, die Selig revidieren liess? Hatte er ihn deshalb observieren müssen?

Gummimann lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Könnte es sein, dass Voss die Geige kaufen wollte? Aber warum musste er Selig beschatten? War Voss darum so aufgebracht, weil er ihm keine Resultate liefern konnte, oder nicht das zu hören bekam, was er eigentlich hören wollte? Plötzlich gab es so viele unbeantwortete Fragen. Gummimann überlegte, ob er Selig nach der Geige fragen sollte, aber er verwarf den Gedanken wieder. Vielleicht würde ja seine Arbeit bei der BalmerMed die Antworten liefern.

Ein Polizist namens Roman Stohler holte ihn pünktlich am nächsten Morgen in einem neutralen Auto ab und brachte ihn zur BalmerMed im Kleinbasel. Anfang Gärtnerstrasse bogen sie rechts ab und kamen dann zum Firmeneingang, wo ihn Stohler aussteigen liess und weiterfuhr. Gummimann betrachtete das doch recht grosse, aber eher unspektakuläre Gebäude. Als er eintrat, wurde er im grosszügigen Eingangsbereich von Meierhans empfangen.

»Hallo Herr Gummimann, schön, dass es geklappt hat. Herr Balmer erwartet uns.«

Gummimann grüsste Meierhans. Wie üblich trug er seine alte Lederjacke, blaue Jeans und ein weisses Hemd. Eine ältere Dame, die wie eine Gouvernante aussah, mit strengem Blick und langen, leicht grauen Haaren und mit einer relativ altmodischen, nach oben gebundenen Frisur, kam zu ihnen.

Sie lächelte höflich. »Ich werde Sie zu Herrn Balmer begleiten, bitte folgen Sie mir«, sagte sie und ging zum Lift. Meierhans und Gummimann folgten ihr. »Herr Balmer hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt.« Sie lächelte wieder und drückte den zweiten Stock. »Es scheint wichtig zu sein.« Eine Antwort erwartete sie nicht.

Im zweiten Stock führte sie sie durch einen langen Gang mit verschiedenen, grossen Fotos aus der Gründerzeit an den Wänden zu einer Tür am Ende.

»Wir sind da«, bemerkte sie und klopfte. Man hörte einen Summton und die Tür ging auf. »Die Herren sind da, Herr Balmer.«

»Vielen Dank, Frau Meier. Treten Sie ein, meine Herren.« Frau Meier verabschiedete sich und Meierhans und Gummimann betraten ein geräumiges, gemütliches Büro. Herr Balmer, ein schlanker Mann mittleren Alters, leger gekleidet, mit kurzen, braunen Haaren und einem kleinen Schnurrbart erhob sich von seinem Schreibtisch und kam ihnen entgegen.

»Balmer, freut mich, dass es geklappt hat, Herr…?«

»Meierhans. Wir haben miteinander telefoniert und das ist«, er zeigte auf Gummimann, »Detektiv Gummimann, von dem ich Ihnen erzählt habe. Er ist einer der besten seines Fachs und wird am ehesten etwas herausfinden.«

»Freut mich Herr Gummimann, Herr Meierhans«, und grüsste sie mit einem Händedruck. »Nehmen Sie doch Platz.« Er wies zu mehreren Polsterstühlen. »Wollen Sie einen Kaffee oder sonst etwas trinken?«

Beide lehnten ab und setzten sich. Auf einem Beistelltisch stand eine Schale mit frischen Trauben.

»Bedienen Sie sich«, sagte Balmer, der die Blicke von Gummimann richtig interpretierte.

Der Detektiv liess sich das nicht zweimal sagen und zwickte sich einige Trauben ab.

»Ja, Herr Balmer, Sie sagten am Telefon, es ginge um Werkspionage, ich habe auch etwas darüber in den Akten gelesen. Was muss man sich darunter vorstellen?«, fragte Meierhans.

»Nun, wir hatten fremde Zugriffe auf verschiedene Computer in Seligs Labor festgestellt. Und zwar über den Mittag, in einer Zeit, in der dort niemand arbeitet. Unser Sicherheitsdienst und die Polizei haben damals die Angestellten befragt, aber niemand wusste etwas davon. Es müssen Daten und Forschungsberichte heruntergeladen worden sein, aber was das genau war, wissen wir nicht. Darum brauchen wir Sie, Herr Gummimann.«

Gummimann schluckte seine letzte Traube hinunter. »Sind das wichtige Daten?«

Balmer nickte. »Ja, es geht unter anderem um ein Krebsmittel, bei dem wir nächstens die ersten Versuche an Menschen vornehmen können. Noch ist es nicht soweit, aber in einem Jahr oder vielleicht sogar schneller können wir mit den Tests beginnen. Davon hängt viel ab, sogar die Existenz unserer Firma.«

»Werden die Leute hier nicht kontrolliert?«, fragte Gummimann weiter.

»Doch, sogar sehr genau. Bei Stichproben werden die Leute bis auf die Unterwäsche überprüft. Das kann jeden treffen, und das wissen alle Angestellten.«

»Also war das Risiko relativ gross, erwischt zu werden« bemerkte Meierhans. »Und Sie haben immer noch keinen Verdacht, wer der Täter sein könnte?«

»Nein, leider nicht. Ich vermute, es ist jemand vom Haus.«

»Und warum haben Sie eine Woche bis zu meinem Einsatz gewartet?«, wollte Gummimann wissen.

»Nun, der Einsatz war Seligs Idee. Aber an dem Tag, an dem der Diebstahl stattfand, fuhr er für eine Woche in die Ferien, irgendwo in Deutschland. Wir bemerkten den Diebstahl erst am nächsten Tag und konnten ihn deshalb nicht mehr erreichen. Er wollte, dass hier jemand verdeckt arbeitet, und Herr Meierhans hat Sie vorgeschlagen.« Balmer senkte seinen Kopf und blickte leer auf seine Hände. Für einen Moment sprach niemand.

Gummimann wusste, wo Selig in dieser Woche gewesen war, behielt es aber für sich.

Meierhans nahm das Gespräch wieder auf: »Und wie stellen Sie sich Herrn Gummimanns Aufgabe vor?«

Balmer räusperte sich: »Nun, ich stelle mir vor, dass Sie, Herr Gummimann, unsere Leute beobachten und so herausfinden, wer der Dieb sein könnte, und wo die Daten jetzt sind. Am besten arbeiten Sie beim Hausdienst, so kommen Sie in alle Büros und mit etwas Geschick auch in die Labors.«

»Beim Hausdienst?« Gummimann schaute ihn skeptisch an. »Und was habe ich ausser beobachten noch zu tun?«

»Der Verantwortliche, Herr Montare wird Ihnen alles erklären und zeigen. Er ist bereits informiert. Sie werden dort Reparaturen vornehmen, machen Reinigungsarbeiten, Instandstellungen und Neuinstallationen und werden mithelfen, das ganze Gebäude im Schuss zu halten, dazu gehört natürlich auch unsere Umgebung. Sie sehen, es gibt viel zu tun. Aber Herr Montare wird Sie hauptsächlich im Haus beschäftigen.«

Detektiv Gummimann seufzte leicht. Der Gedanke mit einem Wassereimer und einem Mopp im Gebäude herumzuziehen, behagte ihm nicht. Aber um seine Aufgabe zu erfüllen, war das wahrscheinlich unumgänglich.

Meierhans schmunzelte, es schien, er hätte den selben Gedanken. »Nun, dann ist ja alles geklärt. Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, lasse ich Sie jetzt alleine, ich habe noch einiges zu tun. Ihnen wünsche ich viel Vergnügen beim Putzen, Herr Gummimann«, und mit einem fast gemeinen Grinsen verabschiedete er sich und ging.

Als sie alleine waren meinte Balmer lächelnd: »Keine Angst, wir haben Putzfrauen.«

Gummimann war erleichtert, als er das Wort Putzfrauen hörte.

»Hier ist noch Ihr Badge mit Ihrem Namen, das ist zugleich der elektronische Zugang für die Hausdiensträume und den Mitarbeitereingang. Ich habe mir erlaubt, Ihren Namen zu ändern. Gummimann ist ein seltener Name, dadurch wäre es sehr schnell möglich, Sie als Detektiv zu identifizieren. Sie sind jetzt Peter Moser, was Ihr Beruf ist, überlasse ich Ihnen.«

Lächelnd betrachtete Gummimann den Badge, Peter Moser hiess er jetzt. Wo er vorher arbeitete, was sein Beruf war, und wo er wohnte, dazu würde ihm im Bedarfsfall sicher etwas einfallen.

Schon ein paar Minuten später stellte ihm Doktor Balmer im Hausdienstbüro Herrn Montare vor, sagte noch ein paar erklärende Worte und ging wieder zurück in sein Büro.

Montare war eher klein, er sah mit seiner Grösse und seinen kurzen schwarzen Haaren wie ein typischer Italiener aus. Auch seine eher lustige Sprechweise zeugten von seiner Herkunft.

»Guten Tag Herr Moser, ik dir zeigen, was du maken. Es ist interessante Arbeit, nikt putzen, das maken Putzfrau, wir müssen alles kontrollieren und reparieren«, instruierte Montare Gummimann. Er lachte dabei, er schien ein zufriedener Mensch zu sein.

Seine ersten Arbeiten absolvierte er mit Montare zusammen. Sie mussten einen Wasserhahn in der Frauentoilette im zweiten Stock auswechseln, dann einen Stock tiefer eine quietschende Tür ruhigstellen. Dabei zeigte ihm Montare, wo der Werkraum für den Hausdienst, die Kantine, die Toiletten und noch vieles mehr war. Er erklärte ihm, dass noch drei weitere Männer unter seiner Leitung für den Hausdienst tätig seien, dazu kämen vier Putzfrauen, ein Gärtner und ein Chauffeur.

»Du bist aus Italien, von wo kommst du?«, fragte Gummimann Montare.

»No, ik bin aus Bellinzona, komme aus Svizzera, aus Tessin. Ik bin e scho zwanzig Johr in Basilea. Oh, Tessin isch bella, ik manchmal Heiweh.«

Man sah ihm sein Heimweh an, er begann richtig zu schwärmen, erklärte wie schön es dort sei, die Luft so frisch, die meisten seiner Verwandten würden dort leben. Warum er nicht wieder zurückging, wollte Gummimann ihn nicht fragen, früher oder später würde ihm Montare das sowieso erzählen. Es war nett, dass Montare ihm alles gezeigt hatte, aber ihn interessierte eigentlich nur die Forschungsabteilung. Doch wie konnte er in ein Labor kommen? Die hatten verschiedene Sicherheitsvorrichtungen, die nicht einfach zu überlisten waren.

»Müsst ihr auch Reparaturarbeiten in den Labors machen?«, fragte er Montare so nebenbei, mindestens liess er es so aussehen.

»Si, aber wenig und dann musse du durk alle Sickerheit.« Der Hausdienstmann machte mit den Armen eine Geste um zu zeigen, wie schwierig es war. »Du braukst Bewilligung, du mussen viele Papier unterschreiben, swirik, sehr swirik und wirst immer kontrolliert.«

Für den ersten Tag war es noch etwas zu früh in die Labors zu kommen, aber dann musste Gummimann sich etwas einfallen lassen.

Beim Mittagessen entdeckte er Selig. Er sass mit mehreren Personen an einem speziellen Tisch, der für die Laborleute reserviert war. Noch hatte es dort zwei freie Stühle. Montare war mit einigen Kollegen auf dem Raucherbalkon. Gummimann nahm sein Tablett mit der Nachspeise und setzte sich frech neben Selig an den Tisch der Laborleute. Niemand sagte etwas, aber alle schauten ihn irritiert an.

»Es gefällt mir hier, heute ist mein erster Tag beim Hausdienst. Wo arbeiten Sie?« Gummimann schaute so zu Selig, dass dieser fast antworten musste. Er konnte gerade noch verhindern, Selig mit dem Namen anzusprechen.

»Beim Hausdienst. Ja, die Leute brauchen wir auch«, meinte Selig etwas verlegen, es schien, als sei er es nicht gewohnt, von jemandem vom Hausdienst angesprochen zu werden. »Wir arbeiten in den Labors, in der Forschung. Aber für den Hausdienst gibt ...«

Gummimann liess ihn nicht ausreden, er spürte, Selig wollte ihn loswerden. »Kann man da mal reinschauen? Es interessiert mich.«

»Nein, das geht nicht. Fremde dürfen da nicht hinein. Aber ich glaube Sie müssen wieder zu ihren Kollegen, die warten auf Sie.« Selig wurde etwas ungeduldig.

»Nein, das glaub ich nicht. Ich heisse übrigens, Moser, Peter Moser und Sie sind Herr …?«

»Selig. – Aber wir müssen wieder zur Arbeit«, er erhob sich und die anderen Laborleute auch. »Auf Wiedersehen Herr, ähm, Peter… äh, ja, auf Wiedersehen.«

»Moser, Peter Moser«, korrigierte Gummimann ihn.

Gummimann amüsierte sich, die hielten ihn sicher für aufdringlich. Doch jetzt hatte er mindestens Kontakt mit Selig und wusste auch, wer seine Kollegen und Kolleginnen waren. Obwohl Selig seinen undercover Einsatz verlangt hatte, wusste er nicht, dass Gummimann der verdeckte Ermittler war.

Am Nachmittag war er alleine unterwegs, er musste die Lampen im ganzen Gebäude überprüfen und defekte melden. Dazu erhielt er ein iPad, auf dem alle Lampen eingetragen waren, und er sie mit in Ordnung oder defekt kennzeichnen konnte. Es war eine wirklich einfache Aufgabe, möglicherweise war das die Anordnung von Balmer. Das Erdgeschoss liess er aus und begann im ersten Stock bei den Labors. Sehr viel gab es da nicht. Ein langer Gang und die Labors waren auf der Seite zum Garten, auf der Strassenseite hatte es grosse Fenster und Töpfe mit Zimmerpflanzen. Eigentlich hätte er das in fünf Minuten erledigt, aber er liess sich Zeit. In die Labors selbst konnte er nicht, der Eintritt war nur für berechtigte Personen, die ein entsprechenden Badge hatten. Er suchte das Labor von Selig. Da die Türen mit den Namen der Verantwortlichen angeschrieben waren, fand er es sofort.

Er hörte den Lift kommen, dieser hielt und die Tür öffnete sich. Sofort stellte Gummimann das iPad hinter einen Pflanzentopf, machte sich etwas kleiner und versteckte sich auch dort. Eine blonde Dame, mit kurzen, modern geschnittenen Haaren, einem weissen Arbeitskittel und Akten in der Hand, stieg aus und kam in seine Richtung. Sie machte einen nicht besonders glücklichen Eindruck. Gummimann erkannte sie, sie hatte in der Kantine neben Selig gesessen. Die Dame ging zu Seligs Labor, drückte einen Knopf, und bald darauf konnte man hören, wie sich die Tür entriegelte. Das war die Gelegenheit, die musste er nutzen. Er wartete bis die Dame fast im Zimmer war, machte sich gross und rannte über den Gang, dann machte er sich vor dem Labor wieder mausklein und zwängte sich durch die sich langsam schliessende Tür. Im Labor rutschte er der Wand entlang und versteckte sich hinter einem Papierkorb.

Es war ein grosser Raum, unterteilt links mit einem durch Scheiben abgetrennten Teil, in dem mehrere weiss gekleidete Personen arbeiteten, rechts mit Arbeitsplätzen, an denen zwei Mitarbeiter etwas in ihre Computer eingaben. Sie schauten sich kurz zu der Dame um und nickten ihr begrüssend zu. Sie nickte zurück, ging aber weiter in ein Büro am Ende des Raumes. Dieses war wiederum mit einer Glasfront vom vorderen Teil abgetrennt. Gummimann sah, wie sie aufgeregt mit Selig diskutierte. Sie sprachen lange, dann schmiss sie ihm ihre Unterlagen auf den Schreibtisch und verliess wütend das Büro. Mit finsterem Gesicht schlug sie die Tür zu. Die beiden Mitarbeiter schauten ihr erstaunt nach, wie sie wutentbrannt, mit sich selbst redend, zum Ausgang ging und das Labor verliess. Selig sass ruhig an seinem Schreibtisch, als ginge ihn das nichts an. Gummimann wartete, bis die selbständig schliessende Tür fast zu war und schlüpfte im letzten Moment durch den Türspalt. Im Gang konnte er noch sehen, wie die Dame in den Lift stieg. Endlich konnte er sich wieder normal gross machen und das iPad holen.

Sich zu verändern ist anstrengend, Gummimann sagte immer, es sei, wie wenn man auf die Toilette müsste und nicht könne.

Der restliche Tag verlief ohne grosse Ereignisse. Er machte seine Kontrollen der Lampen in den restlichen Stockwerken und schloss seine Arbeit mit einem kurzen Briefing bei Direktor Balmer ab.

»Ich kann Ihnen leider noch keine neuen Erkenntnisse liefern«, erklärte Gummimann und rutschte etwas nervös auf dem Sessel in Balmers Arbeitszimmer herum. »Es ist sogar wahrscheinlich, dass kein weiteres Mal Daten oder sonst etwas gestohlen werden.«

Balmer nickte. »Vermutlich haben Sie recht, aber mir wäre es wohler, Sie würden noch ein paar Tage die Augen offenhalten. Die Unterlagen aus dem Labor dürfen nicht in falsche Hände gelangen.«

»Herr Selig bekam Besuch von einer blonden Dame, sie diskutierten ziemlich aufgeregt.«

»Ja, vermutlich war das Frau Cooper, sie war die Geliebte von Selig, aber, so wie es aussieht, ist es damit vorbei. Eigentlich hielten die zwei ihre Beziehung geheim, aber jeder hier wusste es. Frau Cooper arbeitet erst seit zwei Monaten im Archiv und irgendwie hatte sie es geschafft, Doktor Selig zu erobern.« Balmer lachte. »Auch ältere Herren bleiben von der Liebe nicht verschont. Aber es scheint schon wieder vorbei zu sein, so schnell geht das. Aber, sprechen Sie ihn nicht darauf an.«

»Nein, das habe ich nicht vor. – Überhaupt habe ich jetzt Feierabend, und lasse die Detektivarbeit ruhen.« Gummimann verabschiedete sich und machte sich auf den Heimweg.

Als Gummimann am nächsten Morgen in der Kantine der BalmerMed eintraf, wurde er von Montare an den Tisch gerufen. Er schien nervös zu sein.

»Guten Morgen Moser, ische Polizia hier, ische jemand in das Labor von Signore Selig eingebroken«, sagte er leise. »Die jetzt alles kontrolliere.«

»Wurde etwas gestohlen?«, fragte Gummimann und betrachtete seine Kollegen am Tisch und nickte ihnen begrüssend zu.

»Weisse nit«, meinte Montare.

»Sicher so ein Einbruchstourist. Die kommen ja wie die Fliegen über die Grenzen«, das war Pawlick, der am Ende des Tisches sass, ein Mann um die fünfzig mit einem Bierbauch und wenigen, über den Kopf gekämmten Haaren. Er hatte eine Zigarette im Mund, die aber nicht brannte.

»Wurde die Polizei durch den Alarm gerufen?«, fragte Gummimann weiter.

»Soviel ich gehört habe, nicht«, antwortete jetzt Stocker, ein kräftiger, grosser Elsässer, der sich auf die Pension freuen konnte. »Es wurde nichts beschädigt. Erst am Morgen konnten sie feststellen, dass jemand in der Nacht im Labor war. Ich denke, Balmer hat die Polizei gerufen.«

»Aber dort braucht man einen Badge mit Zugangsberechtigung, um hineinzukommen.«

»Ja, aber es gibt noch andere Möglichkeiten, die Tür zu öffnen«, sprach Stocker weiter. »Es gibt eine Klingel, und die Mitarbeiter können die Tür von innen öffnen. Wenn wir hineinmüssen, können wir das nur auf diese Weise. Aber das geht natürlich nur, wenn jemand im Labor ist. Und es gibt noch das Sicherheitsschloss, sollte einmal der Strom ausfallen. Aber wer einen Schlüssel dazu hat, weiss ich nicht.«

Dann war da noch Senn, ein junger Mann mit kurzen Haaren und einer kleinen Narbe unter dem rechten Auge, der Gummimann schweigend gegenübersass und interessiert zuhörte.

Das Gespräch verstummte, alle tranken Kaffee und assen ihre Brötchen. Bald würde die Arbeit beginnen, mit dem immer gültigen Motto: Nur mit etwas im Magen, wird der Tag ein guter Tag.

Eine junge Dame trat an den Tisch. »Herr Moser, Herr Balmer wünscht sie zu sprechen.«

Gummimann reagierte nicht, sondern schaute zu ihr und trank seinen Kaffee weiter.

»Herr Moser«, sagte sie diesmal etwas lauter, »Sie müssen zu Herrn Balmer kommen.«

Montare stupste Gummimann in die Seite: »Hey, Moser, hübsche Dame meinen dik!«

Gummimann erschrak, hatte er seine Namensänderung doch tatsächlich vergessen und darum auf den Namen Moser nicht reagiert. Nickend mit einem etwas peinlichen Gesichtsausdruck erhob er sich und ging mit der Dame mit. In Balmers Büro verabschiedete sie sich und liess die beiden alleine. Gummimann setzte sich auf einen bequemen Stuhl, Balmer gegenüber an den Schreibtisch.

»Guten Tag, Herr Gummimann, ich nehme an, Sie wissen warum ich Sie rufen liess«, begann Balmer das Gespräch.

»Es ist wegen des Einbruchs, Herr Montare hat mir sowas zugeflüstert.«

»Ja, es geht um den Einbruch. Jemand ist mit einem Badge in der Nacht ins Labor eingedrungen und hat verschiedene Schubladen und Kästen durchsucht. Aber komischerweise hat dieser Jemand, ausser etwas Bargeld, nichts mitgenommen.«

»Aber jeder Zugang mit einem Badge wird doch mit Namen aufgezeichnet, so sollte man schnell herausfinden, wer die Eindringlinge waren.«

»Ja, sollte man, da haben sie recht, aber einen Daniel Düsentrieb haben wir hier nicht. Er hat auch die Alarmanlage ausgestellt. Sie sehen das Problem.«

»Beim letzten Diebstahl, als die Computer ausspioniert wurden, war das auch dieser Düsentrieb

Balmer seufzte laut und schüttelte den Kopf. »Dagobert Duck, es war Dagobert Duck. Aber damals über den Mittag war die Alarmanlage nicht in Betrieb. Eigentlich wusste das niemand, eigentlich.«

Gummimann musste lachen. »Donald wird der nächste sein. Also soll ich herausfinden, wer da unbefugt auf die Alarmanlage und die Programmierung der Badges zugegriffen hat. Haben alle hier im Haus einen Badge?«

»Ja, alle, aber mit verschiedenen Zugangsberechtigungen. Ausser Herr Moritz Basler, er ist Chef der Produktion in Allschwil. Er hat einen Badge für alle Zugänge wie ich.«

»Und wer hat Schlüssel für die Sicherheitsschlösser?«

»Eigentlich nur ich und der Chef der Sicherheit. Die werden aber nur im Notfall gebraucht.«

»Und der Chef der Sicherheit programmiert auch die Badges?«

»Nein, dafür haben wir einen IT-Spezialisten, Herr Joachim Rösler. Er richtet die neuen Badges mit Namen und Zugangsberechtigungen ein. Aber der wurde von der Polizei genauestens überprüft, der hat das nicht gemacht.«

Gummimann erhob sich. Mit der Hand am Kinn ging er hin und her und überlegte. Erstaunt sah ihm Balmer zu. Nach ein paar Minuten setzte sich der Detektiv wieder hin.

»Wir könnten Düsentrieb vielleicht dazu bekommen, dass er nochmals zuschlägt, ich denke, die letzte Ausbeute war ihm zu gering, er hatte sicher mehr erwartet«, und er begann Balmer seine Idee darzulegen.

Es war Freitag. Die UPS brachte wie fast jeden Tag Pakete zur BalmerMed. Frau Meier am Empfang nahm sie entgegen und übergab sie Senn vom Hausdienst zum Verteilen. Seine Aufgabe war es, die Post in die einzelnen Abteilungen zu bringen und wenn nötig den Empfang quittieren zu lassen. Heute gab es viel Post für das Forschungslabor von Doktor Selig, darunter mehrere Pakete, die schwer nach Computern aussahen.

Senn drückte den Einlassknopf, und eine Minute später öffnete Doktor Selig die Tür.

»Endlich sind die Laptops und die iPads gekommen, wir warten schon lange darauf«, sagte er und nahm die Pakete und die restliche Post entgegen. Senn verabschiedete sich und ging weiter seiner Arbeit nach.

Gummimann war hinter der Zimmerpflanze versteckt und beobachtete den Vorgang. Seine Hoffnung jemanden zu entdecken, der sich für die Pakete interessiert, erfüllte sich nicht. Vorsichtig ging er nun Senn hinterher, der aber machte nur seine Arbeit, rauchte kurz in der Raucherecke und sah in seinem Fach im Hausdienstraum nach, was für weitere Arbeiten auf ihn warteten.

Beim Mittagessen fragte Pawlick, der besonders neugierig zu sein schien, Gummimann, warum Balmer ihn hatte sprechen wollen.

»Der kannte meinen Vater«, schwindelte Gummimann, »er war, damals noch bei Ciba in Basel sein Lehrmeister oder, wie man sagt, sein Praktikumsbetreuer. Er wollte wissen, wie es ihm geht, was er macht und so weiter.« Ob das zeitlich überhaupt möglich war, wusste er nicht, aber Pawlick nickte nur und gab sich damit zufrieden.

»Du bische e sehr neugierig. Er wille alles weisse. Stimmt’s Pawlick?«, bemerkte Montare und Pawlick murmelte etwas, gab aber keinen weiteren Kommentar ab. Stocker grinste schadenfreudig, während Senn schwieg.

Feierabend. Langsam leerte sich die BallmerMed. Gummimann wartete in der Toilette auf seinen Einsatz. Von Balmer hatte er einen Badge für den Zutritt zu Seligs Labor erhalten und Balmer versprach, er würde den Alarm heute nicht einschalten.

Als alle das Gebäude verlassen hatten, schlich Gummimann vorsichtig, sich ständig nach allen Seiten umsehend, zum Labor. Licht brauchte er noch nicht, aber zur Sicherheit hatte er seine beiden Taschenlampen bei sich, die grosse für den normalen Gebrauch und die kleine, falls er sich klein machen musste.

Gegenstände wie Handys und eben auch Taschenlampen, die er beim Benützen in klein nicht ganz am Körper trug, könnten wieder in die normale Grösse zurückfallen. Für ihn wären sie dann zu schwer und so nicht mehr benutzbar, während er die kleine Taschenlampe, auch wenn sie wieder gross würde, noch immer halten konnte. Er kannte seine Fähigkeiten der Körperveränderung genau, wusste wie gross und wie klein, wie dick und wie dünn er sich machen konnte. Es waren ihm Grenzen gesetzt, sowohl in der Grösse, als auch in der Dauer der Veränderung.

Mit dem Badge öffnete er das Labor und sah sich dort um. Die Pakete mit den Computern standen noch ungeöffnet auf einem Tisch. Sogar ins Büro von Doktor Selig konnte er jetzt hinein, ohne zu fürchten, wieder herausgeworfen zu werden. Die Arbeitscomputer auf den Tischen liess er in Ruhe. Was ihn interessierte, waren die Dossiers, aber da gab es nichts was für ihn nützlich gewesen wäre. Er hoffte etwas im Zusammenhang mit dem Diebstahl der Forschungsergebnisse zu finden. Selig wollte er vom Verdacht nicht ausschliessen, auch er könnte etwas damit zu tun haben. Das einzige Interessante, was er fand, war eine Einladung zu einem klassischen Konzert im alten Brauhaus der Ankerbrauerei in Basel, bei der die berühmte Geigenspielerin Sophie de Marichal auf einer Stradivari 1710 Geige spielen würde. Das konnte nur Seligs Geige sein, die er in St. Martin instand stellen liess. Klassik im Anker, so war das Konzert betitelt. Er notierte sich Datum und Ort, verliess Seligs Büro, setzte sich wieder auf den Boden und wartete. Ob wirklich dieser Düsentrieb heute nochmals einbrechen würde, war mehr als fraglich, der Dieb konnte sich doch vorstellen, dass alles überwacht wurde. Aber die Verlockung mit den Computern war gross, ein weiterer Versuch, etwas zu holen, wäre möglich.

Das Warten war langweilig. In der Hoffnung nicht auf die Toilette zu müssen, fügte er sich seiner Aufgabe. Kam Düsentrieb zur gleichen Zeit wie beim letzten Einbruch, dann wusste er ungefähr, wann er mit ihm rechnen konnte, doch Diebe halten sich nicht immer an solche Zeiten. Die Zeit schlich dahin und nichts geschah. Gummimann gähnte, er versuchte sich bequemer hinzusetzen, stopfte sich darum seine Jacke unter den Po und schaute immer wieder auf seine Uhr. Die Zeit verrann extrem schleppend, als ob sie ihn noch zusätzlich schikanieren wollte.

Ohne nächtlichen Besuch wurde es langsam Morgen. Um acht Uhr gab er auf und erhob sich. Seine Beine und sein Hintern schmerzten, alles schien eingerostet. Eine Nacht durchwacht für nichts. Er verliess das Labor, nahm dann die Treppe anstelle des Liftes, damit er wieder beweglicher wurde, stellte den Alarm ein und verliess durch den Personaleingang das Gebäude. Das helle Licht der Morgensonne weckten die letzten Energien in ihm, und er freute sich aufs Bett.

Am selben Abend fuhr Gummimann mit dem Tram zum nächtlichen Einsatz zurück zur BalmerMed. Es war ein warmer, sonniger Tag, aber er hatte nicht viel davon, die meiste Zeit, hatte er geschlafen. Mit Herrn Balmer und Kommissär Meierhans hatten sie abgemacht, die Beobachtung drei Nächte durchzuziehen. Seine Begeisterung hielt sich stark in Grenzen, wieder eine Nacht lang unbequem auf dem Boden sitzen und krampfhaft versuchen wach zu bleiben.

Vor der BalmerMed wimmelte es von Polizisten. Gummimann war erstaunt, was war da los? Ein neuer Einbruch oder war gar jemand ermordet worden? Einem Polizisten, der vor dem Med-Gebäude stand, stellte er genau diese Frage.

Der Mann begann zu lachen. »Mord, Einbruch, nein, es ist nur eine Übung, zusammen mit der Grenzwache. Wir haben hier unseren Stützpunkt eingerichtet, natürlich mit Erlaubnis des Besitzers. Die Übung dauert noch eine Stunde, dann packen wir alles zusammen. Wenn Sie in das Gebäude müssen, dann machen Sie das, es steht Ihnen niemand im Wege.«

Gummimann bedankte sich und ging zum Personaleingang. Er warf einen kurzen Sicherheitsblick über die Schulter, ob ihn eventuell der Einbrecher beobachten würde, dann trat er ein und wollte den Alarm ausstellen, der aber war schon aus. Hatte er ihn heute Morgen vergessen einzustellen? Doch er war sich sicher, ihn aktiviert zu haben. Wer hatte ihn also abgestellt, war Balmer hier, oder vielleicht dieser Düsentrieb? Misstrauisch und sich genau umsehend schlich er über die Personaltreppe in den zweiten Stock. Bis jetzt konnte er niemanden entdecken, das Gebäude schien leer zu sein. Er hielt den Badge an den Scanner vor Seligs Labor, hörte das leise Klicken des Schlosses und öffnete langsam und vorsichtig die Labortür, der Einbrecher könnte sich ja da aufhalten und warten bis die Polizei abgezogen war. Er blickte durch den Raum. Ihm fiel sofort auf, dass die Pakete mit den Computern fehlten. Zuerst glaubte Gummimann in einem falschen Labor zu sein, doch sein Blick auf das Schild an der Tür bestätigte ihm, es war Seligs Labor.

Sofort rief er Meierhans an und erklärte ihm ziemlich aufgeregt den Sachverhalt.

»Und die Ware ist weg, sind Sie sicher? Und niemand hat die Computer einfach versorgt?«, fragte ihn der Kommissär. »Wie ich mitbekommen habe, ist dort eine Polizeiübung im Gange. Ich werde Leutnant Mahler fragen, er leitet das Ganze, vielleicht haben meine Kollegen etwas gesehen.«

»Also hier ist die Ware nicht mehr, und eigentlich sollte sie niemand versorgt haben, so war es abgemacht. Ich weiss auch nicht, ob noch mehr weggekommen ist. Ich sehe hier im Haus nach, möglicherweise finde ich etwas.«

»Aber seien Sie vorsichtig, der Dieb könnte bewaffnet sein. Ich komme so schnell wie möglich.«

Sie unterbrachen die Verbindung. Jetzt musste Gummimann noch Balmer informieren, der würde gar nicht begeistert sein.

Nachdem er mit Balmer gesprochen hatte, dieser nahm es relativ gelassen auf und wollte auch vorbeikommen, begann er, das Gebäude nach den Paketen zu durchsuchen. In den Räumen, die seinen Badge zuliessen, fand er nichts. Doch für Archiv und Lager sowie für die anderen Labors, hatte er keine Zutrittsberechtigung, das würde er zusammen mit Balmer machen müssen.

Er hatte gerade den letzten Raum kontrolliert, als ihm Balmer und Meierhans im Erdgeschoss entgegenkamen. Meierhans ungewohnt in einem vornehmen dunklen Anzug und weissem Hemd, er wollte am Abend mit seiner Frau in die Oper.

»Sie haben nichts gefunden? Herr Moser, stimmt’s«, fragte Balmer Gummimann ohne Begrüssung.

»Moser?« wiederholte Meierhans fragend den Namen.

Gummimann lachte »So heisse ich hier in der Firma, Peter Moser. Ich musste mich selbst daran gewöhnen. – Nein, ich habe nichts gefunden, aber der Badge von diesem Düsentrieb geht vielleicht auch in Räume die mir verwehrt sind.«

»Unser IT-Mensch, Herr Joachim Rösler, schaut sich die Ein- und Austritte im Gebäude an, dadurch werden wir erfahren wann und wo die gesuchte Person das Gebäude verlassen hat. Herr Selig sollte auch nächstens eintreffen, dann kann er mit der Polizei kontrollieren, ob noch mehr gestohlen wurde.«

»Schon wieder eine Disney-Figur«, ereiferte sich Meierhans, »beim ersten Einbruch war es Donald Duck

»Dagobert Duck, es war Dagobert Duck, Herr Meierhans«, verbesserte ihn Balmer.

»Ja, okay, aber es war einer von Disney«, meinte dieser und schüttelte den Kopf.

Sie fuhren mit dem Lift in die zweite Etage und gingen in Balmers Büro. Auch hier durchsuchten sie alles nach den Paketen, aber wie zu erwarten war, fanden sie nichts. Sie setzten sich in die Polstersessel.

»Wo könnten sie noch sein, Sie Herr Balmer, kennen das Gebäude am besten«, fragte Meierhans.

Aber Balmer zuckte die Schultern. »Vielleicht hat er sie schon aus dem Gebäude geschafft, dann ist die ganze Aktion umsonst.«

»Das glaube ich nicht«, Gummimann schüttelte den Kopf. »Da war die Polizeiübung, es wäre für den Dieb zu riskant gewesen. Vermutlich ist er vor Beginn der Übung gekommen und wurde überrascht, als er beim Verlassen die vielen Polizisten sah. Aus diesem Grund hat er die Pakete irgendwo versteckt, nur wo?«

Ein Summton erklang und Balmer öffnete mit einem Knopfdruck die Eingangstür.

Rösler trat mit seinem iPad in der Hand ein, begrüsste kurz die Anwesenden und begann stehend mit seinen Erklärungen: »Dieser Düsentrieb war wieder hier. Um 13.35 Uhr ist er durch den Personaleingang eingetreten und hat dann auch den Alarm ausgeschaltet, sechs Minuten später ist er in Seligs Labor gekommen.« Er zeigte auf sein iPad. »Hier wird alles aufgezeichnet und ich…«

»Das war noch vor Beginn der Übung. Wann hat er es wieder verlassen? Und, in welchen Räumen war er?«, unterbrach ihn Meierhans.

»Wann er es verlassen hat, wird nicht registriert. Er war eigentlich nur in Seligs Labor und um 14.10 Uhr in der Einstellhalle, sonst konnte ich ihn nirgends entdecken. Es wäre natürlich möglich, dass er sich unter einem anderen Namen mit einem anderen Badge eingeloggt hat, aber auch da konnte ich nichts feststellen. Wir haben natürlich Sicherungen im System eingebaut …«

»In die Einstellhalle konnte ich auch nicht«, fiel ihm Gummimann ins Wort. »Kann man sehen, wer die Garage betreten oder verlassen hat?«

»Nein, leider nicht«, meinte Rösler »Man kann mit dem Badge zwar das Garagentor öffnen, aber es wird nicht aufgezeichnet, schon, weil auch Leute von andern Firmen hier parkieren können. Einzig der Garagenzugang zum Haus ist angeschlossen. Und wir wissen, dass Düsentrieb den benutzt hat, ob er die Garage verlassen hat, wissen wir nicht.«

»Wir hielten es damals für nicht relevant, aber das war vielleicht ein Fehler«, bemerkte Balmer.

»Wurde der Badge hier programmiert?«, wollte Meierhans wissen.

Rösler machte ein verlegenes Gesicht. »Ja, auf meinem Computer, aber wie er in den Raum und an mein Passwort gekommen ist, weiss ich nicht.«

»Haben Sie nach dem ersten Einbruch das Passwort geändert?«, fragte Meierhans weiter.

»Nein, das habe ich vergessen«, antwortete Rösler etwas beschämt.

»Vielen Dank Herr Rösler, gute Arbeit«, sagte Balmer besänftigend.

Rösler nickte und verliess das Büro.

Reinhard Meys, Der Mörder ist immer der Gärtner, erklang. Meierhans erhob sich. Mit einem »Entschuldigung« holte er ein paar Meter entfernt sein Handy aus der Jackentasche. Dann hörte man ein paar »ja« und »ich verstehe«, und er hängte wieder auf und kam zurück. »Also, die Polizei hat kein Auto in oder aus der Einstellhalle fahren sehen. Wie wir wissen, kam der Dieb bevor die Übung begann, und hat das Gebäude seither nicht wieder verlassen.«

»Das stimmt nur bedingt«, erklärte jetzt Balmer, »sein Auto hat das Gebäude nicht verlassen, aber er selbst hätte das ohne Probleme durch den Personenausgang der Einstellhalle tun können. Man braucht dazu nicht einmal einen Badge. Der Ausgang ist hinter dem Haus, und dort war keine Polizei.«

»Wäre der Dieb also mit einem Auto gekommen, müsste es noch in der Einstellhalle stehen«, bemerkte Gummimann.

»Herr Rösler sollte anhand der Autonummern feststellen können, auf welchen Namen sie bei uns eingetragen sind«, erklärte Balmer und rief ihn an.

Dann verliessen sie das Büro und fuhren mit dem Lift in die Einstellhalle und wurden dort von einem Beamten empfangen. Er stellte sich als Bernhard Schelling vor. »Es ist Samstag«, begann er seine Informationen, »da hat es hier nicht viele Autos, vier Firmenwagen der BalmerMed und sieben andere. Ich habe Herrn Rösler zur Abklärung die Autonummern durchgegeben. Die Pakete, wie Sie sie beschrieben haben, haben wir nicht gefunden. Sie könnten natürlich in einem der Kofferräume sein, die wir aber nicht öffnen können.«

»Zwei Wagen kenne ich«, sagte Balmer, »hier mein eigener« er zeigte auf einen blauen Golf, »und der blaue Peugeot 308 von unserem IT-Mensch, Herrn Rösler, er ist fast gleichzeitig wie ich angekommen. Den können wir, so glaube ich, auch abhaken. Die andern fünf sind mir nicht bekannt. Doch, warten sie, der silbrige Audi ist der von Selig.«

»Was ist mit mir?«, Doktor Selig kam durch die Tür. »Ich habe meinen Namen gehört.«

»Guten Abend Doktor Selig, ich habe nur erklärt, dass der silbrige Audi vermutlich Ihrer sei.«

»Das stimmt, das ist meiner. Ich habe übrigens im Labor keine weiteren fehlenden Sachen entdeckt. Ich denke, es sind nur die Pakete gestohlen worden.« Als er Gummimann sah, staunte er. »Was machen Sie hier Herr Moser?«

»Ich helfe, war zufällig in der Nähe.«

Selig glaubte ihm nicht so recht, vermutlich ahnte er, warum Gummimann hier war. »In der Nähe, ich verstehe«, meinte er nur.

Meierhans trat hinzu. »Ich hätte noch eine Frage an Sie Herr Selig. Waren das grosse Pakete, kann jemand alle auf einmal tragen?«

Selig überlegte. »Sie waren zum Teil recht gross, aber wenn jemand jung und stark ist, kann er das.«

»Vielen Dank Herr Selig, ich habe keine weiteren Fragen.«

Selig wandte sich an Balmer: »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, Herr Balmer, fahre ich wieder nach Hause, sollte was sein, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen können.« Damit verabschiedete er sich und ging zu seinem Auto. Einer der Polizisten warf noch einen Blick in den Kofferraum seines Autos und liess ihn dann gehen.

Gummimann begann zu überlegen: »Ich bezweifle, dass Düsentrieb und Dagobert die gleiche Person ist. Düsentrieb sieht mir mehr nach einem Nachahmungstäter aus. Wer wusste von Dagobert

Balmer zuckte die Schultern »Die IT-Leute wussten davon, ich kann mir gut vorstellen, dass so auch andere in der Firma, etwas davon mitbekommen haben. Aber wieso glauben Sie, es wäre ein Nachahmungstäter, es war jedes Mal die ähnliche Vorgehensweise.«

»Bei Nachahmungstätern ist das so«, bestätigte jetzt Meierhans. »Beim ersten Einbruch ging es um Daten, und es wurde nichts anderes gestohlen, jetzt wurden plötzlich Geld und Computer entwendet, und die Daten schienen für den Dieb uninteressant zu sein. Doch ich denke, es war in allen Fällen der gleiche Täter, zuerst hat er die Daten gestohlen, und als es so gut geklappt hat, kam er dann auf den Geschmack und stahl anschliessend die anderen Sachen.«

Gummimann schüttelte ungläubig den Kopf.

Rösler, der IT-Verantwortliche kam dazu. »Ich weiss jetzt, wem die Autos gehören, ich habe die Autonummern mit denen der Fremdparkierer verglichen: vier sind auf Leute der Firma GrossAg registriert und die anderen sind unsere eigenen. Also alle keine Unbekannten, die parken hier fast jeden Tag. Vielleicht haben sie heute ein Meeting.«

»Am Samstagabend?«, Gummimann schaute ihn zweifelnd an, »ich weiss nicht.«

»Oder die wollten auch ins Theater wie ich«, meinte Meierhans schmunzelnd. »Sei es, wie es ist, die Pakete sind verschwunden, und es sieht nicht so aus, als würden wir die hier finden. Entweder hat der Dieb ein super gutes Versteck gefunden oder, davon bin ich überzeugt, er hat sie schon mitgenommen. Es hat keinen Sinn weiterzusuchen, beenden wir die Sache. Ich denke, auch Sie, Gummimann, können nach Hause.«

»Soll ich Sie fahren?«, fragte Balmer Gummimann.

Aber Gummimann schüttelte verneinend den Kopf. »Ich muss noch zu einem Kollegen, ich nehme den Personenausgang der Garage.«

»Wie Sie wollen.«

Alle verabschiedeten sich und stiegen in ihre Autos. Gummimann winkte nochmals kurz und ging auf den Ausgang zu. Das Licht ging aus. Dann wartete er bis alle die Garage verlassen hatten, und stellte das Licht wieder an. So schnell wollte er sich nicht geschlagen geben, noch immer war er der Meinung, die Pakete müssten noch da sein. Wo, das war das grosse Rätsel.

Er ging zurück zu den BalmerMed Firmenautos. Das waren kleine, weisse Lieferwagen, diskret angeschrieben mit dem Logo der Firma, und ein schwarzer, nicht angeschriebener Mercedes, der hauptsächlich für Präsentationszwecke gebraucht wurde. Neben den Firmenwagen ganz am Ende stand noch ein grauer Renault der Firma GrossAg. Gummimann überprüfte nochmals alle Autotüren, auch die des Renaults, ob sie abgeschlossen waren. Die anderen Autos kontrollierte er nicht weiter, sie wurden schon vorher durch einen Beamten überprüft, sein Tun war eigentlich sinnlos. Kopfschüttelnd setzte er sich zwischen dem Lieferwagen und dem Renault an der Wand auf den Boden. Es liess ihm keine Ruhe, er konnte sich nicht vorstellen, dass der Dieb, die doch zahlreichen Pakete die Treppe hinauf zu seinem Auto getragen hatte, das eventuell in der Nähe parkiert war. Da war überall Polizei, und der Dieb hätte vermutlich sogar zweimal gehen müssen, das Risiko gesehen zu werden, wäre enorm gross gewesen. Nein, die Pakete waren noch da und der Dieb würde zurückkommen. Es müsste einer der GrossAg Wagen sein. Das Licht ging wieder aus und er wartete im Dunkeln. Vielleicht musste er hier die ganze Nacht verbringen, mit Pech ohne Ergebnis.

Obwohl er den ganzen Tag geschlafen hatte, war er kurz eingenickt. Es war 22.25 Uhr, als das Licht anging und Schritte zu hören waren. Sofort machte er sich kleiner und versteckte sich hinter dem Firmenlieferwagen. Unter dem Auto hindurch sah er zwei Beine, die in seine Richtung kamen. Vor dem Lieferwagen blieben sie stehen, und er hörte, wie der Laderaum des Wagens aufgeschlossen wurde. Das Gesicht konnte Gummimann nicht erkennen. Etwas wurde herumgeschoben, eine Kiste aufgemacht. Dann hörte er das Piepsen der Türverriegelung des Renaults, und ein Mann kam zur Vordertür des Wagens. Gummimann konnte fast nicht glauben, wen er da sah: Der junge Senn, der so unscheinbar wirkte und kaum sprach.

Senn warf seine Jacke auf den Vordersitz des Renault und öffnete anschliessend den Kofferraum. Gummimann wusste, wollte er ihm auf den Fersen bleiben, musste er jetzt handeln. Er wartete, bis Senn wieder zum Lieferwagen gegangen war, dann schlich er leise, aber schnell zur immer noch offenen Vordertür, machte sich kurz grösser, kletterte auf den Sitz und machte sich wieder klein. Senn begann, etwas aus dem Lieferwagen auszuladen und brachte es zum Kofferraum des Renault. Es konnten nur die gestohlenen Pakete sein, ganz sicher war Gummimann aber nicht. Doch was könnte es sonst sein? Als Senn alles umgeladen hatte und beim Lieferwagen die nächste Ware holte, zwängte sich Gummimann durch den Spalt zwischen den beiden Vordersitzen und rutschte auf den Boden des Hintersitzes. Nochmals wurde etwas in den Kofferraum gelegt, und dann hörte er wie Senn ihn schloss und kurz darauf auch die Türen des Lieferwagens. Dann stieg Senn in den Renault und startete den Motor. Das typische Geräusch eines Dieselmotors begleitete das Retourfahren des Wagens. Noch bevor er zum Ausgang fuhr, schnallte sich Senn vorschriftsmässig an. Es schien, als wolle er durch nichts auffallen. Zwischen den Sitzen hindurch konnte Gummimann beobachten, wie er das Radio einschaltete und sich, nachdem sie die Garage verlassen hatten, eine Zigarette anzündete. Gummimann machte sich etwas grösser und rutschte hinter den Sitz von Senn. So konnte er aus dem Fenster sehen, ohne Gefahr im Innenspiegel entdeckt zu werden. Telefonieren war noch nicht möglich, Senn würde ihn, trotz des Motorenlärms hören und Meierhans war noch im Theater, vermutlich hatte er sogar sein Handy ausgeschaltet.

Sie fuhren quer durch die Stadt auf die französische Grenze zu. Gummimann kannte die Gegend, oft war er selbst diese Strecke gefahren. Bei Allschwil war der Grenzübergang. Senn fuhr genau diesen Weg und dort über die Grenze, die, Schengen sei Dank, nicht überwacht wurde. In Hégenheim fuhr er links Richtung Hagenthal der Grenze entlang. Es ging auf einer schmalen Strasse durch einen dichten Wald, dann wurde er langsamer und bog am Ende des Waldes in einen Waldweg ab. Holpernd kamen sie zu einer kleinen Holzhütte, die neben zwei Weihern stand, vermutlich eine Fischzucht. Der Lichtkegel des Autos beleuchtete kurz die Umgebung, dann stellte Senn den Motor ab, liess das Licht aber brennen und stieg aus. Gummimann duckte sich, als der Mann an ihm vorbei zum Kofferraum ging. Durch die Heckscheibe konnte er beobachten, wie er ihn öffnete und etwas herausholte. Es war zu dunkel, um zu erkennen, was es war. Erst als er wieder an ihm vorbei zum Schuppen ging, konnte er im Licht des Autos erkennen, dass es die gestohlenen Pakete waren. Er sah, wie Senn etwas an der Schuppenwand machte, ihn dann aufschloss und mit seiner Beute darin verschwand. Sofort machte sich Gummimann normal gross, kletterte aus dem Renault und versteckte sich hinter ein paar Büschen. Es war fast 23.30 Uhr, die Oper dürfte am Ende sein, jetzt sollte er Meierhans erreichen können.

Es klingelte nur zweimal, dann nahm der Kommissär ab: »Meierhans, Herr Gummimann, um diese Zeit?«

»Ich kann nur flüstern.« Gummimann hörte durch das Telefon Schritte im Hintergrund und das Tram sowie plaudernde Damen, er musste Meierhans gerade auf dem Nachhauseweg erwischt haben. »Senn hat die Computer gestohlen, ich bin hier im Elsass, an der Grenze zur Schweiz und kann sehen, wie er die Ware aus dem grauen Renault, der in der Einstellhalle stand, auslädt. – Moment, er kommt zurück!«

Er wartete, bis Senn mit dem restlichen Diebesgut wieder im Schuppen verschwunden war, dann gab er Meierhans durch, wo er sich befand. Dieser versprach, Senn abfangen zu lassen und zum Schuppen zu kommen, um ihn und die Ware abzuholen. Sie beendeten das Gespräch.

Nach ein paar Minuten kam Senn wieder aus dem Schuppen. Durch die Lichter seines Autos war er gut beleuchtet und Gummimann konnte ihn mit seinem Handy fotografieren. Vor dem Schuppen blieb Senn der Tür zugewandt kurz stehen. Gummimann machte weitere Aufnahmen und hörte erst damit auf, als Senn an ihm vorbei zum Auto ging. Das Klickgeräusch der Handykamera – er fand das vorher immer toll – hatte er nicht abgestellt, und jetzt hatte er die Befürchtung Senn könnte ihn deswegen hören.

Die Nähmaschienengeräusche des Dieselmotors erklangen, und Senn fuhr rückwärts zur Strasse zurück.

Gummimann blätterte die Fotos durch, er wollte wissen, was Senn bei der Tür gemacht hatte. Auf einer Aufnahme hielt Senn ein kurzes Brett in der Hand, das wie die Holzwände des Schuppens aussah. Mehr konnte er nicht erkennen, er sah nur den Rücken von Senn, der seine weiteren Handlungen verdeckte. Aber das Brett könnte ihn vielleicht zum Schlüssel des Schuppens führen. Er knipste die Taschenlampe an und ging zum Schuppen. Dort begann er, die Holzwand neben der Tür zu untersuchen. An einer Stelle fand er ein kurzes Brett, das sich von den restlichen Brettern zwar nicht unterschied, aber eindeutig dort in die Wand eingefügt worden war. Er drückte darauf und es kippte heraus. An einem Nagel hing der Schuppenschlüssel. Gummimann schmunzelte. Clever, aber für ihn nicht clever genug. Er nahm den Schlüssel heraus und stiess das Brett zurück in die Wand. Dann schloss er die Tür auf und trat ein.

Auf einem Tisch lagen die Pakete und eine Handlampe. Einige der Computerschachteln hatte Senn zur Kontrolle geöffnet. Als Gummimann sich weiter im Schuppen umsah, entdeckte er neue, noch verpackte Kaffeemaschinen, Uhren, Fotoapparate und vieles mehr, ein kleiner Media-Markt. Das Beste war das Notizbuch, das er in einer Schublade fand, in das Senn fein säuberlich aufgeschrieben hatte, was er wo gestohlen, und wem er es zu welchem Preis verkauft hatte. Gut für die Polizei, schlecht für ihn und seine Abnehmer. Jetzt durchsuchte Gummimann den restlichen Schuppen, dort lag noch weiteres Diebesgut im Wert von mehreren zehntausend Franken.

Die Schritte vor dem Schuppen hörte er nicht, er war zu beschäftigt. Es klopfte an der Tür. Gummimann erschrak, sollte er wieder zurückgekommen sein? Doch Senn würde sicher nicht anklopfen, der würde einfach eintreten. Es klopfte nochmals und bevor er antworten konnte, hörte er eine ihm bekannte Stimme.

»Herr Gummimann, sind Sie da?«

»Ja, ich bin hier drinnen, kommen Sie herein, Herr Meierhans, Sie werden überrascht sein.«

Noch unter der Tür, Meierhans hatte gerade einen Fuss in den Schuppen gestellt, da meldete sich sein Smartphone. »Meierhans. – Herr Steiner – Ja, sehr gut – Ich verhöre ihn, wenn ich zurück bin – Danke.« Damit hängte er auf. »Es war Steiner, mein Mitarbeiter, sie haben Senn festgenommen. Er streitet noch alles ab, aber wir haben so viele Beweise, es sollte kein Problem sein, ihn zu überführen.«

»Ja, und ich habe ihn mit meinem Handy noch fotografiert.« Gummimann lachte.

Dann zeigte er Meierhans das Diebesgut. Natürlich waren auch die BalmerMed Pakete dabei.

»Wir müssen die französische Polizei benachrichtigen, ich darf hier nichts unternehmen«, sagte Meierhans. »Wir arbeiten oft mit denen zusammen, ich werde Bernard Otté benachrichtigen, der wird sich sicher über meinen Anruf zu so später Stunde freuen.«

Montagmorgen bei der BalmerMed in Balmers Büro. Gummimann und Meierhans sassen in den bequemen Ledersesseln und berichteten Balmer von den nächtlichen Ereignissen.

»Ihre Waren sind wieder da«, informierte Meierhans. »Senn hatte im Schuppen Diebesgut im Wert von etwas mehr als 100’000 Franken. Wir haben bei ihm auch den Schlüssel des Lieferwagens der BalmerMed gefunden. Er hat zugegeben, seinen Badge hier in der IT-Abteilung programmiert zu haben. Wie er dies machen musste, hatte er bei einer seiner früheren Arbeitsstellen gelernt. Bei dieser Firma hatte man ihn wegen einem ähnlichen Delikt entlassen, aber man konnte ihm nie wirklich etwas nachweisen. Darum wurde er nicht angeklagt. Momentan behauptet er noch immer, keine Ahnung von Dagobert Duck zu haben, er habe Düsentrieb gewählt, weil er dachte, wir würden annehmen, es sei derselbe Dieb. Mit dem Datendiebstahl habe er aber nichts zu tun, sagt er. Wir sind da anderer Meinung und haben deshalb seine Wohnung durchsucht, und die französische Polizei den Schuppen. Aber wir haben bis jetzt nichts Relevantes gefunden. Doch Daten versteckt man auch nicht einfach so, die hat er vermutlich schon weiterverkauft. Wir sind noch dran. Ich muss zugeben, es ist ein grosser Gauner, den wir hier festnehmen konnten, Gummimann hat gute Arbeit geleistet.«

»Vielen Dank«, Balmer lächelte. »Sie haben den Übeltäter schnell gefunden, das hätte ich nie gedacht. Jetzt müssen wir herausfinden, wo die Daten sind, und warum er sie gestohlen hat, dann bin ich wirklich zufrieden. Sie haben Ihren Auftrag bestens erfüllt, Herr Gummimann. Ich glaube, wir können den Einsatz hier abbrechen.«

Gummimann fühlte sich zwar ab so viel Lob geehrt, aber zufrieden war er nicht. »Den ersten Schuldigen haben wir schnell gefunden, aber ich bin sicher, die zwei Diebstähle hängen nicht zusammen. Ich denke Senn hat mit seiner Aussage recht, dass er davon nichts weiss, er war nur ein Trittbrettfahrer.«

Meierhans schüttelte den Kopf. »Ach, Gummimann, sie geben sich nie zufrieden. Wir von der Polizei sind überzeugt, dass er es in beiden Fällen war. Jedes Mal benützte er Disney-Namen und hatte mit dem Badge Zugang zum Labor, auch hatte er das Wissen, um die Alarmanlage auszuschalten. Der Datendiebstahl war sicher sehr lukrativ, aber das genügte ihm nicht, also versuchte er es nochmals auf andere Weise. Nein, Gummimann, da liegen Sie falsch.«

»Ich hätte noch eine Frage«, sagte Gummimann, »was ist so speziell an diesem Krebsmedikament?«

»Viel darf ich Ihnen nicht darüber sagen, Betriebsgeheimnis, nur, dass es sich um ein Medikament handelt, das jede Art von Krebs vollständig bekämpft. Doch wir sind noch in der Testphase, aber die bisherigen Resultate sind sehr vielversprechend. Doktor Selig ist einer unserer besten Wissenschaftler.«

Viel mehr würde er von Balmer nicht erfahren. Kurz sprachen sie noch über die Bezahlung, und Meierhans versprach Balmer und ihm, neue Ergebnisse mitzuteilen, damit verabschiedeten sie sich.

 

Die Geige

Gummimann sass im Wohnzimmer seiner Wohnung in Wallgisdorf und blickte in den Garten. Die Geschichte mit den Diebstählen war für ihn noch nicht erledigt. Warum sollte Senn zuerst Daten und dann Computer stehlen? Das machte für ihn keinen Sinn. Hatte Senn wirklich das Wissen, um genau die Daten für das Krebsmedikament zu finden? Sie waren nicht einfach in einer Datei, sondern auf viele verteilt. Man brauchte bestimmt gute Kenntnisse der Materie, um sie zusammenzusuchen und die hatte Senn mit grosser Sicherheit nicht. Er wirkte eher etwas dümmlich. Sonst wäre er nicht so schnell aufgeflogen. Der Fall beschäftigte ihn so stark, er musste darüber mit Sir Clearwater sprechen und holte sein Festnetztelefon.

Schon nach dem ersten Klingeln nahm Clearwater ab. »Clearwater.«

»Hallo Sir Clearwater, wieder mal ich, wie schon so oft, brauche ich Ihren Rat.«

»Geht es wieder um die Sache in Deutschland?«

»Ja und nein, es geht um einen Auftrag, den ich hier in Basel übernommen und auch beendet habe. Aber da sind für mich noch zu viele offene Fragen«, und Gummimann erzählte ihm die ganze Geschichte.

»Das heisst«, rekapitulierte Clearwater, als er geendet hatte, »Sie meinen, jemand anderes hat die Daten von Selig gestohlen und nicht dieser Senn. Und sie wollen wissen, wie ich darüber denke, stimmt’s?«

»Genau, was soll ich unternehmen, soll ich überhaupt etwas unternehmen?«

»Ich sehe, Sie geben keine Ruhe, bis Sie sich sicher sind. Ich muss zugeben, die Sache ist eigenartig. So wie Sie mir Senn beschrieben haben, ist er wirklich nur ein kleiner Ganove, der mit den Unterlagen von diesem Krebsmedikament kaum etwas anfangen kann. Aber dumm empfinde ich ihn nicht, er kam immerhin unbemerkt in den gesicherten Raum der Sicherheitsleute, konnte den Badge perfekt programmieren und er kannte den Pin der Alarmanlage. Weiss man eigentlich, wie er zu diesen Informationen gekommen ist?«

»Das weiss ich nicht, ich nehme an, die Polizei wird das herausfinden.«

»Ich rate Ihnen, halten Sie die Augen offen, aber verbeissen Sie sich nicht. – Was haben Sie als nächstes vor, wir könnten uns auch wieder mal treffen und über Gott und die Welt plaudern.«

»Das wäre schön, bei einem guten Essen, ich werde mich melden. Als nächstes werde ich ein klassisches Konzert besuchen, ein bisschen Abwechslung schadet nichts.«

Clearwater lachte. »Eine gute Idee, aber informieren Sie mich, sollten sie mehr herausfinden.«

Damit verabschiedeten sie sich und Gummimann hängte auf. Ohne wirklich etwas zu sehen, schaute er wieder aus dem Fenster, es beschäftigte ihn. Immerhin, das Konzert nächsten Samstag könnte ihn, in der Frage weiterbringen, warum er für Voss Selig observieren musste, und welche Rolle die fremde Dame spielte. Vermutlich war das Interesse der beiden an Selig oder an seiner Geige noch immer vorhanden. Den Grund konnte er nur erahnen, eine so wertvolle Geige kann viele Begehrlichkeiten wecken. Dass der Datendiebstahl auch damit zusammenhing, glaubte er nicht. Das waren wohl zwei komplett verschiedene Fälle, in die zufällig der gleiche Mann involviert war. Möglicherweise brachte der Abend nichts, aber er würde dort Selig antreffen und die Klänge seiner 1,5 Millionen Geige hören. Obschon Seligs Freude ihn zu sehen, sich wohl in Grenzen halten dürfte.

 

Samstagabend im ehemaligen Brauhaus der Ankerbrauerei. Noch vieles zeugte von der Vergangenheit dieses Gebäudes. Im grossen Saal standen links vor grossen Fenstern drei goldglänzende, kupferne Braukessel und daneben mehrere Sitzreihen Stühle für das Publikum. An der Wand auf der rechten Seite hingen Bilder aus den Zeiten, als hier noch das berühmte Anker-Bier gebraut wurde.

Die eintreffenden Gäste suchten den Sitzplatz mit ihrer Nummer. Um an seinen Platz in der Mitte einer mittleren Sitzreihe zu gelangen, musste sich Gummimann an bereits sitzenden Menschen vorbei zwängen. Es war eng und der Platz in der Halle knapp. Er hoffte, die Akustik würde trotz der grossen Wandflächen nicht leiden. Neben ihm sass eine sehr korpulente Dame in auffälligen roten Kleidern. Sie hätte eigentlich zwei Sitze benötigt, und sass so fast auf seinem Stuhl. Doch der schlanke Herr auf dem nächsten Stuhl glich die Situation etwas aus. Vor ihm kämpfte sich ein gut gekleideter Herr mit einer noch besser gekleideten Dame zu den Sitzplätzen. Es war Selig, die Dame kannte er nicht. Besser hätte es nicht kommen können.

Gummimann tippte ihm auf die Schultern. »Hallo Herr Selig, auch hier?«, fragte er und gab sich erstaunt.

Selig drehte sich überrascht zu ihm um. »Herr Moser, guten Abend, Sie hätte ich hier nicht erwartet.« Damit schien das Gespräch eigentlich schon beendet zu sein. Selig blickte wieder nach vorne und unterhielt sich mit seiner Begleitung.

Auch Gummimann machte keinen weiteren Versuch, sich mit ihm zu unterhalten. Er hatte, wie erwartet, unter den Eintreffenden, Voss mit seinen extravaganten Kleidern entdeckt. Dieser nahm am Rande einer vorderen Sitzreihe Platz. Und noch jemand erblickte Gummimann, die Frau, die in St. Martin auch Selig beschattet hatte. Obwohl sie diesmal lange braune Haare hatte und einen dunkelblauen Hosenanzug trug, erkannte er sie sofort. Auch sie sass am Rande einer Sitzreihe, aber mehr dem Ausgang zu. Also beide waren da, doch interessanterweise blickten sie nicht zu Selig, der schien sie nicht zu interessieren.

Der Saal hatte sich gefüllt, ein Mitarbeiter schloss die Türen, die Gespräche verstummten und ein Sprecher erschien vor dem Publikum. Mit vielen Gesten und freudigem Getue stellte er den Dirigenten und natürlich Sophie de Marichal vor, die sich elegant verneigte. Ihre langen dunklen Haare, die sich dabei über ihrem Gesicht verteilten, warf sie geschickt wieder zurück an ihren Platz. Besonders hübsch war sie nicht, aber das Wichtigste war nicht ihr Aussehen, sondern ihre besondere Begabung, die alte Stradivari zu spielen.

Gummimann merkte erst jetzt, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, was heute gespielt wurde, sein Interesse galt mehr den Besuchern als der Musik. Warum waren die zwei hier? Bei Voss konnte er sich das noch vorstellen, schliesslich handelte er mit Musikinstrumenten, aber warum hatte er in St. Martin in seinem Auftrag Selig beschatten müssen? War es wegen dieser Geige? Und warum interessierte sich die Dame so dafür?

Das Konzert begann, Sophie de Marichal spielte perfekt und der Klang der Geige war grossartig. Immer wieder schielte Gummimann kurz zu Voss und der Dame, die aber sassen nur da und schienen gespannt zuzuhören.

Zwischen zwei Musikstücken fragte er Selig: »Das ist Ihre Geige, hab ich recht?«

Etwas verwirrt und überrascht schaute Selig nach hinten. »Ja, wieso wissen Sie das?«

»Man hört so einiges, aber ich werde es nicht an die grosse Glocke hängen.«

»Ich wollte es eigentlich geheim halten, das beunruhigt mich jetzt, dass das trotzdem durchgedrungen ist.«

»Ich schweige wie ein Grab.«

Selig nickte nur und drehte sich kopfschüttelnd wieder nach vorne und hörte einem weiteren Stück zu.

Nach einer Stunde verkündete der Sprecher eine zwanzigminütige Pause an. Die meisten Zuschauer machten eine überraschte Miene, auch Selig, Pausen sind bei solchen Konzerten eher selten. Ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, kämpfte sich Gummimann in die Eingangshalle und bestellte sich an der Theke ein Mineralwasser. Es herrschte das übliche Pausenchaos, und er musste stehen, was ihn aber nicht störte.

Ein Gong ertönte, um das Publikum wieder an die Plätze zu bitten. Die dicke Dame sass schon oder noch immer da. Wieder zwängte sich Gummimann an seinen Platz. Selig sass schon da, aber beachtete ihn nicht. Als die meisten Leute wieder Platz genommen hatten, hielt Gummimann Ausschau nach der Dame und Voss. Die Dame konnte er finden, aber Voss war nicht mehr da. Das erstaunte ihn umso mehr, weil gerade er als Instrumentenhändler sich über den Ton der Stradivari hatte freuen sollen.

Das Konzert ging weiter. Das nächste Stück war von Tschaikowski, es war schön, aber die Geige klang irgendwie anders. Auch am Gesichtsausdruck von Selig konnte Gummimann erkennen, dass etwas nicht stimmte. Selig schien plötzlich aufgeregt und schüttelte immer wieder den Kopf. Sophie de Marichal zeigte keine Reaktion, sie spielte mit der gleichen Intensität wie vor der Pause.

Was war geschehen? War das eine andere Geige? Spielte Sophie de Marichal nicht mehr auf der von Selig, sondern auf ihrer eigenen? Gummimann beobachtete Selig genau. Dieser wurde immer aufgeregter, bis er dann mitten im Stück seiner Begleitung etwas ins Ohr flüsterte und sich durch die Sitzreihe zum Ausgang kämpfte. Die Leute an denen er vorbei musste, warfen ihm böse Blicke zu.

Ein paar Minuten später zwängte sich auch Gummimann durch seine Reihe, möglichst ohne die Sitzenden zu stören, was ihm aber nur schlecht gelang. Nahe beim Ausgang blickte er nochmals zu der langhaarigen Dame, auch sie schien etwas verstört zu sein und schaute sich nervös um. Noch aber blieb sie sitzen. So leise wie möglich verliess Gummimann den Raum, er wollte nicht noch mehr auffallen.

Die Eingangshalle war fast leer, nur die ältere Dame, die hier bediente, sass hinter der Theke und las eine Illustrierte. Selig sah er nirgends, er musste irgendwo im Backstage-Bereich, in den hinteren Räumen sein.

»Herr Selig sagte, ich solle ihm etwas bringen«, Gummimann sprach zu der Frau und klopfte dabei auf seine Tasche.

Erst jetzt sah er, wie stark sie geschminkt war, um ihre Falten zu kaschieren. Sie blickte kurz auf, zeigte auf eine Tür am Ende der Theke, die mit PERSONAL angeschrieben war und vertiefte sich erneut in das Reich der Schönen und Reichen. Gummimann bedankte sich, indem er kurz winkte und dann im Personaleingang verschwand.

Ein schmaler, schlecht beleuchteter Gang mit Bildern von Konzerten und bekannten Musikern an der Wand, die hier im Anker gespielt hatten, führte an verschiedenen Türen vorbei. Von irgendwo her waren aufgeregte Stimmen zu hören. Eine Tür auf der rechten Seite stand offen. Leise schlich Gummimann darauf zu und blickte hinein. Es war niemand zu sehen. Auf mehreren Tischen und am Boden standen leere Instrumentenkoffer. Die Stimmen mussten aus dem nächsten Zimmer kommen. Dort war die Tür einen Spalt weit offen. Jetzt hörte er es gut, es war Selig, der sich aufgeregt mit dem Konzertansager unterhielt.

»Das ist nicht meine Geige, haben Sie mich verstanden, sogar der Instrumentenkoffer ist ein anderer, er sieht alt aus, aber er gehört nicht zur Stradivari. Wievielmal soll ich es wiederholen«, seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter und erregter.

»Nicht so laut, das hört man im Saal. Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe, wir haben sie nicht ausgewechselt, Sie irren sich.«

»Das ist keine Stradivari, was eure Sophie de Marichal da spielt, das ist etwas anderes Schlechteres, Spielzeug! Das hört sogar ein Gehörloser!« Selig schrie den Ansager an, Gummimann hatte ihn noch nie so aufgebracht erlebt. »Ich werde jetzt die Polizei informieren, wir wollen doch sehen, wer da recht hat. Ihr musstet auf die Instrumente aufpassen, und das habt ihr schmählich verpatzt. Sie wissen, was die Stradivari 1710 kostet, 1,5 Millionen Euro, Sie haben richtig gehört, 1,5 Millionen Euro«, und er betonte die zweite Preiserwähnung, indem er sie langsam und überdeutlich aussprach.

Dann hörte Gummimann, wie er mit der Polizei telefonierte und versprach in der Eingangshalle auf sie zu warten. Ein paar Sekunden später erschien ein wütender Selig an der Tür. Gummimann hatte gerade noch Zeit sich klein zu machen und sich hinter einem Schirmständer zu verstecken. Noch wollte er nicht, dass Selig etwas von seinen Erkundigungen erfuhr. Mit grossen Schritten und äusserst aufgebracht lief Selig an ihm vorbei zur Eingangshalle.

»Ich habe dieses Zimmer hier in der Pause nur für einen kurzen Moment verlassen, Sophie de Marichal hatte die Geige hier in den Koffer versorgt und jetzt soll es plötzlich eine andere sein? Ich verstehe das nicht«, hörte Gummimann jetzt und war erstaunt, sprach der Ansager mit sich selbst, oder waren noch weitere Personen in diesem Raum. »Sophie de Marichal bat mich zu ihr in die Garderobe zu kommen, du warst ja auch dort, wo sie sich, komischerweise schon in der Pause, für unseren grossartigen Einsatz bedankte.«

Es musste noch jemand dort sein, er hatte die Person direkt angesprochen.

»Mach dir keine Gedanken, André«, hörte er jetzt eine Frauenstimme, »Du hast nichts falsch gemacht. Das ist sicher alles nur eine verrückte Idee von diesem Selig.«

»Da bin ich mir nicht so sicher, das ist wirklich nicht der Instrumentenkoffer der Stradivari. Und die Geige klingt eindeutig anders. Ich hätte mich nicht von diesem Voss zur Pause überreden lassen sollen.«

Die Musik hatte aufgehört, man hörte Applaus. André und die Frau, eine junge hübsche mit braunen mittellangen Haaren, kamen aus dem Raum am Schirmständer vorbei, hinter dem sich Gummimann noch immer versteckt hielt. Beide machten einen äusserst gestressten Eindruck, bis sie durch eine Tür auf der linken Gangseite den Musiksaal betraten und dabei ihr Sonntagsgesicht aufsetzten. Gummimann machte sich gross, in der Hoffnung, das Konzert sei fertig. Aber das bewahrheitete sich nicht, der Ansager André hatte nur ein weiteres Stück angesagt und kam sofort danach in Begleitung der hübschen Dame zurück. Wieder klein rettete sich Gummimann erneut hinter den Schirmständer. Es war knapp, so schnell hatte er sie nicht zurück erwartet. Als die beiden in ihrem Raum verschwunden waren, machte er sich wieder normal gross und schlich zurück zum Ausgang. Die Tür öffnete er nur einen Spalt, zuerst wollte er sehen, wo sich Selig aufhielt. Die Musik war gut zu hören, wesentlich lauter als im Backstage-Bereich. Selig stand bei der Eingangstür, schaute nervös auf die Uhr und durch die Glastür hinaus ins Dunkel der Nacht.

Gummimann setzte sich auf einen Stuhl an der Theke. Die geschminkte Dame sah etwas widerwillig von ihrer Illustrierten auf und kam zu ihm.

»Es ist weder Pause, noch das Ende des Konzerts, in dieser Zeit bediene ich eigentlich nicht.« Sie blickte ihn grimmig an.

Mit all seinem Charme versuchte Gummimann sie trotzdem zu einem weiteren Mineralwasser zu überreden, das sie ihm dann sogar mit einem Lächeln brachte.

Selig bemerkte ihn nicht, er war zu sehr mit seiner Wut und dem Warten beschäftigt. Die Tür zum Musiksaal öffnete sich. Die Dame, die auch Selig beschattet hatte, betrat die Eingangshalle. Ein kurzer Blick von ihm in ihre Richtung, dann schaute er wieder in den Vorhof. Die Dame setzte sich einige Stühle von Gummimann entfernt so an die Theke, dass sie Selig beobachten konnte, bestellte aber nichts. Die geschminkte hinter der Theke konnte sich beruhigt weiter ihrer Illustrierten widmen. Ein Auto fuhr vor, und hielt direkt vor dem Eingang. Es war ein Streifenwagen. Selig öffnete die Eingangstür und ging den aussteigenden Polizisten entgegen. Was er mit den Männern verhandelte, hörte Gummimann nicht, sah aber wie er wild gestikulierte. Als sie eintraten, erkannte Gummimann einen der Polizisten, es war Roman Stohler, der junge Mann, der ihn damals bei ihm zu Hause abgeholt und zur BalmerMed gebrachte hatte. Stohler wollte schon auf ihn zugehen, doch Gummimann zeigte mit einer Geste, dass er das unterlassen sollte. Der Polizist begriff sofort und, ohne ihn weiter zu beachten, folgte er Selig.

»Der Klang war anders, da wusste ich sofort, das konnte nicht mehr die Stradivari sein«, ereiferte sich Selig laut, dann verschwanden sie im Backstage-Bereich.

Die Dame hatte das vermutlich auch mitbekommen, sie hatte ihr Smartphone am Ohr, sprach aber zu leise, als dass Gummimann etwas hätte verstehen können, er sah aber, dass sie mehrmals nickte. Sie versorgte das Smartphone und zündete sich gestresst eine Zigarette an.

Gummimann wartete, er wollte noch mit Stohler sprechen. Das nächste Musikstück war fertig, man hörte den Applaus, dann folgte eine kurze Verabschiedung durch André, den Sprecher, wieder Applaus und die Türen zum Musiksaal wurden geöffnet. Die Zuschauer strömten noch im Banne der Musik in die Eingangshalle. Die Geschminkte legte sogar ihre Illustrierte auf die Seite, um mit einem breiten Lächeln diejenigen zu bedienen, die noch etwas trinken oder einen Snack wollten. In der Eingangshalle war nun fast kein Durchkommen mehr, viele holten an der Garderobe ihre Mäntel und andere wollten einfach noch ihre Meinung mit anderen Besuchern austauschen. Am Personaleingang erschien Stohler und drängte sich durch die Leute auf Gummimann zu.

»Wie ich Sie als Detektiv einschätze, Herr Gummimann, haben Sie sich sicher schon Gedanken zum Diebstahl gemacht«, begrüsste er ihn.

Gummimann nickte: »So ist es, ich glaube, in dem Durcheinander sieht mich Selig nicht, ich möchte nicht, dass er weiss, dass wir uns kennen.«

»Das ist mir klar, noch ist er mit meinem Kollegen beschäftigt. Ich bin gespannt, was Sie mir zu berichten haben.«

»Ich vermute, ich weiss, wer dahintersteckt, aber sicher bin ich nicht. Ich musste im Auftrag von Peter Voss, Selig in St. Martin, das ist in Deutschland, observieren. Selig liess dort die Stradivari 1710 bei einem Geigenbauer revidieren. Heute war dieser Voss auch hier, aber nach der Pause waren er und die Geige verschwunden. Vielleicht ein Zufall, aber ein bisschen eigenartig ist es schon.«

»Wir werden der Sache nachgehen. Ich könnte mir schon einen Zusammenhang vorstellen. Haben Sie mir noch seine Adresse?« Gummimann gab ihm alle Informationen, die er über Voss wusste. Nachdem er sein Mineralwasser ausgetrunken hatte, machte er sich auf den Heimweg.

Auch die Dame, die im Gewimmel unbemerkt näher gekommen war, verliess das Gebäude und stieg in ein wartendes Auto.

 

Die Perücke

Es war früher Sonntagmorgen, als das Telefon Gummimann aus seinen schönsten Träumen riss. Zum Glück läutete es lange. Torkelnd schleppte er sich ins Wohnzimmer und nahm noch ganz benebelt ab.

»Ja, hallo«, meldete er sich, er versuchte das dauernde Gähnen zu unterdrücken.

»Hier Meierhans, habe ich Sie geweckt, Herr Gummimann?«

»Ja, nein, eigentlich schon, ich war noch im Bett.«

»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass bei Voss eingebrochen wurde und er verschwunden ist. Frau Voss hatte das heute Morgen gemeldet. Als sie nach Hause kam war die Tür offen, und ihr Mann war nicht da. Ob er entführt oder einfach abgehauen ist, und ob etwas gestohlen wurde, sind noch Gegenstand unserer Ermittlungen. Zu Stohler sagten sie gestern Abend, dass Sie Voss verdächtigen, die Geige gestohlen zu haben, wir haben aber nichts gefunden, was darauf hindeuten würde. Stohler wollte das heute Morgen zuerst mit mir besprechen, vage Vermutungen genügen nicht, jemanden festzunehmen. Bei Voss ist die Geige sicher nicht, möglich, dass er mit ihr abgehauen ist. Sollte er aber wirklich entführt worden sein, dann wollen die Entführer Geld, arm scheint er nicht zu sein. So eine Geige lässt sich nur schwer verkaufen. Haben Sie mit jemandem über den Geigendiebstahl gesprochen?«

»Nur mit Stohler, sonst mit niemandem. – Ich denke auch, dass er sich mit der Geige abgesetzt hat. Aber viel Sinn macht das nicht.«

»Vermutlich ist das so, aber wir müssen alle Möglichkeiten im Auge behalten. Wir werden am Ball bleiben. Gut, das war es schon. Auf Wiederhören, Detektiv, ich melde mich, sollte ich mehr erfahren oder weitere Fragen haben.«

Sie verabschiedeten sich. Gummimann blieb noch lange sitzen, es beschäftigte ihn. Nur langsam ging er ins Badezimmer und versuchte sich mit kaltem Wasser richtig wach zu bekommen, dann zog er sich an.

Als er am Küchentisch seinen Kaffee trank, überdachte er die Situation. Es wurde immer komplizierter, die Stradivari gestohlen und Voss verschwunden. Für Gummimann war klar, Voss war der Dieb. Vielleicht hatte er sich mit der Geige aus dem Staub gemacht. Zutrauen würde er ihm das. Aber was hatte die unbekannte Dame damit zu tun? War sie nur zufällig am Konzert? Gummimann glaubte nicht an solche Zufälle, vermutlich war auch sie wegen der Geige dort, und Voss war ihr mit dem Diebstahl zuvorgekommen. Aber was kann an dieser Geige so spannend sein, dass sich zwei Personen so dafür interessieren? Gut, 1,5 Millionen Euro sind kein Pappenstiel, aber weiterverkaufen würde schwer sein, sie war mehr ein Sammlerstück. Warum hätte jemand Voss entführen sollen, er wäre doch nur hinderlich. Der Kaffee war in der Zwischenzeit lauwarm geworden, aber er trank ihn trotzdem.

Gedankenversunken blickte er in den Garten. Es war ein schöner Sonntagmorgen, die Sonne schickte ihre warmen Strahlen in das Wohnzimmer, doch Gummimann hatte kein Auge dafür, der Fall liess ihn nicht los. Was sollte er jetzt unternehmen? Sollte er überhaupt etwas unternehmen? Das alles hatte nichts mehr mit seinem Auftrag zu tun. Meierhans würde nicht begeistert sein, wenn er sich da einmischte. Da fiel ihm der Zettel mit der Privatadresse von Voss in die Hände, den er vor ein paar Tagen aufs Fensterbrett gelegt hatte, und was Meierhans sagen könnte, war ihm plötzlich egal.

Schnell entschlossen nahm er seine Jacke, verliess die Wohnung und fuhr mit seinem blauen Peugeot 107 nach Riehen, etwas ausserhalb von Basel, an die Wenkenstrasse zum Haus von Voss. Die Polizei schien nicht mehr dort zu sein, mindestens auf der Strasse sah er keine Polizeiautos. Vielleicht hatten sie die Untersuchungen bereits abgeschlossen. Er parkte etwas unterhalb und ging auf das Haus zu. Dichte Pflanzen hinter einem hohen Zaun versperrten den Blick. Eine Kamera überwachte den ganzen Eingangsbereich. Sollte die Polizei doch noch im Haus sein, würden sie ihn sofort sehen, und das wollte er nicht. Mit grösster Wahrscheinlichkeit hätten sie ihm den Zugang zum Haus verwehrt. Er ging dem Zaun entlang, bis knapp vor das Tor. Es war ein guter Zaun, aber nicht gut genug für Gummimann. An einer Stelle, die ihm ideal erschien, schaute er sich nach fremden Blicken um, machte sich dann klein und kletterte unter dem Zaun durch. Noch klein zwängte er sich durch die dichten Thuja-Pflanzen, bis er auf einem fein geschnittenen Rasen stand. Etwa fünfzig Meter entfernt war die grosse Villa von Voss zu sehen, vor der mehrere Autos standen, darunter zwei Polizeiwagen. Im Garten war niemand. Gummimann machte sich ungefähr so gross wie ein kleines Kind, so konnte er sich besser hinter Sträuchern und Büschen verstecken und war schneller zu Fuss, als in Mausgrösse. Trotzdem vorsichtig, schlich er bis ans Haus.

Voss musste Geld haben, das war klar. Die luxuriöse Villa mit dem Pool, den man von Gummimann Standort aus knapp sehen konnte, der grosse Garten in diesem sehr teuren Wohngebiet, in dem nur wirklich reiche Leute lebten. Als Sammler alter wertvoller Musikinstrumente passte er in diese Gegend, als Person weniger. Mit seinen extravaganten Kleidern – am Konzert kam er mit hellgrünen Hosen, einer knallroten Jacke und einem blau gelb gestreiften Hemd – würde man ihn eher in Künstlerkreisen sehen.

Beim ersten Fenster machte sich Gummimann normal gross und blickte ins Haus. Dort sprach Kommissär Meierhans mit einer älteren Dame, vermutlich war sie die Gattin von Voss, und machte sich dabei Notizen. Ein Beamter mit einem Laptop sass an einem Tisch neben dem Telefon. Die Polizei war also noch hier. Obschon Gummimann glaubte, nicht sofort aus dem Garten geworfen zu werden, wollte er sich nicht zu erkennen geben, sondern zuerst auf eigene Faust nach neuen Hinweisen suchen. Kameras sah er hier keine, also konnte er sich ziemlich frei bewegen und musste nur aufpassen, nicht von der Polizei entdeckt zu werden. Da er nicht ins Haus konnte, blieb ihm nur die Umgebung. Seine Hoffnung, da etwas Wichtiges zu finden, war klein, aber nicht Null. Er schlich der Hauswand entlang, am Pool vorbei, der ziemlich verdreckt war, und weiter hinter das Haus.

Von weitem sah er einen kleinen Wendeplatz für Autos, dort mussten die Garagen sein. Er wollte gerade in diese Richtung schleichen, als er zwischen Büschen am unteren Ende des Rasens eine Gartentür entdeckte. So, wie sie aussah, war die für den Gärtner gedacht. Wenn Voss entführt worden wäre, hätten die Entführer ihn auch durch den Garten ins Auto schleppen können. Vermutlich aber hatte die Polizei diesen Gedanken auch schon gehabt und längst alles abgesucht. Seine Sucherei war wahrscheinlich für nichts und wieder nichts.

Obwohl die Rollläden auf der hinteren Hausseite zum Teil heruntergelassen waren, musste er aufpassen. Gummimann blickte sich nochmals absichernd um und ging über den Rasen auf die Gartentür zu. Sie war nicht abgeschlossen und führte in einen kleinen Garten mit einem Holzschuppen, zwei hölzernen Gartenkompostbehältern und mehreren Beeten mit verschiedenen Gemüsen und Blumen. In der hinteren Ecke gab es einen Ausgang, dessen Tür offenstand. Er durchquerte den kleinen Garten und trat auf einen Feldweg, der zwischen dem Zaun von Voss und dem Nachbargrundstück zurück zur Strasse führte. Es war niemand zu sehen. Das relativ hohe Gras war an einigen Stellen tief hinunter gedrückt und zum Teil ausgerissen, was auf Schleifspuren hindeuten könnte. Ungefähr zwanzig Meter vor dem Ausgang entdeckte er Fahrzeugspuren. Auch sah es aus, als hätte es hier einen Kampf gegeben. Im relativ weichen Boden konnte er Fussspuren von mindestens drei Personen ausmachen. Und er entdeckte Haare in einem dichten Busch neben dem Weg. Zuerst erschrak er, er befürchtete einen Körper dahinter zu finden, doch bald sah er zu seiner Beruhigung, es war nur eine braune Langhaarperücke, die er sogar zu kennen glaubte. Gestern am Konzert trug die unbekannte Dame eine solche oder eine ähnliche, sie musste sie verloren haben. Wurde Voss wirklich entführt, könnte folglich sie dahinterstecken. Ob sie auch die Geige gestohlen hatte, wusste er nicht, aber es war zu vermuten. Gummimann überlegte, seinen Fund und seine Erkenntnisse Kommissär Meierhans zu melden, entschied sich aber dagegen. Zuerst wollte er sicher sein, dass die Dame wirklich etwas damit zu tun hatte, und dass das tatsächlich ihre Perücke war. Dann konnte er immer noch Meierhans informieren. Stellte sich die Spur mit der Dame als falsch heraus, wäre es eher peinlich, und man würde ihm Vorwürfe machen, warum er sich in eine laufende Ermittlung einmischte. Und überhaupt, vermutlich hatte die Polizei die Spuren auch entdeckt, und sie würden ihn nur mitleidig belächeln. Allerdings mussten sie die Perücke übersehen haben.

Das erste was er machte, als er wieder in seinem Peugeot sass, war Clearwater anzurufen. Nach dreimal läuten kam der Telefonbeantworter.

»Im Moment ist das Büro geschlossen. Wir haben von Montag bis Freitag 8.00 Uhr bis 18.00 Uhr geöffnet«

Es war Sonntag, kam es Gummimann in den Sinn, da arbeitete auch Clearwater nicht. Nur kurz sprach er auf den Beantworter, Clearwater solle ihn so bald wie möglich zurückrufen. Privat wollte er ihn an einem Sonntag nicht stören. Dann fuhr Gummimann nach Hause.

Dort setzte er sich nach dem Essen an den Computer. Die Möglichkeit, dass die Perücken-Dame am Verschwinden von Voss beteiligt sein könnte, liess ihm keine Ruhe. Um mehr über sie zu erfahren, wollte er herausfinden, wo man solche Perücken kaufen konnte. Neun Einträge ergab die Adresssuche in Basel und wesentlich mehr in der weiteren Umgebung. Der Drucker druckte brav die Basler Adressen aus. Gummimann wollte sich zuerst auf sie konzentrieren. Auch pflügte er sich durch diverse Homepages, die Perücken online anboten. Sollte die gefundene Perücke so gekauft worden sein, hätte er keine Chance, etwas herauszufinden. Laut seufzend lehnte er sich in seinem Stuhl zurück.

»Vielleicht ist alles für die Katz und ich werde nichts finden«, sprach er laut mit sich, ging in die Küche und machte sich einen Kaffee. »Vielleicht kann man die Perücken gar nicht unterscheiden«, dozierte er weiter. »Vielleicht sind alle zu ähnlich oder es gibt zu viele davon. Die wurden sicher nicht eigens für diese Person gemacht.«

Die Kaffeemaschine war mit ihrer Arbeit fertig und Gummimann setzte sich an den Küchentisch, verfeinerte den Kaffee mit Rahm und Zucker und trank.

Der Drucker hatte seine Arbeit erledigt. Anhand der Adressen überlegte er sich eine Route, nach der er die Perücken-Geschäfte am Montag abklappern konnte. Die meisten waren mit dem Auto zu erreichen, ausser eines in der Basler Innenstadt. Nun musste er sich nur noch gedulden, bis die Geschäfte am nächsten Tag öffneten.

Montagmorgen. Zufrieden mit der Strecke, die er gestern zusammengestellt hatte, fuhr er los. Die ersten beiden Geschäfte brachten ihn nicht weiter. Im dritten, erklärte ihm der Coiffeur, so billige Perücken würde er nicht verkaufen. Sie seien schlecht gemacht mit Kunsthaar. Er solle doch bei Hair For You vorbeigehen, die wären auf billige Kunsthaar-Perücken spezialisiert. Das Geschäft sei etwas ausserhalb, in Dornach, in der alten Metallfabrik, an der Weidenstrasse.

Gummimann bedankte sich für den Tipp und fuhr als nächstes nach Dornach. Die Metallfabrik fand er schnell, aber Hair for you war das grössere Problem. In den Hallen hatte es dutzende kleine Geschäfte und Ateliers, die oft nur winzig angeschrieben waren. Da Hair For You zu einer Import/Export-Firma gehörte, die auch andere Waren vertrieb, wurde der Name nur unter mehreren an der Tür vermerkt.

Nachdem er die Firma endlich gefunden hatte, klopfte er und trat ein. Eine Theke, auf der verschiedene Waren standen, darunter auch ein Styropor-Kopf mit einer bunten Fasnachts-Perücke, grenzte den Eingangsbereich vom Arbeitsbereich mit vielen vollgestellten Regalen ab. Eine Glocke war mit Bitte läuten angeschrieben. Sie wartete darauf, gedrückt zu werden, was Gummimann natürlich tat. Kurz darauf erschien eine hübsche junge Dame.

»Womit kann ich Ihnen helfen?», fragte sie lächelnd, mit einer angenehmen Stimme. Sie schaute ihn mit super schönen, grossen, fast schwarzen Augen an. Dabei strich sie sich ihre langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Detektiv Gummimann war etwas irritiert, fast stotternd erklärte er ihr sein Anliegen und zeigte die Perücke.

»Ja, die führen wir. Solche oder ähnliche Perücken brauchen wir oft für Theater, Firmenanlässe oder, in Basel sehr wichtig, für die Fasnacht.« Sie schaute sie sich genau an, indem sie sie mehrmals umdrehte. »Ich weiss sogar, für was die gebraucht wurde. Die Firma Lightburn hatte vor einigen Wochen zehn für einen Firmenanlass bestellt, ich nehme an, für eine Vorführung. Die liessen wir extra für sie kommen. Aber wir haben keine mehr, falls Sie noch welche brauchen.«

»Nein, brauche ich nicht. Was ist das für eine Firma, und wo findet man sie?« Gummimann war aufgeregt und das nicht nur wegen der Auskunft, trotzdem wollte er so ruhig wie möglich wirken.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739377230
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Februar)
Schlagworte
Abenteuer Krimi Spannung Fantasie Roman Science Fiction

Autor

  • Tino Keller (Autor:in)

Jahrgang 1951, wohne in der Schweiz in der Nähe von Basel. Ich arbeitete lange als Jugendarbeiter und dabei begann ich Geschichten zu erzählen. In der Zwischenzeit bin ich pensioniert und habe Zeit die Geschichten aufzuschreiben. Sie entwickelten sich zu spannenden Geschichten jeden Alters. Dieser Detektiv hat viele Eigenschaften von mir. Eigentlich schreibe ich für mich, wenn es auch den Lesern gefällt, freut es mich umso mehr.
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Titel: Zeitspiele