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Die Revolution von Fräulein Mindermann

Biografischer Roman

von Truxi Knierim (Autor:in) Kathrin Brückmann (Andere)
239 Seiten

Zusammenfassung

Schon als Kind lehnt sich Handwerkertochter Marie gegen die eng gesetzten Grenzen auf, die ihr als Mädchen im frühen 19. Jahrhundert gesetzt sind. Entgegen dem Wunsch des Vaters schlägt sie gute Partien aus und eignet sich heimlich Bildung an. Sie beginnt zu schreiben und zu dichten. Als die Europäische Revolution 1848 auch nach Bremen kommt, hofft Marie, endlich aus dem engen Korsett ausbrechen zu können, das die Gesellschaft ihr als Frau setzt. Doch die Revolution scheint auch nur eine Männersache zu sein. Marie beginnt zu kämpfen, für die Demokratie, für sich und für alle Frauen. Überarbeitete Ausgabe in neuer Rechtschreibung mit erweitertem Glossar.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorbemerkung


Liebe Leser,


Marie Mindermann war eine Heimatdichterin, die ihre Gedichte oftmals in niederdeutscher Sprache verfasst hat. Einige davon sind den Kapiteln dieses Buchs vorangestellt. Leider habe ich keine Übersetzung ins Hochdeutsche dazu finden können – vielleicht ist es auch ganz gut so. Das meiste lässt sich auch so verstehen, in jedem Fall das Versmaß genießen.

Sonstige Zitate aus Zeitungen und Zeitschriften sind in originaler Schreibweise wiedergegeben.

Am Ende des Buchs findet sich ein Glossar, in dem heute ungebräuchliche Begriffe oder Ausdrücke in Bremer Mundart erklärt sind, außerdem eine Liste von Marie Mindermanns Veröffentlichungen und eine Liste mit weiterführender Literatur.

Ich wünsche viel Freude beim Lesen und würde mich freuen, wenn Sie Ihren Leseeindruck in Form einer Rezension mit anderen teilen.


Berlin im Januar 2018, Kathrin Brückmann, Herausgeberin

Kapitel 1 – Frühjahr 1852


De plattdütsche Sprake

An de hochdütschen Lüde


Jü ehrt min rike Swester hoch,

Un set’t er baben an den Disch;

Jü seggt: »Wi hebbt an er genog,

Ga du na Braken, Moor un Wisch!«


Ik wet et wol, min Kled is arm,

Et hett keen Slep, et hett keen Smuck;

Min Harte abers, dat is warm,

Is ahne Falsch, un kennt keen Tuck.


Min rike Swester gunn ik geern

Alläberall de beste Ste’;

Man ik moch sin er nich to feern,

Een Mutter jo ant Hart us le!


Wrum scholl ik nu so wit hinut?

Kikt Jü denn blot upt fine Kleed? –

Van Harten kumt us beid’ de Lut,

Un beide föhlt wi Freid’ un Leed.


Un wenn wi use Leder singt

Un sprekt up use egen Wis’, –

Ik meen, dat beides hartlig klingt,

Winnst sunst min Swester ok den Pris. –


So latet us bi’nanner gan,

Se – Eddelfro, ik – borgerlich;

Lat’t mi nich ganz torugge stan, –

Ik bidde Jo, verget’t mi nich!


Marie Mindermann



Sie fröstelte. Mit nacktem Oberkörper stand sie in dem ungeheizten Zimmer am Waschtisch, tauchte den Lappen ins Wasser, wrang ihn aus und fuhr rasch über Arme, Hals und Brust. Den Unterleib wusch sie nicht. Doktor Meyer meinte zwar, das sei gesund, aber darüber gab es verschiedene Ansichten, auch zu der Frage, ob eine Frau Unterhosen tragen sollte. Sie hatte zeitlebens keine besessen und sah nicht ein, nun, mit vierundvierzig Jahren, für derartigen Luxus Geld auszugeben, da kaufte sie lieber Papier und Schreibfedern aus englischem Stahl.

Sie rieb sich trocken, schlüpfte in ein steifleinenes Hemd, in das feine dunkle Wollkleid und legte den Kragen aus Brüsseler Spitze um. Dann noch die Ohrringe, dunkelrote Granathänger, die die Mutter bereits getragen hatte. Sie prüfte sich in dem kleinen Spiegel, der über dem Waschtisch hing. Blassblaue Augen, dünne Brauen, die Stirn zu hoch und das Kinn zu energisch. Wenn Caroline sie gleich frisieren würde, sollte sie ein paar Korkenzieherlocken in das Schläfenhaar brennen, das sah gefälliger aus.

»Marie, beeil dich. In einer halben Stunde kommt der Wagen!«, rief die Freundin aus der Küche.

Nur noch eine halbe Stunde. Sie trug das seifige Waschwasser hinunter auf die Straße und kippte es in die Gosse, wo es sich mit den säuerlich riechenden Abwässern der Nachbarn vereinigte und träge davonsickerte.

Nachdem Caroline sie in der Küche frisiert hatte, reichte sie ihr ein Paar Handschuhe. »Zieh die an, Marie. Eine Dame zeigt nicht ihre Hände.«

In diesem Moment hörten sie den Wagen rumpeln. Hastig warf sie das Umschlagtuch über die Schultern und griff den Aktendeckel mit den Manuskripten.

»Lies langsam!«, riet Caroline.


Der livrierte Kutscher half Marie in das Coupé der Familie Scharrenhusen. Außen auf der Tür das Familienwappen, innen tannengrüne Samtpolster, moosgrüne Moirévorhänge, Geruch nach Juchten, nach Familientradition und altem Geld.

Im Grunde genommen war es ein kurzer Weg zu den Scharrenhusens, Marie hätte ihn gut zu Fuß machen können, wie so häufig, wenn sie in die Altstadt ging, nein, es war nicht weit. Das Herrenhaus befand sich am Altenwall. Ein schmiedeeiserner Balkon, von zwei Säulen getragen, hohe Räume mit stuckverzierten Decken, in der Ecke ein Ofen aus italienischen Fayencen, in schwarzen Rahmen Scherenschnitte mit Kinderprofilen. Und dennoch war es ein weiter Weg, wenn man aus einem Handwerkerhaus stammte.

Ihre Freundin Caroline hatte ihr die Einladung verschafft.

»Marie«, hatte sie kürzlich gesagt, »es reicht nicht, dass du ab und zu für ein paar Taler ein Gedicht im Bürgerfreund veröffentlichst. Du musst dir einen Namen machen. Klappern gehört zum Geschäft! Wer soll deine Gedichte kaufen, wenn sie keiner kennt? Außerdem – Frau Scharrenhusen hat eine vorzügliche Köchin. Du wirst die besten Kuchen und Torten essen. Ich beneide dich.«

»Ich mag nicht.«

»Ich mag nicht, ich mag nicht!«, wiederholte Caroline ungeduldig. »Nach Mögen wird nicht gefragt! Frau Scharrenhusen hat einige Damen der Bremer Gesellschaft eingeladen: Frau Neubrück, Frau Haase, Fräulein von Katenkampp …«

Gerade die Namen waren es, die Marie Unbehagen verursachten. Fräulein von Katenkampp … Etwa Fräulein von Katenkampp mit Doppel-P? Konrads Schwester? Erinnerungen kamen hoch …


Marie, schreib diese Rechnung in Schönschrift ab und bring sie zu von Katenkamps in die Martinistraße, sagt der Vater. Zu etwas muss deine Schreiberei ja gut sein.

Marie hat die schönste Schrift von den Schwestern, sie ist elf Jahre alt, die Jüngste. Sie sitzt am Küchentisch, vor sich ein weißes Blatt Papier, Tintenfass und Sandstreubüchse, in der Hand einen frisch angeschnittenen Federkiel, vorsichtig, nicht klecksen.

Sehr verehrter Herr, schreibt Marie und dann hält sie inne und denkt nach. Nein, sie wird nicht einfach eine Rechnung schreiben, sie wird ein Gedicht daraus machen.

Wohlgeborener Herr. Was reimt sich auf Herr? Quer, sehr, mehr, schwer – aber das sind keine echten Reimwörter.

Es geht anders. Wohlgeborener Herr von Katenkamp! Hoffentlich macht es keine Qualen – Mir die Rechnung zu bezahlen – Ich habe geschafft – Mit meiner Kraft – Kaufte voll Stolz – Für Sie gutes Holz – Das kostet dreizehn Taler … Taler … was reimt sich auf Taler? – Maler? Nein … Das kostet … Das kostet dreizehn Gulden – Die Sie mir nun schulden. –

Fertig. Eine schöne Rechnung. Sand darübergestreut und weggepustet. So etwas hat Herr von Katenkamp noch nie erhalten. Sie faltet das Papier und läuft in die Martinistraße, das ist nicht weit.

Hohe Häuser, Packhäuser, Kontore, sie sucht, und schließlich findet sie ein Haus mit Messingschild, von Katenkampp, Dienstboten bitte den Seiteneingang benutzen, und sie weiß nicht genau, ob sie eine Dienstbotin ist, denn sie ist weder Wäscherin noch Köchin noch eine Kohlhökersche.

Beherzt öffnet sie die Vordertür, ein Glockengeläut ertönt, eine kleine Melodie, dann steht sie im Halbdunkel des Flurs und sieht sich verstohlen um. Alte Männer mit Halskrausen schauen ernst und wichtig aus goldenen Rahmen auf sie herab. Was willst du?, fragt eine Frau, und Marie zuckt zusammen, weil sie die Frau nicht hat kommen hören. Eine feine Dame mit einer weißen Spitzenhaube auf dem Kopf und Ringen an den weißen Händen. Sie riecht vornehm. Wortlos reicht Marie ihr den Brief, die Frau entfaltet ihn, liest. Gefällt ihr das Gedicht? Vielleicht hätte Marie doch eine richtige Rechnung schreiben sollen. Da lächelt die Frau und fragt: Bist du die kleine Mindermann?

Marie nickt.

Hast du das gedichtet?

Wieder nickt sie.

Du bist ja eine richtige Künstlerin, sagt die Frau, und was für eine schöne Schrift du hast! Da können selbst meine Kinder noch von dir lernen.

Marie errötet über das Lob.

Du musst den Brief allerdings ins Kontor bringen, hier ist unser Privathaus. Ach, und einen kleinen Fehler hast du gemacht. Wir schreiben uns mit Doppel-P. Darin unterscheiden wir uns von den einfachen Katenkamps.

Marie bringt kein einziges Wort heraus. Katenkampp mit Doppel-P, denkt sie. Ja, das sind ganz andere Leute als die Nachbarn in der Ostertorstraße, die einfachen Katenkamps, wo die Frau keine Zähne mehr im Maul hat. Diese Dame wird immer Zähne haben.

Die Frau ruft: Konrad, bring mal die kleine Mindermann ins Kontor.

Ein Mädchen kommt auf den Flur gelaufen, etwas jünger als Marie, und mustert sie neugierig, und dann gibt Frau von Katenkampp mit Doppel-P Marie den Brief zurück, schenkt ihr einen Babbeler als Wegzehrung und ruft noch einmal: Konrad, wird’s bald?!

Konrad kommt.

Er ist mürrisch. Scheint keine Lust zu haben, Marie zum Kontor zu bringen. Sie trottet hinter ihm her die Martinistraße entlang; er ist etwas größer als sie und älter, vielleicht vierzehn oder fünfzehn, und er trägt eine Schülermütze. Besucht wohl das Gymnasium Illustre, und sie denkt: Wenn ich der Sohn eines Kaufmanns wäre, würde ich auch zum Gymnasium gehen und eine Schülermütze tragen.

Unter dem dünnen Hemd zeichnen sich seine Schulterblätter wie verkümmerte Flügel ab, er geht ein wenig krumm.

Das Kontor befindet sich nur einige Häuser weiter, Marie hätte es auch allein gefunden. Konrad kommt mit hinein. Tabakgeruch. Durch die bleigefassten Fenster fällt gedämpftes Licht, und unter den Fenstern befinden sich die Pulte. Schreiber stehen davor oder hocken auf ledergepolsterten Drehböcken und kratzen mit ihren Gänsekielen über Papier. In der Ecke eine Truhe, messingbeschlagen, mit schwerem Schloss: die Geld- und Dokumentenkiste. Aufgetakelte Schiffsmodelle schweben unter der Decke, an der Wand reißt ein präparierter Haifischkopf seinen Schlund auf, Bilder mit Schiffen, naturgetreu gemalt, und große Land- und Seekarten, viel größer und genauer als die Karte von Unterlehrer Suhling in der Domschule. Wo Bremen liegt, steckt ein Fähnchen mit der Speckflagge, von dort aus geht ein Strich die Weser entlang zur Nordsee, und dann über den Atlantischen Ozean nach Amerika, nach Neu York.

Oh!, sagt Marie. Der Junge ist hinter sie getreten und fragt, ob sie die Karte überhaupt verstünde. Erstaunt dreht sie sich um. Was gibt’s da zu verstehen? Das ist Europa und Amerika, und dazwischen ist der Atlantische Ozean, das sieht man doch.

Na ja, sagt der Junge, ich meine ja nur, weil Mädchen keine Ahnung von Geometrie haben.

Marie kaut am Daumennagel, sieht ihn schräg von unten an und lächelt. Und du hast keine Ahnung von – Griechisch. Du verwechselst Geometrie mit Geografie. Marie ist klug. Und sie hat einen ungewöhnlich guten Lehrer, den Unterlehrer Suhling, der erklärt hat, dass Geografie das griechische Wort für Erdkunde ist, genau genommen für Erdbeschreibung.

Der Junge reißt die Augen auf und legt die Stirn in Falten wie ein Waschbrett. Du weißt ja doch Bescheid!, staunt er. Ich wollte dich bloß auf die Probe stellen, sagt er, aber Marie ist nicht sicher, ob sie ihm glauben soll.

Ein Mann kommt, in der Hand die schön geschriebene Rechnung. Du, sagt er unwirsch, mit der Rechnung stimmt was nicht. Wir schulden euch keine dreizehn Gulden, sondern dreizehn Taler. Das ist ein Unterschied.

Marie senkt den Kopf. Ich weiß, flüstert sie. Ihr sollt auch dreizehn Taler bezahlen, aber – auf Taler hab ich kein Reimwort gefunden.

Der Junge bricht in gemeines Lachen aus.

Wortlos dreht Marie sich um und geht.

Der Babbeler reicht von der Martinistraße bis nach Haus …


Jetzt saß Marie mit den Damen am ovalen Mahagonitisch und hielt sich an der Teetasse fest. Frau Scharrenhusen hatte sie als unsere liebe Heimatdichterin vorgestellt, die so hübsch schrieb. Beifälliges Kopfnicken, wohlwollende Blicke, wie schön, dass Sie uns beehren.

»Ich danke … ich danke auch … für die Einladung, sehr nett von Ihnen … sehr freundlich …« Nett, freundlich. Die Worte zergingen auf der Zunge, hinterließen jedoch einen klebrigen Geschmack.

Namen wurden genannt. Frau Neubrück … das ist also die Frau von dem Herrn Neubrück!, dachte Marie.


Ihr wurde ein Platz auf dem Sofa zugewiesen, gegenüber dem Fräulein von Katenkampp. Verstohlen betrachtete Marie sie, kein Zweifel, sie war es, dieselben grauen Augen, die ausgeprägten Wangenknochen. Leicht hohlwangig. Wie Konrad.

Für einen kurzen Moment war es wieder da, das Gefühl der Unzulänglichkeit, des Nichtdazugehörens, des unerwünschten Eindringens in bessere Welten. Unbewusst tasteten Daumen und Zeigefinger nach dem Ring ihrer Mutter, doch die Seidenhandschuhe verwehrten den Trost.

»Wo nur die Frau Haase wieder bleibt?«, fragte Frau Scharrenhusen stirnrunzelnd.

»Oh, die arme Frau Eltermann Haase, sie hat es jetzt so schwer. Deshalb kommt sie wohl ein wenig später …«, entschuldigte Frau Neubrück die Dame.

»Abgesehen davon lässt Frau Haase gern auf sich warten«, stellte Frau Scharrenhusen trocken fest.

Das Dienstmädchen servierte Kaffee und Tee, Likör wurde gereicht, dazu Mandeltorte, Wiener Torte aus feinstem Kaiserauszugsmehl und als kulinarischen Höhepunkt ›Versoffene Schwestern‹. Genüsslich ließ Marie das Baiser-Gebäck im Munde zergehen, das die Köchin bei Tisch erst mit heißem, gewürzten Rotwein übergossen hatte. Caroline hatte nicht zu viel versprochen.

»Ach, die Frau Eltermann Haase«, seufzte Frau Neubrück. »Ich hatte einmal die Ehre, bei ihr zu einer abendlichen Gasterei geladen zu sein. Superb! Und ihr Gatte, der Herr Eltermann. Ein reizender Mensch. So feine Manieren. Zwei Kutschen hatte er, einen Landauer und eine elegante Kalesche. Und fromm war er … ach, es ist schon ein Unglück, ein großes Unglück …«

Verlegenes Schweigen. Marie senkte den Kopf, wollte etwas dazu sagen, biss sich jedoch auf die Lippen. Für einen Moment schloss sie die Augen, um innerlich Abstand zu schaffen, dann richtete sie sich auf und schaute um sich, schaute distanziert in die Runde, vor allem auf Frau Neubrück, schrieb einen imaginären Text. ›Groß und wichtig thront Frau Nichtig auf dem Sofa, streckt den Hühnerhals hervor …‹

»Entschuldigen Sie bitte, Frau Neubrück«, unterbrach Fräulein von Katenkampp die schwatzhafte Dame. »Es ist zwar sehr informativ, ihrem Vortrag über die feinen Manieren des Herrn Haase zu lauschen, der … na, lassen wir das … Jetzt möchte ich jedoch ein Gedicht von Fräulein Mindermann hören.«

Die anderen Damen schlossen sich an und baten: Etwas Heiteres, bitte schön.

Marie öffnete den Aktendeckel und blätterte in den Papieren. Herzklopfen, flattrige Hände. Ein Bogen fiel zu Boden, rutschte unter den Tisch, Marie bückte sich, tastete und geriet an Fräulein von Katenkampp, die ihr bei der Suche behilflich sein wollte. Verlegenes Lächeln. Dann tauchte Marie wieder auf und strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Erwartungsvoll lehnten sich die Damen zurück.

Marie fuhr mit der Hand über das Papier, als müsste es geglättet werden, räusperte sich, trank einen Schluck Tee und sagte: »So etwas richtig Heiteres hab ich gar nicht. Dieses Gedicht beschreibt, wie es in meiner Kindheit beim Essen zuging. Auf Plattdeutsch.

Bi Dische

›Ann Disch!‹ roppt de Mudder, ›dat Eten is fertig!‹ –

Nu is’t en Gerunne, nu ist’t en Gelope!

Dat schuft mit de Stöhle, dat schurrt mit de Bänke,

— De lütjesten Beeden, de stat up’n Fottritt …«

Anfänglich zitterte ihre Stimme, auch die Hand, die sich an das Papier klammerte, doch nach und nach beruhigten die vertrauten Worte.


Im Haus ihrer Kindheit. Die Eltern, die Schwestern und die Gesellen, Minka schnurrt auf ihrem Schoß, und der Vater hält die Kappe in der Hand und betet Komm Herr Jesus und sei unser Gast, Löffel schaben, und Herrmann tritt Marie gegen das Schienbein, und Margrete fällt die Kartoffel auf die sandbestreuten Dielen … Sand scheuert den Magen, sagt die Mutter …


»… Jü Annern kamt mit mi, und spelet dar buten,

Un passt up de Lütjen, du Hermann und Hinrich;

Man, wahrscho ik alle – verdregt Jo tohope.«


Beifall. Wunderbar, Fräulein Mindermann. Man kann sich so richtig vorstellen, wie das früher bei Ihnen war. Ein schönes Gedicht, sehr schön.

»Aber«, wandte Frau Neubrück ein, »es reimt sich nicht! Ich denk, es ist ein Gedicht!«

»Muss auch nicht«, erklärte Fräulein von Katenkampp. »Seine Form erhält es durch den Rhythmus, durch die Betonung der Silben.«

Erstaunt sah Marie sie an. Wie treffend sie das gesagt hatte.

»Hmm!« Frau Neubrück sinnierte. »Und warum auf Platt? Plattdeutsch klingt so … gewöhnlich. Das ist keine echte Kunst. Warum nicht Hochdeutsch? Ich meine … Sie sprechen doch eigentlich ganz gut Hochdeutsch.«

Empörte Proteste. Nein! Auf keinen Fall! Gerade das Plattdeutsche mache doch den Reiz des Gedichtes aus. Fräulein Mindermann sei eine Heimatdichterin.

Frau Neubrück reckte das Kinn hoch. »Ich meine ja bloß …«, sagte sie.

»Wissen Sie«, erklärte Marie, »Niederdeutsch ist meine Sprache, meine Muttersprache. Und manches, vor allem meine Gefühle und Empfindungen, kann ich eben besser in Platt ausdrücken.«

»Also«, erklärte Frau Neubrück, »ich spreche ja auch Platt. Auf dem Markt, mit den Domestiken, mit den Handwerkern. Deshalb ist es für mich so alltäglich. Wie ein Alltagskleid. Ein Gedicht hingegen ist etwas Besonderes, das braucht ein Sonntagskleid und Sonntagssprache.«

Marie schüttelte den Kopf und schluckte mühsam ihren Ärger herunter. Diese eingebildete, dumme Pute! Platt war für sie die Sprache der kleinen Leute. Natürlich.

Unterdessen schaute Frau Scharrenhusen unbehaglich von der einen zur anderen. »Ja«, sagte sie, »ja – so ist das. Ja – da fällt mir ein, war jemand von Ihnen am Sonntag in der Martinikirche? Unser Freund Wimmer hat uns in seiner Bibelstunde wieder köstlich amüsiert. Kennen die Damen vielleicht das kleine Heftchen, in dem er aufs Korn genommen wird? Das muss ich Ihnen zeigen.«

Materialia – gesammelt in feierlichen Abendstunden in der Kirche Sanct Wimmerius Simplicius. Mit bescheidenen Anfragen und Bemerkungen versehen von einem aufmerksamen Zuhörer, stand auf dem grünen Deckblatt.

Der Pastor Wimmer erheiterte mit seinen pietistischen Ansichten oft einen Teil der Gläubigen. Einen Teil. Der andere Teil stand hinter ihm und pochte wie er auf die Unfehlbarkeit der Bibel, die das absolute Wort Gottes verkünde. Ohne Wenn und Aber.

Frau Scharrenhusen trug aus dem Heft vor, kürzlich habe Wimmer gepredigt, die christlichen Frauen verdanken es ihrem Herrn Jesum, dass sie lesen und schreiben können. Woraufhin jener unbekannte Zuhörer fragte, ob der Herr Jesus den Frauen am Ende auch das Stricken und Stopfen beigebracht habe. Auch überlege er, wie es möglich gewesen sei, dass bereits Jahrhunderte vor Christi Geburt Isabel unter Ahabs Namen Briefe schrieb, nachzulesen im Alten Testament, Buch der Könige.

Die Damen klatschten in die Hände. Vortrefflich!

Frau Scharrenhusen blätterte weiter, suchte nach einer anderen Stelle. »Hier. Das ist auch gut. –

Ein anderes Mal meinte Wimmer, die heutige Not der Arbeiter, ihr Hunger und Elend, werde übertrieben dargestellt, dabei läge im heiligen Bibelbuche der Trost und die Erlösung vom Elende. Dazu schreibt der Verfasser: Da möchte es wohl sehr geraten sein, den hungernden Bewohnern des Spessarts, der Rhön und des Thüringer Waldes Bibelzufuhren zu senden, damit die armen Leute satt werden. Auch die Provinz Fulda nicht zu vergessen, wo das herrliche Kriegsheer so hübsch aufgeräumt hat mit irdischer Speise, wahrscheinlich nur deshalb, um den Hungernden die himmlische Bibelspeise zu verschaffen.«

»Auch in Bremen hungern Menschen«, stellte Fräulein von Katenkampp fest. »Letzten Sonntag hat Pastor Dulon in der Liebfrauenkirche eine Predigt über das hiesige Elend gehalten. Anschließend kamen neunundzwanzig Taler zusammen. Er hat sie gleich den betreffenden Familien gebracht.«

»Dulon!«, rief Frau Neubrück entsetzt. »Zu diesem Volksverhetzer gehen Sie?!«

»Frau Neubrück!«

»Also – mein Mann sagt, seit der unselige Dulon in Bremen ist, herrscht in der Stadt und vor allem im Senat nur noch Hader und Streit.«

Ja, ja, dachte Marie, das kann ich mir bei dem Mann gut vorstellen, und am liebsten hätte sie gefragt, ob hier vorher nur Friede und Wonne geherrscht habe.

»Wer wohl die Schrift verfasst hat?«, wollte eine Dame wissen.

Frau Scharrenhusen meinte: »Sie ist anonym. Mein Mann vermutet, Pastor Nagel steckt dahinter. Aufgrund der fundierten Bibelkenntnisse muss sie von einem Kirchenmann sein.«

»Pastor Nagel? Gaube ich nicht.« Fräulein von Katenkampp schüttelte den Kopf. »Wenn das bekannt würde, müsste er wieder mit einer Klage rechnen.«

»Etwa Dulon selbst?«

»Nein, der kann es sich auch nicht leisten. Es sei denn, er will die drohende Suspendierung beschleunigen.«

»Nun, letztlich ist es unwichtig, wer der Verfasser ist. Hauptsache, sie wurde geschrieben«, stellte Frau Scharrenhusen fest und wandte sich an Marie: »Haben Sie das Heft schon gelesen, Fräulein Mindermann?«

Marie nickte. Schwieg.

Sie kannte das Heftchen sehr wohl.

Kapitel 2 – 1813 bis 1840


Halfdrom


Min Mudder wer sturb’n, ik weende

Binah mine Ogen blind

Ik föhlde mi so verlaten

As’t armste Wesenkind.


De Welt, de wer mi so wüste,

Upt Hart leeg mi en Steen;

Ik glovd’ ik harr kene Sorgen

As vor min Leed alleen.


Ins inner Nacht gunk apen

Ganz lise de Kamerdär, –

Et weer as’n Drömen un Waken –

Min Mudder, de keem dar her!


»Min Mudder!«, reep ik, »min Mudder!«

Un feel er wenend to Föt’,

»Min Mudder, nun heff ik die wedder!«

Un kussd’ de Hänne er heet.


Se keek mit de stillen Ogen

Mi in dat bleke Gesicht:

»Min Kind, betwing dinen Kummer,

O, fat di, – und sunnige nich!«


»Keen Leed is up disser Eere,

Dat nich to dreegen wer;

Nimm man din Harte tosamen,

Un – mak mi de Trennung nich swär!«


Weg weer, wat ik seeg! Min Oge

Dat was van Thranen natt;

Un in de Finster ’rin schinde

De Mand ganz bleek un matt.


»Min Kind, betwing dinen Kummer!«

Wat klunk dat fram und leeg,

Wat makte de Drom min Harte

So vull, so grot un so wek!


Wat lutt’ so klagend und trorig:

»O, fat di un sunnige nicht.«

As se sik äber mi bögde

Un keek in min bleke Gesicht. –


Min Mudder, schast slapen in Freen, –

O, dat mine Plicht ik vergeet!

Ik will minen Kummer betwingen,

Ik will mi faten inn Leed! –


Un wat inner Still’ ik verspraken,

Dat heff ik ok holen. Ik weet,

Et gift noch annere Sorgen

As for dat egene Leed.


Marie Mindermann


Die fünfjährige Marie kann bereits flüssig lesen, zum Erstaunen und zur Freude ihrer Lehrerin, der Frau Klostermann. Jeden Morgen stiefelt sie mit ihrer Freundin Johanne Meyer von der Ostertorstraße in die Hakenstraße, dort betreibt Frau Klostermann eine Klippschule. Sieben Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren versucht sie im Beten, Singen, Malen und Lesen zu unterweisen, die Klügsten kratzen schon die ersten Buchstaben auf die Schiefertafel, und nebenher hütet Frau Klostermann den Säugling ihrer Tochter, schält Kartoffeln, hobelt Weißkohl und flickt die Arbeitsjacken ihres Mannes. Auf einem Strohsack in der Ecke stöhnt Frau Klostermanns Vater: Wann holt mich endlich der liebe Gott?!

Still, Vadder, zischt die Lehrerin. Die Kinder blicken von ihren Büchern auf und schauen erwartungsvoll zur Tür. Oder kommt der liebe Gott durch das Fenster?

Sie sitzen am großen Küchentisch. Hier ist es im Winter warm, die Ritzen der Fensterscheiben sind mit Lumpen und altem Papier verstopft, damit es auch warm bleibt. Nur wenn sich der Herr Schulinspektor ankündigt, heizt Frau Klostermann die gute Stube.

Marie ist die vierte Tochter des Drechslermeisters Johann Mindermann und seiner Frau Elisabeth. Drei ältere Schwestern hat sie, Christina, Katharina und Johanna. Vier Mädchen und kein Junge!, seufzt der Vater oft. Wie kriege ich die Mitgift für vier Mädchen zusammen? Was soll aus der Werkstatt werden? Wer sorgt für uns, wenn wir alt sind?

Ganz hinten im Garten, gut versteckt unter den Johannisbeersträuchern liegt Marie auf der Erde, vor sich ihr Märchenbuch. Sie hofft und leidet mit dem armen Heinrich und seinem guten Mägdelein, das für ihn in den Tod gehen wollte. Ob er sie heiraten darf, die holdselige Meierstochter, die nicht von seinem Stand ist?

Das Mägdlein stand neben ihm. Da sah er sie so liebreich an, umfing sie und sprach: »Ihr Herren und Frauen, ich sage Euch allen, dass ich durch diese gute Jungfrau, die Ihr –«

Marie, wo bist du? Marie-ie! Christina ruft.

»– die Ihr hier bei mir stehen seht, mich meiner Gesundheit wieder erfreue. Nun ist sie ledig und frei, wie ich es bin, und mein Herz rät mir, dass ich sie zum Weibe nehme. Wenn dies Gott und euch gefällt, so soll es –«

Marie! Wenn du nicht sofort kommst, setzt es eine Tracht Prügel!

»– so soll es geschehen. Ist es aber unmöglich, so will ich unvereh- unverehelicht sterben; denn Ehre und Leben –«

Maaa-riie!

»… denn Ehre und Leben habe ich von ihr allein. Bei Gottes Hulden will ich Euch insgesamt bitten, dass es euch wohl gefalle!« Da antworteten –

Marie! Plötzlich werden die Zweige hochgehoben, Marie sieht zwei Holzschuhe, darüber einen dunklen Rock, eine Hand schießt herunter und entreißt Marie das Buch. Dagedeef!, schimpft Christina. Ich jäte Unkraut, und du liest Märchen. Und hörst nicht, wenn ich dich rufe. Na, warte!

Bitte, liebste Tine, bitte gib mir das Buch zurück, ich muss nur noch ganz wenig lesen, dann helfe ich dir, dann jäte ich alle Beete und pflück auch die Johannisbeeren und –

Nix und! Hol dir das Buch von Vadder wieder!

Mittags donnert der Vater, dass das nicht so weitergeht mit Marie, zu nichts ist das Gör zu gebrauchen, immerzu lesen, lesen, lesen. Er hat die Faseleien satt, und das Buch wird verbrannt –

Vater, nein! Bitte, liebster Vater!

– und für Bitte-liebster-Vater kann er sich auch nichts kaufen. Das Kind muss erzogen werden zu vernünftigem Tun, und wer nicht hören will, muss fühlen.

Rechts, links, rechts, links … die Ohrfeigen schmerzen. Mehr noch schmerzt, dass er es wirklich tut, er steckt das Buch in den Küchenherd.

Johann, sagt die Mutter. Die Ohrfeigen reichen doch. Das Buch war teuer.

Teuer hin, teuer her! Erziehung ist nun mal teuer.

Das Buch verbrennt.


Nach der Klippschule besucht sie die Domschule. Sie rechnet und zeichnet und schreibt schön, sie lernt italienische Buchführung und die großen Ereignisse der Französischen Revolution. Im Gegensatz zu seinen Kollegen meint Unterlehrer Musche Suhling, es ist gut, wenn alle Kinder viel lernen. Auch Mädchen.

Bald wird sie konfirmiert werden, und dann ist es vorbei mit der Schule. Marie, sagt Suhling eines Tages, nach dem Unterricht will ich mit dir sprechen.

Sie wird blass, ein Mühlstein legt sich auf ihre Brust. Was hat sie angestellt? Sie passt nicht auf, grübelt, kaut auf den Zöpfen herum. Als es klingelt, verlassen alle die muffige Schulstube.

Ich warte draußen, flüstert Johanne.

Marie?, fragt Suhling und verschränkt die Arme vor der Brust, liest du Bücher?

Beklommen nickt sie, schaut furchtsam hoch. Lang und mager steht er vor ihr.

Was liest du?

Sie denkt nach. Am liebsten Märchen. Sie hat ein Märchenbuch, ein neues. Manche Märchen kennt sie fast auswendig.

Nur Märchen?, will er wissen.

Nein, natürlich auch die Bibel, da sind schöne Geschichten drin. Was noch? Manchmal leiht ihr die Tante ein Buch. Vom Herzeleid einer Herzogin. Und Des Köhlers Töchterlein.

Suhling stützt sein Kinn in die Hand und denkt nach. Dann sieht er sie wieder an und sagt kopfschüttelnd: Des Köhlers Töchterlein ist Schund und verkleistert den Verstand. Du bist klug. Wir müssen deinen Verstand schärfen und bilden. Ich werde dir zusätzlichen Unterricht in Deutsch geben.

Mir?

Ja, dir allein. In diesen Stunden wirst du viel lernen, du musst dich zu Hause vorbereiten. Heute gebe ich dir einen Text von Friedrich Schiller mit, Die Räuber, sein erstes Werk. Als er es schrieb, war er Regimentsarzt, und weil ihm sein Landesherr die Lektüre von schöngeistigen Büchern verboten hatte, das Schreiben natürlich erst recht, da veröffentlichte er den Text anonym.

Anonym?

Anonym bedeutet ohne Nennung des Namens. Lies den Text und fass den Inhalt schriftlich zusammen. Nächste Woche werden wir darüber sprechen.

Ja, Musche Suhling.

Sie wundert sich, dass ein Landesherr dem Schiller das Lesen verbieten konnte. Wie ihr Vater. Für den ist Lesen auch überflüssig. Lange denkt sie darüber nach. Schiller. Der berühmte Dichter, dessen Balladen in den Lesebüchern stehen und von den Kindern auswendig gelernt werden – wie traurig muss er gewesen sein! Genauso traurig wie sie, als ihr Vater damals das Märchenbuch verbrannte. Für einen Augenblick fühlt sie sich dem großen Meister ganz nahe.

Danke, Musche Suhling, sagt sie und knickst. Sie will gehen, will Johanne von dem Buch erzählen und welch ein Glück ihr widerfahren ist: Ein Buch hat Suhling ihr geliehen, das sie nicht nur lesen darf, sondern lesen muss! Noch einmal hält er sie zurück. Marie, ich möchte deinem Vater vorschlagen, dass du nach der Domschule die Lehranstalt für Mädchen bei Fräulein Gleim besuchst.

Erschrecken. Mit dem Vater reden? Besser mit der Mutter. Lehranstalt für Mädchen. Die Worte verleihen Flügel. Sie knickst und schwebt aus der Schulstube.

Zu Hause sagt der Vater: Zusätzlicher Deutschunterricht. Dumm Tüg! Ob es heißt, ich haue dich oder ich haue dir – deine Prügel bekommst du so oder so.

Sie lernt und lernt. Abends, wenn alle im Bett liegen, schleicht sie in die Küche, entzündet ein Wachslicht und setzt sich an den Herd, der noch ein wenig Wärme ausstrahlt. Sie lernt die Erdteile, die Geburtstage der Königsfamilie, die berühmten siegreichen Schlachten der Preußen, sogar einige französische Vokabeln und hochdeutsche Grammatik. Der gute Musche Suhling.


Konfirmation. Mit vierzehn ist es vorbei mit der Schule, und Marie kann froh sein, dass sie regelmäßig zur Schule gehen durfte – welches Mädchen kann das schon? Jetzt gilt es, für das Leben zu lernen. Beim Wäschewaschen helfen keine Gedichte, da muss man Bescheid wissen über Einweichen, Abkochen, Bleichen, Blauen und Stärken, das ist eine Wissenschaft für sich. Und beim Einlegen von Gemüse in Essig und Salz nutzen weder Geometrie noch Geografie. Die gute Hausfrau ist die Krone der Familie.

Ich möchte Lehrerin werden. Musche Suhling meint …

Marie, sei nicht oberköppsch!, schimpft der Vater. Suhling hat dir Flausen ins Ohr gesetzt. Lehrerin! Eine alte Jungfer. Dumm Tüg!

Vater, bitte!

Lehrerin werden!, spotten die Schwestern. Auf solche verrückten Ideen kann auch nur unser Mariechen kommen.

Abends im Bett fragt sie sich, was mit ihr los ist, warum sie so anders ist als die Schwestern. Vielleicht … sind es gar nicht ihre leiblichen Schwestern, vielleicht ist sie ein Findelkind, hat ganz andere Eltern. Eltern mit Bildung. Und durch dumme Umstände ist sie in diesem Handwerkerhaus gelandet.

Die Mutter lässt sich schließlich erweichen und spricht mit Musche Suhling, spricht auch mit Dr. Kottmeier von der Domgemeinde.

Ja, sagt er, die Marie, die kann wunderschön reimen. Lehrerin. Hmh. Sie ist sehr zart, und als Lehrerin müsste sie etwas robuster sein. Ich weiß nicht so recht …

Sie geht zu Fräulein Gleim, nimmt Maries Hefte mit, ihre Aufsätze, ihre Gedichte.

Also, sagt Fräulein Gleim, begabt ist Ihre Tochter zweifellos. Die Ausbildung kostet natürlich einiges, und – ich will ehrlich sein – davon leben kann man knapp. Glücklicherweise unterstützt mich meine Familie finanziell, und wenn Sie Ihre Tochter …

Keine Lehrerin.

Sie verkriecht sich im Garten hinter den Johannisbeerbüschen und weint. Die Enttäuschung brennt, und noch so viele Tränen können sie nicht löschen. Und dann ruft die Mutter: Marie, hol Wasser vom Brunnen.

Tränenblind geht sie mit dem Holzeimer zur Pumpe, ein kurzer Weg, nur am Gymnasium Illustre vorbei, und dann ist sie schon an der Pumpe, trifft zufällig Johanne, die ebenfalls Wasser holt, für die Tante am Marktplatz.

Marie, was ist dir?

Sie erzählt von ihrer gescheiterten Hoffnung.

Johanne schweigt. Ach, Marie, seufzt sie schließlich. Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, Lehrerin zu werden. Aber du hättest nicht mehr zu uns gehört, du würdest in besseren Kreisen verkehren, und ich hätte deine Freundschaft verloren.

Nein, nie!, widerspricht Marie heftig. Aber es ist ja sowieso egal.

Sie schleppt die vollen Eimer nach Haus. Vor dem Gymnasium stehen drei junge Männer, tragen Schülermützen auf dem Kopf, diskutieren, die Hände stecken lässig in den Hosentaschen, und unter den Armen klemmen die Bücherbündel. Plötzlich schaut einer von ihnen hoch, sieht Marie, ein kurzer Blick – ist das nicht dieser … dieser Kaufmannssohn aus der Martinistraße? Wie heißt er noch? Von Katenkampp mit Doppel-P. Wie gemein er damals über ihr Gedicht gelacht hat!

Mit gesenktem Kopf schleppt sie die schweren Eimer an den jungen Männern vorbei.

Wenn sie der Sohn eines reichen Kaufmanns wäre …

Später stiehlt sie sich aus dem Haus, läuft ziellos durch die Straßen, an der katholischen Kirche vorbei, läuft weiter. Auf der Weserbrücke bleibt sie stehen. Stützt die Ellenbogen auf das Geländer. Unter ihr das grüne Wasser, das ruhig und stetig dahinströmt. Wie lange dauert es, bis man ertrinkt? Sie starrt und starrt, bis sie nicht mehr sieht, ob das Wasser nach Süden oder nach Norden fließt.

Abends ist der Vater ungewöhnlich weich. Mien Deern, sagt er und streicht ihr über das Haar. Immer noch traurig? Warum willst du Lehrerin werden? Warum dich mit anderer Leute Kinder abplagen, womöglich als Hauslehrerin für die hochnäsigen Sprösslinge der Pfeffersäcke? Gewiss kein Vergnügen. Das hast du nicht nötig. Du bist eine gute Partie und wirst einen braven Drechsler heiraten. Wirst dann den Dienstmädchen, Gesellen und Lehrlingen eine gute Meisterin sein, schenkst mir Enkelsöhne, und der Älteste führt die Werkstatt weiter … Marie, nun lach wieder!

Sie lächelt gequält.

Als alles schläft, schleicht sie wie gewöhnlich in die Küche und kauert sich an den lauwarmen Ofen. Sicher haben sie recht, der Vater und Johanne und Fräulein Gleim. Und doch! Die gescheiterte Hoffnung wühlt und hält sie wach, und schließlich denkt sie sich eine Geschichte aus, wie sie doch eine Lehrerin wird, und ihr Vater ist stolz, und Johanne bleibt ihre beste Freundin.

Der Vater schenkt ihr einen Ring aus Elfenbein, den er selbst verfertigt hat. Er sieht aus, als bestünde er aus drei getrennten Reifen, die spiralförmig miteinander verschlungen sind. Bewundernd hält Marie das Kunstwerk auf ihrer Handfläche und fährt mit dem Zeigefinger die Spiralen nach. Oh, stellt sie überrascht fest, das ist ja in Wirklichkeit nur ein Ring!

Stolz nickt er. Ein Dreifaltigkeitsring, erklärt er. Vater, Sohn und Heiliger Geist – alles ist Gott, und alles ist eins, auch wenn es verschieden aussieht.

Marie verwahrt den Ring in einem runden Kästchen. Als ein Schmuckstück ist er ohnehin nicht gedacht, ist weder Fingerring noch Armreif. Er ist ein Symbol.


Die Schwester Christina heiratet nach Syke, Schwester Johanna heiratet nach Oldenburg, Schwester Katharina stirbt an der Schwindsucht – es wird still im Haus in der Ostertorstraße.

Einundzwanzig Jahre alt ist Marie. Der Blechenschläger Fritz Dahlken hält um ihre Hand an und auch der Kaufmann Müller, Witwer und Vater von zwei unmündigen Kindern, keine schlechten Partien, doch sie schlägt beide aus. Noch drängt der Vater nicht zur Heirat, er rechnet mit Otto, der bei Meister Mindermann in die Lehre gegangen und nun auf Wanderschaft ist. Feiner Kerl, der Otto, sagt der Vater. Wenn er zurückkommt …

Hoffentlich nicht so bald, denkt Marie. Sie will nicht heiraten und jedes Jahr ein Kind kriegen und sich über Dienstboten ärgern und Wasch- und Schlachttage halten. Sie will nicht unter der Kuratel von Otto stehen – womöglich verbietet er ihr noch das Lesen, lacht über ihre Gedichte. Otto. Sie kann sich nicht in ihn verlieben.

Verlieben … weg mit dem Gedanken, zu sehr beschämt die Erinnerung … nur ihre Freundin Johanne weiß davon, aber selbst die kennt nicht die ganze Geschichte …


Johanne arbeitet im Tapisserie-Laden ihrer Tante am Markt. Marie, mit einem Handkorb vom Einkaufen kommend, schaut mal eben bei ihr vorbei zu einem kurzen Schnack. Eine Kundin ist im Geschäft, eine große und füllige Frau von etwa dreißig Jahren. Sie beugt sich über den Tresen, prüft – die Augen zusammenkneifend – verschiedene Stärken von Sticknadeln und spricht leise. Schließlich richtet sie sich auf, seufzt und sagt laut: Ach ja, Fräulein Meyer, Meister Goethe hatte schon recht mit seinen Worten: Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz …

Die Frau hat eine schöne Stimme, einen tiefen, weichen Alt.

… ihren Lieblingen ganz …, wiederholt sie. Wie geht das noch weiter?

Marie hat den Korb abgestellt, tritt hinzu und ergänzt spontan: … die Freuden, die unendlichen, die Leiden, die unendlichen, ganz.

Überrascht sieht die Frau sie an, ihre Augen treffen sich, sie lächeln.

Johanne macht die beiden bekannt, zwei Künstlerinnen, das Fräulein Lacroix spiele die Harfe und das Fräulein Mindermann dichte. Marie wehrt verlegen ab, sie sei keine Künstlerin, das sei zu hoch gegriffen.

Sie dichten?, fragt das Fräulein interessiert. Was haben Sie veröffentlicht?

Marie errötet und erklärt, so gut seien die Gedichte nicht, dass man sie veröffentlichen könne.

Nein?, fragt das Fräulein. Wer sagt das?

Ich.

Ich würde sie gern hören. Besuchen Sie mich mal.


An einem dunklen Novembertag betritt sie zum ersten Mal das Haus in der Westerstraße 56. Unten die Uhrmacherwerkstatt von Christian Weber. Über seine Arbeit gebeugt sitzt er am Fenster zur Straße, neben ihm flackern zwei Öllampen und lassen Fensterscheiben, Brillengläser und die Lupe blitzen. Marie wird von Fräulein Lacroix eine Treppe hochgeführt an Webers Wohnung vorbei. Es riecht nach Zwiebeln und Katzen und kaltem Fett. Und höher geht es bis unter das Dach, und hier riecht es nach Zimt und Kardamom. Fräulein Lacroix entzündet einige Kerzen. Nach und nach tritt ihr schimmerndes Reich aus dem Dunkel hervor.

Ein offenes Regal voller Bücher, Notenblätter liegen auf dem polierten Tisch, in der Ecke steht eine Harfe, auf dem Vertiko tickt unter einer Glaskuppel eine Pendule. Kein Nähtischchen. An der Wand hängt ein Kruzifix, und Marie fragt sich, ob das Fräulein katholisch ist.

Ich koch uns einen Tee, ruft sie aus der Küche. Hab gestern frische Plätzchen gebacken. Mögen Sie Zimtsterne?

Marie wird vom Bücherregal angezogen, liest mit seitwärts gerichtetem Kopf die Titel, nimmt das eine und andere Buch in die Hand, behutsam mit den Fingerkuppen über die Leder- und Leinendeckel streichend. Lessings Nathan der Weise, davon hat Lehrer Suhling oft gesprochen. Mehrere Gedichtbände, Brentano, Eichendorff, Ludwig Uhland. Tristram Shandy von Sterne … davon hat Marie nie gehört … Walter Scott … Jane Austen … Jane … ein englischer Frauenname?

Marie ist von dem Bücherschatz verzaubert. Wochenlang möchte sie sich hier einschließen und in die fremden Welten reisen, die die Buchdeckel bergen.

Sie können sich gern was ausleihen, sagt Fräulein Lacroix, als sie mit der Teekanne in die Stube tritt. Dann kniet sie vor dem Ofen, rüttelt mit dem Schürhaken und entfacht durch kräftiges Blasen die Reste eines Glutnestes, legt Torf nach. So, gleich wird es mollig warm, sagt sie, dann können Sie auch Ihr Tuch ablegen.

Dass Sie hier so allein wohnen!, sagt Marie verwundert.

In der Tat eine Ungeheuerlichkeit. Unverheiratete Jungfern wohnen bei ihrer Familie oder, wenn sie es sich leisten können, in einem Stift.

Das Fräulein Lacroix sagt: Meine Eltern sind tot, und meine vielen Geschwister haben sich daran gewöhnt … gewöhnen müssen. Ein Bruder lebt in Düsseldorf als Oberstabsarzt. Er drängt mich ständig, zu seiner Familie zu ziehen, aber ich bleibe in Bremen, ich eigne mich nicht zur Tante. Ludwig, mein jüngerer Bruder, hat hier ein Handelsgeschäft, der unterstützt mich finanziell. Ich bin Musiklehrerin. So – und nun zeigen Sie mir Ihre Werke. Keine Scheu.

Das Fräulein liest. Liest aufmerksam. Erst leise, dann laut, und Marie bemerkt, dass die Gedichte, von einer anderen Stimme vorgetragen, nicht schlecht klingen. So hat bisher kein Mensch ihre Texte gewürdigt, keiner hat die geistige Arbeit erkannt. Richtige Arbeit, keine Spielerei und Tändelei, wie ihr Vater meint.

Fräulein Lacroix schaufelt vier Löffel Zucker in den Kaffee und sagt bestimmt: Sie müssen veröffentlichen!

Marie zuckt zusammen. Veröffentlichen?!

Nachdenklich in der Tasse rührend fährt das Fräulein fort: Wir könnten uns an den Courier an der Weser wenden … oder an den Bürgerfreund

Ein Glücksgefühl durchströmt Marie. Verfliegt. Auf keinen Fall veröffentlichen. Der Vater wird es nicht gestatten. Was macht das für einen Eindruck, eine dichtende Handwerkertochter. Das darf er in seiner Familie nicht dulden.

Fräulein Lacroix versteht die Bedenken und meint, sie brauche ja keinen Namen darunterzusetzen. Anonym. Das lasse sich arrangieren.

Und dann steht es zum ersten Mal im Bürgerfreund, ein Gedicht von Marie. Ohne Namen. Sie kauft die Zeitung und zeigt sie abends herzklopfend dem Vater. Guck mal, ein schönes Gedicht, nicht wahr?

Er wirft einen flüchtigen Blick darauf und murmelt zerstreut: Schön, doch, doch. Marie, stopf mir ein Pfeifchen, das hab ich mir heute Abend verdient.

Sie zeigt es der Mutter, die setzt umständlich ihre Augengläser auf, liest es, nickt und sagt: Ja, sehr schön. Ich glaube, so was kriegst du auch hin. Vielleicht sogar noch besser.

Einige Tage später feiert sie mit Fräulein Lacroix den geheimen Erfolg bei einigen Gläsern Holunderwein. Die Pendule auf dem Vertiko schlägt sechs Uhr und sieben Uhr und acht Uhr, und Marie hört es kaum, sie haben sich so viel zu erzählen, die beiden Frauen. Nie hat Marie sich so verstanden gefühlt. Mein Gott, schon halb neun! Keine Mietdroschke da und ohnehin kein Geld für eine Droschke, schnell die Handlaterne entzündet und ab über die Weserbrücken, durch die Wachtstraße und am Dom vorbei in die Ostertorstraße.

Marie, wo hast du dich herumgetrieben? Fast hätte der Vater sie geohrfeigt, so sehr war er in Sorge und so sehr ist er erleichtert, dass die Tochter – unversehrt – wieder zu Haus ist.

Kostbare Stunden, die Marie in der Dachwohnung von Fräulein Lacroix verbringt. Nur dort kann Marie über ihre Schreiblust sprechen, von der Besessenheit, das richtige Wort zu suchen, von der Befriedigung, die sie empfindet, als sie endlich die Geräusche in der Werkstatt des Vaters zu Papier bringt: Späne rascheln, die Spindel der Drehbank sirrt, trocken dröhnen Hammerschläge.

Manchmal schenken die beiden Frauen sich kleine Gedichte, die sie abschreiben, die Anfangsbuchstaben zu kunstvollen Vignetten gemalt. Manchmal schneidet Caroline Zeitungsartikel aus, die für Marie von Interesse sein können. Einmal hat sie ihr eine besonders gute Schreibfeder gekauft. Marie bestickt ihr ein Taschentuch.


Marie schlägt eine weitere gute Partie aus, den Antrag des Sohnes von Glasermeister Pannenstiel, und schließlich kehrt Otto zurück. Er umwirbt sie, er ist dem Vater ein guter Geselle und wird bestimmt ein guter Schwiegersohn, und als er Marie einmal allein in der Küche trifft, packt er sie, drängt seinen Körper an sie und presst seine Lippen auf ihren Mund. Sie dreht den Kopf zur Seite, brüllt: Otto! – und stößt ihn mit ungeahnter Kraft von sich. Er strauchelt und fällt rückwärts zu Boden und versucht, sich mit der Hand abzustützen. Verdutzt schaut er zu ihr hoch, dann rappelt er sich auf und reibt sich das Handgelenk. Gut, sagt er, du bist kein leichtes Mädchen, das mit jedem herumpoussiert. Wenn ich meinen Meister habe, können wir heiraten.

Nie! Sie zittert vor Zorn. Aber er lacht nur und antwortet: Warte ab. Mit deinem Vater bin ich einig.

Sie scheuert die Dielen und streut sie mit frischem Sand aus, sie flickt Unterröcke, rupft Hühner und Gänse. Spätabends, nachdem der Lampenwächter die Straßenlaternen entzündet und die Domuhr halb zehn geschlagen hat, nachdem im Haus alle auf die Strohsäcke und unter die Federbetten gekrochen sind, schleicht sie in die stille Küche. Irgendwo raschelt eine Maus, der Wind zerrt an den Fensterläden, das Öllicht blakt, und Marie dichtet. Oder sie liest. Caroline Lacroix versorgt sie mit Lektüre. Caroline zeigt ihr auch die Bibliotheken Bremens, in denen man gegen geringe Gebühr Bücher entleihen kann. Otto hält sich zurück und wartet geduldig, weil er seiner Sache sicher ist. Außerdem ist das Meisterstück noch nicht fertig.

Gleichförmig schwindet Zeit dahin, und hin und wieder entflieht Marie dem profanen Alltagseinerlei und findet in der Westerstraße eine Oase der Kultur, der geistigen Anregung. Gelegentlich erscheint im Bürgerfreund ein Gedicht von ihr. Anonym.

Sag mal, fragt er Vater einmal, diese Lacroix, zu der du immer gehst, ist die katholisch?

Wie kommst du darauf?

Weiß nicht. Durch den Namen. Klingt so französisch.

Ja, antwortet Marie, sie ist katholisch.

Der Vater runzelt die Stirn. Eine Katholsche! Das seh ich nicht gern. Die Katholschen sind falsch.

Caroline ist nicht falsch, empört sich Marie. Die ist grundehrlich. Sie kann doch nichts für ihren Glauben …

Kann ja sein, sagt der Vater, trotzdem muss man aufpassen. Die sündigen fröhlich und rennen zur Beichte. Ich weiß Bescheid, mir macht keiner was vor.

So eine ist Caroline nicht!

Trotzdem!, beharrt der Vater. Und um zu untermauern, dass man bei Katholiken wachsam sein müsse, erklärt er: Zu meiner Zeit hatten die in Bremen nicht mal das Bürgerrecht. Katholiken, Juden und Zigeuner, die durften hier nicht mal ein Haus kaufen.

Schlimm genug, stellt Marie fest. Und es schmerzt sie, dass ihr Vater so borniert redet.


Die Mutter wird krank. Ist geschwächt. Kann sich nicht recht erholen. Eines Tages zieht sie ihren Ring vom Finger, ein Ring mit drei dunkelroten Granatsteinen, und sagt: Marie, den hat schon deine Großmutter getragen. Für mich bedeuten die Steine Glaube, Liebe und Hoffnung.

Marie schießen die Tränen in die Augen. Sie wendet den Kopf zur Seite.

Weihnachten 1839 stirbt die Mutter. Sie hat ein gesegnetes Alter erreicht. Die Trauerfeier muss gerichtet, Kondolenzbesuche müssen empfangen werden. Nachdem die Schwestern mit ihren Familien das Haus verlassen haben, kehrt schmerzhafte Stille ein.

Einmal zupft Marie aus der Nachthaube der Mutter ein paar graue Haare und verwahrt sie in dem Spanschächtelchen mit dem Dreifaltigkeitsring des Vaters. Verstohlen setzt sie die Haube auf, um ihr noch einmal nahe zu sein. Sie weint und weint. Nachts wälzt sie sich schlaflos im Bett, ist wütend auf die tote Mutter, die sie verlassen hat, und weiß zugleich, dass dieses Gefühl kindisch ist. Schreibt sich den Kummer von der Seele.

Der Vater hockt stundenlang am Tisch und stiert vor sich hin. Otto führt schon die Werkstatt, und er sagt zu Marie: Wenn das Trauerjahr vorbei ist, heiraten wir.

Sie schweigt. Ist zu kraftlos, um zu protestieren.

Tagsüber tut sie ihre Arbeit, ungeduldig den Abend erwartend, an dem sie allein mit Papier und Feder in der Küche sitzen kann. Sie holt den Ring ihrer Mutter hervor und steckt ihn auf den Mittelfinger. Viel zu weit ist er für ihre zarten Glieder. Sie wird ihn beim Goldschmied enger machen lassen.

Der Vater wird schwächer und schwächer. Dann verlässt er sein Bett nicht mehr. Marie, der Otto … ist … ein guter Mann …, sagt er. Zu Ostern folgt er seiner Frau.

Caroline, was soll ich machen?, stöhnt sie verzweifelt. Ich kann den Otto nicht heiraten. Ich will überhaupt nicht heiraten!

Die Freundin holt ein Taschentuch aus ihrem Beutel, tupft Marie die Tränen von den Wangen und sagt: Verkauf die Werkstatt und zieh zu mir. Ich räume dir die Kammer neben der Stube frei. Du musst schreiben. Veröffentlichen. Und endlich unter deinem Namen.

Kapitel 3 – 6. März 1848


Der Bremer Freiheits-Lied

Gedicht von E. Stolberg


Das Bremerland, das freie Land,

Hoch soll es immer leben!

Es hat als theures Unterpfand,

Der Schöpfer uns gegeben;

Wie reich und glücklich ist das Land,

Wo Freiheit gehet Hand in Hand!


Den hohen Rath in unserem Staat,

Hoch, laßt ihn Alle leben!

Er hat uns jüngst in Wort und That

Der Freiheit Gut gegeben.

Ihm laßt uns dafür dankbar sein,

Und würdig dieser Huld erfreu’n.


Das freie Wort, das deutsche Wort,

Hoch soll es immer leben!

Es ziehe hin, von Ort zu Ort,

Und regle jedes Streben.

Wie reich und glücklich ist das Land,

Wo Freiheit lös’t der Zunge Band.


Der Liebe Wort, der Eintracht Wort,

Hoch, Brüder laßt es leben!

Es schätzet uns, als treuer Hort,

Läßt uns im Sturm nicht beben.

Es lehrt uns weise sein und klug

Bewahret uns vor List und Trug.


Der Courier an der Weser, den 19. 3. 1848


Marie war in die Neustadt gezogen, die nicht gerade zu den feinen Adressen Bremens zählte. In der breiten Westerstraße konnte man allerdings noch wohnen, da fand man auch Kaufleute und Handwerker. Im Übrigen war die Neustadt das Viertel der kleinen Leute, der Arbeitsmänner, Kistenmacher und Zigarrensortierer, der Wäscherinnen und Näherinnen. Sie lebten in Wohnkellern, in Gängen und Höfen, dem Vogelsanggang, dem Stangenhof, dem Bachmannshof, die Stuben so niedrig, dass man knapp aufrecht stehen konnte, dunkel, muffig und feucht, ein Dorado für Silberfische, Kellerasseln und Schwindsucht. Die Neustadt war auch das Viertel der kleinen Fabriken. Auf Hinterhöfen, in Schuppen und Ställen wurde Seife gekocht, Bier gebraut, Essig gegoren, Schnaps gebrannt, wurden Zigarren gewickelt und Strümpfe gewirkt. Es gab eine Schule, ein Spritzenhaus, eine Kinderbewahranstalt.


»Knoken un Plünnen – Oltiiisen!« Jan Plünnenbüdel, der Lumpenhändler, schuffelte durch die Westerstraße. Verrostete Töpfe und Pfannen, zerschlissene Kleidung und Knochen sammelten sich auf seinem Hundekarren.

Marie öffnete das Fenster und rief hinunter: »Tach ok, Jan! Für dich hab ich heute nichts. Nur für die Hunde. Warte mal.« Dann lief sie die Treppe hinunter.

Geduldig standen die Tiere in ihrem Geschirr, hechelten, blickten Marie schweifwedelnd entgegen und leckten die Schnauzen. Geifer tropfte. »Castor! Pollux! Ja, hier ist was für euch!« Marie schob jedem ein Stück hartes Schwarzbrot ins Maul.

»Fräulein Mindermann, Sie verwöhnen die Hunde!«, protestierte halbherzig der Lumpenhändler, und Marie lachte.

»Jan, es sind meine Patenkinder. Schließlich habe ich ihnen die Namen gegeben.«

»Jau! Auf so gelehrte Namen wär ich gar nicht gekommen. Sie sind aber auch ein verflucht gelehrtes Frauenzimmer, Fräulein Mindermann.«

Jan Plünnenbüdel, ein alter Mann mit gelben Zahnstummeln, nach Schnaps und Schweiß riechend. Graue Haare wucherten auf seinem Kopf, in Ohren und Nasenlöchern. Schon sein Vater schuffelte mit dem Hundekarren durch die Straßen, schon er wurde Plünnenbüdel genannt, kein Mensch kannte den richtigen Namen, er hatte ihn selbst vergessen. Er spuckte dunkelbraunen Priemschleim auf die Straße und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann musterte er sie mit wichtigem Gesicht. »Seien Sie vorsichtig, sonst …« Das Sonst blieb in der Luft hängen.

»Womit soll ich vorsichtig sein?«, fragte Marie, während sie Pollux am Kopf kraulte.

»Mit Ihrer Gelehrsamkeit!« Er richtete sich auf, um seinen Worten Nachdruck zu geben. »Wenn Weiber zu viel Wissen in ihren Kopf tun, dann weicht das Gehirn auf, dann werden sie verrückt und müssen ins Tollhaus. Und unverheiratete Jungfern sind besonders gefährdet.«

Marie protestierte. Drei Handwerksburschen wankten die Westerstraße entlang, grölten und schwenkten Weinflaschen. Die Mützen saßen schief, die Augen schimmerten glasig. Rosenmontag in Bremen, der traditionelle Trinktag der jungen Männer. Sie torkelten von Kneipe zu Kneipe, randalierten, demolierten Straßenlaternen und verschreckten Kutschpferde. Bierseliges Vergessen des Alltags, berauschende Lust am Krawall.

»Es lebe die Revolution!«, riefen sie Marie zu und reckten die Flaschen in die Luft wie Trophäen.

»Revolution?«, fragte Marie.

»Jau. In der Altstadt ist ordentlich was los!«, erklärte der Lumpenhändler. »Konnte nicht mal meine Tour ablaufen, weil sie überall herumkrakeelen.«

»Revolution bei uns?«, wiederholte Marie zweifelnd. Sie wusste zwar aus dem Courier an der Weser, dass es kürzlich in Paris einen Umsturz gegeben und das Volk eine provisorische Regierung erzwungen hatte. Eine Regierung, die aus Republikanern und Sozialisten bestand – und einem Arbeiter. Ein einfacher Arbeiter saß jetzt in der französischen Regierung, das musste man sich mal vorstellen! Und nun eine Revolution in Bremen?

Der Lumpenhändler berichtete, seit den frühen Morgenstunden zögen junge Bremer durch Straßen und Kneipen und forderten Reformen. Ohne Sperrgeld zu zahlen, hatten sie sich am Herdentor mit Gewalt Einlass verschafft, ein Schilderhaus in den Graben geworfen und das Sperrhaus demoliert. Und gegen Hillmanns Hotel seien Steine geworfen worden, aber Hillmann, der schlaue Fuchs, habe die Kerle mit gütlichem Zureden und mehreren Flaschen Wein beruhigen können.

»Das muss ich mir ansehen!«, rief Marie, drehte sich um und verschwand im Haus.

Caroline stand in der Küche und bügelte. Gerade füllte sie das Eisen mit glühenden Holzkohlestücken und setzte es vorsichtig auf ein weißes Leinenstück. Es zischte, es dampfte, Geruch nach frischer Wäsche und Stärke und Ofenrauch. Schweiß perlte auf der Stirn.

»In Bremen ist Revolution!«

Entsetzt sah Caroline hoch, stützte sich auf den Griff des Eisens, erstarrte – bis leichter Brandgeruch sie weckte. »Revolution? So ein Malheur! Revolution und eine versengte Tischdecke!«

Marie griff Umschlagtuch und Schutenhut, und während sie die Schleifen knotete, berichtete sie knapp, was Jan Plünnenbüdel erzählt hatte. Sie wolle nun selbst in die Stadt.

»Marie!«, warnte die Freundin. »Das ist zu gefährlich!«

»Ach was.«


Der Märzwind schlug die große Krempe ihrer Schute zurück. Sie hielt sie mit der einen Hand fest, mit der anderen wickelte sie sich enger in ihr Umschlagtuch. Hökerinnen kamen ihr entgegen, balancierten auf den Köpfen große Körbe mit Rot- und Weißkohl, gingen ruhig ihren Weg. Hinter ihr schnauften die Pferde eines Torfbauern, der mit seinem Leiterwagen in die Stadt zuckelte. Alltag in Bremen. Und doch lag noch etwas anderes in der Luft, eine Unruhe, eine Erregung.

Zwei Linienpolizisten ritten durch die Wachtstraße, saßen aufrecht und unnahbar auf den Pferden. Blanke Säbel und Pistolen. Ein junger Bursche spuckte vor ihnen aus. Vor den Kontoren standen ein paar Schreiber; sie reckten die Hälse und wünschten den Krawall herbei.

Marie ging zum Domshof. Am Stadthaus, dem Sitz der Hauptwache, drängten sich die Menschen.

Kaum Frauen. Bislang auch kein Linienpolizist. Losungen und Forderungen wurden gebrüllt. »Es lebe die Freiheit! Es lebe die Reform! Wir wollen freie Wahlen! Schafft das Pressegesetz ab! Wir wollen Arbeit! Wir wollen unentgeltliche Volksschulen!«

Sie stieg die Stufen zum Seiteneingang des Doms hoch und sah einen Mann der Bürgerwehr aus dem Stadthaus kommen. Drohend hob er sein Gewehr.

»Vivat die Bürgerwehr!«, riefen die Männer.

Unsicher blickte er in die Menge, wusste sich wohl nicht zu verhalten, war doch selbst ein Bürger, war einer von ihnen und musste dennoch den Tumult dämpfen. Schließlich redete er beruhigend auf einige Heißsporne ein, die rechts in den Eingang der Hauptwache drängen wollten. Sie umarmten ihn und riefen immer wieder: »Vivat! Vivat!«

Der Domshof brodelte, Menschen schoben hierhin und dorthin, ohne rechtes Ziel. Schultern, gestikulierende Arme und Hände, Köpfe mit Mützen und barhäuptig, vereinzelte Zylinder.

»Für Arbeit und Brot!«, gellte ein Mann neben Marie, wohl ein Zigarrenwickler, denn er reckte eine gelbe Faust in die Luft.

»Und Fleisch!«, setzte ein anderer hinzu.

»Fleisch? Was ist das?« fragte der Zigarrenwickler sarkastisch.

Marie wurde der Tumult zu viel, sie wandte sich zum Marktplatz, wollte zu ihrer Freundin Johanne.

Das Rufen und Murren steigerte sich, Marie sah, dass eine Abteilung der Kavallerie die Menge teilte, ihr folgte ein Trupp des Linienmilitärs. Sie besetzten die Wachhäuschen vor dem Stadthaus und schoben die protestierenden Männer beiseite. Ein Pflasterstein flog. Noch einer. Und noch einer. Marie hielt den Atem an.

»In Deckung!«, schrie der Zigarrenwickler. »Weg hier! Gleich wird es gefährlich!«

Die Menschen drängten die Domtreppe hoch, wollten sich in Sicherheit bringen. Die schweren Kirchentüren blieben geschlossen.

Marie wurde die Stufen hinuntergeschoben, musste aufpassen, nicht zu stolpern. Eine Gasse bildete sich, plötzlich war viel Platz. Das Pferd hinter ihr hörte und sah sie nicht, auch nicht den Kavalleristen, der mit seinem Säbel blindlings in die Menge schlug. Ein Mann stürzte zu Boden, Blut spritzte über sein Gesicht, er wischte es ab, schaute ungläubig auf die roten Finger. Ein Zweiter ging zu Boden.

»Was will die Frau hier? Schafft sie weg!«, rief ein Mann der Bürgerwehr.

Hände griffen ihren Arm, das Umschlagtuch rutschte, sie wurde davongezerrt, heraus aus dem Tumult …

Erst in Johanne Meyers Laden kam sie zur Besinnung, wusste kaum, wer sie geleitet, wie sie den Weg gefunden hatte, aber jetzt saß sie auf einem Stuhl, aschfahl im Gesicht. Sie fror. Nicht nur, weil das Umschlagtuch verloren war.

Johanne hielt unter einer Flickenkaffeemütze eine Kanne mit schwarzem, süßen Kaffee warm. Echter Kaffee, keine dünne Zichorienbrühe. Verständnislos den Kopf schüttelnd goss sie einen Becher voll und reichte ihn der Freundin. »Marie, Marie, was hast du dort auch zu suchen!«

Marie schaute sich um, keine Kundin da, die Stickgarn oder Nadeln kaufen wollte, sie konnte offen reden.

»Ich weiß nicht. Irgendetwas trieb mich dorthin, etwas … wie soll ich das erklären? Revolution. Die gibt es nur in den großen Städten der Welt, in Paris oder Berlin oder Wien. Doch nun auch in Bremen! Sie fordern Pressefreiheit und bessere Schulen. Schulgeldfreie Volks- und Gewerbeschulen, stell dir vor …« Sie wärmte ihre Hände am Becher.

»Schulen? Wieso Schulen?«

»Die jungen Menschen brauchen Bildung, gute Bildung, damit sie zu guten Menschen werden!«

»Ach, Marie, Bildung hin, Bildung her. Aus ’nem dummen Esel wird nie ein kluges Pferd.«

»Aber fehlende Schulen machen aus klugen Pferden dumme Esel!«, widersprach Marie.

Johanne überlegte einen Augenblick. »Esel bleibt Esel«, sagte sie. »Und Pressefreiheit! Das sind Sachen für Männer. Die geht es an, und die können sich meinetwegen deshalb die Köpfe einhauen. Was haben wir Frauensleute von Pressefreiheit und von besseren Schulen?«


Mit dem Umschlagtuch der Freundin machte Marie sich auf den Heimweg.

Vor der Weserbrücke stieß sie auf eine Barrikade aus hochgestapelten Wagen, die zum Entladen der Schiffe am Ufer bereitstanden. »Ich will rüber«, sagte sie zu einem Arbeitsmann, der die Barrikade bewachte.

»Meine Dame!«, rief er in Siegerpose. »Wir haben gesiegt. Die Brücke ist unser!«

»Wie? Gesiegt? Ist der Senat zurückgetreten?«, fragte sie.

»Zurückgetreten? Weiß ich nicht.«

»Moment, Moment – wofür macht ihr denn die Revolution?«

Treuherzig strahlte er sie an: »Ei, man macht ja allenthalben Revolution. Wir Bremer müssten uns doch schämen, wenn wir zurückblieben. – Aber kommen Sie, meine Dame, ein hübsches Wesen wie Sie lasse ich natürlich durch.«

Kapitel 4 – 8. März 1848


In kranken Dagen – bi Nacht


Wo lank de Nacht! – Wat slikt de Tid!

Wat is de Slap, so wit, so wit!

Mi is de Kopp so wirr, so heet,

Ik bin so wach, un och, so möd.

Wat sleep ik geern een halbe Stunn’,

Dat neen Moth un Rau ik funn.


Wit weg de Slap! – Min Hart, dat kloppt;

De Uhr, de tickt, de Wächter roppt;

Ganz inner Feern, dar kreiht en Hahn,

De Thornklock hör ick eene slan;

Erst een! – De Dag is noch so wit –

Wo lank de Nacht! – Wat slikt de Tid!


Dat Nachtlecht weimelt, – geit et ut?

En Schuder treckt mi där de Hut;

Man seggt, denn tritt de Dod upt Grav,

Un düt us an – dat wi hinaf.

Wenn’t is, hier bin ik, Herr min Gott!

Din bliv ik jo in Noth und Dod!


Dat Lecht is ut, – et graut de Dag, –

Ik hör en hellen Vagelslag, –

So heff ik slapen Stunn’ um Stunn’,

So heff ik Moth und Raue funn’.

Ik lebe noch! – Ik dank di, Gott!

Bliv du bi mi in Noth und Dod!


Marie Mindermann


Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bette von der rechten Seite auf die linke, wieder zurück nach rechts, dann auf den Rücken. Ihr Kopf glühte, sie streifte die Nachthaube ab. Vom Fenster her zog es, und als der Schweiß trocknete, fror sie. Kopfschmerzen. Und Halsschmerzen. Die Domuhr schlug eins, wenig später die Uhr von Sankt Pauli. Ein Uhr erst. Nahm die Nacht denn kein Ende?

Sorgen, die sie tagsüber mit ihrer Arbeit verscheuchen konnte, machten sich in ihrem Kopf breit. Geldsorgen. Seit Wochen hatte sie kein Gedicht verkauft. Noch konnte sie von der Erbschaft leben, vom Erlös der verkauften Werkstatt, aber das Geld schmolz. Wovon sollte sie im Alter leben, wovon die Arztrechnungen bezahlen, wenn sie ernstlich krank würde? Ein Lebensabend im Armenhaus? Sorgen, die sie als Ottos Frau nicht gehabt hätte. Ein hoher Preis für ihre Unabhängigkeit.

Bleiern lastete das Federbett auf ihr, schien schwerer und schwerer zu werden, als wollte es sie langsam ersticken. Keine Luft. Sie suchte unter dem Kopfkissen nach dem Taschentuch und schnäuzte kräftig die Nase. Hatte sie die Turmuhr überhört, vielleicht sogar ein bisschen geschlafen? Sie richtete sich auf, tastete auf ihrem Nachttisch nach den Streichhölzern, zündete das Nachtlicht an und schaute auf die Taschenuhr, die Caroline ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Zehn nach eins erst.

Niedergeschlagen ließ sie sich zurück auf das Kissen sinken und beobachtete die Flamme, die ruhig und stetig brannte. Sah den schwarzen Docht, den bläulich-weißen Kern und den gelben Mantel, nach oben zugespitzt wie eine Zipfelmütze. Plötzlich begann die Flamme zu zittern und zu flackern, legte sich nach links und leckte zischend am Wachs. Der Tod. Jan Plünnenbüdel sagt, wenn das Nachtlicht weimelt, kündigt sich der Tod an.

Vater im Himmel, kommst Du mich schon holen? Zu Vadder und Mudder? Johanna schreibt, sie hat Brustkatarrh. Wir kränkeln leicht, wir Mindermanns. Neununddreißig Jahre bin ich alt, eine alte Jungfer, hab meinen Körper keinem Mann hingegeben, kein Kind geboren und gesäugt, bin ein vertrockneter Zweig, der nur geblüht, doch niemals Frucht getragen hat. Vater im Himmel, wenn es sein soll, bin ich bereit …

Die eisenbereiften Räder eines Wagens rumpelten über das Straßenpflaster. Lautes Vogelgeschrei. Verwirrt sah Marie die Morgensonne durch den dünnen Spalt zwischen den Vorhängen fallen und einen goldenen Strich auf den Dielenboden der Schlafkammer ziehen. Das Nachtlicht war längst erloschen.

Ein neuer Tag. Ein kurzes Dankgebet.


Eingewickelt in ihr dickes Umschlagtuch für den Winter saß sie am Küchentisch und schaute benommen aus dem Fenster. Caroline hatte ihr eine Kanne heißen Holundersaft gekocht.

Wo lank de Nacht! – Wat slikt de Tid! – Sie legte Papier, Tinte und frisch angeschnittene Federn bereit und vergegenwärtigte sich die Empfindungen der letzten Nacht.

Jemand stampfte die Treppen hoch. Es klopfte. Frau Puvogel von nebenan. Die fehlte ihr noch. Dickbäuchig watschelte sie in den Flur, ein kleines Mädchen am Schürzenzipfel, ein weiteres Kind auf dem Arm. »Ach, Fräulein Mindermann«, sagte sie. »Könnten Sie mir etwas Hafergrütze leihen. Wir haben nichts mehr zu essen, und Lohn gibt’s erst übermorgen.«

»Kommen Sie mit in die Küche«, antwortete Marie müde.

Die Puvogel ließ sich ächzend auf die Bank fallen, drückte dem Mädchen den Säugling auf den Schoß und blickte sich neugierig um. Auf dem Rack standen hinter den Leisten zwei Reihen mit einfachen Keramiktellern, darunter hingen Becher, in der Ecke ein Vorratsschrank mit Fliegengitter aus Draht, darauf lasierte Kuchenformen und Vorratstöpfe, über dem Herd eine Leiste mit Schöpf- und Rührlöffeln. Eine Bank mit zwei Eimern: Brunnenwasser zum Kochen, Regenwasser zum Waschen. Kein Reichtum, aber doch ein gewisser Wohlstand. Marie kramte ein Leinensäckchen hervor und füllte Hafergrütze hinein.

Die Puvogel seufzte. »Ach, Fräulein Mindermann, Sie haben es gut! Ohne Mann, ohne Kinder!«

»Na ja«, sagte Marie unbestimmt. Vielleicht hatte sie es – mit Frau Puvogel verglichen – gut, trotz der Kopfschmerzen, trotz der nächtlichen Sehnsucht. Zehn Kinder hatte die Nachbarin bisher zur Welt gebracht, drei davon waren nach wenigen Tagen gestorben, zwei im ersten Lebensjahr, das elfte Kind wölbte bereits den Bauch der Frau.

Marie holte einen Lappen hervor und putzte sich die laufende Nase.

»Schnupfen?«, fragte Frau Puvogel teilnehmend.

»Ja.«

»Ich weiß ein gutes Mittel dagegen. Schnäuzen Sie in den Schuh eines anderen Menschen, dann geben Sie den Schnupfen weiter.«

»Frau Puvogel, das ist doch Spökenkram!«

»Ob Spökenkram oder nicht – es wirkt.«

»Gut, dann geben Sie mir gleich Ihren Holschen!«

Die Puvogel lachte und drohte mit dem Finger. »Sie sind mir eine, Fräulein Mindermann!«

»Wie geht’s Ihrem Mann?«, fragte Marie.

»Och, ich will nicht klagen. Hat ja Arbeit in der Zigarrenfabrik. Zwei Taler kriegt er in der Woche, und die Jungs sind auch dort und bringen zusammen einen Taler nach Haus. Als Abstreifer.«

»Ihre Jungs sollten nicht arbeiten!«, sagte Marie streng. »Die sind noch nicht konfirmiert und müssen zur Schule.«

»Abends gehen sie zur Schule. Von sieben bis neun«, sagte Frau Puvogel.

»Manchmal«, ergänzte das Mädchen.

»Frau Puvogel, das geht nicht. Ihre Jungen müssen richtig in die Schule gehen. Damit sie später einen ordentlichen Beruf erlernen!«

»Wir müssen aber heute satt werden!«, sagte die Frau trotzig.

Marie holte aus dem Fliegenschrank das Schwarzbrot heraus, schnitt eine dicke Scheibe ab und bestrich sie mit Pflaumenmus. »Hier, Martchen«, sagte sie und gab sie dem Mädchen.

»Ach, Fräulein Mindermann, Sie sind so gut!«, dankte Frau Puvogel. Dann legte sie den Kopf schief, lächelte schelmisch und fuhr fort: »Könnten Sie vielleicht auch so gut sein und mir einen Kleinen einschenken? Ihren guten Holunderwein!«

»Frau Puvogel!«, rügte Marie. »Den Wein lassen Sie man lieber aus ihrem Körper, besonders in Ihrem Zustand! Ich geb ihnen einen Becher Holundersaft. Der tut Ihnen gut.«

»Wein tut aber besser, Fräulein Mindermann.«

»Damit Ihr Mann Sie wieder prügelt, wenn er merkt, dass Sie getrunken haben?«

»Och, Fräulein Mindermann. Nun seien Sie man nicht so. Und um meinen Mann machen Sie sich man keine Gedanken. Ich räch mich für jedes blaue Auge, das er mir haut.«

»Rächen?«

Frau Puvogel warf einen Blick auf das Mädchen. »Geh auf die Straße, spielen.«

»Tja«, erklärte Frau Puvogel, nachdem das Kind draußen war, »für jedes blaue Auge spuck ich ihm kräftig in seinen Suppenkump – ohne, dass er es merkt! Und für jeden Tritt …« Die Puvogel beugte sich nach vorn, schaute links und rechts um sich wie eine listige Dohle. »… für jeden Tritt … das behalt ich lieber für mich … Muss nun rüber. Dankeschön, Fräulein Mindermann, Sonnabend kriegen Sie es zurück. Ach, wenn wir Sie nicht hätten!«

Diese Puvogel! Diese Unwissenheit! Schlimm, schlimm. Marie schüttelte den Kopf.

Zurück zum Papier, zur letzten Nacht. Wo lank de Nacht! – Wat slikt de tid! – Wat is de Slap so wit, so wit.

Wieder stampften Schritte die Treppe hoch. »Wir sind’s!«, rief Caroline und betrat mit ihrem Bruder die Küche.

Ludwig Lacroix war vier Jahre jünger als seine Schwester. Die Geschwister ähnelten sich sehr mit ihren braunen Augen, den runden Gesichtern und den feinen Fältchen um die Augen herum. Dunkles, leicht gelocktes Haar mit ersten grauen Strähnen, Ludwigs Schädel wurde schon kahl. Zwei üppige Gemütsmenschen, die gutes Essen liebten. Entsprechend füllig waren ihre Leiber.

»Ludwig war vorgestern auch auf dem Markt, wo du beinahe … Und gestern war er im Bürgerverein. Ludwig, erzähl mal!«

Caroline rieb sich die Hände, setzte Kaffeewasser auf und holte zwei Becher vom Rack.

»Tja«, begann Ludwig und kratzte sich am Kinn, »das sieht ja nun ganz nach Revolution und Demokratie aus. Ich weiß zwar nicht, was ich davon halten soll, aber –« Er berichtete, dass bereits gestern, am 7. März, der Senat die Pressezensur aufgehoben habe. Jetzt dürften also die Journalisten in den Zeitungen schreiben, was sie für richtig hielten, ohne wegen eines Pressevergehens ins Gefängnis zu kommen. Aber das reiche den Herren Demokraten nicht. Die Lehrer Kotzenberg und Feldmann haben eine Petition entworfen, in der sie freie Wahlen fordern, allgemeine freie und gleiche Wahlen, das hieße, jeder unbescholtene Bürger in Bremen könne wählen und gewählt werden, unabhängig vom Stand und vom Einkommen. Darüber hinaus verlangen sie eine neue Verfassung, Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen und die Trennung von Justiz und Verwaltung. Ja, das sei es wohl im Wesentlichen.

»Jeder Bürger darf wählen? Egal, wie hoch sein Einkommen ist, egal, zu welchem Stand er gehört?«, fragte Marie. »Im Grunde ist das nur gerecht.«

»Vorsicht, Fräulein Mindermann. Jeder Bürger, das heißt auch jeder Torfkopf wie unser spinnerter Jan Plünnenbüdel und Ihr Nachbar Puvogel. Ich weiß nicht, ob ich solche Leute an politischen Entscheidungen beteiligen möchte. Nun, jedenfalls wird gleich eine Delegation zum Markt ziehen und die Petition, die wohl von über zweitausend Bürgern unterschrieben wurde, dem Senat überreichen.«

»Das muss ich sehen!«, rief Marie und sprang auf.

»Und deine Kopfschmerzen? Dein Fieber?«, wandte Caroline ein.

Marie legte die Hand auf die Stirn. »Verschwunden! Dank der liebevollen Fürsorge einer liebevollen Freundin.«

»Auf denn, meine Damen, schauen wir uns das großartige Schauspiel ›Die Revolution in Bremen, zweiter Teil‹ an. Ich werde uns Plätze in der ersten Reihe besorgen.« Er ließ die Frauen in seinem leichten Zweispänner Platz nehmen, stopfte eine Reisedecke um ihre Beine und rumpelte mit ihnen in die Altstadt.


Wieder wimmelte der Markt von Menschen. Die Bürgerwehr patrouillierte. Lacroix drängte sich mit der Selbstsicherheit eines Mannes, dem der Platz in der ersten Reihe zusteht, nach vorn an den Rathauseingang, die Frauen im Schlepptau, und sagte: »Na, bin gespannt, was da heute herausbrät!«

»Ich auch!«, meinte ein Herr im grauen Paletot mit Zylinder und Spazierstock. »Fürwahr, ich auch! Die Forderungen sind zum Teil dermaßen überzogen und abstrus, dass ich um Bremens Zukunft bange. Mehr Bildung! Was sollen wir mit mehr Bildung? Wenn ein Arbeiter oder Handwerker mehr Bildung hat, als sein Beruf erfordert, wird er unglücklich werden, dass er nicht zum höheren Stand gehört!«

Empörtes Gemurmel ringsumher. Marie starrte nachdenklich zu Boden. Macht mehr Bildung unzufrieden? Hatte die Bildung sie unzufrieden gemacht mit ihrem Stand?

»Ich hoffe, dass der Senat Einsicht zeigt und den Forderungen nachgibt«, antwortete ein anderer, »vor allem, was das Wahlrecht angeht. Schließlich leben wir in einer freien Hansestadt. Sind seit Jahrhunderten stolz darauf, dass uns ein bürgerlicher Senat regiert und kein Monarch.«

Ein anderer meinte verächtlich: »Aber wenn ein König oder ein Prinz in unsere Stadt kommt, so läuft alles gleich zusammen, um die fürstliche Person anzugaffen. Kein Wunder, dass diese Leute von Gottes Gnaden stolz auf uns herabblicken, wenn wir uns selbst so erniedrigen, nur um in ein durchlauchtiges Antlitz zu sehen. So muss ein freier Republikaner nicht denken. Achtung für jeden Menschen und keine Kriecherei vor den Hohen, die oft nur auf ihre Geburt und Titel stolz sein können!«

Freie Menschen, keine Kriecherei. Unwillkürlich richtete Marie sich auf, drückte die Brust heraus, hob den Kopf. Freie Menschen. Freie Köpfe.

Plötzlich schwoll das Raunen und Tuscheln an. »Sie kommen. Seht da: vorweg Tischlermeister Wischmann und Lehrer Feldmann mit der Petition!«

Gravitätisch schritt der Lehrer zum Rathaus, begleitet von einigen Männern. Unmittelbar hinter ihm … das war doch … das war doch Maries ehemaliger Unterlehrer Suhling! Natürlich, er war es. Zwar um ein Vierteljahrhundert älter geworden, aber immer noch lang und mager. Sie winkte ihm zu. Er sah sie, vielleicht erkannte er sie sogar, er winkte zurück.

»Guck mal, Caroline, das ist Herr Suhling, der war früher mein Lehrer!« Aufgeregt zeigte sie auf den hageren Mann, der mit den Petenten im Rathaus verschwand, und es war, als übertrüge sich durch ihn ein klein wenig Revolution auf Marie, obwohl das Ganze beileibe keine Frauensache war.

»Dein Lehrer? Gut sieht er aus. Was für ein schöner, schlanker Mann!«, schwärmte Caroline. »Warst du in ihm verliebt?«

»Nein«, sagte Marie und lachte. »Ich hatte viel zu viel Respekt vor ihm.«

Sie warteten. Der Senat zog sich zur Beratung zurück. Die Zeiger der Domuhr drehten gemächlich ihre Runde. Eine und noch eine. Unmut wurde laut. Was ist los? Was machen die so lange?

Schließlich ertönte aus der Rathaushalle frenetischer Jubel, pflanzte sich fort nach draußen, und da wurde Wischmann schon unter Hurra-Rufen vom Rathaus zu den Stufen des Roland geleitet. Er nahm seinen Hut ab. Sofort entblößten die Männer ihre Köpfe.

Der Senat habe eingewilligt, die Wünsche der Bürger in allen Punkten zu erfüllen, und wolle sofort die erforderlichen Einleitungen dazu treffen, verkündete der Demokrat feierlich.

Die Menschen strahlten, gratulierten sich, oh ja, wir Bremer, freie Bürger sind wir, freie Bürger einer freien Stadt.

»Nun, der Pöbel hat ja endlich gesiegt!«, sagte unmittelbar neben Marie der Herr im grauen Paletot und behielt demonstrativ seinen Zylinder auf dem Kopf.

»Schämen Sie sich!«, beschimpfte ihn ein anderer. »Unter dem, was sie Pöbel nennen, sind mehr redliche und kluge Leute, als unter denen, die sich wegen ihres Geldes berufen glauben, ihre ärmeren Mitbürger zu verachten.«

»Bravo!«, riefen andere. »Bravo! Recht gesprochen!« – »Austernfresser! Pfeffersack!«


Bremen feierte. Auf dem Neuen Markt in der Neustadt errichteten die Bürger einen Flaggenbaum. Abends wurde die Stadt illuminiert. Fackeln loderten an öffentlichen Gebäuden, in fast allen Fenstern brannten Kerzen, auch bei Bürgermeister Smidt, auch bei Caroline und Marie, auch bei Nachbar Puvogel. Es war so feierlich, so besonders. Wie Weihnachten – und doch anders. Hoffnung wuchs in den Köpfen und Herzen, die Hoffnung, dass das Leben der Menschen in Bremen zukünftig leichter, gerechter, heller würde. Marie fühlte sich erregt und belebt. Wie ein junges Mädchen, das seine Zukunft noch vor sich hat, eine gute Zukunft. Ein wahrhaft lichter Tag nach einer dunklen Nacht.

Kapitel 5 – Anfang August 1848


»Wenn ich die Bibel aufschlage und prüfe, dann finde ich Gedanken der Wahrheit, aber ich finde auch Gedanken, die den Menschen nur auf ihrer frühen Entwicklungsstufe als wahr erscheinen konnten. Ich finde Aussprüche, die von einer höchst mangelhaften Gottesanschauung zeugen und Aussprüche, die sich als Irrtum erweisen. Und so erkenne ich: die Bibel ist die Offenbarung des ewigen Gottesgeistes, aber auch Ausfluß des irrendes Menschengeistes. Daher rufe ich Gott an und bitte Ihn um Seinen Geist, und Er sendet ihn und Sein Geist entscheidet, was Gotteswort und was Menschenwort ist.«


Zitiert nach dem Bremischen Jahrbuch, Band 34, 1933


Sonnabend Nachmittag, ein heißer Tag im August. Mücken sirrten.

Sie saßen unten im Hof. Im Schatten des Kirschbaums besserte Marie zerschlissene Bettlaken aus, schnitt sie quer durch und nähte die Teile so aneinander, dass das dünne Gewebe aus der Mitte nun oben und unten saß, wo es weniger beansprucht wurde. Lästig war beim Schlafen allenfalls die kleine Naht, die drückte, wenn sie zu dick ausgefallen war. Caroline saß am Tisch und kopierte Noten.

»Dass es jetzt schon Maschinen gibt, mit denen man richtig nähen kann«, murmelte Marie, während sie mühsam stichelte.

»Ich halte nichts davon«, entgegnete die Freundin. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Maschine so gut näht wie eine Hand.«

»Wie meine Hand!«, scherzte Marie.

Caroline legte die Feder beiseite und konterte: »Meine Hand backt besser.«

In diesem Moment öffnete sich die Hoftür. »Besuch für die Damen«, meldete Herr Weber und brachte Ludwig Lacroix in den Garten.

»Na, wie geht es den Frauensleuten?«, fragte Carolines Bruder, ließ sich auf die Gartenbank fallen, holte eine lange weiße Tonpfeife hervor und stopfte sie sorgfältig. Er berichtete von dem neuen Pastor, der morgen früh in der Liebfrauenkirche seine Antrittspredigt halten würde. Im April habe er schon seine Gastpredigt gehalten, recht beachtlich übrigens. Vor einigen Tagen, erzählte Lacroix, sei der neue Pastor mit seiner Frau und fünf Kindern im Morgenzug auf dem Bahnhof angekommen.

»Mit dem Zug? Das ist mutig«, stellte Marie fest und erinnerte sich, wie vor acht Monaten die erste Dampflok in Bremen eingetroffen war.

Auch sie hatte unter den Tausenden von Zuschauern gestanden, die die Gleise säumten, allerdings weit hinten, denn sie traute dem schwarzen Ungetüm nicht, das feuerfauchend mit unglaublicher Geschwindigkeit über die Gleise ratterte. Neben ihr hatte ein alter Zigarrenmacher den Kopf geschüttelt, als er hörte, dass diese Züge nun mehrmals täglich fahren sollten, und gefragt: »Wo wollen denn all die Menschen hin? Wer reist denn ohne Not?«

Solch einem Ungetüm hatte sich also der neue Pastor samt seiner Familie anvertraut. Nachsichtig lächelnd erklärte Lacroix: »Fräulein Mindermann, zum Reisen mit dem Zug gehört nicht viel Mut. Den würden Sie auch aufbringen, wenn es sein muss. Der Mann ist modern. Und was ich davon halten soll, weiß ich nicht.«

Plötzlich ertönte ein Schreien und Fluchen aus den offenen Fenstern des Nachbarhauses. Erschrocken sprangen die Frauen auf und horchten.

»Hast du schon wieder die Flasche leergesoffen, du faule Schlampe! Mein letzter Schnaps war das!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739424996
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juli)
Schlagworte
emanzipation Bremen Demokratie Frauenwahlrecht Heimatdichter 1848 Frauenrechte Plattdeutsch Revolution

Autoren

  • Truxi Knierim (Autor:in)

  • Kathrin Brückmann (Andere)

Truxi Knierim lebt seit 1967 in Bremen und schreibt seit 25 Jahren Romane mit historischem Hintergrund, vor allem aus der bremischen Geschichte. Dabei beschäftigt sie vor allem, wie Menschen in früheren Zeiten lebten, dachten und fühlten. Anhand von historischen Ereignissen versucht sie, die Vergangenheit für Menschen von heute auf spannende und anschauliche Weise lebendig zu machen.
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Titel: Die Revolution von Fräulein Mindermann