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Sweet Surprise - Der Mann aus dem Koffer

von Karin Koenicke (Autor:in)
358 Seiten
Reihe: New York Lovestorys, Band 5

Zusammenfassung

Was kann ein Koffer über einen Mann verraten? Gärtnerin Melissa spricht lieber mit ihren Pflanzen, als sich ins New Yorker Nachtleben zu stürzen. Um sie aus dem Gewächshaus herauszuholen, schleift Freundin Sandy sie zu einer Kofferversteigerung. Statt der erhofften Sommerkleider findet Melissa in dem ersteigerten Lederkoffer die Sachen eines Mannes und wird neugierig. Inkognito lässt sie sich auf ein Treffen mit dem Besitzer ein und verliebt sich Hals über Kopf in Patrick. Doch will der überhaupt etwas von einer einfachen Gärtnerin wissen? Sie hat durch den Kofferinhalt viel über ihn erfahren und gaukelt ihm gleiche Interessen vor. Doch ihr Lügenkonstrukt wird immer gefährlicher, denn im Prospect Park blühen die japanischen Kirschbäume und da fällt es schwer, klare Gedanken zu fassen … Ein Liebesroman, so zart und zauberhaft wie der Frühling

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Karin Koenicke

 

 

Sweet Surprise - Der Mann aus dem Koffer

 

 

Liebesroman

1. Bonsai-Kiefer

Bonsai ist die fernöstliche Gartenkunst, bei der Sträucher und Bäume in kleinen Gefäßen im Wuchs begrenzt und ästhetisch geformt werden. Das Wort bonsai besteht aus den beiden Wörtern bon „Schale“ und sai „Pflanze“. Ein Bonsai soll die Harmonie zwischen Natur und Mensch in Miniaturform darstellen.

 

 

„Keine Angst“, sprach Melissa beruhigend auf die Bonsai-Kiefer ein. „Ich kürze dir nur ein paar Äste, damit du schön buschig bleibst. Es ist nicht schlimm.“ Sie nahm die bereitgelegte Zange in die Hand und knipste dem winzigen Nadelbaum einige Zweige ab, damit er wieder neu austreiben konnte. Fast schon zärtlich bestrich sie die Schnittstellen mit einer Wundverschlusspaste. Der Boss hatte natürlich mächtig gemeutert, als sie die teuren japanischen Werkzeuge bestellt hatte, aber für die Bonsais gab es nichts Besseres. Und schließlich betreute das City Garden Center die Pflanzen einer Menge wohlhabender New Yorker, deshalb hatte er am Ende eingewilligt.

Melissa wandte sich gerade einem prächtigen Fächerahorn in Miniaturformat zu, als ihr Kollege Darryl ins Gewächshaus getrampelt kam.

„Ich habe wieder mal einen Problemfall für dich“, rief er schon an der Tür. Sein Blondschopf verschwand fast hinter dem Ficus im Terrakottatopf, den er vor sich hertrug.

Kopfschüttelnd ging Melissa auf ihn zu. „Wie schaffst du es nur immer, irgendwelche Patienten aufzugabeln?“, fragte sie. „Kein anderer Gärtner schleppt so viele kranke Pflanzen an.“

„Die schauen halt nur aufs Trinkgeld. Ich hingegen sorge dafür, dass dir nicht langweilig wird.“ Sein breites Grinsen ragte über die Grünpflanze hinaus.

Melissa seufzte hörbar. Von Langeweile konnte wirklich keine Rede sein. Im City Garden Center am Rand von Manhattan war immer genug zu tun, nicht nur für die Floristen vorne im Shop, sondern auch für Melissa und ihre Kollegen, die im Gewächshaus arbeiteten.

„Das Kerlchen hier hat braune Blätter, obwohl er genau wie die anderen gegossen wurde“, sagte Darryl.

„Stell ihn hierhin.“ Melissa deutete auf einen freien Platz. „Ich schau mal, was ich für ihn tun kann.“

„Okay. Muss sowieso gleich wieder los. Bis dann!“ Er winkte ihr kurz zu und verschwand. Melissa war heute Nachmittag alleine im Gewächshaus. In der Gärtnerei in New Hampshire, wo Melissa aufgewachsen war, hatten ihnen die Kunden die bunten Tagetes und Petunien oft schon vor Ostern aus der Hand gerissen. Melissa hatte sich damals gefragt, ob es wohl einen heimlichen Wettbewerb um das früheste Blütenmeer gäbe. Hier im Herzen der Großstadt waren Zimmerpflanzen viel begehrter und die waren zum Glück ihr Steckenpferd.

Sie untersuchte den kranken Ficus von allen Seiten, tastete in seine Erde hinein, prüfte die Beschaffenheit seiner Blätter und Zweige. Schnell wurde ihr klar, dass der Patient einen Pilz hatte. Das war kein größeres Problem, sie holte eine Sprühflasche, rührte ihr Spezialmittel an und nebelte den Ficus sorgfältig ein.

„Mach dir keine Sorgen“, munterte sie ihn auf. „Mit dieser Kur bist du ganz bald wieder fit und darfst an deinen angestammten Platz zu Hause zurück.“ Melissa wusste, dass Pflanzen sich nicht wohlfühlten, wenn man sie aus der bekannten Umgebung riss. Ihr kam es vor, als hätten sie Heimweh. Das Licht war anders, die Luft auch – war ja kein Wunder, dass viele erst mal traurig die Blätter hängen ließen. Sie konnte das gut nachvollziehen. Bei ihr hatte es auch eine Zeit gedauert, bis sie sich eingewöhnt hatte. Und so eine richtige Großstadtpflanze würde sie wohl nie werden.

Sie spendierte dem grünen Patienten ein Düngerstäbchen und blieb noch einen kurzen Moment vor ihm stehen. „Du bist ein kräftiger Kerl“, stellte sie fest. „Und lässt dich doch von einem Pilz nicht unterkriegen. Außerdem bin ich ja da und passe auf dich auf.“

„Hey, Mel, sag bloß, du redest schon wieder mit irgendeinem Gestrüpp?“ Melissa fuhr herum. Ihre Freundin Sandy – wie immer in schrille Farben verpackt und heute auch noch mit Glitzerohrringen dekoriert – rauschte heran.

„Ich mach das nur wegen des Kohlendioxids im Atem“, erklärte Melissa schnell. „Das tut den Pflanzen gut für ihren Stoffwechsel.“ Natürlich war das Unsinn und natürlich wusste sie, dass eine ganze Menge Menschen sie für verrückt hielt, weil sie sich gerne mit Pflanzen unterhielt. Aber sie fühlte sich nun mal wohl in grüner Umgebung, meist sogar wohler als bei ihren eigenen Artgenossen. Pflanzen waren verlässlich. Sorgte man gut für sie, bemühte man sich um ihr Wohlergehen, so waren sie dankbar und treu. Niemals hintergingen sie einen und man wurde von ihnen auch nicht ausgenutzt. Es gab nur selten Streit und man musste nicht besonders hübsch oder interessant sein, damit sie einen mochten. Melissa fand, das alles waren Gründe genug, sie der Mehrzahl der Menschen, denen sie bisher begegnet war, vorzuziehen.

„Klar, du redest nur wegen irgendwelchem chemischen Zeugs mit ihnen.“ Sandy grinste, aber auf eine sehr gutmütige Art. „Heute Abend schleppe ich dich ein bisschen unter Menschen, sonst setzt du hier noch Wurzeln an.“

Oh nein, nur das nicht! Wenn Sandy so etwas ankündigte, konnte das nur eines bedeuten. „Du willst mir schon wieder irgendeinen Kerl andrehen!“ Melissa verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber ich will kein Date, glaub mir das doch endlich.“

Die letzten Gestalten, die Sandy für sie angeschleppt hatte, waren allesamt schräge Vögel gewesen und hatten außerdem sowieso kein Interesse an ihr gehabt. Melissa hatte ihre Freundin wirklich gern, aber diese Verkuppelungsversuche raubten ihr den letzten Nerv.

Abwehrend hob Sandy die Arme. „Keine Panik, Darling! Heute geht es um etwas ganz anderes, ich verspreche es dir. Die Sache ist nämlich die: George will mit mir in Florida Urlaub machen, sogar eine ganze Woche.“

„Ja, und?“ Melissa konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was das mit ihr zu tun haben sollte.

„Ich habe nur eine uralte Reisetasche, die geht auf keinen Fall. Aber hast du mal in der letzten Zeit die Preise für Koffer gesehen?“

Das war sicher eine rhetorische Frage, denn Melissa wanderte lieber im Central Park herum als die Fifth Avenue entlang, um sich die Nase an Schaufensterscheiben platt zu drücken. „Die letzten acht Tage habe ich ausnahmsweise die Entwicklung des Lederpreises nicht eingehend verfolgt“, antwortete sie im Ton eines Börsenkommentators.

„Ich schon“, gab Sandy trocken zurück und sah sie dann mit einem so auffordernden Blick an, als wollte sie sie beim Tanztee zum Quick Step auffordern. „Können wir los? Du hast doch sicher schon Feierabend.“

„Ich soll mit dir einkaufen gehen?“ Melissa streifte sich die Arbeitshandschuhe ab. „Du weißt, dass es für mich Höchststrafe ist, durch irgendwelche Kaufhäuser zu bummeln.“

„Keine Angst, das musst du nicht. Wir verbinden das Nützliche mit etwas richtig Aufregendem!“ Nach dieser kryptischen Ankündigung öffnete Sandy die Tür des Schranks, in dem die Angestellten ihre Jacken aufhängten, und zog Melissas alte Strickjacke vom Bügel. „Komm schon, wir müssen uns beeilen. In einer halben Stunde geht es los.“

„Was denn?“

„Das erzähle ich dir unterwegs, es wird dir gefallen!“

Davon war Melissa keineswegs überzeugt. Ihre Freundin hatte dieses bestimmte Funkeln in den Augen, das nie etwas Gutes bedeutete. Beim letzten Mal, als Sandy sie so angesehen hatte, waren sie rüber nach Staten Island geschippert, weil es da angeblich ein Treffen von alleinstehenden Kräuterliebhabern geben sollte. Seit Sandy mit George zusammen war, versuchte sie ständig, ihre Freundin ebenfalls an den Mann zu bringen. Das anvisierte Meeting von Grünzeugliebhabern, die sich nach weiblicher Gesellschaft sehnten, hatte sich am Ende als Weed Dating herausgestellt, und das Kräuterangebot war dann doch nur auf eine einzige Sorte beschränkt gewesen. Leider hielt sich Melissas Liebe zu Hanf sehr in Grenzen und die tiefenentspannten Typen mit verfilzten Rastazöpfen hatten auch keine Schmetterlingsanfälle bei ihr ausgelöst.

„Ich warne dich, Sandy: Wenn es irgendein Speed Dating, Slow Mating oder Food Debating sein sollte, bin ich sofort raus aus der Nummer!“, kündigte Melissa entschlossen an. „Ich will meine Ruhe und nicht wieder von einer Horde seltsamer Jungs begutachtet werden wie eine Nordmanntanne beim Christbaumverkauf.“

„Unsinn, wir fahren heute nur zu einer Versteigerung.“ Sandy drückte die Tür des Personaleingangs auf und ging hinaus.

Verwirrt folgte ihr Melissa in Richtung U-Bahn. „Ich dachte, du brauchst einen Koffer?“

„Ja eben. Stell dir vor – allein am JFK bleiben jedes Jahr Hunderte von Koffern herrenlos zurück. Wenn sich die Besitzer nicht melden oder nicht aufgefunden werden können, versteigern die Leute vom Flughafen nach einiger Zeit das Gepäck.“

„Mit Inhalt?“

„Klar, das ist ja das Witzige daran. Aufregend, findest du nicht?“ Da war es wieder, dieses verdächtige Glitzern in Sandys Augen.

„Soll das heißen, wir fahren jetzt raus zum JFK?“ Das würde ewig dauern und Melissa hatte eigentlich gar keine Lust, sich den ganzen Abend am Airport herumzutreiben.

„Nee, das Ganze findet in einer Halle hier in der City statt.“

Während der Fahrt dorthin erklärte Sandy ihr den Ablauf. Blieb ein Koffer am Flughafen zurück, wurde erst einmal vier Wochen gewartet, ob ihn jemand abholte. Anschließend versuchten die Leute vom Airport, den Besitzer ausfindig zu machen. Der Koffer wurde also geöffnet und auf Hinweise durchsucht. Erst wenn sich kein Fitzelchen fand, das auf den wahren Eigentümer hinwies, ging das Gepäckstück nach einiger Wartezeit in die Versteigerung.

„Bekommt man eine Liste, was im Koffer drin ist?“, fragte Melissa.

„Eben nicht! Genau das ist ja das Spannende. Man kauft einen Trolley oder eine Tasche und lässt sich überraschen, welche Schätze darin verborgen sind! Ist das nicht großartig?“

Melissa seufzte ergeben. Ihre Freundin hatte sich eine kindliche Unbeschwertheit bewahrt, die ihr selbst fehlte. Sie beneidete Sandy oft um diese Leichtigkeit. „Dir ist aber klar, dass die sogenannten Schätze auch ein Haufen getragener Unterwäsche sein können?“

„Oder der Großeinkauf einer Ölscheichfamilie bei Prada und Gucci.“

Sandys Optimismus war so unerschütterlich, dass Melissa sich geschlagen gab. „Okay, das ist natürlich auch möglich. Sag mal: Wie bist du überhaupt auf diese Versteigerungssache gekommen?“

„Eine Dauerwelle hat es mir erzählt. Die hat für sich selbst und für ihren Mann dort Hartschalenkoffer ersteigert. Für nur fünfzig Dollar jeweils, stell dir das nur vor! In seinem waren Schuhe, die ihm zufällig sogar gepasst haben, außerdem ein brandneuer Fotoapparat. Sie hatte weniger Glück, da gab‘s langweilige Pyjamas und Sportklamotten, aber immerhin einen echt coolen Vibrator, irgendwas mit Schallwellen, muss der totale Kick sein. Das hat sie ihrem Mann aber nicht erzählt.“ Sandy kicherte.

„Was du von deinen Kunden alles mitkriegst, ist schon erstaunlich.“ Immer wieder wunderte sich Melissa, welche Details Menschen in einem Friseursalon ausplauderten. Schallwellen-Vibrator! Von weiteren intimen Geständnissen wollte sie lieber erst gar nichts hören.

„Na ja, nicht alle reden nur mit Pflanzen. Viele quatschen halt eher mit ihrer unfassbar begabten und himmlisch freundlichen Hairstylistin. Allerdings gehen die auch öfter zum Friseur als du.“ Lächelnd knuffte Sandy sie in die Seite.

Melissa verdrehte theatralisch die Augen. Das hatte ja kommen müssen. Seit sie sich kannten – und ihr erstes Treffen lag immerhin schon über ein Jahr zurück – lag Sandy ihr in den Ohren, mehr aus sich zu machen. Sie sollte die Brille gegen Kontaktlinsen tauschen, sich auffälliger schminken, andere Klamotten tragen und natürlich ihre braunen, glatten Haare in eine schimmernde Wallemähne verwandeln. „Mal ernsthaft, Sandy: So was, das du anhast, würde sowieso nicht zu mir passen. Ich finde dich super mit deinem witzigen Styling, aber ich bin einfach nicht der Typ dafür.“

Die Kurzhaarfrisur mit dem bunten Pony konnte man nur tragen, wenn man eine quirlige Lebenskünstlerin wie Sandy war. Da passte einfach alles zusammen, von den ausgefallenen Shirts bis hin zum dramatischen Eyeliner und den Ohrringen.

„Quatsch. Ich würde dich doch nicht zu einer schrillen Anziehpuppe umstylen, das weißt du. Aber ein bisschen Pep würde nicht schaden. Binde doch die Haare nicht immer zusammen, sondern lass sie offen.“

„Ist total unpraktisch in der Arbeit.“

„Und lass mich ne Tönung machen, damit sie nicht so matt sind.“

„Ich hab mich an mein Straßenköterbraun schon gewöhnt.“

Sandy hob abwehrend die Hände. „Okay, ich geb’s auf. Wir müssen sowieso aussteigen. Auf in den Kampf um den Luxuskoffer, voll mit Einkäufen bei Tiffany’s und Saks!“

Lachend folgte Melissa ihrer Freundin nach draußen. Sie gingen ein paar Blocks entlang und landeten schließlich in einer grauen Betonhalle, wo sie sich auf zwei der zahlreichen, in sauberen Reihen aufgestellten Klappstühle niederließen. Die Versteigerung war schon im Gange. An einem Schreibtisch saß der Auktionator, ein gedrungener, grauhaariger Mann im schlecht sitzenden Sakko, und sprach in ein Mikrofon.

„Als Nächstes haben wir eine schwarze Sporttasche im Angebot, gut erhalten, alle Reißverschlüsse intakt. Das Anfangsgebot liegt bei zwanzig Dollar.“

Ein stämmiger Mitarbeiter hob das Gepäckstück etwas an, damit alle im Publikum es begutachten konnten. Wie schon von Sandy angekündigt, wurde über den Inhalt nichts mitgeteilt. Nur zwei Leute boten auf die Tasche. Am Ende erhielt ein junger Mann aus der dritten Reihe den Zuschlag, bezahlte und holte sich seine Beute ab.

„Der da drüben gefällt mir“, flüsterte Sandy und deutete ausnahmsweise nicht auf einen sexy Kerl, sondern auf einen weinroten Schalenkoffer mit silbernem Kofferband, der in der Mitte der aufgestellten Gepäckstücke stand. Bevor der drankam, wurden einige Trolleys versteigert, aber dann wurde es ernst.

„Der rote Koffer ist in hervorragendem Zustand, selbst das Zahlenschloss funktioniert. Anfangsgebot vierzig Dollar“, verkündete der Auktionator. Wider Erwarten schnellte Sandys Hand nicht sofort in die Höhe, sondern blieb abwartend in ihrem Schoß liegen.

„Willst du nicht bieten?“, fragte Melissa überrascht.

„Doch, aber niemand soll den Eindruck haben, dass ich wirklich scharf auf das Ding bin, das treibt sonst den Preis in die Höhe.“

Leider fanden aber noch vier andere Damen den roten Koffer sehr spannend, sodass tatsächlich ein filmreifes Wettbieten begann. Der Preis schraubte sich auf siebzig Dollar hoch.

„Dafür kannst du ihn auch im Laden kaufen“, flüsterte Melissa.

„Aber nicht mit diesem Inhalt! Mein Näschen sagt mir, dass das Teil ein Schnäppchen ist, vertrau mir.“ Sandy klang, als würde sie jedes freie Wochenende damit verbringen, bei Sotheby’s auf einen frühen Rembrandt oder einen Biedermeiersekretär aus Nussbaumholz zu bieten.

Für sage und schreibe fünfundsiebzig Dollar erhielt Sandy schließlich den Zuschlag, quiekte völlig unprofessionell auf und stürmte nach vorne, um das gute Stück zu bezahlen und entgegenzunehmen. Strahlend wie ein Kind mit einem schokoladenprallen Osternest in der Hand kam sie zum Platz zurück. Natürlich fummelte sie sofort an den Außentaschen des Koffers herum.

„Du kannst ihn doch hier nicht öffnen!“, sagte Melissa.

„Nein, aber hineinlinsen. Oh! Da ist ein Halstuch! Vielleicht Hermès?“ Vor Aufregung konnte sie kaum mehr still sitzen.

„Na komm, wir machen uns auf den Heimweg, damit du schnell deine Schatztruhe öffnen und die Goldstücke polieren kannst“, schlug Melissa vor und stand auf.

Sandy jedoch zog sie am Ärmel zurück auf den Stuhl. „Nichts da, du kaufst dir auch einen. Einfach aus Spaß. Sonst ist es fad, wenn ich meinen auspacke, und du hast keinen. Ist doch viel lustiger, wenn wir vergleichen können.“

„Das kostet Geld. Und ich brauche keinen Koffer.“

„Die letzten dort hinten sind billig, das sind Modelle mit kleinen Macken.“

So wie sie selbst, assoziierte Melissa sofort. Aber trotz allen Mitgefühls mit den Ladenhütern dort vorne – sie hatte nicht vor, zu verreisen, weder ins sonnige Florida noch sonst wohin.

„Ich kann mir das nicht leisten, Sandy. Selbst für einen Spaß sind vierzig Dollar viel Geld.“

„Nun warte doch erst mal ab.“

Die Menschen im Publikum wurden immer weniger. Am Ende saß nur noch ein kleines, verstreutes Häufchen von rund zehn Leuten herum. Melissa drängte erneut, endlich heimzufahren, doch Sandy ließ sich nicht beirren. „Schau doch nur, der alte Lederkoffer! Der ist so herrlich antik, in den könntest du sogar Blumen pflanzen.“

Das war allerdings eine kreative Idee. Melissa sah sich den Koffer genauer an. Wenn man ihn öffnete, den Deckel senkrecht an eine Wand lehnte und ein paar Fäden als Rankhilfe spannte, würde er mit Blumentöpfen in seinem Inneren tatsächlich sehr dekorativ aussehen. Trotzdem war er natürlich zu teuer, selbst für die zwanzig Dollar Startgebot, das der Auktionator gerade verkündete. Von den anderen Leuten gab niemand ein Gebot ab, was Melissa nicht wunderte. Das Ding hatte nicht mal Rollen, es war antiquiert und würde sicher übrigbleiben. So ähnlich wie sie selbst. Während sie darüber nachgrübelte, ob man mit siebenundzwanzig Jahren schon ein richtiger Ladenhüter war und warum sie heute eigentlich ständig Parallelen zu ihrem selbst erwählten Singleleben zog, zählte die Stimme über den Lautsprecher den Lederkoffer an. „Zum Ersten, zum Zweiten und zum …“

Bevor er „zum Dritten“ sagen konnte, riss Sandy einfach Melissas Arm nach oben.

„Zuschlag für die junge Dame mit Brille und Pferdeschwanz in der vorletzten Reihe!“, verkündete der Auktionator.

„Spinnst du?“, fuhr Melissa ihre Freundin an.

„Ach komm schon. Ein Zwanziger für ein wenig Spaß ist doch nicht schlimm. Ich lade dich am Wochenende zu einem tollen Frühstück bei Pastry Passion ein, wenn nichts Vernünftiges im Koffer ist, versprochen!“

Widerwillig ging Melissa nach vorne, um zu bezahlen. Das war natürlich ein Angebot. Der Caramel Hazel Cappuccino bei Emilia war ungeschlagen, und wenn es dazu noch ein Stück Lemon Crust Cheesecake gab, war das fast schon den Ausflug hierher samt Kofferkauf wert. Außerdem hatte Sandy recht: Ein bisschen Spaß im Leben sollte man sich gönnen. Melissa wusste, dass Sandy trotz ihrer flapsigen Art eine scharfe Beobachterin war und sich bestimmt Sorgen machte, weil Melissa so selten unter Leute ging und allein wohnte. Immer wieder kam sie mit kleinen Abenteuern an, um Melissa aus ihrer kleinen Welt zu reißen, und dafür war sie der Freundin wirklich dankbar. Auf Sandy konnte man sich verlassen, das war viel wert in einer kalten Großstadt wie New York.

Sie legte den Zwanziger auf den Tisch, unterschrieb einen Zettel und drehte sich nach rechts. Der Koffer wartete auf sie. Er war nicht so riesig wie seine gigantischen Hartschalenkollegen, sondern eher von mittlerer Größe, und er schien sie erwartungsvoll anzuschauen. Sein braunes Leder war an einigen Stellen abgewetzt und der Handgriff glänzte, als hätten ihn Finger beim Tragen poliert. Im Gegensatz zu den anderen ergonomisch geformten und windschnittig gerundeten Gepäckstücken wirkte er wie aus einer anderen Zeit. Er war kantig, auf altmodische Art melancholisch und sah aus, als hätte er einen Hang zur Rebellion. Auf alle Fälle besaß er mehr Charakter als die übliche Massenware, die Menschen normalerweise auf leisen Rollen hinter sich herzogen, wenn sie in ihren Lack-Pumps oder polierten Geschäftsschuhen zum Flughafen hetzten.

Melissa mochte den Koffer.

Das glatt gewetzte Leder um seinen Griff schmiegte sich warm in ihre Hand, als sie ihn anhob und zu ihrem Platz trug. Ihr kam es vor, als machte er sich ein wenig leichter für sie. Das war natürlich Quatsch. Manchmal ging ihre Phantasie mit ihr durch. Sandy sagte, das komme daher, weil sie zu viel mit Sträuchern rede, statt einfach mal auf einer Party zu knutschen. Vielleicht hatte sie recht.

„Du liebe Zeit, der hat ja nicht mal Rollen“, stellte die Freundin entsetzt fest. „Den musst du ja heimschleppen!“

„Ist doch nicht schlimm. Jahrhundertelang haben die Menschen ihr Gepäck so getragen.“

„Ja, da sind sie aber auch noch mit der Kutsche gefahren statt in einen Airbus zu steigen. Und es gab Diener. Außerdem keine Duschen, nur stinkige Perücken und zum Friseur ging auch niemand.“

Melissa musste lachen. Sie stellte sich Sandy in einem bunten Reifrock am Hofe des Sonnenkönigs vor. „Bestimmt hättest du die adligen Damen mit deinen Perückenkreationen in Verzückung versetzt. Stell dir nur mal vor, wie kreativ du dich mit diesen turmhohen Frisurenmonstern austoben könntest!“

„Auch wieder wahr“, gab Sandy zu, als sie die Halle verließen. Die Frühlingssonne war fast untergegangen, nur ein schwacher, rötlicher Schein beleuchtete die Spitzen der Hochhäuser. Melissa schlang ihre Jacke enger um sich, denn die Abende jetzt im April waren noch empfindlich kalt. Zum Glück war es nicht weit zur U-Bahn. Vor einem Hotel hatte man zwei Tröge mit herrlichen Veilchen aufgestellt, an denen Melissa im Vorbeigehen schnupperte. Sie rochen wunderbar nach Frühjahr, wo alles blühte, zum Leben erwachte, die Welt so reich mit bunten Farben beschenkte.

Sandy war natürlich an den Pflanzen vorbeimarschiert, ohne sie wahrzunehmen. Ihr roter Koffer folgte ihr auf leisen Sohlen, aber mit nichtssagender Miene, während Melissas Lederfreund sie dankbar anzulächeln schien. Nun ja, vielleicht sollte sie selbst wirklich mehr unter Menschen kommen, wenn sie jetzt schon anfing, Gepäckstücken Gefühle zu unterstellen?

„Du wohnst näher an der Subway-Station, lass uns zu dir gehen“, schlug Sandy vor. „Aber nur, falls du zwei Gläser Sekt übrig hast, um auf unsere Schätze anzustoßen!“

Da konnte Melissa sie beruhigen. „Klar doch. Eleanor versorgt mich laufend mit irgendwas Trinkbarem. Vor allem, seit ich ihren geliebten blauen Hibiskus vor einer Blattlausinvasion gerettet habe.“

„Deine Vermieterin ist echt klasse. Mit meinem hab ich nur Ärger. Der hat sich neulich sogar beschwert, dass George so oft bei mir übernachtet. Dabei sind wir echt leise.“

Melissa sparte sich die Frage, worauf sich die Lautstärkenangabe bezog. Manche Dinge wollte sie gar nicht so genau wissen.

Eine halbe Stunde später schleppten sie ihre Neuerwerbungen die Treppe hoch bis in Melissas kleine Dachgeschosswohnung, die natürlich vor Grünpflanzen fast überquoll. Sandy rollte ihren Koffer direkt ins Wohnzimmer, wo sie sich aufs Sofa fallen ließ, unmittelbar danach wieder aufsprang und zur Küchenzeile lief, um zwei Gläser aus dem Hängeregal zu holen. In weiser Voraussicht öffnete Melissa den Kühlschrank und gab ihrer Freundin eine Sektflasche in die Hand. Sie musste zugeben, dass sie jetzt selbst total aufgeregt war und wissen wollte, welche Geheimnisse in dem Lederkoffer steckten.

„Wer fängt an?“ Sandys Augen leuchteten.

„Nachdem deine Finger schon seit einer Minute auf dem Verschluss liegen, du!“ Melissa lachte und schenkte zwei Gläser Sekt ein.

Als hätte sie nur auf das Kommando gewartet, ließ Sandy die Schnallen aufspringen und riss den Kofferdeckel auf. „Wie cool!“ Sie zog ein knallgelbes Minikleid mit Spaghettiträgern hervor. Außerdem kam ein silbern glitzerndes Bolerojäckchen zum Vorschein, zwei Hotpants mit erstaunlich wenig Stoff, ein Bikini, der hauptsächlich aus Fäden bestand, und ein Paar Plateauschuhe mit Korksohle. Sandy schlüpfte sofort hinein und stakste durchs Zimmer, allerdings waren die Dinger etwas zu groß, sodass sie stolperte und fast in die Zimmerpalme gekracht wäre.

„Ein Kind an seinem fünften Geburtstag ist nichts gegen dich“, kommentierte Melissa das Geschehen. „Fehlt nur noch, dass du ein Papierhütchen aufsetzt und eine Wunderkerze anzündest.“

„Ich hab’s dir doch gesagt“, jubelte Sandy. „Der Koffer ist ein Volltreffer! Schau nur, diese Jeans sind von Donna Karan. Und eine Ray Ban Sonnenbrille ist auch dabei!“ Sie setzte sich die Brille auf, band sich einen pinkfarbenen breiten Gürtel um und machte eine Pose, als wäre sie mitten in einem Fotoshooting für die Vogue. Melissa musste schon wieder lachen. Es tat wirklich gut, mal so richtig übermütig zu sein.

„Wenn du in diese Jeans passen willst, darfst du aber nie mehr deine geliebten Pecan Crunchies bei Emilia essen.“ Die Inhaberin der Konditorei Pastry Passion war eine gute Freundin von Sandy und versorgte sie gerne mit Leckereien.

„Stimmt. Aber in den Bikini passe ich auch mit kleinem Schokoladenbauch.“ Sie hielt sich das Oberteil an die Brust. Sicher würde Sandy irrsinnig sexy in dem Teil aussehen, sie hatte eine tolle Figur und konnte die Körbchen des Bikinis gut ausfüllen. Melissa selbst war zwar schlank, aber ihr fehlten die weiblichen Kurven der Freundin, deshalb fühlte sie sich in Jeans und einfachen T-Shirts am wohlsten. Tief dekolletierte Oberteile besaß sie erst gar nicht.

Nachdem Sandy, immer wieder kleine Jubelschreie ausstoßend, den gesamten Koffer leer geräumt und seinen Inhalt rund um die Couch verteilt hatte, trank sie erschöpft einen Schluck Sekt und sah Melissa an. „So, jetzt ist dein Ledermonster an der Reihe. Hoffentlich gehört es keiner alten Dame. Obwohl – die schleppen ja gerne Rubinketten und Bernsteinanhänger mit sich herum. Oder vielleicht ist ein Pelzmantel drin? Ein russischer Zobel, weil die Besitzerin vor einem Moskauer Ölbaron fliehen musste? Ja genau, sie reiste inkognito in die Staaten, war aber eigentlich die letzte Nachkommin der Zarin Katharina. Leider hat sie sich unterwegs in einen Wodka-Produzenten verliebt, der jedoch in Wahrheit ein Agent für den Schweizer Geheimdienst war. Er füllte sie mit Schnaps ab, um ihr das alte Familiengeheimnis zum verschwundenen Bernsteinzimmer zu entlocken, und sie verlor im Rausch den Koffer mit ihren Kostbarkeiten. Nastrovje!“

„Du siehst eindeutig zu viele James Bond Filme, liebe Sandy.“ Wie, bitteschön, kam jemand auf solche Dinge? „Gibt es überhaupt einen Geheimdienst in der Schweiz?“

Sandy zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich war nie dort. Und jetzt mach auf, ich will den Zobel und die Bernsteinkette von Olga Zarovitschka sehen!“

Mit einem breiten Grinsen beugte sich Melissa über den Koffer. Sie strich über das alte Leder. Es fühlte sich gut an, so echt und freundlich. Auch wenn sie natürlich nicht an eine reiche Moskauerin mit Pelz und Geschmeide glaubte, hatte sie irgendwie das Gefühl, dass der Koffer etwas erzählen würde. Aber womöglich sollte sie sich besser die Nase zuhalten, um nicht von den Gerüchen irgendwelcher entsorgter Abscheulichkeiten erschlagen zu werden, möglich war schließlich alles.

Vorsichtig schob sie die kleinen Metallstifte zur Seite, sodass die beiden Klappen aufsprangen. Ganz langsam öffnete sie den Deckel des Koffers und blickte überrascht auf das sauber zusammen gelegte Innere.

„So ein Mist“, schimpfte Sandy umgehend los. „Das sind ja Sachen von einem Kerl! Tut mir echt leid für dich.“ Sie schenkte für Melissa und sich selbst noch einmal Sekt nach.

Melissa trank einen Schluck und stellte das Glas zurück. Sie selbst fand es gar nicht so schlimm, dass der Koffer keinen Glitzerbikini oder eine Sonnenbrille enthielt, mit der man aussah wie Puck, die Stubenfliege. Okay, die Bernsteinkette oder das Diamantcollier hätte sie brauchen können, denn ihr Kontostand war nie besonders erfreulich. Aber sie kam über die Runden.

„Irgendwie ist es doch auch spannend, den Koffer eines Mannes auszupacken, findest du nicht?“, fragte sie ihre Freundin. „Mal sehen, was er alles über den Besitzer verrät.“

„Wenn du Haftcreme für die dritten Zähne findest und knöchellange Feinripp-Unterhosen, kann ich mir vorstellen, wem das Ding gehört.“

Melissa faltete eine ausgeblichene Jeans auseinander, die obenauf lag. „Keine Bügelfalte drin.“ Sie schmunzelte. „Und sogar Knöpfe statt Reißverschluss. Scheint also keinem Rentner zu gehören. Die sitzen ja sowieso alle in Florida und warten, bis du ihnen mit deinem neuen Bikini Herzrhythmusstörungen verpasst.“

„Los, weiter!“ Sandy ließ sich nicht ablenken, streckte nur kurz die Zunge heraus.

Unter der Hose lag ein Buch, das ganz offensichtlich schon gelesen worden war. „Nachtzug nach Lissabon“, stellte Melissa fest und studierte den Klappentext auf der Rückseite. Sie hatte weder den Titel noch den Autor jemals gehört. Allerdings las sie auch eher Krimikomödien, die aber mit viel Begeisterung. Das hier war allem Anschein nach viel literarischer.

„Langweiliger Schmöker“, lautete Sandys Urteil, nachdem sie ihre Nase ebenfalls in das Buch gesteckt hatte. „Ich wette, da gibt es weder Morde noch ordentliche Sexorgien. Ist bestimmt einer dieser Schinken, wo einer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens ist, oder so ein Käse.“ Sie hielt kurz inne. „Sag mal, hast du was Essbares im Haus?“

„Bedien dich im Kühlschrank“, erwiderte Melissa, ohne groß aufzusehen. Sie selbst hatte keinen Hunger, statt zu essen stöberte sie lieber weiterhin im Koffer. Ein paar T-Shirts kamen zum Vorschein, schlicht und ohne Markenaufschrift. Sneakersocken, ein blaues Handtuch, fünf Boxershorts. Auf einer davon hüpften Gonzo und Fozzie Bär herum. Melissa musste lächeln. Sie hatte diese Show schon immer gern gemocht und bereits als Kind jede der Wiederholungen begeistert angeschaut.

„Cool, der Typ steht auch auf die Muppetshow! Der passt ja perfekt zu dir, weil lesen tut der ja auch.“ Sandys Grammatik schien angesichts der Muppetfiguren oder des Sandwiches, in das sie gerade herzhaft hineinbiss, gehörig zu zerbröseln.

„Und er tut auch Jeans anhaben, also der perfekte Kerl für mich, nicht wahr? Trifft schließlich auf niemanden sonst zu.“

Sandy machte eine wegwischende Handbewegung. Ironie prallte fast immer an ihr ab. „Ach, du moserst eh immer, wenn es um Typen geht. Aber ich hab das im Gespür. Der hier wäre was für dich! Schau doch nur, er kauft sein Shampoo nicht von L’Oreal, sondern hat irgendwas Alternatives.“ Sie deutete auf den Waschbeutel, den Melissa gerade ausräumte. Nassrasierer, eine Tube No name-Zahnpasta, Duschgel und Shampoo tatsächlich aus irgendeinem Biomarkt. Unter dem Beutel fand Melissa ein kleines Notizbuch, in das er ein paar Namen und Nummern gekritzelt hatte. Interessiert blätterte sie es durch, denn seine Handschrift gefiel ihr. Schwungvoll und markant, die Schrift eines Mannes, der wusste, was er wollte. Und doch gab es Zitate aus Büchern oder Gedichten, die er dort vermerkt hatte. Und Kritzeleien, die er vielleicht beim Telefonieren ganz nebenbei hineingemalt hatte. Wie seine Hände wohl aussahen?

„Steht ein Name drin?“, unterbrach Sandy ihre Überlegungen.

„Nein. Sonst hätten die Leute vom Flughafen den Besitzer doch ausfindig gemacht. Die haben sicher alles genau durchsucht.“

„Auch wieder wahr.“ Sandy ließ sich aufs Sofa fallen. „Fassen wir mal zusammen: Laut Klamotten ist der Kerl ein Stück größer als du, was natürlich nicht schwer ist, hat breite Schultern, aber keinen Bauch. Scheint körperlich gut in Form zu sein. Er ist gepflegt, aber kein selbstverliebter Schönling, sonst hätte er Haarspray und Stylingzeug dabei. Außerdem hat er – Moment …“, sie nahm den Kamm heraus und untersuchte ihn fachmännisch, „… schwarze Haare. Das ist dir ja sowieso lieber als ein Blondschopf. Und er schläft nackt, denn er hat keinen Pyjama dabei. Das spricht dafür, dass er ein gutes Verhältnis zu seinem Körper hat und somit auch ein toller Hecht im Bett ist.“

„Außerdem ist er bestimmt verheiratet und hat sieben Kinder. Schließlich musste er sein geniales Erbgut weit verteilen.“

„Himmel, nun sei ausnahmsweise mal keine Spielverderberin!“ Sandy kramte in einem Seitenfach des Koffers herum und förderte eine CD zutage. „Schau, er hört auch noch gern Musik! Also ich finde den Kerl klasse. Eigentlich schade, dass ich mit meinem George zusammen bin, sonst würde ich ihn mir selbst schnappen.“

„Du vergisst eine winzige Kleinigkeit, Miss Marple. Wir haben keine Ahnung, wie er heißt oder wo er wohnt.“

Allerdings musste Melissa zugeben, dass ihr das Gedankenspiel gefiel. Es war fast wie in einem ihrer heiß geliebten Krimis. Sandy und sie waren quasi Profiler und versuchten, anhand von Indizien am Tatort respektive aus dem Koffer herauszufinden, was der Gesuchte für ein Mensch war. Irgendwie war das eine spannende Sache. Und ihre Freundin hatte recht: Der Mann schien tatsächlich kein Macho zu sein, der mit Gel in den Haaren herumlief und in Klamotten, die in Goldbuchstaben mit einem Markennamen protzten.

„Zeig mal her.“ Sie streckte ihre Hand aus, nahm die CD entgegen und betrachtete sie. Chet Baker. Nie gehört. Ein Milchgesicht mit Trompete in der Hand. Erst, als Melissa die Hülle umdrehte, sah sie ein weiteres Foto auf der Rückseite. Da hatte er fast keine Zähne mehr, aber dafür viele Falten im Gesicht. Während sie darüber nachdachte, was für eine Art Musik das wohl sein konnte, durchwühlte Sandy weiter die Seitenfächer.

„Ein Kugelschreiber“, stellte sie ohne größeren Elan fest. „Ich finde ja, dass ein Füller interessanter gewesen wäre. Und ein Zettel, auf dem er sich ein paar Notizen gemacht hat. Auch nichts Spannendes.“

„Lass mal sehen.“ Sie nahm Sandy den Zettel aus der Hand. Zahnarzttermin am 16.05. stand darauf. Und Reinigung abholen. „Da hat er sich nur ein paar Termine notiert. Leider nichts Persönliches. Der Zettel ist von einem dieser Blöcke, die man irgendwo geschenkt bekommt“, sagte Melissa.

„Von welcher Firma?“

Melissa reichte ihr den Notizzettel. Sandy verglich ihn mit dem Kugelschreiber und grinste plötzlich. „Nun wissen wir zumindest, wo der Knabe arbeitet!“

„Nämlich?“

Sandy hielt ihr Stift und Zettel unter die Nase. „First Manhattan Savings Bank“, las sie vor. „Beides ist von dort.“

„Das sind doch nur Werbegeschenke“, konterte Melissa, spürte aber trotzdem ein Kribbeln im Bauch. Sollte ihre Freundin tatsächlich auf der richtigen Spur und der Mann aus dem Koffer so nah sein? Ihr wurde warm bei der Vorstellung, also trank sie noch einen Schluck aus ihrem Sektglas.

Sandy schüttelte den Kopf. „Nee, der arbeitet dort, da bin ich mir sicher. Er ist nicht der Typ, der sich irgendwo Stifte schenken lässt. Nur dumm, dass wir nicht wissen, wie er aussieht. Diese Sparkasse ist nicht gerade klein, ich kenne sie. Aber wart mal – was ist denn das?“ Sie zog ganz unten aus dem Koffer etwas, das in braunes Packpapier gewickelt war.

Melissas Nackenhaare stellten sich auf. Es war, als würde der Koffer immer genau das Geheimnis offenbaren, nach dem sie gerade forschten.

„Ein Foto!“, rief Sandy, als sie das Objekt zur Hälfte ausgewickelt hatte. Melissa erkannte die Rückseite eines kleinen Bilderrahmens.

„Gib es mir, schließlich ist es mein Koffer.“ Das war natürlich kindisch, aber sie hatte das starke Gefühl, dass sie selbst es sein sollte, die das Bild umdrehte und als Erste sah.

Überraschenderweise händigte ihr Sandy widerstandslos den Rahmen aus. Melissa hielt unwillkürlich den Atem an, als sie das Papier abstreifte und das Foto langsam umdrehte. Gleich würde sie ihn sehen! Oder auch nicht. Es war schließlich nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand sein eigenes Foto in einem Rahmen herumschleppte. Sicher war es eines seiner Frau, einer extrem hübschen Blondine mit Modelgesicht und glücklichem Lächeln. Oder ein Familienportrait seiner Kinder, alle in Reih und Glied aufgestellt vor der heimatlichen Vitrine mit dem guten Porzellangeschirr.

Sie blickte auf das Foto und stockte in der Bewegung. „Ein Babyfoto?“, stieß sie aus.

Sandy rutschte näher heran, um das Bild in Augenschein nehmen zu können. „Das ist aber ein altes Foto und eine ganz schlechte Qualität. Als hätte jemand vor dreißig oder vierzig Jahren einen Schnappschuss gemacht.“

Melissas Finger tasteten über den breiten Holzrahmen, den jemand liebevoll mit winzigen Perlen und bunten Holzsteinen beklebt hatte. Ganz so, als wäre das Foto eine kleine Kostbarkeit. „Ob er das selbst ist?“

Sie sah das Baby auf dem Bild genau an. Es musste kurz nach der Geburt aufgenommen worden sein. Der Säugling sah ernst aus und wirkte ein wenig verschreckt. Irgendwie so, als würde ihm die kalte Welt da draußen gehörig Angst einjagen. Mit den vielen dunklen Haaren und der Stupsnase war er so süß, dass Melissa ihn am liebsten gehalten hätte.

„Schwer zu sagen, wann das geknipst wurde. Name oder Datum stehen nicht drauf, oder?“, fragte Sandy.

Melissa sah noch einmal genau nach und verneinte.

„Na ja, ist auch egal“, meinte Sandy. „Wir schauen uns den Kerl einfach in Natura an.“

„Wie bitte?“

„Schätzchen, das ist doch klar! Wir beide werden in den nächsten Tagen einen Ausflug zur First Manhattan Savings Bank unternehmen und den Knaben dort ausfindig machen.“ Entschlossen spülte Sandy den Rest ihres Sandwiches mit dem letzten Schluck Sekt hinunter.

„Und dann sagen wir: ‚Hey, hast du zufällig einen Koffer mit einer Fozzie Bär Unterhose verloren‘ oder wie?“ Melissa starrte ihre Freundin entsetzt an.

„Quatsch. Erst mal checken wir, wie der Typ aussieht. Du bist doch genauso neugierig wie ich, das sehe ich dir an der Nasenspitze an.“

Melissa öffnete den Mund, um zu widersprechen. Niemals würde sie in eine Bank hineinlatschen und dumme Fragen nach einem jungen Mann stellen, das wäre doch nur peinlich. Doch sie kam nicht zu Wort.

„Ich muss los“, beschloss Sandy. „Morgen machen wir beide unsere Mittagspause später. Ich hol dich um zwei Uhr ab, dann marschieren wir rüber zu deinem sexy Bänker ohne Pyjama. Bis dann, Sweetheart!“

Sie warf ihren Designerkram in den roten Koffer, küsste die verdutzte Melissa auf die Wange und verschwand mit eiligen Schritten im Flur. Kurz darauf schlug die Tür hinter ihr zu.

Mit einem Mal war es still in der Wohnung. Melissa trug die leeren Gläser in die Küche, verstaute die halb volle Sektflasche im Kühlschrank und ging anschließend zurück ins Wohnzimmer. Das Leder des Koffers schimmerte weich. Der Roman lag einladend auf dem Couchtisch, also nahm sie ihn in die Hand und blätterte ein wenig darin herum. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Was der Besitzer wohl für ein Mensch war? Sie wünschte wirklich, sie hätte ein Bild von ihm. Oder würde wenigstens seine Stimme hören können, um sich irgendeine kleine Vorstellung zu machen, wie er sein mochte.

Ihr Blick fiel auf das Innere des Waschbeutels – genauer gesagt auf einen Flakon, dessen dunkles Glas im Licht der Stehlampe funkelte. Sein Aftershave, das sie beim Ausräumen übersehen hatte. Sie nahm die Flasche, die elegant gerundet war, in die Hand. Da das City Garden Center direkt neben einer Parfümerie lag, kannte Melissa die meisten Parfums zumindest vom Namen her. Dieses hatte sie noch nie gesehen. Vorsichtig öffnete sie den Verschluss und hielt den Flakon unter ihre Nase.

Es war ein ganz besonderer Duft, männlich, frisch und voll ursprünglicher Natur. Sie roch eine würzige Note, wie frisch geschnittenes Holz sie hatte. Das Aroma von feuchtem Waldboden, dessen Moosbelag das Geräusch von Schritten schluckte, wenn man darüber lief. Den zitronigen Duft von gerade aufblühenden Magnolien und einen Hauch von wildem Jasmin. Melissa schloss die Augen. Das Aftershave war wundervoll komponiert und sie konnte sich gar nicht sattriechen an seinem herrlich frischen Aroma.

Ganz plötzlich fand sie Sandys Idee, den Mann zu suchen, gar nicht mehr so abwegig.

Sie stand auf, den Duft noch immer in der Nase, legte den Flakon zurück und ging hinüber zum Fenster. Nicht weil sie hinaussehen wollte, sondern weil dort ihre allerbeste Freundin stand und geduldig auf sie wartete.

„Maddie, du hältst mich sicher für verrückt, oder? Aber ich muss zugeben, ich finde diesen Mann aus dem Koffer total spannend.“

Wie üblich antwortete Maddie nicht. Das war nicht besonders verwunderlich, denn es handelte sich um eine dickblättrige Grünpflanze, sogar um die älteste aller Pflanzen, die Melissa besaß. Auch wenn Maddie eher wortkarg war, stellte sie für Melissa eine enge Vertraute dar, mit der sie viel beredete.

„Ich erzähle dir morgen Abend, ob wir ihn gefunden haben“, sagte Melissa und strich der Pflanze, die ihr bis ans Kinn reichte, sanft über die samtenen Blätter. Ja, morgen. Da würde sie sich auf den Weg zur Sparkasse machen und vielleicht den Besitzer des abgewetzten Lederkoffers finden. Aber erst einmal sollte sie ihre grünen Mitbewohner gießen, auf die war nämlich Verlass. Die waren real. Und das war mehr wert als ein nach Magnolien und frischem Holz riechendes Traumbild.

Entschlossen nahm Melissa die Gießkanne zur Hand und versorgte ihre treuen Freunde. So wie es sich für eine anständige Gärtnerin nun mal gehörte.

2. Passionsblume

 

Die exotischen Blüten der tropischen Kletterpflanze bezaubern den Betrachter mit ihrer Schönheit. Jeweils fünf weiße Blätter umgeben einen Kranz zarter, bunter Fäden, aus dessen Mitte fünf goldene Staubbeutel und drei braune Narben herausragen. Der Kranz ist an der Basis purpurn gefärbt, in der Mitte weiß und zum Ende hin blau. Passionsfrüchte gelten als Delikatesse, sie schmecken süß-säuerlich und sind auch als Maracuja bekannt.

 

Den ganzen Vormittag über konnte sich Melissa nur schwer auf ihre Arbeit konzentrieren. Während sie junge Begonien pikierte, fragte sie sich immer wieder, ob das Ganze nicht eine ausgesprochene Schnapsidee war. Als sie die Orchideen einsprühte, holt sie sogar ihr Handy aus der Hosentasche, um Sandy anzurufen und die Aktion „Suche den Mann aus dem Koffer“ abzusagen. Bevor sie die Nummer antippte, besann sie sich aber doch eines Besseren und steckte das Telefon unverrichteter Dinge wieder weg. Sandy würde ihr die Hölle heißmachen, wenn sie einen Rückzieher machte.

Seufzend füllte sie Blähton als Dränage in einen Topf. Die Angst vor dem Spott der Freundin war natürlich nur die halbe Wahrheit. Tief in ihrem Inneren fieberte Melissa dem Bankbesuch entgegen, das musste sie sich leider eingestehen. Dieser Kerl hatte sie unbekannterweise neugierig gemacht. Außerdem – was hatte sie schon zu verlieren? Sie würde sich einfach nur ein bisschen in der Filiale umschauen, sonst nichts. Sicher war dieser Koffermann, falls sie ihn überhaupt finden sollten, sowieso ein richtiger Unsympath. Ein geldgieriger Finanzhai ohne Skrupel und mit Silberblick, dazu ein totaler Geizkragen, sonst würde er nicht mit so einem uralten Gepäckstück herumlaufen. Sie würde bestimmt froh sein, ihn dort hinterm Tresen zurücklassen zu können und als glückliche Singlefrau wieder heim zu ihren Pflanzen gehen zu dürfen.

Als der Zeiger ihrer Armbanduhr endlich in Richtung zwei Uhr wanderte, war Melissa erleichtert, sich endlich auf den Weg machen zu dürfen. Sie traf Sandy wie verabredet an der Ecke zur 16. Straße. Um ein Haar hätte sie die Freundin nicht erkannt, denn die trug ihr Haar streng nach hinten gekämmt, hatte ein Baseball-Cap auf dem Kopf und eine verspiegelte Sonnenbrille auf der Nase.

„Hier, setz die auf!“ Sandy hielt ihr eine ebenso monströse Sonnenbrille hin und stülpte ihr, ohne lange zu fragen, ein buntes Cap über den Kopf.

„Warum in drei Teufels Namen müssen wir uns verkleiden wie Profikiller?“

„Mel, schalt doch mal deine grauen Zellen ein! Falls der Typ ein Volltreffer ist, willst du ihm doch beim ersten Treffen in voller Pracht gegenüberstehen und nicht die Magie des unvergesslichen ersten Blicks in seine Edelstein-Augen dadurch schmälern, dass du dabei abgehetzt und ungeschminkt direkt aus dem Gewächshaus kommst.“

Das saß. Ertappt schaute Melissa an sich hinunter. Sandy hatte recht, sie trug grobe Arbeitsschuhe, eine fleckige Jeans und ihren Händen sah man an, dass sie heute einiges an Grünzeug umgetopft hatten.

Sie schob die Pilotenbrille auf ihrer Nase zurecht. „Du bist wirklich genial, das muss ich zugeben.“

„Ich weiß. Und jetzt auf in die Schlacht!“ Mit zielsicheren Schritten marschierte Sandy auf die Filiale der First Manhattan Savings Bank zu, die sich einen halben Block weiter auf der anderen Straßenseite befand.

Melissas Herzschlag beschleunigte sich, als sie hinter ihrer Freundin die Glastür aufdrückte. Die Niederlassung der Bank war modern eingerichtet, mit einer Menge bepflanzter Hydrokultur-Tröge ausgestattet und vor allem riesengroß. Neben einer vollverglasten Kassenbox gab es insgesamt fünf Schalter, hinter denen sicher ein Dutzend elegant gekleideter Angestellte herumlief oder an Schreibtischen saß. Auf der Fläche daneben standen noch drei Besprechungstische, die wohl für Anlagegespräche oder Kreditverhandlungen genutzt wurden. Und weiter hinten konnte man sich auch noch in separate Zimmer zurückziehen, wahrscheinlich dann, wenn es um richtig große Beträge ging.

„Wie sollen wir ihn hier ausfindig machen?“, flüsterte Melissa ihrer Freundin zu, die zielsicher auf einen Kontoauszugsdrucker zusteuerte.

„Erst mal die Lage sondieren.“ Sandy klang wie ein Mitarbeiter des Secret Services. Sie tat so, als studiere sie einen Flyer, der neben dem Automaten auslag, spähte in Wirklichkeit aber über den Rand ihrer Riesenbrille.

Auch Melissa ließ ihren Blick über die Angestellten wandern. Himmel, es gab mindestens fünf Männer mit dunklen Haaren, die von Alter und Figur her infrage kamen! Alle wirkten viel zu selbstsicher, um für Melissa anziehend zu sein. Die Art, wie sie sich in ihren eleganten Anzügen bewegten, war eine Nummer zu groß für sie. Nur schwer konnte sie sich vorstellen, dass jemand dieser Schlipsträger ein altes Babyfoto im billigen Rahmen herumtrug. Wie sollten sie herausfinden, ob der Koffermann trotzdem einer von ihnen war?

„Ich tippe auf den dort hinten“, murmelte Sandy und deutete mit einer Kopfbewegung zu einem der Bänker, der gerade mit einem Kunden ein Formular ausfüllte. Interessiert schob Melissa ihre Sonnenbrille ein wenig hoch, um ihn besser unter die Lupe nehmen zu können. Nun ja, er wirkte irgendwie spröde mit der grauen Krawatte und dem strengen Seitenscheitel. Sah jemand, der Muppet-Boxershorts trug, so aus? Auch der jüngere Kollege neben ihm, ein schlaksiger Kerl mit Segelohren und zwei Goldringen am Finger, kam ihr unpassend vor. Der besaß garantiert einen windschnittigen Trolley, keinen abgegriffenen Lederkoffer.

„Schau mal, der ist doch total süß!“ Die Verzückung in Sandys Stimme galt dem gedrungenen Kassierer, der zugegebenermaßen ein hübsches Lächeln besaß.

„Aber der hat Gel in den Haaren. Du hast gesagt, unser Mann stylt sich nicht“, stellte Melissa fest.

„In der Arbeit vielleicht schon. Also ich finde den echt toll!“

Melissa war anderer Ansicht. Er erinnerte sie an Mister McKinley, einen der Kunden in der Gärtnerei, der gern zotige Bemerkungen machte, ihr mal auf den Hintern geklatscht hatte und seine Amaryllis vertrocknen ließ. Süß fand sie den wirklich nicht.

„Ich werde das wohl nie lernen!“, hörte man eine hohe Frauenstimme jammern. Rechts an den Geldautomaten kam eine ältere Dame ganz offensichtlich nicht mit der modernen Technik zurecht.

„Kein Problem, ich helfe Ihnen doch, Mrs. Smith“, beruhigte ein angenehmer Bariton die Kundin. Melissa sah den Rücken eines Angestellten, der die grauhaarige Lady im Kampf mit der Geheimzahl unterstützte. Sandy kniff sie in die Seite und wies sie erneut auf den gegelten Kassierer, deshalb wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu. Inzwischen wollten auch andere Kunden an den Auszugsdrucker, sodass sie Platz machen und an einen Ständer mit Prospekten weiterrücken mussten.

„Nein, ich glaube wirklich nicht, dass der Kassierer der Richtige ist“, wiederholte Melissa. „Er ist sicher zu klein, denk doch nur an die langen Hosenbeine der Jeans, die waren mindestens …“

Bevor sie weitersprechen konnte, stockte ihr der Atem. Ein unverwechselbarer Duft stieg in ihre Nase. Frisches Holz, Waldboden, Magnolien. Sie fuhr herum und sah, dass der Angestellte der überforderten Dame am Geldautomaten zu Ende geholfen hatte und diese nun zum Schalter geleitete. Was ihn direkt an Melissa vorbeiführte. Die Luft war mit einem Mal weicher auf ihrer Haut, als stünde sie nicht in einer Schalterhalle, sondern an einer sonnigen Küste. Auch das Licht der Neonröhren schien viel weniger kalt zu sein. Es war, als überzöge dieser Duft alles mit einem silbernen Puder.

„Das ist er“, flüsterte sie kaum hörbar. Der zarte Hauch von wildem Jasmin hing noch in der Luft. Sicher für niemanden sonst zu riechen, aber sie hatte das Parfum abgespeichert und zweifelte nicht ein bisschen. Ihr Puls pochte an ihrem Hals, als sie den Mann musterte, der sich lächelnd der Kundin zuwandte. Er war, wie sie ja auch erwartet hatte, ein Stück größer als Melissa, hatte eine sportliche Figur und die dichtesten schwarzen Haare, die sie jemals gesehen hatte. Sein Teint war relativ dunkel, umso intensiver stachen die hellen Augen hervor. Augen von einem lichten Blau, wie sie nur Waldhyazinthen hatten oder die Blüten von Rosmarin. Seine Nase war ein wenig zu kantig, als dass man ihn als hinreißend attraktiv hätte bezeichnen können. Aber er war interessant. Und allein ihn anzusehen, schenkte ihr ein aufregendes Kribbeln, denn er hatte etwas seltsam Magnetisches an sich. Sein warmes Lächeln und die vollen Lippen standen in einem aparten Kontrast zu der Stirnfalte und dem melancholischen Zug um den Mund, wenn er nicht lächelte, sondern sich wie jetzt auf den Computerbildschirm konzentrierte.

„Stimmt“, gab Sandy zu. „Der sieht aus wie ein Typ, der literarische Bücher liest und komische Trompetenmusik hört.“

So, wie sie das sagte, klang es nicht so, als könnte sie an einem derartigen Mann Geschmack finden. Ihr wäre der gestylte Kassierer sicher lieber. Melissa hingegen bildete sich ein, noch immer diesen Duft riechen zu können. Sie betrachtete seine Hände und mochte sofort die Art, wie er sie bewegte. Ja, das waren Finger, die den Griff eines abgewetzten Lederkoffers umschlangen oder in einem Notizblock herumkritzelten. Sie war sich absolut sicher. Auch dieser Anflug von Schwermut, den sie in seiner Miene erkannte, passte zum Buch und zur CD.

Melissa rückte noch ein Stück weiter nach links, damit der Prospektständer sie besser verdeckte und sie den Koffermann in Ruhe beobachten konnte. Er hatte eine sehr freundliche Art, mit der alten Lady zu reden, ganz persönlich, als kannte er sie schon lange. Als die Kundin ihm zum Abschied zuwinkte und den Schalter verließ, wollte er sich an den Schreibtisch setzen, doch eine Kollegin rief ihm etwas zu.

„Patrick, kannst du mir mal mit dem Ordner helfen?“ Es war eine langbeinige Schönheit mit glänzenden Locken, perfekt geschminktem Gesicht und in einem figurbetonten Designerkostüm. Sie stand vor einem Schrank und reichte nicht bis an das oberste Regalbrett heran, in das sie eine Akte verstauen wollte.

„Für dich tu ich doch alles, mein Augenstern.“ Lachend drehte er sich um und ging mit geschmeidigen Schritten auf die Kollegin zu, um ihr zu helfen. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln, aus dem große Vertrautheit sprach.

„Komm, wir gehen.“ Melissa drehte sich um und steuerte die Glastür an. Ihr Hals war trocken. Dass er vergeben war, konnte man ja wohl kaum übersehen. Nun, es war eben so. Wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn ein Mann wie er noch frei herumlief. Patrick. Der Klang des Namens gefiel ihr, er passte zu ihm. Männlich, aber doch nicht dumpf wie „Joe“ oder knallhart wie „Chad“. Eher der Name eines Feingeists, eines Klavierspielers oder Malers. Aber es war egal. Er hatte schließlich seinen Augenstern.

„Sag mal, trainierst du für den New York Marathon, oder was? Jetzt bleib doch mal stehen!“ Erst als Sandy angeschnauft kam, bemerkte Melissa, dass sie tatsächlich im Eiltempo die 16. Straße entlangmarschiert war.

„Wieso?“, rechtfertigte sie sich. „Wir haben unsere Mission erfüllt. Der Mann aus dem Koffer heißt Patrick und arbeitet in der Bank. Da er dort gut verdient, wird er den Verlust von ein paar Jeans und Boxershorts verkraften. Außerdem ist er liiert, also was soll ich noch dort?“

„Meine Güte!“ Sandy packte sie am Arm und hielt sie fest, sodass sie stehenbleiben musste. „Hast du denn keine Augen im Kopf? Diese Kollegin trägt einen Ehering, er nicht! Die sind einfach nur befreundet. So wie du und Darryl, nichts weiter.“

„Echt?“ Auf die Hände der Frau hatte Melissa nicht geachtet. „Na egal, er ist sowieso nicht mein Typ“, log sie. Selbst wenn er nicht an dieses Model in Bankuniform vergeben sein sollte – er war eine Nummer zu toll für sie. Solche Männer fingen garantiert nichts mit einer bebrillten Gärtnerin an, die hatten doch ganz andere Partnerinnen. Eher so richtig schöne Frauen mit sicherem Modegeschmack und einer schillernden Persönlichkeit. Auf keinen Fall welche, die sich allabendlich mit einer Kalanchoe Beharensis unterhielten, weil sie sich bei Grünpflanzen wohler fühlten als auf feuchtfröhlichen Cocktailpartys.

Erst als ihr Blick sich vom Asphaltboden löste und sie Sandy ansah, bemerkte sie, dass die Freundin sie genau musterte.

„Weißt du was?“, sagte Sandy. „Unsere Mittagspause ist noch nicht vorbei. Lass uns bei Emilia noch einen Kaffee trinken. Ich lade dich ein.“

Melissa wusste nicht, ob ihr das recht war. Eigentlich wäre sie lieber zurück in ihr Gewächshaus gewandert, denn sie hatte Angst, dass ihre Freundin wieder das Thema „Männer“ anschneiden würde. Andererseits konnte sie den Köstlichkeiten von Pastry Passion nur schwer widerstehen.

„In Ordnung“, gab sie nach. „Aber nur, wenn ich meinen Haselnuss Cappuccino bekomme!“

Sandy grinste und betrat kurz darauf mit Melissa die kleine Konditorei in der Nähe des Union Squares. Schon der Duft war eine Sensation, aber auch der Anblick der wundervollen Pralinen und Gebäckstücke im Tresen ließ Melissa das Wasser im Mund zusammen laufen.

Buongiorno ragazze!“, schleuderte ihnen Violetta, die hinter der Theke stand, überschwänglich entgegen. Sie war Emilias Großtante und half im Laden aus, wenn Sandys Freundin sich um ihr Baby kümmerte. Fotos der kleinen Vittoria tapezierten die gesamte hintere Wand und es war klar, dass Violetta die stolzeste Urgroßtante von ganz New York war. Allerdings war sie wie immer recht ungroßtantenhaft gekleidet, heute trug sie eine Art Kimono aus gelber Seide und dazu ein kleines Hütchen in ihren neuerdings blauschwarz gefärbten Haaren. Die Farbe war natürlich das Werk von Sandy, die in Violetta eine treue und vor allem herrlich experimentierfreudige Kundin gefunden hatte.

„Hallo Vio“, erwiderte Sandy die Begrüßung. „Wir hätten gerne zwei Caramel Hazel Cappuccino.“

Due Cappuccini, va bene!“ Die alte Dame strahlte und machte sich gleich an der Maschine zu schaffen, während Melissa gemeinsam mit Sandy die Kuchen inspizierte und sich wie immer kaum entscheiden konnte.

Ein paar Minuten später hatten sie an einem der kleinen Tische Platz genommen und Melissa schob sich ein Stückchen Rhabarberkuchen mit Kokoskruste in den Mund, das einfach himmlisch schmeckte. Sandy tauchte ihr Croissant mit Mandarinen-Marzipanfüllung in ihre Tasse. Sie schloss kurz die Augen, als sie von dem Hörnchen abbiss, und seufzte verzückt, dann aber sah sie Melissa an.

„Ich kauf dir nicht ab, dass dich dieser Patrick nicht interessiert“, sagte sie gerade heraus.

„Es ist aber so“, behauptete Melissa.

„Weil?“

„Himmel, er ist einfach nicht mein Typ!“

Sandy neigte den Kopf zur Seite, kniff die Augen zusammen und sah Melissa an, als wäre sie Verhörspezialistin beim FBI. „Das glaube ich dir nicht. Du stehst auf dunkle Haare und er hat ja wohl mehr als genug davon.“

„Oh Mann, ich verknall mich doch nicht in eine Frisur!“ Für wie einfältig hielt Sandy sie eigentlich?

„Das ist nicht alles. Ich weiß genau, dass du auf Kerle mit blauen Augen und schwarzen Haaren stehst. Hier, schau doch die Fotos an!“ Sie drehte sich um und deutete auf die Bilder, die die Eltern des Babys zeigten. Neben Emilia, einer hübschen Italienerin mit braunen Locken, stand ihr künftiger Ehemann, der millionenschwere Richard Stone. „Du hast schon mehrmals gesagt, dass dir Richard gut gefällt!“

Das stimmte leider. Sandy hatte sie oft genug mit der Frage malträtiert, welcher Typ Mann ihr denn vom Aussehen her gefiel. Irgendwann hatte sie zugegeben, dass sie die Kombination aus hellen Augen und dunklen Haaren, wie sie auch Richard Stone vorzuweisen hatte, sehr reizvoll fand.

„Ja, okay. Ist mir lieber als blond, das gebe ich zu. Aber trotzdem: Dieser Patrick ist nichts für mich.“ Entschlossen stach Melissa das nächste Stück vom fruchtigen Kuchen ab und schob es sich in den Mund. Langsam nervte es sie, dass sie sich ständig verteidigen musste, wenn sie sich beim Anblick eines Mannes nicht sofort die Kleider vom Leib riss und ihm „Nimm mich! Hier und jetzt!“ zurief.

„Kauf ich dir immer noch nicht ab.“ Sandy verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dann glaubst du es eben nicht. Es ist schließlich meine Sache.“ Sie hatte endgültig genug von dem Thema. Am besten, sie trank schnell aus und ging zurück ins Gartencenter.

„Verdammt, Melissa, ich hab doch mitgekriegt, wie du ihn angeschaut hast. Er gefällt dir, du kannst mir nichts vormachen!“

„Aber ich ihm sicher nicht!“

Mist. Das war ihr rausgerutscht. Ärgerlich rührte Melissa in der Tasse herum. Sie hatte das doch für sich behalten wollen und nicht ausgerechnet Sandy verraten, die der Meinung war, jede Frau konnte jeden Mann rumkriegen, wenn sie es nur halbwegs schlau anstellte. Das galt vielleicht für die kesse Freundin, aber für sie selbst bestimmt nicht.

„Liebes, was ist los mit dir?“ Sandys Blick hatte sich verändert. Während sie bisher gelacht und mit munterer Stimme geredet hatte, zeigte sich nun Besorgnis in ihrer Miene. „Du zweifelst doch wohl nicht ernsthaft daran, dass er sich in dich verlieben könnte?“

Melissa seufzte. „Ich bin nicht wie du. Du hast Ausstrahlung. Wenn du eine Bar betrittst, drehen sich alle Männer um. Bei mir nicht. Eine graue Maus wie mich findet niemand interessant.“

Mit einem leichten Kopfschütteln legte Sandy ihre Hand auf die von Melissa. „Das ist Unsinn. Du bist ein wunderbarer Mensch. Mitfühlend, sensibel, du hast so viel zu bieten! Wie kommst du bloß darauf, dass Männer dich nicht spannend finden?“

„Siebenundzwanzig Jahre Erfahrung“, erklärte Melissa mit einem schiefen Lächeln. Sie trank einen Schluck Cappuccino und setzte dann die Tasse ab. „Schau“, begann sie, „es war immer so. Alle Jungs bei uns in der Stadt standen auf meine hübsche Schwester. Rosalyn konnte sich vor Verehrern kaum retten, während ich bei irgendwelchen Partys immer allein rumstand. Sie war die Strahlende, mich bemerkten die meisten Leute gar nicht.“

Manchmal dachte sich Melissa sogar, dass das alles schon bei der Namensgebung vorbestimmt gewesen war. Mit einer duftenden, sich hoch in die Luft reckenden, wunderschönen Rose konnte ein bodenwüchsiges Kraut nun mal nicht konkurrieren. Vielleicht war es auch eine Art von selbsterfüllender Prophezeiung, dass sie unscheinbar geblieben war. Gespürt hatte sie das jedenfalls schon seit ihrer frühsten Kindheit.

„Selbst bei den Verwandten war es so. Alle scharten sich um Rosalyn, wollten sie singen hören oder ließen sich von ihr ein Gedicht aufsagen. Sie war schon immer ein Star. Und ich saß daneben im Hochstuhl oder spielte mit ein paar Bauklötzen, keine Ahnung. Ist das nicht irre? Nicht mal ich selbst erinnere mich daran, was ich auf diesen Familienfesten getrieben habe. Ich weiß aber noch genau, was Rosalyn gesungen hat und wie alle applaudierten.“ Melissa schob den Rest ihres Kuchens zur Seite. Sie hatte keinen Hunger mehr.

„Wie viel älter ist deine Schwester nochmal?“

„Zwei Jahre.“

„Hast du nicht sogar erzählt, dass deine Mutter mal Schönheitskönigin von New Hampshire war oder so was?“ Sandys Miene war ernst und ihr Blick ganz bei Melissa.

„Ja.“ Sie nickte. „Mom hat die Schärpe sogar im Schlafzimmer hängen. Sie setzte alles daran, dass auch Rosalyn bei solchen Wahlen dabei war. Aber Dad machte ihr einen Strich durch die Rechnung.“ Mom und Rosalyn hatten sich immer nah gestanden. Konnten stundenlang gemeinsam Zeit vor dem Spiegel verbringen. Dad arbeitete so viel in seiner Wäscherei, dass er das meiste nicht mitbekam. Erst als Mom Rosalyn zu einem Schönheitswettbewerb für Kinder anmeldete, flippte er aus und verbat ihr das. Zumindest bis zum Teenageralter mussten die beiden warten, bis Rosie endlich über einen Laufsteg stolzieren durfte.

„Wenn deine Schwester so toll war, hatte sie doch sicher ständig Jungs um sich rum. Gab es da keinen von denen mit einem Freund, der weniger oberflächlich war?“

Melissa kratzte mit dem Löffel einen Schaumrest vom Rand der Tasse. „Es gab Christopher. Ich war schon siebzehn und immer noch Jungfrau, als er aufkreuzte.“

„Aber geküsst hattest du doch mal einen, oder?“ Das konnte sich Sandy wohl nicht verkneifen.

Lächelnd gab Melissa ihrer Freundin einen kleinen Klaps auf die Finger. „Gut, dass du nicht neugierig bist! Ja, ich hatte tatsächlich mal mit einem Jungen geknutscht. Bei einem Schulball. Natürlich war Rosalyn Homecoming Queen und es gab ne Menge Alkohol. Das führte dann dazu, dass einer aus der Oberstufe hinter der Turnhalle mit mir knutschte.“

„Und? Wie war es?“ Sandy riss die Augen auf.

„Dunkel. Und er schmeckte nach billigem Whisky. Wahrscheinlich hat er mich im Suff mit einer anderen verwechselt.“

„Ach komm schon. Du machst dich viel kleiner, als du bist. Was war denn jetzt mit diesem Christopher?“

Melissa trank erst die Tasse leer, bevor sie davon erzählen konnte. Es tat immer noch weh, daran zu denken. „Rosie hat ihn mir vorgestellt und ich war echt verknallt in ihn. Er brachte mir Blumen, stell dir das nur mal vor! Da schmolz ich natürlich dahin. Sogar ins Kino führte er mich aus. Endlich mal war alles perfekt! Jemand mochte mich, ich war wirklich im siebten Himmel. Also gab ich seinem Drängen nach und hab mit ihm geschlafen.“

Entgegen ihrer sonstigen lebhaften Art unterbrach Sandy das Schweigen nicht, sondern wartete ab. Sie ließ lange Sekunden verstreichen, bevor sie mit leiser Stimme nachfragte. „Er meinte es aber nicht ernst mit dir, vermute ich?“

„Nein. Aber das bekam ich erst durch Zufall heraus. Durch einen saublöden Zufall, wenn du es genau wissen willst. Ich war nämlich in einen Kirschbaum geklettert, um die Wassertriebe abzuschneiden, als sich Rosalyn und Christopher genau darunter unterhielten. Sie hatte ihn angeheuert.“

„Was?“ Sandys Blick sprach von blankem Entsetzen. „Sie hat ihn darauf angesetzt, dich zu entjungfern?“

„Genau. Als Belohnung gab es eine exquisite Sexnacht mit ihr selbst. Das ist wahre Schwesternliebe, stimmt‘ s?“

„Mir wird schlecht, wenn ich so was höre!“ Sandy gestikulierte aufgeregt herum. „Sie hat ihn allen Ernstes bestochen, damit er mit dir was anfängt? Heilige Scheiße, das ist ja das Allerletzte. Kein Wunder, dass du keinem Mann über den Weg traust. Da schmeckt mir ja echt der Kaffee nicht mehr.“

Cara, ist etwas mit dem Caramel Cappuccino nicht in Ordnung?“ Violetta hatte offenbar Ohren wie ein Luchs und kam gleich angerauscht, als sie den Gesprächsfetzen aufschnappte.

„Nein, nein, alles bestens“, beeilte sich Melissa zu sagen. Sie hatte nicht vor, nun auch noch vor der alten Italienerin auszubreiten, dass selbst ihr erstes Mal mit einem Mann nichts Richtiges gewesen war. Es hatte sich schon damals falsch angefühlt, war ja klar, Christopher hatte sich wahrscheinlich Rosalyn vorgestellt, während er mit ihr zugange gewesen war. Als sie die Wahrheit herausgefunden hatte, war die Erniedrigung kaum auszuhalten gewesen. Das erste Mal sollte doch etwas ganz Besonderes sein! Und sie hatte es verschenkt an einen Speichellecker ihrer Schwester, der danach sogar mit der in Urlaub gefahren war. Sie spürte noch immer diesen dumpfen Schmerz, wenn sie daran dachte.

Sandy wartete, bis Violetta sich wieder hinter die Verkaufstheke verdrückt hatte. „Trotz allem, Mel. Ich bleibe dabei: Du bist eine tolle Frau und jeder Mann könnte sich glücklich schätzen, dich als Partnerin zu haben.“

„Wenn es so wäre, würde sich ja wohl hin und wieder jemand ernsthaft für mich interessieren“, entgegnete Melissa. „Das ist aber nicht so. Weil ich zu langweilig bin. Und bevor du was sagst: Das liegt nicht an der Frisur oder an meiner Brille. Glaub es mir. Ich habe einfach nichts Spannendes zu bieten. Punkt.“

Nachdenklich tupfte Sandy die letzten Brösel ihres Croissants mit dem Finger auf und leckte sie ab. Anschließend malte sie mit einem herumliegenden Stift Kringel auf den Rand eines Kreuzworträtsels, das jemand auf dem Tisch vergessen hatte. Sie war ungewöhnlich schweigsam, was meistens nichts Gutes bedeutete. In solchen Fällen, das wusste Melissa aus Erfahrung, brütete sie einen ihrer berüchtigten Pläne aus und auf so einen hatte Melissa heute absolut keine Lust.

„Isst du deinen Rhabarberkuchen noch fertig?“, fragte Sandy unvermittelt.

Melissa schob ihn ihr rüber. Sie aß einen Bissen, verdrehte hingerissen die Augen und wandte sich dann Violetta zu. Da sich gerade kein anderer Kunde im Laden befand, hatte die Zeit.

„Vio, wir denken gerade über eine wichtige Frage nach. Vielleicht können Sie uns helfen?“

Als hätte sie nur auf einen Einsatz gewartet, kam die alte Dame heran. „Geht es um ein Kreuzworträtsel? Da schimpft mich Emilia immer aus, weil ich mir angeblich viel zu kreative Wörter ausdenke. Und sie weigert sich sogar strikt, mit mir Scrabble zu spielen! Ich werde Richard fragen, wenn die beiden mich mal wieder besuchen. Der ist nämlich nicht so streng wie meine Nichte.“ Kichernd strich sie sich eine vorwitzige Strähne zurück.

Melissa war zwar nicht so eng mit Emilia befreundet wie Sandy, wusste aber, dass diese bis vor Kurzem noch mit ihrer Großtante zusammengelebt hatte. Dass die schrille Lady sich nicht gern an Regeln hielt, verriet jedes Detail ihres Outfits. Aber sie war ein herzensguter Mensch, das hatte Melissa schon beim ersten Kennenlernen gespürt. Außerdem war Violetta mit Melissas Vermieterin befreundet. Seit Emilia ausgezogen war, kam sie oft bei Eleanor vorbei, die direkt unter Melissa wohnte.

„Es geht nicht direkt um ein Rätsel“, erklärte Sandy. „Sondern um die Frage, was genau ein Mann wohl an einer Frau interessant findet. Also, wenn man die Erotik mal außen vor lässt.“ Vor Schreck stieß Melissa fast ihre Tasse um. Das konnte Sandy doch nicht machen!

Violetta hingegen nickte energisch. „Dass Männer ständig an Sex denken, stimmt zwar schon. Aber wisst ihr, dabei sind die Frauen ja quasi austauschbar. Wie Salamischeiben auf der Pizza. Wirklich spannend finden sie andere Dinge.“

„Und welche?“ Sandy drehte sich mit hellwachem Blick der Italienerin zu. „Verraten Sie uns die?“

Si, certo!“ Ein hinreißendes Lächeln sprang im Gesicht der alten Dame auf. Obwohl sie eine Menge Falten hatte, war sie schön. Wie eine Passionsblume kam sie Melissa vor, ein exotisches Gewächs, das zwar schon ein paar Blätter verloren hatte und am Stamm ein wenig verholzt war, aber immer noch herrlich schillernde Blüten trug und alle Menschen mit ihrer Ausstrahlung betörte.

Verschwörerisch beugte Violetta sich näher an den Tisch. „Männer sind ein bisschen einfach im Denken. Sie erkennen die Qualitäten einer Frau nicht auf Anhieb. Das ist wie bei einem Bombolone.“

„Bei was?“, rutschte Melissa heraus.

Momentino!“ Mit einer flinken Bewegung drehte Vio sich um, ging zum Tresen und kam mit einem kleinen Krapfen, den sie auf einen Teller gelegt hatte, zurück. „Schaut ihn euch an. Außen erst mal unspektakulär. Aber wenn man an die Füllung kommt, hmmm!“ Als Beweis biss sie kräftig in das Gebäckstück. „Ich liebe Bomboloni al cioccolato! Emilia macht einfach die besten.“

Als sie den Krapfen wieder hinlegte, sah Melissa, dass er mit dunkler Schokocreme gefüllt war.

„Damit il uomo zubeißt, muss man ihm den Bombolone natürlich schmackhaft machen.“

„Mit einem schönen Zuckerguss?“, schlug Sandy vor. Melissa war sich sicher, sie dachte bei dem Wort „Zuckerguss“ an Lidschatten, Lippenstift und Strähnchen samt angeschrägtem Stufenschnitt.

„Nicht so, wie du denkst, Bellissima. Ich erzähle euch eine Geschichte. Vor ein paar Jahren, also da war ich auch schon knapp jenseits der sechzig,“ sie kicherte belustigt, „habe ich einen Malkurs besucht. Es ging um Aktmalerei und wir hatten einen wunderschönen jungen Mann als Model, er war ein Gedicht!“ Sie legte ihre zusammengeführten Fingerspitzen an die Lippen und spreizte sie mit einem schmatzenden Geräusch vom Mund weg, um anzuzeigen, wie lecker er gewesen war.

„All die jungen Dinger waren verrückt nach ihm. Sie zogen Miniröcke an und tief dekolletierte Blusen. Aber so richtig sprang er nicht an. Ich bevorzugte eine völlig andere Technik.“

Sie pausierte und biss noch einmal in den Krapfen, während Melissa genau wie Sandy gebannt an ihren jetzt schokoladigen Lippen hing. Was theatralische Auftritte anging, machte ihr sicher niemand etwas vor.

„Er kam zu den Malstunden mit einem Motorrad angefahren, irgend so ein großes Ding, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Aber es war nicht schwer zu erraten, dass er eine große Leidenschaft für Zweiräder besaß. Also bin ich in den nächsten Zeitschriftenladen marschiert und habe mir ein Motorradmagazin gekauft. Während die anderen ihm ihre halb entblößten Brüste unter die Nase hielten, habe ich ihn gefragt, wie viel PS seine Maschine hat und ob er auch findet, dass der Auspuff bei der neuen Harley nicht typisch genug röhrt. Und nun ratet mal, mit wem er nach dem Kurs in eine Cocktailbar abzog.“

Ihr Lächeln wurde so breit, dass es fast um den Kopf herum reichte.

„Vio, Sie sind ein Genie!“, rief Sandy aus und klatschte dabei sogar noch in die Hände. Melissa zog die Augenbrauen zusammen. Also bei allem Respekt für diese gute Idee mit dem Zweiradmagazin war Sandys Begeisterungssturm ein klein wenig übertrieben.

„Ach was.“ Die Italienerin machte eine Handbewegung, als würde sie einen unsichtbaren Fussel wegwischen. „Das ist keine große Kunst. Man muss doch nur herausfinden, was einen Mann interessiert und dazu ein paar Fragen stellen. Mehr braucht es gar nicht. Oh, scusi, da kommt eine Kundin!“ Schnell nahm sie wieder ihren Platz hinter der Theke ein.

„Das ist die Lösung!“ Sandy schien immer noch völlig hingerissen zu sein, während Melissa das Ganze zwar gut, aber nun auch wieder nicht so extrem spektakulär fand.

„Verstehst du denn nicht?“, hakte Sandy nach.

„Was meinst du?“ Melissa sah sie argwöhnisch an.

„Na Patrick! Wir wissen ja, was ihm gefällt! Was er liest und hört. Das ist wie ein Sechser im Lotto. Er kann ja quasi nicht anders, als sich zu dir hingezogen fühlen, wenn du seine Interessen teilst.“

Hah! Sie hatte es doch geahnt, dass Sandy wieder irgendetwas im Schilde führte!

„Ich verstelle mich doch nicht!“, sagte sie in äußerst bestimmten Ton. „So was bringt auf Dauer sowieso nichts.“

Sandy schüttelte den Kopf. „Es ist doch nur, damit er dich erst mal kennenlernt und deine Schokofüllung entdeckt. Nur darum geht es.“

„Kommt gar nicht infrage.“

„Mel, bitte tu es!“ Jetzt klang Sandy schon fast flehend. „Ich habe so ein gutes Gefühl für euch beide.“

„Das hattest du auch, als du mir diesen Schneckenzüchter vorgestellt hast, der dann den ganzen Abend nur von ach so ausgefallenen Rezepten für seine Escargots faselte.“ Auf Sandys Gefühl war in diesen Dingen nun wirklich kein Verlass, ganz im Gegenteil, sie setzte skrupellos alles daran, Melissa endlich unter die Haube zu bringen.

„Wenn du das tust, verzichte ich ein für alle Mal mit sämtlichen Kupplungsversuchen.“

Das war ein Wort. Überrascht sah Melissa ihre Freundin an. „Versprochen?“

Nicht mehr bei jedem Ausflug, den Sandy organisierte, Angst haben zu müssen, dass irgendwo ein einbestellter Galan auf sie wartete, wäre eine tolle Sache. Und so entspannend dazu.

„Ja. Ich geb dir mein Ehrenwort. Versuche ihn mit dem Wissensvorsprung, den du hast, zu einem Date zu überreden. Dann werde ich nie mehr als Hilfs-Amor tätig sein, das schwöre ich dir.“

Sandy sah so ehrlich drein, dass Melissa ihr tatsächlich glaubte. Auch wenn sie manchmal ein Geheimnis aus irgendwas machte, um sie zum Mitgehen zu bewegen, angelogen hatte Sandy sie noch nie. Sie stand immer zu ihrem Wort und war eine verlässliche Freundin.

„Also gut“, willigte Melissa ein. „Wenn ich dadurch bis in alle Ewigkeit Ruhe vor irgendwelchen Verkuppeleien durch dich habe, versuche ich mein Glück bei diesem Patrick.“

Es war das erste Mal, dass sie seinen Namen aussprach, und er ging ihr gut von der Zunge. Ein bisschen so, als hätte sie einen Klacks von der dunklen, edlen Schokolade im Mund, mit dem Violettas Krapfen gefüllt gewesen war. Süß und feinherb zugleich, und irgendwas in ihrem Herzen wollte offenbar auch etwas davon abhaben, denn es schlug im fordernden Takt schneller. Patrick. Das klang nicht nach Vollmilch, sondern nach Zartbitter. So wie auch in seinen Zügen eine gewisse Melancholie sichtbar gewesen war. Auch nicht nach Surfer oder Strand-Casanova, sondern nach raschelndem Herbstlaub, langen Gesprächen und flackerndem Kerzenschein, der auf zwei Teetassen aus Steingut fällt.

Und plötzlich hatte sie tatsächlich Lust, herauszufinden, wer hinter diesem schokodunklen Mann aus dem Koffer wirklich steckte.

3. Kalanchoe Beharensis

Die Kalanchoe beharensis, auch Elefantenohr-Kalanchoe genannt, ist eine prächtige Blattpflanze, die in der freien Natur bis zu 3 Meter Höhe erreichen kann. Ihre Blätter sind von einem eleganten Silbergrau, am Rand gewellt und mit dichten, feinen Haaren bedeckt. Die extravagante Zimmerpflanze ist nicht besonders durstig und möchte einen halbschattigen Standort.

 

 

„Guten Morgen, Maddie“, begrüßte Melissa ihre Lieblingspflanze, während sie in die Küche tappte, um sich einen starken Kaffee zu brauen. Sie hatte sich nachts lange von der einen Seite auf die andere gewälzt und dabei in ähnlicher Weise die Gedanken in ihrem Kopf herumgeschoben. Gestern noch, bei Violetta im Café, war ihr alles halbwegs logisch erschienen. Aber inzwischen zweifelte sie mächtig an ihrem Geisteszustand. Wie hatte sie sich nur auf diesen Deal einlassen können?

Mit der Tasse in der Hand setzte sie sich an den kleinen Tisch, der von einem Heer an Zimmerpflanzen umgeben war. Sie trank einen Schluck und biss von einer Banane ab, allerdings aus dem Supermarkt und nicht selbst gezogen.

„Weißt du“, erklärte sie der großen Kalanchoe, „Sandy will eine richtige Verschönerungskur mit mir machen. Das hat sie mir gestern noch gesagt. Weil Patrick – so heißt der Mann aus dem Koffer – ja mit einer attraktiven Kollegin herumgealbert hat und bestimmt auf toll hergerichtete Frauen steht. Dabei bin ich mir echt nicht sicher, ob ich das will.“

Sie strich der Pflanze über ihre Blätter, denen samtene Härchen einen silbernen Glanz verliehen. „Du magst mich immer. Einfach so, wie ich bin. Das ist wirklich schön. Für dich brauche ich mich nicht aufzubrezeln oder zu schminken. Du bist mir treu und streckst dich mir entgegen mit deinen neuen Trieben, weil ich mich um dich kümmere. Und weil du bestimmt merkst, wie gern ich dich habe.“

Maddie war die älteste Pflanze in Melissas Reich. Mehr als das – sie war der allererste Steckling, den Melissa jemals bekommen hatte. Gerade mal zehn Jahre war sie alt gewesen, als sie sich immer öfter in den Wald verzog. Ihr Vater hatte seine Wäscherei vergrößert, es wurde viel chemisch gereinigt, und weil Geld nicht im Überfluss vorhanden war, halfen die Kinder in der Reinigung mit. Von dem ganzen Chemiezeug bekam Melissa Kopfschmerzen, also ging sie gern ins Grüne oder beobachtete fasziniert den alten Nachbarn, Mister Palmer, der in seinem Wintergarten und Gewächshaus geheimnisvolle Dinge anstellte. Eines Tages schenkte er ihr ein Blatt und erklärte ihr, dass es eine Kalanchoe Beharensis sei, auch Elephant Ear genannt und in Madagaskar beheimatet. Melissa fand das ungemein spannend. Sie steckte den Setzling wie angeordnet in die Erde, taufte die Pflanze aufgrund ihres Herkunftsortes Maddie und kümmerte sich rührend um sie. Bis heute.

Mister Palmer verdankte sie nicht nur ihre Liebe zur Natur und ihr Wissen über Grünzeug, sondern indirekt sogar diese Wohnung. Seine Schwester Eleanor war vor ein paar Jahren zur Beerdigung gekommen, als der alte Mister Palmer verstorben war. Sie hatte Melissa diese kleine Dachgeschosswohnung angeboten, wenn die im Gegenzug für ihre Zimmerpflanzen sorgte. Melissa hatte das Angebot dankbar angenommen und war nach New York gezogen – mit Maddie im Gepäck, die im Laufe der Jahre zu ihrer engsten Vertrauten geworden war.

Sie versorgte die Kalanchoe mit einem Schluck Wasser aus der bereitstehenden Kanne. „Ist bestimmt kein Zufall, dass ich ausgerechnet euch Sukkulenten so gerne mag.“ Neben Maddie standen noch weitere Töpfe voll mit kleinen oder hoch aufgeschossenen Pflanzen, die nicht mit farbenprächtigen Blüten glänzten, aber Überlebenskünstler waren. „Ihr seid eben überhaupt nicht angeberisch und sogar richtig bescheiden. Ich glaube, ich bin wie ihr. Unauffällig, aber ich kämpfe mich durch.“

Sie blieb stehen, um sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zu binden. Jede der Pflanzen hatte ihre besonderen Fähigkeiten, auch wenn diese oft versteckt waren. Maddie zum Beispiel trug ihre haarigen Blätter als Schutz gegen Sonnenbrand, denn in Madagaskar konnte es höllisch heiß werden. Andere hatten ihre Blätter so schlau geformt, dass sie jeden noch so winzigen Tautropfen auffangen und nach unten zur Wurzel leiten konnten. Sie waren alle auf ihre Weise großartige Geschöpfe und ihr deutlich lieber als protzige Großblüher.

Doch ob sich ein Mann die Mühe machen würde, bei ihr selbst nach diesen geheimen Fähigkeiten zu suchen? Melissa seufzte. „Na ja, eine strahlende Rose wird auch Sandy nicht aus mir machen können“, erklärte sie der Kalanchoe. „Aber ich will es zumindest versuchen. Immer alleine zu sein, ist auch nicht schön. Schau nur dort drüben die Orchidee an.“ Sie deutete auf eine Phalaenopsis, die Eleanor ihr mal geschenkt hatte. „Die hat erst geblüht, als ich ihr eine sichere Stütze gegeben habe, an der sie sich entlangranken kann. Vorher traute sie sich wohl nicht. So ein Stamm, an dem man sich festhalten kann – das muss was Schönes sein.“

Hin und wieder überkam sie ein Anflug von Traurigkeit und dann war sie nicht mehr sicher, ob es genügte, sich jeden Tag nach dem Aufwachen mit einer ein Meter fünfzig großen Pflanze zu unterhalten. Manchmal sehnte sie sich nach etwas anderem. Vielleicht war auch das ein Grund, warum sie sich heute nach der Arbeit mit Sandy traf, um sich von ihr ein neues Styling verpassen zu lassen.

„Soll ich es tun?“, fragte sie abschließend die Kalanchoe. „Was denkst du darüber? Ist es die richtige Entscheidung, mal aus den alten Jeans rauszukommen und die Brille gegen Kontaktlinsen zu tauschen?“

Sie sah die Pflanze an. Oft hatte die ihr schon bei Entscheidungen geholfen. Klar, das konnte Melissa niemandem erzählen, aber sie wusste, dass Maddie mit ihr kommunizierte. Manchmal war es ein kurzes Nicken, weil sie ihre Blätter in den Wind hielt. Oder ein leises Rascheln, als würde sie ihr etwas zuflüstern. Und damals, als sie ihr begeistert von Christopher erzählt hatte, waren plötzlich Blattläuse an Maddies Stamm gewesen, was Melissa leider nicht rechtzeitig als Zeichen entschlüsselt hatte.

Heute jedoch wartete sie vergeblich darauf, dass die Pflanze sich irgendwie bemerkbar machte. Melissa hatte ein diffuses Gefühl, dass Maddie nicht so arg begeistert war von Sandys Attacke auf ihre Frisur und den Inhalt des Kleiderschranks, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Oder die Grünlinge hier hatten Angst, sie würden zu kurz kommen, wenn Melissa einen Freund finden würde.

Na, egal, sie musste sich jetzt sowieso fertigmachen für die Arbeit. Dort krähte zum Glück kein Hahn danach, ob sie Lippenstift trug, wenn sie Tontöpfe mit Erde befüllte.

 

***

 

„Ich habe schon eine Tönung vorbereitet“, begrüßte Sandy sie mit verdächtig munterer Stimme, als Melissa den Friseursalon betrat.

„Hoffentlich keine grelle Farbe?“ Ängstlich sah sie in den Farbtopf auf der Ablage. Dessen dunkler Inhalt wirkte recht unspektakulär, was sie aufatmen ließ.

„Quatsch. Die Farbe ist vom Ton her fast identisch mit deiner. Aber deine Haare sind total matt. Wenn ich fertig bin, wirst du glänzen wie eine frisch vom Baum gefallene Kastanie, Love!“

Das klang eigentlich ganz nett, fand Melissa. Ein mondänes Mahagonirot hätte sie nicht haben wollen, doch eine Farbe wie poliertes Holz, damit konnte sie leben.

„Vorher kriegst du natürlich einen coolen Schnitt, ist ja klar.“

„Aber nicht zuviel!“

Sandy verdrehte die Augen. „Mel, du redest mit einer professionellen Hairstylistin und Stilberaterin, sogar mit einer der besten von ganz Manhattan. Vertrau mir ein bisschen, okay? Setz dich dort drüben hin, da ist kein Spiegel. Den Platz haben wir extra für Problemfälle wie dich eingerichtet.“ Sie kicherte.

Also gut. Melissa fügte sich ihrem Schicksal, nahm eine Zeitschrift zur Hand und hoffte, dass Sandy keine Violetta-Kopie aus ihr machen würde.

Als sie sämtliche neuen Diätrezepte und Wimperntuschtrends kannte, den Selbsttest „Bin ich im Bett Vamp oder Vanilla?“ mit niederschmetterndem Ergebnis ausgefüllt hatte und gerade den Schicksalsbericht einer Pastorin las, die heimlich mit Silberperücke als Stripperin arbeitete, nahte der Moment der Wahrheit.

„Tadaaa“, sang Sandy und drehte kurzerhand den Stuhl um, sodass Melissa sich im Spiegel gegenüber sehen konnte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich selbst erkannte. Ihre Haare schimmerten, wie von Sandy angekündigt, in einem glänzenden Kastanienbraun. Dank eines modernen Stufenschnittes waren sie ein ganzes Stück kürzer, hatten freche Fransen und ließen sich womöglich gar nicht mehr zu einem praktischen Pferdeschwanz binden. Das wagte Melissa aber nicht, laut auszusprechen.

„Sieht echt schick aus!“, lobte sie mit gemischten Gefühlen.

„Es geht gleich weiter. Mach mal die Augen zu.“ Bevor Melissa fragen konnte, wieso, spürte sie ein Schwämmchen auf ihrem Gesicht. Sie seufzte innerlich und wünschte sich die Zeit zurück, wo sie sich höchstens zum Topfschlagen auf Kindergeburtstagen die Augen verbunden hatte und nicht für eine Make-up- Grundierung. Nach weiterer Pinselei durfte Melissa irgendwann erneut den Blick in den Spiegel wagen. Die Frau, die ihr von dort entgegen starrte, war keine Gärtnerin, sondern könnte ebenso gut vom Cover eines dieser Frauenmagazine lächeln, die sich auf dem Ablagetisch stapelten.

„Du hast doch Kontaktlinsen, oder?“, fragte Sandy.

Melissa nickte. Die trug sie aber nur, wenn sie mal Schwimmen ging oder im Regen unterwegs war. Also zu Gelegenheiten, bei denen eine Brille im Weg war. Auf Dauer fand sie die Dinger nämlich unangenehm, ihre Augen begannen nach einem halben Tag zu brennen und sie war immer froh, wenn sie die Linsen endlich rausfummeln konnte.

„Okay, die tust du dann rein, wenn du deinen Patrick ansprichst. Und jetzt komm, hoch mit den müden Knochen, wir gehen shoppen!“

„Muss das sein? Ich hab doch noch die schwarze Hose im Schrank und ein oder zwei bunte Blusen hängen auch irgendwo rum.“

Sandy zog die Augenbrauen zusammen. „Du bist wirklich die einzige Frau auf diesem Kontinent, die ungern einkaufen geht! Dabei hast du doch ne tolle Figur! Du wirst deinen Traummann aus dem Koffer ja nicht nur einmal treffen, also brauchst du ein paar sexy Sachen. Weil wir gerade dabei sind: Wie sieht es mit Unterwäsche aus? Hast du da was Anständiges? Also im Sinne von unanständig?“

Widerwillig stand Melissa auf. Natürlich besaß sie keine Dessous. Okay, sie hatte einen blauen BH mit Spitzensaum, sogar mit dazu passendem Slip. Der war aber irgendwo ganz unten in ihrer Schublade und so richtig sexy war der auch nicht. In dem Test von vorhin würde sie damit garantiert nicht als Vamp durchgehen und auch keinen Mann um den Verstand bringen. „Da müssen wir wohl auch was kaufen“, gab sie zu.

„Wir fangen direkt im Get dressed an, das ist eine tolle Boutique. Ich kaufe oft bei Mia ein, sie designed ihre Sachen sogar selbst, du wirst sie mögen!“

Melissa nickte. Was blieb ihr anderes übrig? Zwei Stunden später hatte Sandy sie durch zahllose Läden geschleppt, sie mit stapelweise Klamotten in engen Umkleidekabinen eingeschlossen und am Ende auch noch von einer Verkäuferin in der Wäscheabteilung fachmännisch vermessen lassen, was extrem erniedrigend gewesen war.

„Das ist ein klares A-Körbchen“, hatte die Beraterin festgestellt. Ihre Stimme klang genau so wie die von Katey, dem Sport-Ass der Klasse, wenn die beim Zusammenstellen der Mannschaften am Ende seufzend auf Melissa gedeutet und gesagt hatte: „Okay, es sind ja nur noch zwei übrig. Dann nehm ich halt Melissa in die Mannschaft.“ Die letzte Übrige war immer LaVerne gewesen, die Tochter und beste Kundin von Happy Joe’s Icecream Parlor. Sie hatte allerdings eine Körbchengröße getragen, die im Alphabet deutlich weiter hinten stand.

Nun war sie also im Besitz eines angeblich unwiderstehlichen BHs aus schwarzer Spitze, der so mit Kissen unterlegt war, dass er sogar bei ihr ein ansehnliches Dekolleté herbeizauberte, eines passenden Slips und halterlosen Strümpfen. Ferner schleppte sie zwei neue Hosen heim, ein Kleid, das laut Sandy eine verdammt scharfe weibliche Figur machte, und einige Oberteile, in denen der frisch erstandene BH aufgrund tiefer Ausschnitte gut zum Einsatz kommen sollte.

„Ganz schön teuer, so ein Koffermann“, stellte sie fest, als sie sich auf den Heimweg machten. „Dabei ist ja noch nicht mal gesagt, dass er sich überhaupt mit mir treffen wird! Ich bin echt wahnsinnig, den ganzen Aufwand zu betreiben.“

„Moment mal!“ Sandy blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. „Wenn du ihn in diesen neuen Outfits, so toll zurechtgemacht und mit dem Lissabon-Buch unterm Arm in der Bank besuchst, kann der Mann gar nicht anders, als dir mit Haut und all seinem Wuschelhaar zu verfallen!“

„Wer sagt dir eigentlich, dass er frei ist?“ Das war eine Sache, die Sandy offenbar nie in den Sinn kam. Auch wenn Patrick keinen Ring trug, konnte er doch vergeben oder frisch verliebt sein.

„Mein untrügliches Gespür!“, verkündete Sandy so überzeugt wie Donald Trump, wenn er von seinen Fähigkeiten als Diplomat sprach. Beides hinterließ gehörige Zweifel bei Melissa. „Ich weiß immer genau, ob ein Mann solo ist. Für so was hab ich Antennen. Und bei ihm bin ich mir hundertprozentig sicher.“

„Schon gut“, beschwichtigte Melissa die Freundin. „Ich hab ja eingewilligt, dass ich mein Glück bei ihm versuche. Also werde ich es durchziehen.“

Sandy brummte zustimmend. „Falls nicht, werde ich dich an deinen frisch gestylten Haaren durch ein Brennnesselfeld schleifen, Sweetie. Darauf kannst du dich verlassen.“

Bei dieser Vorstellung musste Melissa lachen. So etwas war Sandy durchaus zuzutrauen. Sie verabschiedete sich von der Freundin, weil sie in der 14. Straße angekommen waren, wo sie beide wohnten. Sandy nur einen Block weiter, die beiden hatten sich im Drugstore an der Ecke kennengelernt, als Sandy ihre Handtasche so schwungvoll über die Schulter geworfen hatte, dass das Regal mit den Kondomen zu Boden gegangen war. Melissa hatte ihr geholfen, alle Packungen aufzuheben und fein säuberlich wieder einzusortieren, wobei Sandy fachmännische Kommentare zu den diversen Fabrikaten abgegeben hatte. Melissa, die weder Erfahrung mit Erdbeergeschmack noch mit Noppen und erst recht nicht mit Übergrößen vorweisen konnte, hatte die temperamentvolle junge Frau spannend gefunden und sich gerne von ihr auf einen Kaffee einladen lassen.

Obwohl sie so unterschiedlich waren – oder genau deswegen – verstanden sie sich blendend. Melissa bewunderte Sandy für deren Selbstbewusstsein, aber sie wusste, dass Sandy auch manchmal gerne etwas von ihrer Gelassenheit gehabt hätte.

Lächelnd öffnete sie die Tür zum Treppenhaus und stapfte mit ihren Einkaufstüten die Treppe zum Dachgeschoss hoch. In der Wohnung angekommen, ließ sie die Tüten im Flur stehen und holte sich erst einmal ein Glas Wasser aus der Küche. Anschließend betrachtete sie sich nochmals in aller Ausführlichkeit im Spiegel. Es würde sicher eine Zeit dauern, bis sie sich an ihren neuen, modernen Look gewöhnt hatte. Versuchsweise fasste sie ihre Haare am Hinterkopf zusammen und probierte, sie zu einem Pferdeschwanz zu binden. Wie erwartet misslang es, denn die gestufte Seitenpartie rutschte aus dem Haargummi. Melissa seufzte. Sie konnte es nicht leiden, wenn ihr während der Arbeit im Gewächshaus Strähnen in die Stirn hingen. Mit ihren erdigen Händen konnte sie die nicht zurückschieben und das ständige Kitzeln würde sie wahnsinnig machen.

„Na ja, wer schön sein will, muss leiden, stimmt`s, Maddie?“ Die Pflanze schwieg hartnäckig. „Schon klar“, kommentierte Melissa deren etwas verstimmte Reaktion. „Du musst dir darüber keine Gedanken machen. Sei froh! Du brauchst dich ja nicht mal um Fortpflanzung kümmern, weil du deine Ableger einfach von den Blättern in die Erde fallen lässt. Manchmal beneide ich euch Pflanzen echt.“

Sie zupfte ein verwelktes Blatt vom Stamm der mundfaulen Kalanchoe und machte sich anschließend daran, ihre Einkäufe im Kleiderschrank zu verstauen. Andächtig fuhr sie mit den Fingern über die zarte Spitze der neu erworbenen Unterwäsche. Ob sie so etwas jemals tragen würde? Und ob dieser Patrick überhaupt eine Familie oder Kinder wollte? Sie selbst hatte sich die letzten Jahre wenig Gedanken darüber gemacht. Für eine Familie brauchte man schließlich einen Mann und schon daran hakte es ja bei ihr. Grundsätzlich fand sie die Vorstellung, Kinder großzuziehen, mit ihnen zusammen ein kleines Gewächshaus anzulegen und ihnen das Wunder des Lebens mit Hilfe von Apfelkernen oder Kressesamen näherzubringen, wunderschön. Nur eben für sie selbst völlig unrealistisch.

„Wer weiß, vielleicht ändert unverschämt teure Spitzenunterwäsche ja mein Leben“, sagte sie halblaut. Dieses Mal allerdings mehr zu sich selbst als zu Maddie, vor der sie die Dessous lieber geheim hielt. Man konnte schließlich nicht wissen, ob sie so etwas billigte. Schnell steckte sie die Wäschestücke in die Schublade und versuchte, sich lieber nicht vorzustellen, ob sie Patrick an ihr gefallen würden. Solche Gedanken führten zu nichts und waren noch dazu völlig verfrüht.

Stattdessen ließ sie sich aufs Sofa fallen und nahm den Nachtzug nach Lissabon in die Hand. Sie begann zu lesen. Gleich auf der ersten Seite gab es fast einen Selbstmord und sie blätterte schnell weiter, um zu erfahren, ob sich daraus ein spannendes Krimidrama ergab. Oder war es doch eher eine Liebesgeschichte? Ein älterer Lehrer traf eine junge Frau und sie hinterließ in der kurzen Begegnung einen so bleibenden Eindruck, dass er sein gesamtes Leben umkrempelte. Melissa strich sich die ungewohnten Strähnen aus dem Gesicht. Realistisch war die Geschichte nicht. Und obwohl ihr der Anfang gut gefiel, zog sich die Story mit zunehmender Seitenzahl etwas in die Länge. Bei den Büchern, die sich in ihren Regalen stapelten, fand man meist schon nach den ersten Absätzen eine Leiche. Seit Mister Palmer ihr als Teenie mal einen Krimi geliehen hatte, in dem der Täter die halbe Verwandtschaft mit diversen Giftpflanzen ausgerottet hatte, las sie gerne solche Schmöker. Natürlich auch mit anderen Todesarten. Selbst die alten Agatha Christie-Krimis hatte sie alle verschlungen und sie liebte die toughe Kopfgeldjägerin Stephanie Plum.

Aber das hier war anders, eher literarisch. Mit eleganter Sprache und vielen Einwürfen, die nach klassischer Bildung klangen, so wie man es aus Europa kannte. Sie drehte das Buch um. War ja auch kein Wunder, der Autor kam aus der Schweiz. Nach der anstrengenden Shoppingtour war sie heute zu müde, um weiterzulesen oder um sich – was sicher nicht verkehrt wäre – im Internet ein paar Informationen über das Buch zusammenzusuchen.

Sie legte es auf den Couchtisch. Was Patrick wohl bewogen hatte, genau dieses Buch für eine Reise einzupacken? War er auf dem Weg nach Portugal gewesen und hatte es deshalb ausgewählt? Oder las er einfach gerne solche Werke? Sie beschloss, sich auch über ein paar europäische Länder schlau zu machen, denn über die Schweiz wusste sie nur, dass man dort Käse, Schokolade und Uhren herstellte. Über Portugal noch weniger.

Ihr Blick fiel auf das kleine Notizbuch, das ebenfalls im Koffer gewesen war. Sie nahm es in die Hand und blätterte darin herum. Als sie eine Seite entdeckte, die Patrick mit Kritzeleien versehen hatte, lächelte sie. Er hatte eine Blume gezeichnet. Mit blauer Kugelschreibertinte und sehr simpel, aber sie mochte den Schwung, mit dem er die Kringel gemalt hatte. Es sollte wohl eine Art Margarite sein. Sogar zwei Blätter hatte er ihrem Stängel verpasst, auf unterschiedlicher Höhe.

Melissa strich mit dem Zeigefinger über die Zeichnung und lehnte ihren Kopf an den Rücken des Sofas. Nur jemand, der Blumen mochte, malte eine. Das war ganz sicher ein Zeichen. Auch wenn Patrick keine Krimis las, in einem gehobeneren Beruf arbeitete und sicher viel gebildeter war als sie selbst – eine Gemeinsamkeit hatten sie schon mal: die Liebe zu Pflanzen.

Und das war doch der beste Start, den zwei Menschen nur haben konnten.

4. Dieffenbachia

Die aus dem Regenwald stammende Dieffenbachia zeigt sich äußerst vielfältig, was die raffinierte Färbung ihrer länglichen Blätter anbelangt. Sie sind gestreift oder getupft mit Sprenkeln in leuchtendem Weiß, zartem Gelb oder knalligem Grün, manchmal auch einfarbig in saftigen Grüntöne. Die Zimmerpflanze braucht eine hohe Luftfeuchtigkeit. Das macht sie zur idealen Badezimmer-Begrünung, sofern genug Licht vorhanden ist.

 

Schon zum dritten Mal wischte Melissa ihre feuchten Hände an ihrer neuen Hose ab, während sie vor der Filiale der First Manhattan Savings Bank auf und ab ging. Da sie sowieso genügend Überstunden hatte, war sie früher nach Hause gegangen, um sich umzuziehen, ihre Haare in Form zu bringen und sich zu schminken – allerdings etwas dezenter als das dramatische Make-up, das Sandy ihr im Salon verpasst hatte. Nun war es eine Viertelstunde vor Schalterschluss, wenn sie also nicht wieder einen Tag ungenutzt verstreichen lassen wollte, musste sie jetzt alle verfügbaren Backen zusammenkneifen und die Sparkasse betreten.

„Er mag auch Pflanzen, also muss er ein netter Mensch sein“, murmelte sie ganz leise vor sich hin, um sich Mut zuzusprechen. Zumindest würde ihnen dadurch der Gesprächsstoff nicht ausgehen. Falls es überhaupt zu einem Wortwechsel kommen sollte.

Melissa atmete tief durch, ignorierte ihr aufdringlich pochendes Herz und drückte die Glastür auf. Vielleicht war ihr ja das Glück hold und Patrick hatte heute Urlaub? Das wäre die eleganteste Lösung. Dann konnte sie an die strenge Mission Control namens Sandy melden, dass sie für diesen Auftrag alles getan habe, aber zu ihrem größten Bedauern widrige Umstände die Erfüllung desselben verhindert hätten.

Doch als sie ein paar Schritte in den Schalterraum hinein machte, sah sie ihn schon. Mehr sogar, sie roch, atmete, spürte ihn. Patrick. Er trug heute einen dunkelgrauen Anzug, der ihn hätte seriös wirken lassen, würden sich seine dichten Haare nicht der Unterwerfung durch einen Seitenscheitel widersetzen. Er stand am Computerterminal, das zwischen zwei Tresenflächen angebracht war, und tippte im Zehnfingersystem auf der Tastatur. Offensichtlich wusste er genau, was er tat. Seine Miene strahlte die Konzentration eines Mannes aus, der voll bei der Sache war. Er war ganz sicher ein Kollege, auf den man sich immer verlassen konnte.

Sollte sie ihn stören? Melissa zögerte. Er wirkte so gebildet, so beschäftigt mit wichtigen Dingen und viel zu attraktiv für eine wie sie. Melissa fühlte, wie sie zusammenschrumpfte, und wollte sich gerade abwenden, um die Filiale zu verlassen, da passierte etwas in seinem Gesicht. Ein Schatten huschte darüber, als er kurz in Gedanken versank. Sie sah Schmerz aufblitzen, nur einen winzigen Moment, eine kleine Erinnerung, dann hatte Patrick seine Züge wieder im Griff. Aber sie hatte es erkannt und es ließ sie in der Bewegung innehalten. Er war nicht der unbeschwerte Sonnyboy, auch er kannte dunkle Stunden. Genau wie sie. Diese Beobachtung verlieh ihr den nötigen Mut, ein paar Schritte auf ihn zuzumachen.

Als sie näher kam, fuhr sein Kopf sofort herum. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ Seine Stimme, deren leicht rauer Unterton Melissa eine aufregende Gänsehaut verschaffte, war ebenso routiniert wie sein professionelles Lächeln. Jeder Anflug von Traurigkeit war verschwunden, Patrick war nun wieder der perfekte Bänker. Die kühle Nüchternheit, die er ausstrahlte, wirkte einerseits abweisend, aber andererseits fand ihn Melissa in seinem gut geschnittenen Anzug, der Seidenkrawatte und dem rebellischen Haarschopf so anziehend, dass ihr Zwerchfell sich anspannte.

„Ich wollte mich nach den Konditionen für ein Girokonto erkundigen.“ Den Spruch hatte sie auswendig gelernt und sogar vor dem Spiegel geübt, deshalb kam er unfallfrei über ihre Lippen.

„Wir haben mehrere Varianten“, erklärte er, ging einen Schritt zur Seite und holte eine Broschüre aus einem Ständer. Er faltete sie mit geübtem Griff auf und beschrieb Melissa die verschiedenen Abrechnungsmodelle, so wie er sie sicher mehrmals pro Woche irgendwelchen Kunden erläuterte. Unwillkürlich bewunderte sie ihn für seine Eloquenz und die selbstsichere Art, wie er sich bewegte. Jeder Satz von ihm, jede kleine Geste strahlte Kompetenz aus.

Ihre Hand krampfte sich inzwischen um den Roman, den sie in ihrer Handtasche mit sich herumtrug. Was genau Patrick ihr erzählte, ging völlig an ihr vorbei, war sie doch viel zu sehr damit beschäftigt, sein Gesicht zu mustern. Die dunklen Augenbrauen bewegten sich beim Sprechen und ließen seine hellen Augen durch den Kontrast um so mehr leuchten. Außerdem hatte er die dichtesten Wimpern, die sie jemals bei einem Mann gesehen hatte. Fasziniert betrachtete sie ihn, während er mit ihr redete, und hätte um ein Haar verpasst, dass er sie etwas fragte, weil auch noch sein unverwechselbarer Duft in ihre Nase stieg.

„… Sie selbständig oder angestellt?“, wollte er von ihr wissen. Den Anfang des Satzes hatte sie leider nicht mitbekommen, sie konnte sich nur zusammenreimen, dass es Unterschiede in der Abrechnungsart oder Preisgestaltung gab.

„Angestellt“, antwortete sie schnell.

Himmel, sie durfte nicht so einsilbig sein, wenn sie mit ihm ins Gespräch kommen wollte! Sonst würde er ihr den Prospekt in die Hand drücken und sich dem nächsten Kunden zuwenden. „Ich arbeite ganz in der Nähe“, fuhr sie fort. „Und bin schon oft an der Filiale vorbeigegangen. Sie sieht so freundlich aus mit den vielen Trögen voller Pflanzen am Eingang. Na ja, deshalb dachte ich, ich mache mich mal schlau.“

Nervös strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Natürlich hatte sie die Frisur längst nicht so gut hinbekommen als neulich, als Sandy sie geföhnt hatte. Auch das Make-up war sicher dilettantisch. Die Kolleginnen von Patrick sahen jedenfalls alle perfekt gestylt aus, während sie sich einfach nur verkleidet vorkam. Die tief ausgeschnittene Bluse machte es auch nicht besser, Melissa hatte ständig den Drang, sie am Dekolleté zusammenzuraffen, damit der BH nicht herausblitzte.

„Ich freue mich sehr, dass Sie hereingekommen sind“, hörte sie Patrick sagen. Sein Blick hielt ihren fest.

Melissas Atem ging schneller. War das eine einstudierte Floskel, die er zu jedem Kunden sagte? Auf diversen Seminaren antrainiert, genau wie das einladende Lächeln? Oder meinte er am Ende wirklich sie? Weil auch er spürte, dass ihr Schmerz und Einsamkeit vertraut waren?

„Ja, ich freue mich auch.“ Oh Mann, das hatte sie fast schon gehaucht! Er musste sie für eine Vollidiotin halten.

„Unser Kreditinstitut wird Sie nicht enttäuschen, wir haben einen hervorragenden Service, beraten individuell und unsere Produkte haben schon mehrmals Verbraucherpreise gewonnen.“ Er zog eine weitere Broschüre aus einer Schublade, um ihr diverse Anlagepläne vorzustellen.

Nach diesem abgespulten Werbespruch fiel Melissas Hoffnung in sich zusammen. Seine erwähnte Freude über ihren Besuch hatte nichts mit ihr zu tun. Er begrüßte garantiert jeden einzelnen Neukunden auf diese Weise, das war schließlich sein Job. Und den machte er wirklich gut, daran gab es keinen Zweifel. Sie kam sich mit einem Mal schrecklich unbedeutend und farblos vor, da half auch das neue Styling nichts. Sobald sie zur Tür hinausging, würde er keine halbe Sekunde mehr an sie denken.

„Ja, vielleicht sollte ich mir auch mal Gedanken zum Sparen machen“, sagte Melissa matt, um nicht stumm auf den Prospekt zu schauen, der jetzt vor ihr lag. Patrick nickte sein Verkäufernicken, nahm einen Stift zur Hand und kreuzte ihr einen Sparplan an, der im Moment besonders attraktive Konditionen hatte, wie er sich ausdrückte.

Ihr Mut sank immer weiter. Niemals würde es ihr gelingen, diesen durch und durch professionellen Bänker aus der Reserve zu locken, dazu war sie viel zu unauffällig. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Broschüren dankend einzupacken und sich auf den Heimweg zu machen. Diesen Teil der 16. Straße würde sie künftig auf jeden Fall meiden, um ihm nicht mehr über den Weg zu laufen.

„Haben Sie noch Fragen?“ Seine Augen suchten ihre.

Weil sie so verwirrt war, dass ihr keine Worte einfielen, stellte sie ihre Handtasche auf den Tresen. Sandy würde entsetzt aufschreien, wenn sie die sähe, denn das alte Ding passte absolut nicht zum modischen Outfit, war aber seit Jahren Melissas Lieblingstasche und schenkte ihr Sicherheit. An ihr konnte sie sich festhalten, das tat manchmal gut. Wie abgewetzt das Leder an manchen Stellen schon war, fiel ihr peinlicherweise erst jetzt auf, als sie vor ihr stand. Doch sie konnte sie natürlich nicht sofort wieder vom Tresen ziehen, das wäre noch peinlicher gewesen.

Als wäre die alte Ledertasche ihre Verbündete, kippte sich die Tasche eigenständig zur Seite, öffnete geschickt ihren Schlund und ließ das Buch herausgleiten. Mitten auf die Broschüre zum Thema Girokonto für Privatpersonen. Verblüfft starrte Melissa die hilfsbereite Tasche an. Das war so nicht geplant gewesen, aber es passte natürlich wunderbar. Offenbar entwickelten Ledergegenstände in ihrer Gegenwart neuerdings ein Eigenleben.

„Nachtzug nach Lissabon!“, las Patrick und dieses Mal war sein Lächeln auf jeden Fall echt. „Was für ein Zufall, das habe ich vor Kurzem auch gelesen. Ich wusste gar nicht, dass es hier in den Staaten so bekannt ist. Haben Sie es in einer Buchhandlung empfohlen bekommen?“

„Nein, von einem alten – äh – Bekannten.“ Fast hätte sie gesagt: „Von einem alten Lederkoffer“, konnte sich aber gerade noch beherrschen. „Ich habe es noch nicht ganz ausgelesen, muss ich zugeben.“ Zumindest das entsprach der Wahrheit.

Seine Augenfarbe verwandelte sich vom Ton einer frühen Kornblume zum strahlenden Blau einer Schwertlilie. „Wie finden Sie es?“

So, wie er sie gerade ansah, schien er alle anderen Kunden und auch seine Kollegen völlig vergessen zu haben. Es war, als existiere nur sie allein in diesem Raum.

Melissa wurde heiß. Sie war nun doch froh, kein Langarmshirt zu tragen, sondern nur die dünne Bluse. Was sollte sie antworten? Fieberhaft versuchte sie, sich an die Auszüge der literarischen Rezensionen zu erinnern, die sie gegoogelt hatte. Dummerweise fiel ihr der genaue Wortlaut nicht mehr ein, dabei hatte sie einige der Kritiken sogar ausgedruckt und auswendig gelernt. Sie musste improvisieren und eigene Worte hervorzaubern.

„Schon der Anfang hat mir gut gefallen. Diese Frau auf der Brücke und dass sie den alten Lehrer so tief berührt. So etwas ist immer lesenswert, finde ich. Und einfach mal was anderes, als wenn nur irgendwelche Polizisten einem Mörder hinterherjagen.“ Dass sie das halbe Buch über gewünscht hatte, es würde endlich mal ein Mord oder zumindest eine anständige Verfolgungsjagd stattfinden, behielt sie lieber für sich.

„Auf jeden Fall!“ Er nickte eifrig. „Eine Begegnung, die den Lauf eines Lebens verwandelt. Großartig, oder? Ich finde das auch sehr fesselnd. Wie hat Ihnen der Schreibstil gefallen?“

Mist, jetzt würde sie sich als totale Ignorantin erweisen. Sie hatte von rhetorischen Mitteln und solchen Dingen keine Ahnung mehr. In der Schule war das nur kurz Thema gewesen, das hatte sie längst vergessen.

„Sehr beeindruckend.“ Das war schließlich nie falsch. „Ich mag die Art, wie dieser Schweizer schreibt. Es entstehen Bilder beim Lesen.“ Das hatte sie irgendwo mal aufgeschnappt und hoffte, es passte.

„Ja, das stimmt!“ Patricks Hand strich sanft über den Bucheinband. Er bemerkte es sicher nicht. Melissa hingegen ertappte sich bei der Vorstellung, wie sich seine Finger wohl auf ihrer Haut anfühlten, wenn er dort das gleiche tat. Oh Mann, was hatte sie nur für Gedanken!

„Ging mir ganz genauso“, fuhr er fort. „Ich hatte tatsächlich das Gefühl, ich sitze mit der Hauptfigur im Zug. Das passiert mir nicht bei jedem Buch, aber ich konnte mich trotz des Altersunterschieds von Anfang an in diesen Gregorius einfühlen. Ich war vor vielen Jahren mal in Portugal, zwar mit dem Flugzeug, aber ich habe mich an vieles erinnert. Die Bauart der Häuser, Sardinen und Vinho Verde, die Wehmut im Fado-Gesang – all das konnte ich förmlich spüren, als ich den Roman gelesen habe. Mercier hat das wunderbar eingefangen.“

Seine Gesichtszüge waren voll Lebendigkeit. Sogar der melancholische Zug um seinen Mund war verschwunden, wenn er sprach.

Sie sollte noch etwas zum Buch sagen, irgendetwas Schlaues. Verzweifelt versuchte sie, sich an ein paar Passagen der Kritiken zu erinnern, ihr fielen aber nur Bruchstücke ein.

„Ich habe es gern in Romanen, wenn die Hauptfigur eine Entwicklung durchmacht“, sagte sie ins Blaue hinein. „Nichts ist langweiliger, als wenn die Personen so statisch bleiben.“ Das war eine glatte Lüge, denn sie liebte ihre Serien mit den immer gleichen Konflikten. Aber es klang so schön literarisch.

„Das sehe ich ganz genauso!“ Er kam eine Handbreit näher an sie heran. Wenn sie seine Miene richtig entschlüsselte, hatte sie etwas Richtiges gesagt. „Das A und O eines Buches ist doch immer wieder, die Wandlung des Protagonisten zu verfolgen. Das fasziniert mich auch immer am meisten.“

„Absolut!“, bestätigte sie schnell seine Aussage, weil ihr dieses begeisterte Blitzen in seinen Augen ungemein gut gefiel.

„Ist wirklich spannend, dass es Ihnen auch so geht“, erwiderte er. „Sonst stehe ich immer allein mit meiner Meinung da.“

Melissa wollte gerade etwas antworten, da trat ein älterer Kollege an Patrick heran und blieb mit einem Schriftstück in der Hand neben ihm stehen. „Ich bräuchte eine Unterschrift“, bat er höflich. Patrick nickte, doch bevor er sich dem Formular zuwandte, beugte er sich näher zu Melissa.

„Sagen Sie, hätten Sie Lust, dass wir bei einem Kaffee ein wenig weiter reden? Allerdings kann ich erst in zehn Minuten hier weg. Also, falls Sie überhaupt Zeit haben.“ Entschuldigend hob er die Schultern. Breite Schultern. Schultern, an die sie sich gerne anlehnen würde. Ob er viel Sport machte?

„Kein Problem, ich muss sowieso noch eine Freundin anrufen. Dann warte ich vor der Eingangstür?“ Ihr Herzschlag galoppierte wie ein Wildpferd beim Rodeo.

„Das wäre wunderbar.“

Noch einmal dieses echte Lächeln, offen, ehrlich und in sie hineinfärbend, als wenn man einen Farbpinsel in ein Glas Wasser stellte. Alles war mit einem Mal so bunt wie eine blühende Sommerwiese. War es ein Traum? Doch dazu waren die Geräusche zu laut, das Rattern einer Geldzählmaschine nebenan in der Kasse, das Knarzen eines Schreibtischstuhls, das schrille Telefonklingeln. Nein, es war echt. Patrick war echt, genau wie sein Lächeln und sein Blick, der sie selbst innerhalb von nur weniger Sätze angeknipst hatte, als wäre sie eine längst in der Ecke vergessene Stehlampe und er hatte endlich den Schalter gefunden.

„Eine Begegnung, die den Lauf eines Lebens verwandelt“, hatte er gesagt. Natürlich auf das Buch bezogen. Aber vielleicht war das ein Omen? Er hatte sich längst dem Kollegen zugewandt und diskutierte mit ihm, die Miene nun wieder ernst, der Ton nüchtern. Deshalb zwang sich Melissa, ihre Schritte in Richtung Ausgang zu lenken. Die Broschüre hatte sie in die loyale Handtasche gesteckt, aber das Buch trug sie in der Hand. Seine Finger hatten es berührt, das war Grund genug.

Erst, als sie die Bank verlassen hatte und den Geruch der New Yorker Straßenluft einatmete, kam sie wieder zu sich. Meine Güte, was reimte sie sich da nur zusammen! Sie zog ihr Handy heraus und rief eine Nummer aus der Adressliste auf.

„Hilfe, ich mutiere gerade zum Teenager“, sagte sie, die Stimme immer noch atemlos.

„Hast du mit ihm geredet?“

„Ja. Erst war er ganz sachlich, ich bin gar nicht an ihn rangekommen. Aber dann … Er hat ein umwerfendes Lächeln und wir gehen jetzt einen Kaffee trinken.“

Sandy kreischte. „Ich werde verrückt! Das ist ja klasse. Ich habs dir doch gesagt: Dein Outfit wird ihn total überzeugen!“

Eigentlich hatte er ihre Kleidung nicht näher betrachtet, fand Melissa. „Den Ausschlag hat wohl eher das Buch gegeben“, klärte sie ihre Freundin auf.

„Scheißegal. Ihr habt ein Date! Denk daran, dich zwischendurch mal nach vorne zu beugen, so wie wir es besprochen haben. Weil du dich am Schienbein kratzt oder ein Centstück vom Boden aufhebst. Bei so tiefen Einblicken werden Männer immer schwach. Genau so hab ich George rumgekriegt.“

Melissa kannte die Geschichte über das Kennenlernen der beiden zu genüge. Sie vermutet allerdings, dass das, womit sie bei Patrick punkten konnte, eher ein Duden war als ein Dekolleté. Aber vielleicht täuschte sie sich auch, Sandy kannte sich da deutlich besser aus.

„Ich muss auflegen. Er kommt sicher gleich raus.“ Ihr Blick war die ganze Zeit auf die Glastür gerichtet.

„Leg ihn flach!“, befahl Sandy im Tonfall eines Drill Instructors bei der Army. Melissa musste lachen. Kaffeetrinken reichte ihr fürs Erste vollkommen.

 

Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür des Personaleingangs und Patrick kam ihr entgegen. Noch im Gehen zog er sein Sakko aus und hängte es sich leger über die Schulter. Die spätnachmittägliche Frühlingssonne strengte sich heute besonders an, schon jetzt einen Hauch von Sommer zu verbreiten. Sie ließ sein schwarzes Haar glänzen und spielte mit seinem langen Schatten, der Melissa fast erreicht hatte.

„Ich bin übrigens Patrick“, stellte er sich vor. „Jetzt brauchen wir ja nicht mehr so dienstlich zu sein.“ Und da war es wieder, dieses warme Lächeln.

„Melissa“, sagte sie.

„Wie die Blume?“

„Genau so.“ Sie konnte ihr Strahlen nicht mehr unterdrücken. Ganz offensichtlich hatte sie recht und er war ebenfalls ein Pflanzenliebhaber. Das fühlte sich herrlich an. Auf diese Weise musste sie ihm nichts vorspielen und sie konnten einfach über ihre gemeinsame Leidenschaft reden.

„Gleich dahinten ist ein kleines Lokal, die machen guten Espresso. Wollen wir dort hingehen?“

„Gerne!“

Es waren nur ein paar Schritte, dann saßen sie sich an einem quadratischen Metalltisch gegenüber. Melissa war froh, dass er nicht Pastry Passion vorgeschlagen hatte, denn dort würde Violetta alles mit Adleraugen beobachten und anschließend haargenau ihrer Hairstylistin erzählen.

Mitten auf dem Tisch thronte eine Topfblume. Melissa konnte kaum glauben, wie gut es das Schicksal im Moment mit ihr meinte. Erst dieser Glücksfall mit dem Koffer, dann heute die Handtasche, die als Lebensretterin fungiert hatte, und nun stand der Gesprächsaufhänger auch noch direkt vor ihrer Nase.

„Eine schöne Dieffenbachia ist das.“ Sie drehte den Übertopf, um die Pflanze von allen Seiten betrachten zu können. „Aber sie bräuchte ein wenig mehr Licht, die Maserung ihrer Blätter lässt nach. Magst du lieber die gesprenkelten Blätter oder die mit den Adern?“

„Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht.“ Er sah die tropische Pflanze interessiert an.

Klar, er bevorzugte vielleicht ausgefallene Arten. Orchideen oder Ziergräser. Melissa entspannte sich, denn das Grün der Dieffenbachia kam ihr wie ein wunderbares Verbindungsglied zwischen ihr und Patrick vor. Zart strich sie über ein Blatt, das sich ihr entgegen wölbte. Diese Pflanzenart war, wie so viele, eine Meisterin der Anpassung. Hielt man sie eine Zeit lang recht trocken, so bildeten sich die Wurzeln zurück. Schenkte man ihr danach eine Portion Wasser, verdunstete sie das nicht einfach, sondern bildete Tropfen auf den Blättern, als würde sie vor Freude weinen. Melissa gingen solche kleinen Wunder immer sehr nah. Aber sie wollte Patrick nicht damit langweilen, sicher wusste er diese Dinge sowieso.

Er bestellte für sich einen Espresso, während Melissa sich für einen Eistee entschied. Ihr Herz schlug bereits schnell genug, da war Koffein nicht hilfreich.

Sie erinnerte sich daran, wie Sandy gern Typen anquatschte, die zufällig am gleichen Tisch saßen. Meistens fragte sie die Kerle irgendwas im Sinne von „Lass mich raten, du kommst gar nicht aus New York City?“ oder so ähnlich. Daraus entstand ausnahmslos immer ein Gespräch. Todesmutig beschloss sie, das bei Patrick auszuprobieren.

„Lass mich raten.“ Sie kniff die Augen zusammen, als müsste sie ihn genau mustern. „Du bist ein großer Freund von Blumen und Grünpflanzen. Richtig?“

Jetzt würde er gleich überrascht die Brauen hochziehen und sie für eine besonders kluge und empathische Frau halten, bevor er über seine Leidenschaft für Nachtschattengewächse sprach. Das Leben konnte so leicht sein!

„Blumen?“ Er wirkte total entgeistert.

„Oh, ich dachte …“ Verdammt. Wo blieb sein hingerissenes Lächeln?

Er schüttelte den Kopf, als hätte sie eine wirklich unsägliche Frage gestellt. „Sagen wir mal so: Sie stören mich nicht. Aber ich habe keine besondere Beziehung zu Grünzeug.“

Voller Entsetzen starrte Melissa ihn an.

Patrick redete schnell weiter. „Weißt du, meine Tante Jane, die buddelte ständig im Garten herum. Und nie mit Handschuhen. Wenn sie dann auf mich zukam, lauter Erde an den Händen und dicke, schwarze Ränder unter jedem Fingernagel“, er erschauderte, „also das fand ich total eklig. Sie packte immer meinen Kopf, hielt ihn fest und küsste mich auf beide Wangen. Ich kam mir vor wie in einem Schraubstock, der nach Naturdünger roch.“ Er lachte und nahm dem Ober, der gerade die Getränke brachte, seine Tasse ab.

Er mochte keine Pflanzen? Das war ja … eine Katastrophe! Melissas Nacken verspannte sich schmerzhaft. Er fand Menschen, die mit Erde arbeiteten, sogar abstoßend! Sie wusste, dass ihre Nägel heute blütenweiß waren, musste sich aber trotzdem zwingen, das nicht zu kontrollieren. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie versteckte sie unter dem Tisch und ließ den Eistee unberührt stehen. Die Unterhaltung über Lieblingssträucher, den Austausch über Dünger oder den idealen Rückschnitt – das konnte sie also vergessen. Aber das war nicht alles! Wenn sie ihm in ihrem normalen Outfit begegnet wäre, mit Brille, mattem Pferdeschwanz und einer erdverkrusteten Jeans, hätte er sich angewidert von ihr abgewendet.

Dann hätten sich ihre Augen nicht an seinen Unterarmen festgesaugt, nachdem er eben die Ärmel des Hemdes lässig hochgerollt hatte. Maskuline Arme waren es, sehnig, braun gebrannt und voll dunkler Haare. Melissa hatte blonde Sunnyboys noch nie gemocht. Mit Brad Pitt brauchte man ihr nicht zu kommen, aber wenn Javier Bardem oder Andy Garcia ihren traurigen Blick über die Leinwand gleiten ließen, schmolz sie dahin. Und Patrick spielte, obwohl er nicht makellos schön war, alleine durch seine unkonventionelle Ausstrahlung in der gleichen Liga. Keiner der glatt rasierten Typen in der Bankfiliale würde mit einem abgewetzten Lederkoffer verreisen, da war sie sich sicher. Keiner europäische Bücher lesen. Und niemand dort roch nur annähernd so gut wie er.

Es war ihr egal, ob er Pflanzen mochte. Er sollte sie, Melissa, mögen, unbedingt, trotz allem. Obwohl sie keine Chance bei ihm hatte. Obwohl sie doch wusste, was für eine einfache Frau sie war. Obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie tun konnte damit er sie … Oder doch? Vor ihrem inneren Auge tauchte plötzlich Violettas Gesicht auf. Genau! Es gab eine Lösung: Sie musste vorgeben, seine Interessen zu teilen. Wie Violetta mit dem Motorradmann. Nur auf diese Weise bestand eine klitzekleine Aussicht, dass er sie ebenfalls anziehend finden würde.

„Dafür hast du aber eine gute Beziehung zu Büchern, das ist sowieso viel besser“, erwiderte sie betont munter. „Genau wie ich.“

„In der Tat, die habe ich.“ Er trank die Hälfte seines Espressos aus. „Und ich finde es großartig, jemanden zu kennen, der auch gerne solche Romane liest. Das ist echt selten.“

Melissa grub ihre Nägel in die Handfläche. Sie fühlte sich nicht wohl dabei, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. „Pascal Mercier hat hier wirklich einen ganz besonderen Roman geschaffen. Durch die Einflechtung der portugiesischen Schriften aus der Buchhandlung befindet man sich ja auf mehreren Ebenen im Text“, erinnerte sie sich endlich an eine Rezension. „Es ist wirklich meisterlich, wie er das ineinander webt.“

Begeistert sah er sie an. Ob von dem Roman oder von ihr selbst, die so kluge Dinge von sich gab, wusste sie nicht.

„Mich hat vor allem die Wandlung fasziniert, die Gregorius durchlebt. Findest du nicht, dass die ganz ungewöhnlich ist? Immerhin ist er ja schon Ende fünfzig, bereitet sich geistig eher auf den Ruhestand vor. Und dann so etwas.“ Er wirkte nachdenklich, als er mit dem winzigen Löffel in der halb leeren Tasse rührte. Das Thema schien ihn sehr zu berühren.

„Gibt es denn ein richtiges Alter, in dem man eine Wandlung durchmachen sollte?“, fragte Melissa spontan.

Er sah auf. Neigte den Kopf ein klein wenig, schwieg aber einige Sekunden. „Über solche Fragestellungen denke ich oft nach“, sagte er mit einer Stimme, die plötzlich von ganz tief aus seinem Inneren zu kommen schien.

„Möchtest du denn etwas ändern in deinem Leben?“

Seine Augen, die jetzt die Farbe einer purpurblauen Clematis hatten, fixierten einen imaginären Punkt in der Ferne. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Will man das nicht immer? Aber manchmal ist das gar nicht die eigene Entscheidung. Man wacht an einem Tag auf und plötzlich ist alles anders.“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Zu gerne hätte sie gefragt, worauf genau er sich bezog, aber sie spürte deutlich, dass er mehr zu sich selbst gesprochen hatte. Am liebsten hätte sie ihre Hand ausgestreckt und mitfühlend auf seine Hand gelegt, die eben noch auf der Tischplatte geruht hatte. Doch die war jetzt weg. Und überhaupt kam eine Berührung nicht infrage. Dazu kannten sie sich viel zu kurz. Würde er sich jetzt in sich zurückziehen? Er wirkte, als quälten ihn schwere Gedanken.

„Ich habe mein Leben ein Stück weit geändert“, begann sie leise. „Nicht so wie Gregorius aus dem Buch, aber es war ein großer Schritt, hierher zu ziehen.“

Sein Blick war nun wieder bei ihr. Dabei hatte sie einfach so darauf losgeredet, ohne darüber nachzudenken, und erst recht nicht mit dem Vorhaben, ihm etwas Spannendes von sich zu berichten. Es war irgendwie herausgesprudelt.

„Wo bist du denn aufgewachsen?“ Sie fand ehrliches Interesse in seiner Miene.

„In New Hampshire. Mein Vater hatte dort eine Wäscherei, na ja, am Ende war es mehr eine chemische Reinigung. Und es gab diesen Nachbarn, Mister Palmer.“ Sie sah den alten Mann noch immer vor sich, wenn sie von ihm sprach. Den breitkrempigen Panamahut, den er im Sommer trug, wenn er in seinem geliebten Garten arbeitete, die tiefen Lachfalten um seine Augen, seine grünen Gummistiefel. Melissa war gerne bei ihm gewesen, er war fast so etwas wie ein Grandpa. Nur viel wohlwollender als ihre echten Großeltern. „Ich habe viel von ihm gelernt“, sagte sie, ohne Genaueres auszuführen. „Aber ganz konkret hat sich mein Leben verändert, als ich auf seiner Beerdigung Eleanor kennenlernte, seine Schwester. Sie hat wohl irgendwie gesehen, dass ich in der Kleinstadt nicht glücklich war, und mir kurzerhand eine kleine Dachgeschosswohnung in ihrem Haus angeboten. Mitten in Manhattan.“

„Und dann bist du einfach hergezogen? Hast alles hinter dir gelassen, deine Familie und Freunde, dein ganzes Umfeld? Das finde ich sehr mutig.“ Patrick hatte seinen Stuhl näher an den Tisch herangerückt, sodass sie erneut sein Aftershave riechen konnte. Es stieg ihr in den Kopf, genau wie der Anblick seiner vollen Lippen, von denen er den letzten Tropfen des Espressos leckte. Ihr Eistee stand noch immer unangetastet vor ihr.

„Eleanor hat mir geholfen, als ich herkam. Auch mit dem Job. Und so arg viele Freunde hatte ich in New Hampshire sowieso nicht.“ Sie senkte den Blick. Es war ihr peinlich zuzugeben, dass sie sich am liebsten zurückgezogen und im Garten beschäftigt hatte. Irgendwie schien sie nie richtig zu den anderen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen gepasst zu haben. Mit dem über siebzigjährigen Mister Palmer hatte sie sich jedenfalls deutlich wohler gefühlt als mit den meisten Altersgenossen. Doch das rieb sie Patrick natürlich nicht unter die Nase, sicher hatte er einen ganzen Reigen an Freunden und Bekannten.

„Du hast gesagt, du arbeitest hier in der Nähe? Was machst du denn genau?“ Er stützte den Ellbogen auf den Tisch und legte sein Kinn in die Hand, während er sie musterte.

Verdammt. Das war genau die Frage, die Probleme machte. Blitzschnell ging Melissa im Kopf die Möglichkeiten durch. Log sie ihn jetzt an und gaukelte ihm irgendeinen Bürojob vor, würde das auffliegen, falls sie sich tatsächlich näher kennenlernen sollten. Aber dass sie Gärtnerin war, konnte sie ihm auf keinen Fall verraten, sonst würde er sich sofort von ihr abwenden statt, wie im Moment, den atemberaubenden Augenkontakt aufrecht zu erhalten.

„Im City Garden Center“, gab sie zu. „Gleich hier in der Nähe. Ich mache da die Buchhaltung.“ Sie gab sich einen Ruck und hielt ihm ihre dank Sandy tadellos manikürten Hände entgegen. „Schau, keine Ränder unter den Nägeln!“

Patrick lachte. Ein tiefes, markantes Lachen, das ihr direkt in den Bauch hineinschoss. Ein Lachen wie ein munterer Bachlauf in einem Wald, dessen Wasser über runde Kieselsteine sprang und an dessen Ufer Zimtfarne und Trollblumen wuchsen. Ein Lachen, von dem sie hoffte, es noch sehr oft hören zu dürfen.

„Deshalb kennst du dich also so gut mit Pflanzen aus, ich verstehe.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739408231
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
romantisch USA Millionär Blumen Frühling Milliardär liebesroman

Autor

  • Karin Koenicke (Autor:in)

Karin Koenicke hat anfangs Kurzgeschichten in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht, schreibt aber inzwischen mit viel Herzblut Liebeskomödien. Ihre Romane mit Humor und großem Gefühl sind bei den eBook-Leserinnen so beliebt, dass sie bereits mehrmals die Bestsellerlisten anführten. Sie selbst ist wie ihre Geschichten - mal aufgedreht, mal melancholisch, mal Chopin, mal Rolling Stones. Ihre große Liebe gilt der Musik, die oft in ihren Büchern eine Rolle spielt.