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Beloved Memory: Ich gehöre nur dir

von Vivian Hall (Autor:in)
150 Seiten

Zusammenfassung

Melody, die Liebe meines Lebens, wurde mir durch ein tragisches Unglück entrissen. Ich blieb zurück mit einer Leere, die mich jeden Tag mehr zerstörte, bis ich auf Faith treffe. Sie hat all das, was mir genommen wurde und bringt das Licht zurück in mein dunkles Dasein. Allerdings ist sie die Cousine von Melody und ihre äußerliche Ähnlichkeit lässt mich an meinen Gefühlen zweifeln. Will ich wirklich Faith oder ist es nur mein verzweifelter Wunsch, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen, der mich in ihre Arme treibt? Eine in sich abgeschlossene Novelle mit 48000 Worten. Dieser Roman ist nach Rechterückgabe die Neuauflage der Novelle "Ein Herz voller Erinnerungen".

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 2 Reese

Der Friedhof war für mich noch nie ein Ort des Friedens gewesen, sondern nur ein Platz, an dem mein Verlust in Form eines Grabsteines für jeden sichtbar wurde. Alle Menschen starben irgendwann, das war der Lauf der Dinge, doch dass sich der Tod ein so lebenssprühendes Geschöpf wie meine Melody schnappen könnte, wäre mir früher niemals in den Sinn gekommen. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich eine Tür anstarrte, stets in der Erwartung, Mel würde eintreten und mich mit ihren strahlenden Augen und ihrem lieben Lächeln verzaubern. Dann holte mich die Wirklichkeit wieder ein, und mir wurde schmerzlich bewusst, dass das nicht passieren würde.

Nachdem ich das schmiedeeiserne Tor geschlossen hatte, lief ich mit dem Blumengesteck auf den Armen zügig den schmalen Weg entlang. Den Anblick der vielen Gräber, dazu noch die ganzen Bäume und Sträucher, die schon all ihre Blätter verloren hatten und deren Äste und Zweige wie dunkle Knochenfinger in die Luft ragten, fand ich schlichtweg deprimierend. Die Umgebung wirkte wie ein Kupferstich auf mich, farblos und kalt. Jedes Mal, wenn ich hierherkam, schnürte es mir den Atem ab, und erst, wenn ich den Friedhof verließ, konnte ich wieder normal atmen und das Leben strömte zurück in meinen Körper.

Die kleinen Steine des Kiesweges knirschten unter meinen Schuhsohlen. Ein unangenehmes Geräusch inmitten dieser bedrückenden Stille. Man hörte noch nicht einmal Vögel singen, als würde der Tod diesen Ort umarmen und alles Lebendige erdrücken. Das gesamte Areal wurde von einer Mauer geschützt und war von außen nur schwer einsehbar.

Ich beschleunigte meine Schritte und atmete tief ein. Es roch ganz intensiv nach Blumen, ein Anzeichen für eine kürzlich stattgefundene Beisetzung. Ein unangenehmes Prickeln kitzelte meinen Nacken, als würden mich kalte Finger berühren, gleichzeitig pfiff der eisige Ostwind beißend um meine Ohren. Während ich mich vorwärtsbewegte, versuchte ich, nicht auf die vielen Grabsteine zu achten, die überall verteilt den Friedhof besiedelten. So viele Menschen, so viele Geschichten, so viele Hinterbliebene. Wir hatten alle unsere Verluste zu beklagen, doch der Mensch war ein von Egoismus getriebenes Wesen, und so wog der eigene Schmerz immer schwerer als der von anderen. Ich konnte mich davon auch nicht freisprechen.

Die bedrückende Atmosphäre verlieh meinen Beinen Flügel, zügig näherte ich mich Melodys Grab. Ich wollte diesen Besuch endlich hinter mich bringen und schämte mich gleichzeitig für meine Eile. Der Weg nahm eine leichte Biegung, jeden Augenblick würde ich das protzige Grab mit der wuchtigen Marmorplatte erreichen. Darauf stand eine steinerne Vase mit einer einzelnen Blume darin. Der Friedhofsgärtner kümmerte sich im Auftrag von Melodys Mutter immer um frischen Nachschub. Es sollte wohl edel aussehen, auf mich wirkte dieser einzelne Farbtupfer auf diesem steinernen Ungetüm einfach nur trostlos. Ich war überzeugt, Melody hätte dieses hässliche Ding, unter dem man sie begraben hatte, gehasst und eher ein schlichtes Grab bevorzugt. Ohne großen Schnickschnack, aber ihre Mutter wollte um jeden Preis eine modern designte Ruhestätte für ihre einzige Tochter, weil es ihrer Meinung nach mehr hermachte. Als ob teurer Marmor jemals ein Gradmesser für die Liebe sein könnte.

Je näher ich diesem Klotz kam, umso mehr Erinnerungen prasselten auf mich ein. Sie hatte so friedlich ausgesehen in ihrem Sarg, als würde sie nur schlafen. Dann unser letzter Kuss zum Abschied. Ihre Lippen blieben kalt und steif unter meinen, waren nicht warm und nachgiebig wie sonst. Was immer da auch lag, es war nicht mehr meine Melody. Alles was sie ausgemacht hatte, ihre Freundlichkeit, ihr Humor und ihre Leidenschaft, gingen mit ihrem Tod unwiederbringlich verloren. Im Nachhinein wünschte ich mir, sie nicht so gesehen zu haben. Ihr Anblick im Sarg schob sich wie eine Wand vor die schönen Erinnerungen, die sich über die Jahre hinweg angesammelt hatten.

Ich bog links ab und hielt dann mitten im Schritt inne. Da stand eine einsame Gestalt vor ihrem Grab. Eine Frau, die mir den Rücken zuwandte. Soweit man das aus der Ferne beurteilen konnte, besaß sie eine zierliche Figur. Das konnte man trotz des übergeworfenen weiten Ponchos erkennen. Ihre schlanken Beine steckten in dunkelblauen Jeans und fast kniehohen hellbraunen Lederstiefeln. Leicht gewelltes Haar fiel ihr über die Schultern und sie hielt den Kopf gesenkt. Betete sie? Vielleicht war sie auch nur tief in Gedanken versunken.

Mich störte die Anwesenheit dieser Fremden. Normalerweise kam außer mir niemand mehr hierher. Melodys Mutter war vor Jahren mit ihrem neuen Mann nach Deutschland gezogen und hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen. Der Rest der Familie ließ sich hier nicht sehen und so musste ich diesen Ort und meine Erinnerungen mit niemandem teilen. Heute schon.

Auf einmal regte sich Wut in mir, weil ich mich ausgerechnet am zehnten Jahrestag ihres Todes mit einer wildfremden Person herumschlagen musste. Eine total schwachsinnige Regung, schließlich besaß ich nicht das alleinige Monopol darauf, mich hier aufhalten zu dürfen. Dennoch blaffte ich sie unnötig rüde an, sobald ich hinter ihr stand.

„Was zum Teufel machen Sie hier?“

Sie schoss herum, als hätte ich sie in den Hintern gebissen, und starrte mich aus weit aufgerissenen braunen Augen verschreckt an. Der Anblick ihres Gesichts ließ mir im allerersten Augenblick das Blut in den Adern gefrieren. Grundgütiger, Melody!

Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust, mein Blick verschwamm und ich glaubte zu halluzinieren. Erst nach einigen Sekunden fing mein übermüdeter Verstand wieder an, zu arbeiten. Das hier war nicht Melody, sondern nur eine junge Frau, die ihr stark ähnelte. Tatsächlich konnte man sie auf den ersten Blick durchaus verwechseln, auf den zweiten wurden allerdings einige Unterschiede erkennbar.

„Entschuldigung, ich wollte wirklich nicht stören“, stammelte sie eingeschüchtert und musterte mich vorsichtig.

Wahrscheinlich sah ich so aus, als stünde ich gerade einem Geist gegenüber, und sie hielt mich für total übergeschnappt. Noch immer starrte ich sie an, nicht fähig, irgendetwas zu sagen. Sie verschränkte die behandschuhten Hände ineinander und machte einen kleinen Schritt zurück.

„Ich kann gerne gehen und später wiederkommen“, flüsterte sie und verstummte unter meinem bohrenden Blick. Sie fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl in meiner Gegenwart.

Das Schweigen zog sich hin, und ich nutzte die momentane Stille, um sie auf die Schnelle zu mustern. Sie kam mir unglaublich bekannt vor. Dabei war ich mir sicher, ihr noch niemals zuvor begegnet zu sein. Eine solche Schönheit hätte ich bestimmt nicht vergessen. Das kastanienbraune Haar besaß einen intensiv kupferfarbenen Schimmer und lockte sich sanft um ihre schmalen Schultern. Die Augen fand ich ebenfalls beeindruckend. Sie schimmerten dunkel wie Zartbitterschokolade. Melodys Augen waren heller gewesen, haselnussbraun, mit einem Hauch grün darin.

Sie räusperte sich und kaute sichtlich nervös auf ihrer Lippe herum. Mein Blick blieb auf ihren schneeweißen Vorderzähnen hängen, die sich in das üppige Fleisch ihres Mundes gruben. Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Um die Situation ein wenig zu entschärfen, rang ich mir eine Entschuldigung ab. „Bitte verzeihen Sie mir mein unangebrachtes Verhalten. Ich wollte Sie wirklich nicht so anfahren.“

Ich fühlte mich dazu verpflichtet, meine übertriebene Reaktion zu erklären. „Schauen Sie, ich habe nicht damit gerechnet, jemanden hier anzutreffen. Ich komme seit Jahren hierher und bin eigentlich immer allein. Dass plötzlich noch jemand an Melodys Grab steht, hat mich irritiert. Aber das gibt mir noch lange nicht das Recht, Sie auf diese Weise anzupflaumen.“

Endlich erholte sie sich von dem Schock, an so einem friedlichen Ort von einem fast 1,90 Meter großen Kerl angeblafft worden zu sein. Sie schenkte mir ein süßes Lächeln. Der Anblick ihrer sanft geschwungenen Lippen lenkte meine Aufmerksamkeit erneut auf ihren Mund. Keine allzu üppigen Lippen, aber voll genug, um einen sexy Schmollmund zu produzieren, sollte sie es darauf anlegen. Die intensiv rosa Tönung passte perfekt zu ihrem ausdrucksstarken Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Ein schmaler Hals, biegsam und mit einer zarten Kehle, war das Nächste, was mir auffiel, der Rest verschwand unter dem unförmigen braunen Poncho. Ein Kleidungsstück, das bei Frauen gerade wohl sehr beliebt war, ich sah die Dinger ständig. Nur leider verdeckte es ihren gesamten Körper. Nichtsdestotrotz ließen ihre schlanken Beine erahnen, dass sich darunter eine sportliche Figur verbarg.

Als sie auf meine Entschuldigung reagierte und ich ihre melodische Stimme zum ersten Mal ohne panischen Unterton darin hörte, rann mir ein wohliges Kribbeln über den Nacken.

„Schon gut, ich versteh dich. Ich wäre wahrscheinlich im ersten Moment auch irritiert gewesen. Du musst dich also nicht entschuldigen.“

Mir klappte fast die Kinnlade runter, weil sie anscheinend gar nicht auf die Idee kam, mich zu siezen, wie es unter Fremden eigentlich üblich war. Vielmehr hatte ich den Eindruck, für sie wäre es selbstverständlich, sich diese Vertraulichkeit mir gegenüber herauszunehmen, und das irritierte mich. Wo zum Teufel waren wir uns begegnet? 

„Entschuldigen Sie, kennen wir uns irgendwoher?“, fragte ich geradeheraus. Ich hatte keine Lust auf Rätselraten, und trotz dieses vagen Gefühls, dass wir uns nicht zum ersten Mal gegenüberstanden, konnte ich mich beim besten Willen nicht entsinnen, ihr schon über den Weg gelaufen zu sein. Eine Schul- oder Jugendfreundin konnte sie ebenfalls nicht sein. Sie musste etliche Jahre jünger sein als ich, höchstens Anfang zwanzig. Einen alkoholgetrübten One-Night-Stand mit ihr konnte ich aus diesem Grund eigentlich ausschließen. So junge Dinger gehörten definitiv nicht in mein Beuteschema. Ich mochte gestandene Frauen mit Lebenserfahrung und klaren Vorstellungen. Jüngere mussten oft erst sich selbst finden und wussten nicht, was sie vom Leben und ihrer Zukunft erwarteten. Mich darauf einzustellen, war mir zu anstrengend. 

„Du erinnerst dich nicht mehr an mich, nicht wahr?“ Sie wirkte wahnsinnig traurig bei dieser Feststellung und ich schämte mich beinahe für meine Unwissenheit. 

„Nein, tut mir leid“, gab ich schließlich zu und fühlte mich wie ein Idiot. 

Sie seufzte. „Das habe ich mir fast gedacht, aber ich dafür erinnere mich an dich, Reese. Ich habe dich nie vergessen.“

Meinen Namen kannte sie ebenfalls. 

Wer zur Hölle war sie?

Aus zusammengekniffenen Augen musterte ich ihr Gesicht, suchte erneut nach irgendwelchen Anhaltspunkten, die meinem lückenhaften Gedächtnis auf die Sprünge helfen konnten. Vergeblich, ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wer da vor mir stand. 

„Es tut mir ehrlich leid, ich weiß wirklich nicht, wo und wann wir uns begegnet sein sollen“, gab ich zu. „Vielleicht lüftest du das Geheimnis deiner Identität.“

Da sie mich duzte, nahm ich mir dieses Recht ebenfalls heraus. Es fühlte sich natürlich an, zwischen uns herrschte keinerlei Verlegenheit mehr. Vorsichtig legte ich das Gesteck auf die Grabplatte und schob dann meine kalten Hände in die Taschen meines Mantels. Ruhig wartete ich ihre Antwort ab. 

Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Vielleicht hätte ich mich vorstellen sollen, immerhin ist viel Zeit vergangen, seit unserer letzten Begegnung. Kein Wunder, dass du im Dunkeln tappst und nichts mit mir anfangen kannst."

Sie warf mir einen hinreißend verlegenen Blick zu. Wow, mit diesem Augenaufschlag hätte sie selbst der jungen Lady Di Konkurrenz gemacht. Dieses Mädchen strahlte eine natürliche Anmut aus, die man heutzutage nur noch selten fand. Ich spürte, wie mein Herz anfing, schneller zu schlagen, und ballte meine Hände zu Fäusten.

„Also, dann klär mich mal auf“, meinte ich gedehnt und versuchte, angesichts meiner wachsenden Faszination cool zu bleiben. „Wer bist du und wieso kann ich mich nicht mehr an dich erinnern?“

Erneut schenkte sie mir ihr bezauberndes Lächeln und zog meine Aufmerksamkeit wieder auf ihren verführerischen Mund. Ich wäre kein Mann gewesen, wenn ich mir nicht vorgestellt hätte, ob er sich so weich anfühlte, wie er aussah. Das blieb nicht ohne Wirkung auf meine Libido. Mir wurde warm, und mein verräterischer Freund eine Etage tiefer regte sich in meiner Hose. Scheiße. Das konnte ich jetzt definitiv nicht gebrauchen. Vor allem hier!

Die hübsche Fremde ließ mir keine Zeit für Gewissensbisse, sie sprach schon längst weiter. „Du kannst mich vermutlich nicht mehr einordnen, weil es zehn Jahre her ist, dass wir uns gesehen haben.“

Zehn Jahre … Damals starb Melody und hinterließ eine Lücke, die nach ihr niemand zu füllen vermochte.

Ich räusperte mich vernehmlich. „Es klingelt immer noch nicht. Also entweder bist du älter, als du aussiehst, oder du warst zu der Zeit ein Kind.“
„Ich war zehn und wahrscheinlich die größte Nervensäge auf diesem Planeten“, teilte sie mir vollkommen unbeeindruckt mit.

Sobald sie das Wort „Nervensäge“ erwähnte, lichtete sich schlagartig der Nebel in meinem Kopf. Jetzt wusste ich, wieso mir dieses Gesicht so bekannt vorkam. Ich holte einmal scharf Luft.

„Faith“, stieß ich hervor und konnte kaum glauben, wie blind ich gewesen war. Diese Ähnlichkeit mit Melody, dazu diese unglaublichen Augen, die sich kein bisschen verändert hatten. Sie leuchteten genauso seelenvoll wie damals, wenn sie mich und Melody um etwas angebettelt hatte. Um einen Besuch im Kino oder einen Trip in den Zoo.

Sie lächelte unter Tränen. „Du weißt es also doch“, hauchte sie und biss sich auf die zitternde Unterlippe.

Ich trat einen Schritt näher an sie heran und legte ihr die Hände auf die zerbrechlich wirkenden Schultern. Dann hielt ich sie ein Stück von mir weg, mein Blick wanderte an ihr auf und ab und blieb schlussendlich auf ihrem Gesicht hängen. „Unfassbar! Ich hätte nie gedacht, dich jemals wiederzusehen.“

Meine Freude über dieses unverhoffte Wiedersehen vertrieb sogar den allgegenwärtigen Kummer über Melodys Verlust. Meine Güte, die bezaubernde Faith! Melodys kleine Cousine, die uns immer wie ein Schatten gefolgt war. Um ehrlich zu sein, hatte ich in den letzten Jahren kaum einen Gedanken an sie verschwendet. Sie war ja noch ein Kind gewesen zu jener Zeit. Andauernd war sie um mich und Melody herumgehuscht wie ein liebesbedürftiges Hündchen. Ihre Mutter hatte sie laufend zu Melodys Mum abgeschoben, um mit ihren Freundinnen aus dem Bridgeclub Karten spielen zu können. Sie kümmerte sich wenig um das Mädchen. Das blieb weder mir noch Melody verborgen, und wir brachten es einfach nicht übers Herz, die Kleine wegzuschicken, wenn sie wieder mal an uns klebte wie eine Klette. Immer wenn sie da war, dann beschäftigten wir uns mit ihr, begleiteten sie auf den Spielplatz und passten auf, während sie mit anderen Kindern spielte. Sie stand Mel sehr nahe, auch an mir hatte sie einen Narren gefressen. Obwohl sie anstrengend sein konnte, fand ich ihre kindliche Zuneigung irgendwie rührend. Nach Melodys Tod brach der Kontakt dann komplett ab. Ich wollte mit dem alten Umfeld nichts mehr zu tun haben und nun stand sie vor mir. Erwachsen und verflucht hübsch.

„Faith“, wiederholte ich flüsternd. „Mein Gott, du hast dich so verändert, ich habe dich wirklich nicht mehr wiedererkannt.“

Nervös leckte sie sich über die Unterlippe. Wahrscheinlich war es ihr peinlich, dass ich sie so intensiv anstarrte. Beim Anblick ihrer kleinen rosa Zungenspitze erfasste mich eine warme Welle sexueller Erregung. Entsetzt schnappte ich nach Luft, ließ ihre Schultern los und brachte etwas Abstand zwischen uns. Das war doch pervers! Immerhin kannte ich sie seit ihrem siebten oder achten Lebensjahr. So genau wusste ich das gar nicht mehr. Ich kam mir vor wie ein schmutziger alter Mann.

Meinem besten Stück war das offensichtlich egal. Zum Glück trug ich den Mantel darüber. Angesichts unserer gemeinsamen Vergangenheit wäre es mir entsetzlich unangenehm gewesen, wenn sie etwas gemerkt hätte. Faiths nächste Worte rüttelten mich auf und ich löste mich aus meinem Schockzustand.

„Ich freue mich wirklich sehr, dich wiederzusehen, Reese. Ehrlich gesagt, habe ich gehofft, wir würden einander hier begegnen. Gerade heute …“

Sie musste den Satz nicht beenden. Ich wusste, sie spielte auf dieses morbide Jubiläum an. Lieber Himmel, ein ganzes Jahrzehnt hatte ich jetzt ohne Melody verbracht, weitere würden folgen. Nur schmerzte der Gedanke daran nicht mehr so heftig wie heute Morgen. Als würde Faiths Anwesenheit dieses Gefühl betäuben. Mir war nicht ganz klar, ob ich das gut oder schlecht finden sollte.

„Wieso bist du in den letzten Jahren nicht hergekommen?“, fragte ich. Es interessierte mich wirklich.

„Mum hat sich kurz nach Melodys Tod von meinem Dad getrennt und ist mit mir nach Edinburgh gezogen. Und da Tante Melissa nach Deutschland ausgewandert ist, gab es für mich keinen Grund mehr, nach London zu kommen. Ich bin erst seit einem Jahr wieder hier. Ich absolviere hier meinen letzten Studienabschnitt zur Krankenschwester, aktuell auf der Säuglingsstation“, plapperte sie ohne Punkt und Komma. „Dank dem Erbe meiner Großmutter muss ich auch nicht in einem Wohnheim hausen, sondern kann mir eine winzige Wohnung leisten.“

Meine Mundwinkel bogen sich nach oben. Faith und Babys. Das passte, und die Vorstellung, wie sie sich um so ein kleines Wesen kümmerte, wärmte mein Inneres. Trotzdem war ich ein klein wenig beleidigt. Faith lebte seit einem Jahr in London und hatte während dieser Zeit nicht einmal versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Es wäre nicht schwer gewesen, meine Kanzlei ausfindig zu machen.

„Und du bist nicht auf die Idee gekommen, mich mal anzurufen?“

Sie schlang die Arme um sich, als würde sie frieren, und lächelte kläglich. „Natürlich, eigentlich andauernd, ich habe mich nur nicht getraut. Ich wusste ja nicht, ob du mich überhaupt wiedersehen willst. Ich war nur Melodys nerviges Anhängsel, nicht mehr.“

„Ich hätte mich sehr gefreut, wenn du dich gemeldet hättest“, antwortete ich ehrlich.

Das Leuchten in ihren Augen kehrte zurück und sie senkte schüchtern den Blick. „Hätte ich das gewusst …“, murmelte sie. Gleich darauf hob sie den Kopf. „Jedenfalls habe ich gehofft, dir heute über den Weg zu laufen. Ich dachte, wenn du kommst, dann an diesem besonderen Tag. Es erschien mir irgendwie … unverfänglicher.“

„Unverfänglicher?“ Amüsiert betrachtete ich ihre knallrot verfärbten Wangen. So verlegen, sah sie wirklich ausgesprochen süß aus. Zu süß für meinen Seelenfrieden. Meine innere Unruhe verstärkte sich bei diesem Anblick. Es lag was in der Luft, und das hatte nichts mit Tod und Trauer zu tun, wie man es an diesem trübseligen Ort erwartet hätte. Diese junge Frau strahlte Hoffnung aus, die Lebensfreude in ihren Augen wirkte ansteckend. Faith … Hoffnung … der Name passte wunderbar zu ihr.

Als sie auf meinen amüsierten Kommentar von eben antwortete, klang ihre Stimme resolut. „Ja, natürlich ist es unverfänglicher. Schließlich kann mir keiner verbieten, Melodys Grab zu besuchen, und ich hätte schnell gemerkt, ob es dir unangenehm ist.“

Schuldbewusst erinnerte ich mich an meine harsche Reaktion und lächelte entschuldigend. „Du hast sicher auf einen freundlicheren Empfang gehofft.“

Sie nickte. „Das kannst du laut sagen.“

Ich konnte mir ein breites Grinsen nicht mehr verkneifen. Es war das erste richtige Lächeln, das ich mir jemals an diesem Ort gestattet hatte. Kurz horchte ich in mich hinein, suchte nach einem Anzeichen von schlechtem Gewissen und fand nichts dergleichen. Überraschenderweise ging es mir gut. Die Trauer blieb allgegenwärtig, aber heute musste ich diese Last zum Glück nicht allein tragen.

Räuspernd versuchte ich, die auf mich einstürmenden unterschiedlichen Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Ein Teil von mir wollte sie in den Arm nehmen und drücken. So wie früher. Ganz harmlos, als ehrliches Zeichen meiner Zuneigung, die ein Erwachsener einem Kind in aller Unschuld entgegenbrachte. Der Mann in mir hegte weit weniger ehrbare Absichten. Meine Fantasie spielte verrückt und sandte mir Bilder von der heutigen Faith. Das kleine Mädchen von damals verblasste und ich sah sie nun mit ganz anderen Augen. Nackt, mit einem sinnlichen Lächeln auf den Lippen, während sie sich meinen streichelnden Händen entgegenbog. Ich wollte herausfinden, ob diese Vorstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmte, und es reizte mich, diese samtige Haut mit dem Mund zu erforschen. Überall. Gott, ich schämte mich dafür, aber ihre fragile Weiblichkeit sprach mich sexuell ungemein stark an. Erregung auf den ersten Blick. So könnte man das wohl am ehesten bezeichnen. Verdammt …

„Willst … willst du mich denn gar nicht in den Arm nehmen?“, stieß sie plötzlich hervor. Ihr vertrauensvoller Blick bohrte sich in meinen.

Tu das bloß nicht, schrie mein Gewissen. Es wäre besser gewesen, auf diese innere Stimme zu hören, doch bevor ich einen Schritt zurücktreten und der Vernunft das Kommando übergeben konnte, meldete sich der Egoist in mir und machte mir einen Strich durch die Rechnung.

Stell dich nicht so an. Sie wartet nur darauf. Oder willst du etwa nicht wissen, wie sie sich anfühlt, wie sie riecht …

„Ach, zum Teufel!“, rief ich aus, erlag der Versuchung und zog sie an mich. Ein wenig besorgt stellte ich fest, dass sie in meinen Armen fast verschwand. Vorsichtig lockerte ich meinen Griff, weil ich Angst hatte, sie zu erdrücken, und legte meine Wange seitlich an ihr Haar. Schnuppernd saugte ich ihren Duft in mich auf. Sie roch nach Jasmin. Zart und weiblich. Genüsslich atmete ich dieses betörende Aroma ein, berauschte mich daran und hörte auf zu denken. Stattdessen startete ich einen letzten Versuch, meine verdammten Hormone zu zügeln und scheiterte kläglich. Allein sie zu halten, entpuppte sich als Offenbarung. Gott, das war gut. Viel zu gut.

„Ich dachte einen Augenblick, du würdest dich gar nicht mehr an mich erinnern“, murmelte sie an meiner Brust. Ihre Stimme jagte kleine Erdbeben durch meinen Körper.

„Wie könnte ich dich vergessen“, flüsterte ich ihr ins Ohr.

Faith erschauerte. Das völlig unberechenbare Bedürfnis, sie noch enger an meine Brust zu ziehen und von ihren süßen Lippen zu kosten, überfiel mich wie ein plötzlich einsetzendes Fieber. Das reichte, um meinen benebelten Verstand aus dieser watteweichen Umklammerung zu lösen. Was machte ich hier eigentlich?

Umgehend ließ ich sie los. Ich hatte kein Recht, so an Faith zu denken. Meine Güte, das war Melodys kleine Cousine, außerdem befürchtete ich, dass ich sie aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Mel so anziehend fand. Ich würde sie benutzen, um meine Vergangenheit und die Gefühle von damals wieder aufleben zu lassen. Das wäre Faith gegenüber nicht nur unfair, es wäre unverzeihlich. Abgesehen davon wollte ich mich nicht auf eine Kopie meiner toten Verlobten einlassen. Das wäre nun wirklich krank gewesen.

Unwillkürlich verglich ich Faith mit Melody. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung kamen mir die optischen Gemeinsamkeiten aus der Nähe nicht mehr so prägnant vor. Faith war kleiner, als es Mel gewesen war, und ihre Haut schimmerte nicht golden, sondern leuchtete elfenbeinfarben. Auch beim Haar stellte ich Unterschiede fest. Die Abendsonne verlieh Faiths seidiger Mähne einen feurigen Schimmer, der Mels dunkelbraunen Locken gefehlt hatte.

Mit einer Geste, die ihre gegenwärtige Verlegenheit unterstrich, fuhr sie sich ordnend durch die kastanienbraunen Massen. Es folgte ein befangenes Räuspern. „Es hat mich wirklich gefreut, dich wiederzusehen, Reese. Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es dir gut geht. Du willst jetzt sicher allein sein.“

Ihr bemühtes Lächeln traf mich mitten ins Herz, und mir wurde klar, dass ich sie nicht gehen lassen wollte. Unter gar keinen Umständen. Wie im Traum sah ich meine Hand, die sich auf ihre Schulter legte, als sie sich von mir abwandte.

„Bleib …“, bat ich mit rauer Stimme, „du störst überhaupt nicht.“

Das schien sie zu überraschen. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet.

„Wenn du meinst“, antwortete sie zurückhaltend.

Ich merkte, wie sehr sie sich freute und wie sie ihren Platz neben mir einnahm, sobald ich mich dem Grab zuwandte. Gott, es fühlte sich an, als würde sie genau da hingehören. An meine Seite.

Starr fixierte ich die steinerne Platte, unter der Melody lag. Statt an alte Zeiten zu denken, wie ich es sonst zu tun pflegte, konnte ich mich heute überhaupt nicht auf die Vergangenheit einlassen. Laufend ertappte ich mich dabei, wie ich verstohlen zu Faith herüberschaute. Sie wirkte wie ein Magnet auf mich, und je länger ich ihr Profil betrachtete, umso schwerer fiel es mir, meine Finger bei mir zu behalten. Der verlockende Schwung ihrer Lippen machte mich wahnsinnig …

Plötzlich wandte sie den Kopf und wurde rot, weil ich sie so hemmungslos angaffte. Ich versuchte, damit aufzuhören. Es gelang mir nur bedingt. Der Drang, sie anzusehen, war wie Atmen. Einfach nicht aufzuhalten …

„Sie fehlt dir immer noch, nicht wahr?“

Ihre Frage kam nicht unerwartet. Meine Anwesenheit hier sprach ja Bände. Welcher andere Mann würde zehn Jahre nach dem Tod seiner alten Liebe noch ihr Grab besuchen? Die waren sicher dünn gesät.

„Ja. Sie fehlt mir unwahrscheinlich … immer noch.“ Das gab ich ohne Zögern zu. Wozu leugnen?

„Ich vermisse sie auch sehr“, flüsterte sie und ich musste lächeln.

Das glaubte ich ihr aufs Wort. Ihre unbefangene Ehrlichkeit machte sie nur noch liebenswerter in meinen Augen. Je länger ich mich in Faiths Nähe aufhielt, umso schneller erlag ich ihren Reizen. Ich fühlte mich auf eine Weise von ihr angezogen, die ich nicht erklären konnte.

„Hast du ein Problem wegen meiner Ähnlichkeit mit ihr?“, fragte sie unvermittelt und damit erwischte sie mich an meinem wunden Punkt.

Meine allererste Reaktion auf ihren Anblick war ihr sicher nicht verborgen geblieben. Dieser kurze Atemaussetzer, ausgelöst durch den Wunsch, Melody möge von den Toten auferstanden sein, und dann die bittere Erkenntnis, dass mir mein Gehirn einen Streich gespielt hatte. Ich kam mir in Faiths Gegenwart vor wie ein unbeholfener Trottel. Dabei war ich ein weltgewandter Mann, der mitten im Leben stand, und kein dummer Junge mehr. Trotzdem verdrehte sie mir den Kopf, ohne sich sonderlich anstrengen zu müssen. Sie sah mich aus diesen riesigen braunen Augen an, das rötlich glänzende Haar wehte ihr sanft ins Gesicht, sodass sie es sich ständig nach hinten streichen musste. Meine Finger zuckten, weil ich das gerne gemacht hätte.

Ich schluckte, bevor ich ihr antwortete. „Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich tatsächlich geglaubt, sie wäre wieder da, bevor mein Verstand anfing, normal zu arbeiten“, erklärte ich und lächelte entschuldigend. „Aber du musst dir keine Sorgen machen. Wenn ich dich ansehe, dann sehe ich nicht Mel in dir.“

Ihr entwich ein zittriger Atemzug, sie wirkte ungemein erleichtert. „Gott sei Dank!“

„Wieso fragst du?“

Faith biss sich auf der Unterlippe herum. Ein Anblick, der mir höchst unanständige Fantasien bescherte.

„Tante Melissa will mich nicht mehr sehen“, gestand sie schließlich. „Weil ich sie so sehr an Melody erinnere. Sie hat mir mal an den Kopf geworfen, sie wünschte, ich wäre tot und nicht ihre Tochter. Sie hat es sicher nicht wirklich böse gemeint, aber da sie meinen Anblick nicht ertragen kann, dachte ich …“

Ihr brach die Stimme, also beendete ich den Satz für sie. „Da dachtest du, mir würde es genauso ergehen.“

Sie nickte kläglich und in mir keimte fürchterliche Wut auf Melissa. Meine Fast-Schwiegermutter besaß das Feingefühl eines Elefanten im Porzellanladen. Wie konnte sie ihre Trauer auf Faith abwälzen und dem Mädchen ein schlechtes Gewissen einreden, weil sie am Leben war und Melody nicht? Nicht mal ich wäre auf so eine hirnverbrannte Idee gekommen.

„Faith, was sie da gesagt hat, ist dumm und ungerecht. Niemand kann uns Melody zurückbringen, und was Melissa angeht … vergiss sie. Wenn sie dich nicht mehr sehen will, ist das ihr Verlust, nicht deiner.“

Endlich schlich sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. „Ich bin so froh, dass du das so siehst“, flüsterte sie.

In meinem Brustkorb wurde es eng. Sogar mein Magen zog sich zusammen, sobald ich in dieses zauberhafte Gesicht blickte. Kein unangenehmes Gefühl, es erinnerte mich an die erste Verliebtheit mit Melody, an dieses sanfte Kribbeln, das sich dann durch meinen ganzen Körper zog. Der erste Blickkontakt, das erste Treffen, der erste Kuss. All diese verwirrenden Gefühle, die innerhalb von Sekunden mein ganzes Leben verändert hatten.

Auch bei Nanette spürte ich anfangs dieses leise Erwachen der Gier, nur nicht in dieser ausgeprägten Intensität, die Faith gerade in mir freisetzte. Ihre Anwesenheit weckte Erinnerungen an früher, aber auch die Sehnsucht danach, wieder ein ähnliches Glück wie mit Melody zu erleben. Ich begriff, dass ich meinen Alltag in den letzten Jahren nur mit angezogener Handbremse bewältigt hatte. Faith weckte das Verlangen, wieder Gas zu geben. Vielleicht sogar mit ihr zusammen …

Hör auf mit dem Scheiß. Du bist fünfunddreißig Jahre alt, also benimm dich gefälligst auch so. Die Kleine ist viel zu jung für dich.

Diese innerliche Ermahnung kam zur richtigen Zeit. Ich wandte den Blick von ihrem Gesicht ab und richtete ihn auf die harte, abweisende Marmorplatte, die Melodys Grab bedeckte.

Wir schwiegen, jeder hing seinen Gedanken nach, bis ich merkte, dass am Horizont langsam die Sonne unterging. Es wurde früh dunkel um diese Jahreszeit. Es wurde Zeit zu gehen.

„Wir müssen los“, sagte ich sanft.

Faith nickte und warf einen beiläufigen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Oh Gott, schon so spät?!“, rief sie aus. „Ich muss zum Bus, sonst kann ich am Ende nach Hause laufen.“ Dann besann sie sich ihrer Manieren und schenkte mir ein Lächeln. „Es hat mich unglaublich gefreut, dich mal wieder zu sehen, Reese. Du hast keine Ahnung, was mir das bedeutet.“

Sie streckte mir die Hand zum Abschied entgegen, ich ignorierte diese Geste.

„Du willst wirklich den Bus nehmen?“, fragte ich stattdessen.

„Ja, natürlich. Es ist ein übliches Fortbewegungsmittel für Leute ohne Auto“, antwortete sie scherzhaft und lächelte mich so lieb an, dass ich für einen kurzen Augenblick den Faden verlor. Nach wenigen Sekunden hatte ich mich wieder im Griff und schüttelte energisch den Kopf.

„Kommt gar nicht infrage! Du wirst nicht den Bus nehmen.“

Ihre feinen Augenbrauen kletterten ein kleines Stück nach oben. „Und wie soll ich dann deiner Meinung nach heimkommen?“

Meine Finger zogen den Schlüssel des Mercedes aus meiner Manteltasche. Mit einem frechen Grinsen ließ ich ihn vor ihrer niedlichen Stupsnase baumeln.

„Weißt du, ich habe es tatsächlich so weit gebracht, mir ein Auto leisten zu können. Ich fahre dich selbstverständlich.“

Faith neigte den Kopf, mir schwante Böses.

„Ich weiß nicht, ob ich dieses großzügige Angebot annehmen kann", sagte sie ganz ernsthaft, in ihren wunderschönen Augen funkelte der Schalk.

Ich hätte nicht fragen sollen, konnte es mir dennoch nicht verkneifen. „Und wieso nicht?“

„Na ja, meine Mutter hat mich eindringlich davor gewarnt, zu älteren Männern ins Auto zu steigen“, erklärte sie völlig unverfroren.

Okay, mit Anlauf in die Falle getappt. So ein freches Luder! Mich als alten Mann zu bezeichnen …

„Das hat jetzt wirklich wehgetan!“, antwortete ich gespielt gekränkt, hielt ihr aber trotzdem meinen Ellenbogen hin. Lachend hakte sie sich bei mir unter und schenkte mir ein Lächeln, das mich förmlich umwarf.

„Entschuldige, ich konnte einfach nicht widerstehen. Ich fahre natürlich gerne mit dir, falls es dir keine Umstände bereitet.“

Sie hatte etwas an sich, das mich vollkommen wehrlos machte. Ein erwachsener Mann mit nicht unbeträchtlicher sexueller Erfahrung und jeder Menge Selbstbewusstsein im Leben und im Beruf wurde bezwungen von einer zwanzig Jahre alten Schönheit. Ich wollte sie am liebsten packen und …

Stopp! Hör auf mit diesem Mist, schalt ich mich, wusste aber jetzt schon, wie nutzlos solche Ratschläge waren. Faiths bloße Gegenwart erschien mir wie ein wärmender Sonnenstrahl in einer Eiswüste. Die Kälte wich zurück, das Eis schmolz und ich steckte in gewaltigen Schwierigkeiten, weil ich in diesem See aus widersprüchlichen Gefühlen zu ertrinken drohte. Und noch etwas Merkwürdiges passierte. Faiths Gesellschaft ließ meine Trauer um Melody verblassen. Selbst hier, direkt vor ihrem Grab, rückten die Erinnerungen an sie in den Hintergrund.

„Lass uns gehen“, murmelte ich.

Bevor ich diesen Ort gemeinsam mit Faith hinter mir ließ, drehte ich mich noch mal um und legte eine Handfläche auf den Gedenkstein. „Wir sehen uns nächstes Jahr“, flüsterte ich, damit Faith es nicht verstehen konnte. Stumm bat ich Melody um Vergebung wegen der Leichtigkeit, die mich im Moment erfüllte. War es denn so falsch, noch ein paar nette Minuten in der Gesellschaft einer jungen Frau zu verbringen, der ich mich nahe fühlte und die dafür sorgte, dass dieser furchtbare Tag seinen Schrecken verlor?

Es ist nichts dabei, beschloss ich für mich und führte Faith zu meinem Wagen.

Kapitel 3 Reese

Faith wurde nach unserem Wiedersehen zu einem festen Bestandteil meines Lebens. Wir trafen uns, sooft es unsere Zeit zuließ, und zum ersten Mal überhaupt in meinem Leben fand ich es extrem lästig, beruflich so stark eingebunden zu sein. Ich hätte meine Zeit lieber mit Faith verbracht. Um diesem Drängen in ausreichendem Maße nachzugehen, beendete ich meine sexuelle Beziehung zu Nanette. Ich konnte nicht auf verschiedenen Hochzeiten tanzen, und da ich mich nun einmal nicht klonen konnte, zog Nan den Kürzeren. Faith dominierte alle meine Gedanken, da blieb nicht mehr viel für meine Exfrau übrig.

Sie nahm es überraschend gelassen auf, auch wenn ich spüren konnte, wie sehr es sie verletzte, schon wieder abserviert zu werden. Es tat mir wahnsinnig leid, und ich schwor mir, sie niemals wieder als Zeitvertreib zu benutzen.

Obwohl meine Verbundenheit zu Faith täglich wuchs, wollte ich dennoch auf keine Minute in ihrer Gesellschaft verzichten. Jede Stunde ohne sie hielt ich für verschwendete Zeit. Wenn wir uns nicht sehen konnten, fehlten mir ihr herzliches Lächeln, ihr erfrischender Optimismus und ihre Natürlichkeit. Gleichzeitig stieg die körperliche Spannung zwischen uns. Meine Fantasien entwickelten ein Eigenleben, wurden immer konkreter und aufreizender. Schon bald träumte ich jede Nacht davon, sie zu küssen und ihren nackten Körper unter meinen Händen zu fühlen. Faith wurde zum Hauptbestandteil meiner erotischen Wunschträume und ich wachte fast jeden Morgen mit einer Erektion auf. Ich kam mir langsam vor wie ein Teenager, der gerade dabei war, seine ersten Erfahrungen mit der Frauenwelt zu machen, und immer mit gespannter Hose herumlief. Es wurde täglich schlimmer, doch unsere gemeinsame Vergangenheit hielt mich davon ab, mich ihr zu nähern. Unsere Treffen blieben streng platonisch, obwohl ich nicht übersehen konnte, wie sehr sie mich ebenfalls begehrte. Mir waren ihre sehnsüchtigen Blicke keineswegs entgangen. Aus diesem Grund fiel es mir doppelt schwer, sie nicht einfach zu verführen.

Ein weiterer Faktor, der mich zögern ließ, war unserem Altersunterschied geschuldet. Beinahe sechzehn Jahre. Himmel, biologisch betrachtet hätte ich ihr Vater sein können. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen, die Unterschiede würden nach dem ersten Rausch immer stärker in den Vordergrund treten. Schon beim Thema Musik drifteten unsere Vorlieben meilenweit auseinander. Wenn sie neben mir im Wagen saß und Songs aus den aktuellen Charts mitsang – alles Titel, bei denen sich mir die Nackenhaare sträubten – spürte ich jedes verfluchte Jahr, das uns voneinander trennte. Also hielt ich mich in sexueller Hinsicht zurück und begnügte mich weiterhin mit der platonischen Variante unserer Freundschaft, weil ich mich nicht dazu durchringen konnte, die Verabredungen mit ihr einzustellen. Sie tat mir zu gut. In ihrer Gesellschaft dachte ich nie an Melody. Da gab es keinen Schmerz und keine Trauer mehr, kein „Was wäre gewesen, wenn sie damals überlebt hätte“, sondern nur spontane Fröhlichkeit und Spaß. Das immer stärker werdende sexuelle Verlangen nach ihr unterdrückte ich einfach, weil ich dieses neue Lebensgefühl nicht missen wollte.

Heute stand Kino auf dem Plan. Ursprünglich sollte ich Faith in der Klinik abholen, da ich aber noch im Büro festhing, hatte ich ihr vorgeschlagen, hier vorbeizukommen, damit wir nicht unnötig Zeit verloren. Während eines Telefonats mit einem zukünftigen Mandanten hörte ich ihre Stimme aus meinem Vorzimmer. Sie unterhielt sich mit Phyllis, die in groben Zügen über meine Vergangenheit mit Faith informiert war und einen regelrechten Narren an ihr gefressen hatte, seit sich die beiden kennengelernt hatten. Mittlerweile bereute ich es fast, sie einander vorgestellt zu haben. Seither nervte mich meine übereifrige Sekretärin ständig mit blöden Bemerkungen über den Liebreiz der Jugend und erfahrene Männer. Wäre sie für mich nicht so unersetzlich gewesen, hätte ich Phyllis dafür in hohem Bogen rausgeschmissen. Während die beiden draußen plauderten, konnte ich mich kaum noch auf mein eigenes Gespräch konzentrieren. Endlich hatte ich alles Notwendige geklärt und legte auf, um ohne weitere Verzögerung nach nebenan zu gehen. Die beiden hörten mich nicht kommen, und ich konnte Faiths Anblick genießen, während sie sich unbeobachtet wähnte. Es war nicht okay, sie mit meinen Blicken zu verschlingen, aber verflucht … sie war einfach zu süß, zu anziehend, um es nicht zu tun.

Faith saß mit ihrem Hintern auf dem Rand von Phyllis’ Schreibtisch. Sie trug schlichte dunkelblaue Jeans und einen flauschigen hellblauen Pullover mit V-Ausschnitt, der eng an ihrem Oberkörper anlag. Eigentlich kein besonders aufregendes Outfit, genau richtig fürs Kino, doch bei ihrer Wahnsinnsfigur hätte sie auch einen unförmigen Kartoffelsack anziehen und mir den Atem rauben können. Ihr braunes Haar trug sie lässig hochgesteckt, ein paar einzelne Strähnen umrahmten ihr hübsches Gesicht mit den rosa Lippen. Ihr biegsamer Hals lag frei, die durchscheinend blasse Haut schimmerte einladend. Faith strahlte zurückhaltenden Sex-Appeal aus und mir stockte bei ihrem Anblick nicht zum ersten Mal der Atem. Ich musste bei dem Versuch, ein sehnsüchtiges Aufstöhnen zu unterdrücken, ein Geräusch verursacht haben, denn die beiden wandten gleichzeitig die Köpfe in meine Richtung. Faiths Wangen röteten sich, sobald ihr Blick auf meinen traf. Es war Phyllis, die zuerst etwas sagte.

„Ah, da ist er ja! Sehen Sie, ich habe Ihnen gesagt, es wird nicht lange dauern.“

Räuspernd versuchte ich, meine Anspannung loszuwerden, und lächelte charmant.

„Sieh mal einer an. Welch jugendlicher Glanz in meinem Büro“, sagte ich flirtend. „Wie komme ich zu der Ehre?“

Faiths dunkle Augen strahlten mich an. Ich musste mich schwer zusammenreißen, um meinen unverbindlichen Gesichtsausdruck nicht zu verlieren, als sie mir antwortete.

„Oh, ich habe heute ein Date mit einem ziemlich attraktiven Anwalt.“ Sie warf mir einen eindeutig koketten Blick zu. „Ich konnte ihn dazu überreden, mit mir ins Kino zu gehen.“

„Kino mit einer Frau“, murmelte ich kopfschüttelnd und unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen. „Wie überaus mutig“, ergänzte ich.

Faiths Lippen zuckten. Sie dachte genau wie ich an das verbale Gerangel, bis wir uns auf einen Film festgelegt hatten. Leider nicht zu meinen Gunsten. Es war ihr gelungen, mich weichzukochen. Wir würden wir uns „Ein ganzes halbes Jahr“ zu Gemüte führen. Ein Film, den ich mir unter normalen Umständen niemals angesehen hätte. Ich fuhr eher auf gute Politthriller oder Actionfilme ab, irgendwas Männliches eben. Mich einen Abend lang mit der Verfilmung eines Frauenromans foltern zu lassen, entsprach nicht meiner Vorstellung von guter Unterhaltung. Nicht mal Melody hatte es geschafft, mich in solche Streifen zu schleppen. Wie es Faith gelungen war, mich dazu zu überreden, konnte ich mir immer noch nicht logisch erklären. Nachdem ich einmal zugesagt hatte, konnte ich keinen Rückzieher mehr machen, ohne mein Gesicht zu verlieren oder sie zu enttäuschen. Letzteres wollte ich auf gar keinen Fall. Vielleicht konnte ich ja heimlich meine Kopfhörer aufsetzen und Musik hören …

Faiths melodische Stimme nahm mich wieder gefangen. „Ja, ich werde dich mit dieser fürchterlich traurigen Liebesschnulze quälen und hoffen, dass du danach noch mit mir redest.“

Wenn sie sich so zwanglos und keck gab, konnte ich ihr erst recht nicht widerstehen, also schlug ich einen ähnlich lockeren Tonfall an.

„Dann solltest du hoffen, dass ich ein Gemüt aus Teflon besitze und den Abend ohne nennenswerte Folgen überstehe“, antwortete ich gutmütig und wurde mit einem noch breiteren Lächeln belohnt. Ich konnte mich nicht davon abhalten, Faiths volle Lippen zu fixieren. Sie sahen so unfassbar weich aus. Meine Finger zuckten, weil ich die Hand heben und sie mit den Fingerspitzen berühren wollte.

„Ich sorge dafür, dass du es überlebst“, meinte sie leichthin und rutschte von der Tischkante. Sie kam auf mich zugelaufen. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass mich ihr zurückhaltender Hüftschwung wahnsinnig machte?

Ich unterdrückte den Impuls zurückzuweichen, als mir eine Welle reiner sexueller Begierde entgegenschlug. Ich spürte die intensive körperliche Anziehung zwischen uns mit jedem Meter, den sie zurücklegte, noch intensiver. Heute war es schlimmer als sonst, wie ich besorgt feststellen musste. Dennoch ließ ich zu, dass sie sich bei mir unterhakte. Mit leicht zurückgebogenem Kopf blickte sie zu mir auf. „Also, wie sieht’s aus? Bist du soweit?“

„Ready when you are“, imitierte ich Simon Cowell und griff automatisch nach Faiths zarten Fingern, die sich auf Höhe meines Ellenbogens in den Stoff meines dunklen Jacketts bohrten. Phyllis tat so, als würde sie geschäftig irgendwelche Unterlagen ordnen. An ihrer Haltung erkannte man, dass sie trotzdem aufmerksam zuhörte. Ihr gefiel es, dass Faith mein Leben auf den Kopf stellte. Sie hielt das Auftauchen von Melodys Cousine für einen Wink des Schicksals und lag mir ständig damit in den Ohren, dass man sein Glück beim Schopf packen musste, bevor es zu spät war. Jetzt drehte sie den Kopf und musterte mich eindringlich. Dabei ruhte ihr Blick bedeutungsvoll auf unseren ineinander verschlungenen Fingern. Unschwer zu erkennen, mit welchem Wohlwollen sie diese recht intime Geste aufnahm und wie sehr sie sich wünschte, ich würde endlich einen Schritt weitergehen. Sah sie denn nicht, dass es in einer Katastrophe enden würde? So wie all meine anderen Beziehungen. Räuspernd versuchte ich, meinen Ärger über Phyllis stumme Einmischung auszublenden. Sie hatte mit den Jahren unserer Zusammenarbeit den Part einer mütterlichen Freundin eingenommen und wollte nur mein Bestes, doch ich hasste allein den Gedanken daran, dass eine andere Frau Melodys Platz in meinem Herzen einnehmen könnte. Faith war auf dem besten Weg dazu, trotz der bislang rein platonischen Freundschaft, und das jagte mir eine Heidenangst ein. Ein Teil von mir lebte seit Melodys Tod in ständiger Dunkelheit, und ich wollte nicht riskieren, Faith unglücklich zu machen, nur, weil ich mich nach der Sonne sehnte.

Ich entschied mich, ganz locker zu bleiben, und kniff Faith in die Wange. So, wie es ein lieber Onkel bei einer Nichte getan hätte. Dabei fing ich Phyllis Blick auf und amüsierte mich insgeheim über das lange Gesicht, das sie bei meiner eher väterlichen Geste zog.

Geschieht dir recht, du alte Kupplerin, dachte ich schadenfroh und zwinkerte Faith zu.

„Wenn wir uns beeilen, schaffen wir noch die erste Vorstellung.“

„Klasse, ich freu mich so“, flüsterte sie mir leise zu.

Ihre Wangen röteten sich zart. Ein wirklich bezaubernder Anblick. In meiner Brust machte sich eine mittlerweile vertraute Wärme breit. Meine Lippen verzogen sich ganz automatisch zu einem Lächeln. „Dann lass uns gehen.“

Drei Stunden später liefen wir durch die Londoner Innenstadt. Die Straßenlaternen und die hell beleuchteten Schaufensterauslagen sorgten dafür, dass die Umgebung trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit taghell wirkte. Also keine Chance für Faith, ihr verheultes Gesicht zu verstecken. Ganz offen amüsierte ich mich über ihren aufgelösten Zustand und reichte ihr auf dem Weg zu meinem Wagen ein Taschentuch, damit sie sich die Nase schnäuzen konnte.

„Hier, ich glaube, das kannst du brauchen.“

Sie warf mir unter ihren verklebten Wimpern einen leicht beleidigten Blick zu, nahm das Papiertuch aber an sich. „Also ehrlich, Reese. Ich finde es nicht sehr nett von dir, dass du mich auslachst“, beschwerte sie sich und zog die Nase kraus. „Hat dich der Film denn gar nicht berührt?“

Endlich erreichten wir die Tiefgarage, in der ich meinen Mercedes abgestellt hatte.

„Sagen wir mal so“, fing ich an und bezahlte nebenher die Gebühr fürs Parken. „Wenn alle Menschen, die ein solches Schicksal tragen, ihr Problem auf diese Weise lösen würden, stellt das den Wert des Lebens eines jeden Behinderten infrage. Lassen wir die romantische Liebesgeschichte mal außen vor und nehmen uns den Kern des Filmes vor. Für mich beinhaltet der Film eine Botschaft, die ich für sehr gefährlich halte. Es gibt durchaus Schwerbehinderte, die ihr Leben trotz Schmerzen und erheblichen Schwierigkeiten lieben.“

Erstaunt sah sie mich an und folgte mir in den Aufzug. Wir waren allein.

„Du hast natürlich recht, aber das ist immer eine Einzelfallentscheidung und zumindest in Bezug auf diesen Film empfinde ich das anders“, antwortete sie resolut und hob eine Spur trotzig den Kopf.

Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Faith diskutierte gern, was mir nicht wirklich etwas ausmachte. Ich respektierte ihre Sicht auf das Leben und versuchte, einige Dinge durch ihre Augen zu sehen. Mein eigener Blick wurde durch zu viele negative Erlebnisse verfälscht, deswegen fand ich ihren Optimismus und ihre Art, nicht alles so wahnsinnig kompliziert anzugehen, sehr bereichernd.

Die Türen öffneten sich und wir traten in die menschenleere Parkebene.

„Und wie genau siehst du das?“, fragte ich lässig und drückte die Fernbedienung des Wagens. Wir stiegen ein, schnallten uns an.

Sobald ich aus der Parkgarage fuhr, sprach sie weiter. „Du betrachtest das zu einseitig“, erklärte sie.

„Tatsächlich?“

Während ich mich in den fließenden Verkehr einreihte, warf ich ihr einen kurzen Seitenblick zu, ehe ich ihn wieder auf die Fahrbahn richtete.

„Ja“, fuhr sie fort. „Es gibt einen Unterschied zwischen wertvoll und lebenswert. Das meine ich. Natürlich ist jedes Leben wichtig und einzigartig, wenn aber ein Mensch für sich selbst entscheidet, dass das Leben eine Qual für ihn darstellt und andere Dinge … die Liebe zum Beispiel … das nicht mehr aufwiegen können, dann dürfen wir ihn nicht dafür verurteilen, wenn er eine Lösung sucht, die seine Qualen beendet. Wir sind Individuen, unsere Gefühle und unsere Wünsche sind nicht fremdgesteuert, wir entscheiden selbst, was wir wollen. Ich finde das wichtig und das sollte auch jedem erlaubt sein. Ich sehe in meinem Beruf immer wieder Menschen, für die es manchmal ein Segen wäre, wenn man sie einfach gehen lassen würde. Das Gesetz verhindert, dass sie so entscheiden können. Ich bin mir nicht sicher, ob das richtig ist.“

„Und wenn derjenige gar nicht mehr dazu in der Lage ist, das zu entscheiden?“, wandte ich ein und dachte an meine eigene Situation vor zehn Jahren zurück. Noch heute lief es mir eiskalt den Rücken runter. Nach Melodys Tod wäre ich ihr am liebsten gefolgt, ich sehnte mich danach, einfach alle Lichter auszuknipsen, nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu fühlen.

Es kam der Hölle auf Erden gleich, mit dem Wissen zu leben, Mel nicht mehr berühren, riechen und schmecken zu können. Nur meinem besten Freund George war es zu verdanken, dass ich damals meinem Leben kein Ende gesetzt hatte. Er ließ mich nicht aus den Augen, bis ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. Heute war ich froh darüber. Ich wollte leben, und ich fand es im Nachhinein erschreckend, wie schnell man in ein tiefes Loch fallen konnte, aus dem man ohne Hilfe nicht mehr hinausfand.

„Reese, die Ampel!“

Faiths Schrei brachte mich zur Besinnung. Ich bremste gerade noch rechtzeitig ab und sah sie entschuldigend an. Mit zitternden Fingern fuhr ich mir durchs Haar. „Verzeih mir, ich …“ Meine Stimme brach. Verfluchte Scheiße, vor lauter Nachdenken hätte ich uns beide um ein Haar in Lebensgefahr gebracht.

Faith wusste auch so, was los war. „Du hast an Melody gedacht, nicht wahr?“

Sie legte den Finger direkt auf die Wunde. Ich wollte dieses Thema heute Abend nicht weiter erörtern.

„Ja, und ich kenne den Unterschied zwischen wertvoll und lebenswert. Ich weiß, dass jeder sein Leben schätzen und es nicht grundlos wegwerfen sollte, allerdings gibt es Situationen, in denen man genau das nicht mehr schafft.“

„Dann kannst du die Entscheidung ein wenig nachvollziehen?“

Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis ich begriff, dass sie immer noch vom Film sprach.

Ich räusperte mich, ehe ich ihr antwortete. „Teilweise. Wenn ich einen Unfall hätte und meine Selbstständigkeit komplett einbüßen müsste, wäre es verdammt schwer, genug Lebenswillen aufzubringen, um jahrelang weiterzumachen. Trotzdem könnte ich niemals so entscheiden wie dieser Will im Film, weil ich im Gegensatz zu ihm genau weiß, wie es den Menschen ergeht, die zurückbleiben. Welchen Schmerz sie empfinden, welchen Verlust. Und weil es nie aufhört.“ Ich holte tief Luft. „Melody fehlt mir immer noch jeden verdammten Tag“, brach es dann aus mir heraus. „Manchmal wache ich morgens auf und wenn ich nicht richtig klar im Kopf bin, denke ich nicht daran, dass sie tot ist, und strecke die Hand nach ihrem warmen Körper aus. Der Platz ist leer und kalt, und mir wird klar, dass ich sie nie wiedersehen werde. Es ist, als würde ich sie immer wieder aufs Neue verlieren. Und das quält mich, obwohl ihr Tod schon zehn Jahre her ist.“ Faith schwieg betroffen, es herrschte eine unerträgliche Stille im Wagen, ehe sie zitternd ausatmete und auf die Ampel deutete. Hinter uns hupte bereits ein Auto.

„Es ist wieder grün“, teilte sie mir mit. Sie flüsterte, als hätte ihr meine ehrliche Antwort die Stimmkraft genommen.

Es war mir unangenehm, so viel über mich verraten zu haben oder vielmehr über den Schmerz, der nach wie vor in mir brannte. Eine ewige Flamme, die nie erlosch.

Mein Fuß senkte sich aufs Gaspedal, der Wagen glitt fast geräuschlos durch die nächtlichen Straßen, bis ich Balham im Londoner Westen erreichte. Das Bild dort wurde geprägt von hässlichen Sozialbauten, die aussahen wie menschliche Käfige. Dass Faith in einem solchen Ding wohnte, behagte mir nicht, ich äußerte mich aber nicht dazu, weil ich sie nicht in Verlegenheit bringen wollte. Als angehende Krankenschwester verdiente sie praktisch nichts, und da sie ihre Lebenshaltungskosten vom Erbe ihrer Großmutter bestritt, konnte sie sich sicher nichts Besseres leisten. London galt nicht umsonst als teures Pflaster. Hier eine bezahlbare Wohnung zu finden, glich fast einem Wunder, und wenn man über kein pralles Bankkonto verfügte und noch dazu allein durchs Leben ging, musste man sich wohl oder übel in einem der sozialen Brennpunkte der Stadt häuslich einrichten.

Ich parkte vor dem grauen Gebäudekomplex, anschließend stiegen wir aus. Sofort lief ich um den Wagen herum an ihre Seite. Ein paar Meter entfernt saßen einige Jugendliche, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alte Halbstarke, die uns neugierig beäugten.

„Ich bring dich noch nach oben“, sagte ich und hoffte, dass sich in der Zwischenzeit keiner von diesen Kerlen an meinem Wagen zu schaffen machte.

Offenbar konnte Faith mir meine Sorge am Gesicht ablesen. Sie lachte leise. „Hab keine Angst, die Jungs da drüben sind harmlos, auch wenn sie aussehen wie Schwerverbrecher.“

Insgeheim war ich davon überzeugt, dass zumindest ein Teil der Jugendlichen etwas auf dem Kerbholz hatte, doch da Faith ganz offensichtlich keine Angst vor ihnen hatte, verlor sich meine Sorge ein wenig.

„Dein Wort in Gottes Ohr“, murmelte ich.

Statt meine ironisch gemeinte Bemerkung zu kommentieren, nahm sie mich an der Hand. „Na komm, Herr Anwalt. Wenn du schon mal hier bist, bekommst du eine exklusive Führung durch mein persönliches Reich“, sagte sie fröhlich, ruderte dann aber sofort zurück. „Es sei denn, du bist zu müde oder hast noch was Anderes vor“, fügte sie hinzu.

Ihre Wimpern flatterten hektisch auf und ab, wie immer, wenn sie verlegen wurde. Mit der Ergänzung „anderes“ spielte sie auf eine Frau an. Ich sprach nicht mit ihr über mein Sexleben, sie wusste auch nichts von meiner Ehe mit Nan und erst recht nichts von meiner kürzlich beendeten Affäre mit ihr.

Ob ich ihr weismachen sollte, dass ich mich mit jemandem traf, um ihr jegliche Hoffnungen zu nehmen, aus uns könnte sich mehr entwickeln? Nein, das brachte ich einfach nicht über mich. Ein Blick in Faiths wunderhübsches Gesicht reichte und ich wusste, was ich in Wirklichkeit wollte.

„Lass uns raufgehen“, raunte ich mit kehliger Stimme. Zwischen uns herrschte wieder diese Spannung, die man fast mit den Händen greifen konnte. Mein Puls fing an zu rasen, und sobald mein Blick auf ihren sinnlichen Mund fiel, spürte ich ein vertrautes Ziehen in meinen Lenden.

Ich sollte gehen, jetzt sofort, bevor es zu spät ist, dachte ich noch und lief doch mit ihr auf den Hauseingang zu, betrat das Gebäude und befand mich nur wenige Minuten später in ihrer Wohnung. Ihr Zuhause war wirklich winzig, trotzdem fühlte ich mich sofort wohl. Die Einrichtung vermittelte heitere Gemütlichkeit. Helle Wände, eine Couch in Antiklederoptik und natürlich fehlten auch nicht der obligatorische Fernseher und eine kleine Musikanlage. Beides hatte sie in einem Mediaschrank untergebracht, der sich direkt neben einem gut gefüllten Bücherregal befand.

„Schön hast du es hier“, lobte ich.

Faith stand neben mir, sie machte einen leicht eingeschüchterten Eindruck auf mich und spielte nervös mit ihren Fingern.

„Danke, du bist sicher eine luxuriösere Umgebung gewohnt, aber es gefällt mir hier. Es ist schön, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen, und ich kann endlich tun und lassen, was ich will“, antwortete sie mit frisch erwachendem Selbstbewusstsein.

Die Bemerkung ließ vermuten, dass ihre Mum sie ziemlich rumkommandiert hatte. Ich konnte an einer Hand abzählen, wie oft die Frau mir damals begegnet war, und kannte sie nur flüchtig. Schon die wenigen Treffen hatten ausgereicht, um mir ein Bild von ihrer eindeutig herrschsüchtigen Ader zu machen. Kein Wunder, dass Faith ihre Freiheit genoss.

„Ich mag es“, versicherte ich ihr und lächelte leicht. „Um ehrlich zu sein, sieht es hier mehr nach einem Zuhause aus als in meinem Apartment. Ich verbringe die meiste Zeit im Büro. Wahrscheinlich wäre es praktischer, mir dauerhaft eine Suite in einem Hotel zu mieten, weil ich ohnehin nur zum Schlafen heimkomme, aber ich brauche einfach meine Privatsphäre.“

Ein wenig betreten standen wir uns nun gegenüber. Normalerweise hatte ich keine Probleme im Umgang mit Frauen, doch diese ungewöhnliche Situation brachte auch mich an meine Grenzen. Verzweifelt suchte ich nach einem Aufhänger für ein möglichst ungefährliches Gesprächsthema. Eines, das mich nicht ständig daran denken ließ, wie einfach es wäre, meinem Verlangen nachzugeben, und sie auf diese mokkafarbene Couch zu werfen.

Darauf lagen ungefähr ein Dutzend kleiner Zierkissen in verschiedenen Braunschattierungen, alle etwas heller als die Tönung des gemütlichen Sofas. Ein elfenbeinfarbener Teppich befand sich darunter.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739491608
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Liebesroman Älterer Mann mit jüngerer Frau Age-Gap Romantik Zweite Chance Romanze

Autor

  • Vivian Hall (Autor:in)

Vivian Hall lebt mit ihrer Familie im Süden Deutschlands und schreibt romantisch-sinnliche Liebesromane.
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Titel: Beloved Memory: Ich gehöre nur dir