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Ich verwese

von Tanja Hanika (Autor:in)
80 Seiten

Zusammenfassung

Ich bin nicht mehr ich. Elisa sitzt mit ihren Kindern beim Zahnarzt, als ihr Mann sie von der Arbeit anruft. Sie soll sofort aufbrechen und mit den beiden nach Hause fahren. Schon auf dem Parkplatz vor der Praxis erkennt sie, dass etwas nicht stimmt: Panik ist unter den Menschen ausgebrochen. Obwohl Elisa alles gibt, um ihre Kinder und sich zu beschützen, spürt sie bald, dass sie infiziert worden ist. Als Zombiewesen kennt sie keine Gefühle und hat keine Erinnerungen an ihr Leben mehr. Da ist lediglich dieser enorme Hunger, der nicht nur Elisa zur Gefahr für die Menschen werden lässt. Auch als Zombie gibt es Widrigkeiten zu bestehen, wenn man seine Zähne in köstliches Menschenfleisch rammen möchte. Eine Horrorkurzgeschichte, die zum Teil aus Zombie-Perspektive erzählt wird. Triggerwarnung: Blut, Gewalt (auch gegen Kinder), Kannibalismus, Verwesung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


EINS.

Der Ausbruch

Die Montagmorgensonne in der letzten Sommerferienwoche fällt durch die Jalousie und taucht das Schlafzimmer in ein goldenes Licht, während draußen die Vögel singen und im Haus noch alles ganz still ist. Mein Mann neben mir atmet tief und gleichmäßig und auch von den Kindern ist kein Mucks zu hören, sodass ich mich frage, ob ein Tag perfekter sein könnte. Ich strecke mich und genieße die frische Luft, die zum gekippten Fenster hereinströmt, und den Tanz der Staubkörner, die im Licht herumwirbeln. Es ist einer dieser vollkommenen Augenblicke, die man sich im Einmachglas aufbewahren will.

Kurz überlege ich, ob ich mich noch die letzten Minuten, bis Daniels Wecker klingelt, zu ihm unter die Decke kuscheln soll. Aber ich denke, dass sich alle freuen, wenn es heute ein besonderes Frühstück gibt. Leise steige ich aus dem Bett und hebe eine halblange Pyjamahose vom Boden auf, für die es mir nachts zu warm geworden war. Nachdem ich in die Hose hineingeschlüpft bin, schleiche ich aus dem Schlafzimmer.

In der Küche schalte ich die Kaffeemaschine an und suche alle Zutaten zusammen, die ich benötige, um Pancakes zu backen. Der Kaffee ist bald durch die Maschine gelaufen und sein herrlicher Duft erfüllt den Raum. Vorsichtig nippe ich an meiner Tasse. Das Aroma breitet sich in meinem Mund aus. So muss ein Morgen starten. Während ich in Gedanken die Aufgaben des Tages durchgehe, rühre ich den Teig zusammen und backe die ersten Küchlein aus. Ehe sie fertig sind, höre ich Lars auf der Treppe, vielleicht vom Duft angelockt. Er verschwindet kurz auf die Toilette, bevor er sich an den Küchentisch setzt.

»Es gibt Pancakes?«, fragt er mit der Begeisterung eines Neunjährigen, den manche Kleinigkeiten vor Glück zum Ausrasten bringen. Er reibt sich die Augen und blinzelt gegen die Helligkeit in der Küche an.

»Guten Morgen, Großer. Ja, ich war früh wach.«

»Au, toll. Ich liebe Pancakes.« Als ob ich das nicht wüsste.

Ich stelle ihm ein Glas Orangensaft auf den Tisch und reiche ihm einen Teller, da schlüpft Nele in die Küche.

»Pancakes!«, ruft auch sie entzückt. »Ist heute Sonntag?«

»Das war gestern, Schatz. Heute ist Montag. Papa muss wieder zur Arbeit.« Wie auf mein Kommando hin klingelt oben der Wecker, dann rumpelt und poltert es ein bisschen und während ich auch Nele mit Orangensaft und Pancakes versorge, geht das Wasser im Bad an.

Mit vollem Mund sagt Lars: »Papa sollte sich unter der Dusche lieber beeilen, bevor die ganzen Pancakes weg sind.«

»Ihr kleinen Monster werdet eurem armen, hungrigen Papi doch nicht alles wegessen? Was soll er dann auf der Arbeit machen, wenn sein Magen knurrt? In den Schreibtisch beißen?«

»Nein!« Entsetzen und Belustigung zeigen sich im gerade mal sieben Jahre alten Gesicht meiner Tochter. »Ich teile mit Papi.« Ihr Seitenblick zu Lars ist herausfordernd, aber er schiebt sich lediglich das nächste Stück in den Mund und blättert in einem Comic, den er von wer weiß wo hergezaubert hat.

Oben geht der Föhn an und ich freue mich selbst auf eine kurze kalte Dusche, sobald wir fertig gefrühstückt haben.

»Mama, was machen wir heute?«, fragt Nele.

Ich nehme mir nun meine eigene Portion und stelle den Teller auf den Küchentisch. »Ihr zwei habt nachher einen Zahnarzttermin bei Frau Doktor Helmer. Nach dem Mittagessen kommt meine Freundin Melli zum Kaffee. Sie bringt die Kleinen mit, dann habt ihr jemanden zum Spielen. Ich denke, ihr könnt heute wieder in das Planschbecken, wenn ihr wollt. Es soll richtig warm werden.«

»Jippie. Außer zum Zahnarzt, das ist nicht jippie. Ich will da nicht hin«, sagt Nele und beißt ein besonders großes Stück ab.

Daniel erscheint in der Küche, die Haare noch nicht ganz trocken. »Wo willst du nicht hin, süße Maus?«

»Hat Angst vor der Zahnärztin«, vermeldet Lars, als wäre das ein Kinderding, dem er längst entwachsen ist.

»Brauchst du nicht«, sagt Daniel. »Du hast die hübschesten, weißesten Funkelzähne auf der Welt.« Er beugt sich vor, Nele macht den Mund auf und nach einer kurzen Inspektion geben sie sich ein High five. »Sind noch Pancakes zu ergattern?«

Nachdem ich meinen Guten-Morgen-Kuss bekommen habe, reiche ich ihm welche. Dann lasse ich noch einen Kaffee durch die Maschine laufen. Anschließend sitzen wir alle am Tisch und plaudern und essen.

Glücklich betrachte ich meine Familie und freue mich auf mehr Situationen wie diese. Es sind die kleinen Glücksmomente, die ich genieße. So wie dieses Frühstück, das ich nie vergessen will.

Bald macht sich Daniel auf den Weg zur Arbeit in der Stadt. Damals, als wir zusammengekommen sind, hätten wir es nie für möglich gehalten, aber wir sind eins dieser Vorstadtehepaare geworden und ich bin glücklicher damit, als ich es mir jemals hätte träumen lassen.

Die Kinder schaffen es für den Moment sogar, etwas zusammen zu spielen, ohne zu streiten, während ich selbst dusche. Ich höre Dinogebrüll, Autobrummen und Pferdewiehern. Meine Tochter ist kein Glitzer-Prinzessinnen-Puppen-Mädchen, sondern spielt auch gerne mit Jungs und klettert auf Bäume. Ich war früher genauso.

Keine Stunde später fahren wir auf den Parkplatz der Zahnärztin. Die letzten zwei Kilometer waren die Kinder immer stiller geworden. Ich schalte den Motor aus, drehe mich im Sitz um und sage: »Leute, ihr hattet bei der letzten Kontrolle super Zähne. Das wird heute nicht anders sein. Wir gehen da rein, lassen uns loben, dass wir eure Beißerchen so hegen und pflegen, und dann machen wir uns einen schönen Tag. Wir rocken das. Nächste Woche um die Zeit sitzt ihr in der Schule.«

»Du weißt, wie man seine Kinder aufbaut, Mama. Mit Schule«, sagt Lars und schüttelt amüsiert den Kopf. Aber die beiden wirken tatsächlich entspannter.

Zu fünft mit der Arzthelferin und der Zahnärztin ist es in Behandlungsraum Nummer drei recht eng. Nele ist fertig und hat ihr Lob eingeheimst. Frau Doktor Helmer hat ausgiebig ihre neue Zahnlücke bewundert und bei Lars hat sie bereits ebenfalls alle seltsamen Kürzel genannt, die zu jedem Besuch bei ihr dazugehören, da beginnt mein Handy in der Tasche zu vibrieren. Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. Es ist mir sehr unangenehm, wie eine Mutter zu wirken, die mehr am Handy hängt, als auf ihre Kinder aufzupassen. Mir ist klar, dass ich damit übertreibe. Aber das Handy fängt immer wieder an, egal, wie oft ich den Anruf ablehne. Beim fünften oder sechsten Mal ziehe ich das Handy heraus und schaue auf dem Display nach, welcher Quälgeist mich gerade jetzt anrufen muss.

Ein Bild meines Mannes grinst mich an. Es muss wichtig sein.

»Bleibt sitzen, wo ihr seid«, bedeute ich meinen Kindern und entschuldige mich kurz bei der Ärztin, um vor die Glastür zu treten.

»Alles okay bei …«, fange ich an.

»Elisa, hör zu. Fahr heim. Fahr sofort heim. Hier stimmt was nicht. Scheiße!« Gehupe wird über die Telefonverbindung laut. »Die Leute drehen heftig durch. Panik und … ich weiß nicht. Schnapp die Kinder und fahr heim. Ich komme auch, so schnell ich kann.«

Mein Herz fängt an zu rasen. Fast rutscht mir das Handy aus der vom Schweiß feuchten Hand. Mein gesamter Körper kribbelt. »Bist du im Auto?« Ich höre, wie Daniel erneut hupt und zucke zusammen. »Was? Was ist los?«

»Ja, wir sehen uns daheim. Beeil dich, okay? Ich liebe dich.«

»Gut, ich liebe dich auch.« Meine Hand zittert, als ich sie auf die Klinke lege. »Wir müssen auf der Stelle los.«

Frau Doktor Helmer lächelt freundlich. »In Ordnung, wir sind auch fertig. Alles bestens. Die nächsten Termine können Sie ...«

»Ich rufe an«, sage ich, während ich Nele an die Hand nehme und hinter mir aus der Praxis hinausziehe. Lars bleibt instinktiv ganz dicht an meiner Seite. Meine Knie fühlen sich weich an, als würden sie gleich nachgeben. Ich weiß nicht, was los sein soll, aber mein Mann würde so einen Anruf nie zum Spaß machen. Angst macht mich zittrig und dabei weiß ich noch nicht einmal, wovor genau ich mich fürchte.

Draußen hetzen ein paar Leute über die Straße, viele sind am Telefonieren. Einzelne Rufe und Schreie werden laut. An der Ecke prügeln sich zwei alte Männer mit einem jungen Mann. Alle haben Wunden im Gesicht, aber sie lassen nicht voneinander ab. Ich habe das Gefühl, gleich mein Frühstück wieder auszuspucken. Ich muss die Kinder nach Hause und damit in Sicherheit schaffen. Eine Frau bedrängt einen Mann vor einem Geschäft für orthopädische Produkte und für einen Augenblick bin ich davon gefesselt, wie sie miteinander ringen. Hinter ihnen steht eine alte Frau an der Ladentür, die mit den Fäusten dagegen hämmert, um hineingelassen zu werden. Die Beleuchtung des Geschäfts wird daraufhin ausgeschaltet. Fassungslos entriegle ich das Auto, treibe die Kinder zur Eile an, die mich inzwischen mit großen Augen anschauen. Nie zuvor waren wir von einem solchen Chaos umgeben. Ich verstehe die Welt nicht.

»Mama, was ist hier los?«, fragt Lars zum wiederholten Mal.

Ich zucke nur mit den Schultern. »Das kriegen wir schon raus. Erst mal heim.«

Wir steigen ein, schnallen uns an und ich verriegle die Türen von innen. Eine Frau hastet weinend aus der Zahnarztpraxis. Ich lasse sie am Auto vorbeirennen und fahre anschließend aus der Parklücke. Halb ausgeparkt werde ich von einem Rollerfahrer geschnitten. Hätte schlimm für ihn ausgehen können. Ich bin zu sehr vom Geschehen um mich herum abgelenkt, um mich weiter mit dem davonrasenden Roller zu beschäftigen.

Wie verrückt und unnormal die Lage ist, wird mir an der Ampel vollends bewusst. Obwohl ich Grün habe, muss ich scharf bremsen, um nicht mit dem Trottel zusammenzustoßen, der hemmungslos sein Rot überfährt. Ich weiche ihm aus und rolle über die Kreuzung. Schwer schlucke ich. Ich bin heilfroh, dass wir drei es ins Auto geschafft haben, ohne in irgendetwas davon verwickelt zu werden, was da draußen los ist. Wir dürfen jetzt keinen Unfall haben.

Am Straßenrand sackt ein älterer Mann zusammen, der in heftiger Umarmung mit einem Teenager steht. Ist das seine Enkelin, die sich weiter an ihn klammert? Ich fahre an ihnen vorbei. Im Rückspiegel sehe ich, wie das Mädchen dem Auto nachschaut, aber was ist das an seinen Lippen? Verschmierter Lippenstift? Das muss es sein, hätte ich gestern beschlossen. Heute bezweifle ich nicht, dass es durchaus auch Blut sein könnte.

»Mama, warum hat das Mädchen am Mund so doll geblutet?«, fragt Nele. Leider ist es also auch ihr nicht entgangen.

»Schlimm hingefallen«, sagt Lars. Über den Rückspiegel nicke ich ihm dankbar zu. Sein Gesicht ist blass.

»Warum helfen wir ihr dann nicht?«, will Nele wissen.

Ich schlucke. »Wir müssen ganz superdringend heim, Schatz. Aber da sind viele Leute, die sich gleich um sie kümmern.«

Ich gebe Gas, trotzdem rast von hinten ein Auto heran und versucht mich zu überholen. Ich biege mit quietschenden Reifen rechts ab und fahre Schlangenlinien um zwei mit offenen Türen stehen gelassene Autos. Ich ermahne mich innerlich, ruhig zu bleiben. Ein Unfall wäre viel schlimmer, als zwei Minuten später daheim anzukommen. Bei einem der abgestellten Autos läuft der Motor. Den Menschen dort draußen steht die Panik deutlich ins Gesicht geschrieben. Den meisten jedenfalls. Sie starren mit offenen Mündern und hochgezogenen Augenbrauen auf ihre Handys. Sie schreien, streiten und weinen. Einige rennen mit eingezogenem Kopf ihrem jeweiligen Ziel entgegen. Aber manche von ihnen wirken seltsam: desorientiert und eher hektisch als ängstlich.

Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht. Ich schalte das Radio ein, aber entweder spielen die Sender Musik oder gar nichts. Dann werde ich mir zuhause ebenfalls mein Handy vorknöpfen müssen. Gab es einen Terroranschlag? Vielleicht mehrere? Fast könnte ich mir vorstellen, dass Krieg ausgerufen wurde.

Mein Herz schlägt wie wild gegen meinen Brustkorb.

Ist vielleicht ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen? Ist eine Naturkatastrophe passiert oder steht sie uns direkt bevor? Ich denke an das Magnetfeld der Erde, an die Sonne und die Schrägstellung der Erdachse. Müsste hier nicht die Polizei herumfahren und über Lautsprecher Ansagen machen? Irgendwie für Ordnung sorgen? Ich begreife nicht, warum nicht einmal im Radio Informationen mitgeteilt werden.

Wir lassen die Stadt hinter uns und bald wird es deutlich ruhiger. Auf dem kurzen Stück Landstraße halte ich mich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung von siebzig Kilometern die Stunde, sondern fahre wie die beiden Autos vor mir hundertdreißig Sachen.

Schneller denn je erreichen wir unsere Siedlung. Ich biege ab und bin gespannt, was uns erwartet. Hier ist es still. Noch? Nur die alte Frau Stremel ist im Vorgarten Unkraut jäten, wie jeden Vormittag um diese Zeit. Wobei sie heute ihre Gartenhandschuhe nicht trägt, und umherläuft, statt sich über ihre Beete zu beugen. Sonst ist niemand draußen.

Ich parke in der Garage, steige aus, verriegle das Tor und hole die Kinder aus dem Wagen. Die Haustür heißt uns mit ihrem üblichen Quietschen willkommen und ich atme erleichtert aus, als ich sie hinter mir schließen kann. Ich habe es geschafft. Wir haben unversehrt unser Zuhause erreicht.

Im Haus bitte ich Nele und Lars, spielen zu gehen. Stattdessen setzen sie sich beide aufs Sofa und sagen kein Wort. Nele wackelt halbherzig mit ihrem Plüschkraken, den sie hinter einem der Kissen herausgezogen hat. Lars sitzt einfach da.

Ich sperre alle Türen ab und schließe die Fenster, falls das gegen Radioaktivität hilft. Kurz schaue ich die Kellertreppe an. Sollten wir besser dort hinuntergehen? Wären wir unten im Keller vor Strahlung geschützt? Vertue ich gerade wichtige Minuten, wenn ich mich zuerst informiere? Selten habe ich mich so hilflos gefühlt. Ich habe Angst, falsch zu entscheiden, aber ich muss. Nachdem alles verriegelt ist, nehme ich mein Handy. Bevor ich die Kinder unnötig in den Keller scheuche und weiter verängstige, brauche ich Informationen. Ich habe einige Mitteilungen, die ich ignoriere, und rufe eine Nachrichten-Website auf.

Straßenschlachten in New York.

Brände und Massenpaniken in Berlin.

Viele Teile der Welt ohne Rückmeldung.

Krankenhäuser schließen.

Bleiben Sie zu Hause!

Ich fasse mir an die Stirn. Kann das wahr sein? Wie passt das alles zusammen? Was kann ich tun, um meine Familie zu schützen, sollte das, was immer es ist, bis zu uns nach Hause kommen? Danach prüfe ich meine Mitteilungen. Melli, die mich gegen Nachmittag besuchen wollte, sagt ab. Ihre Jüngste fühlt sich schlecht, nachdem sie heute Morgen auf dem Spielplatz mit einem anderen Kind aneinandergeraten war. Eine andere Freundin fragt, ob ich weiß, was da in der Welt los ist. Eine Flut von Artikeln und Rundmails wurden verschickt. Wenn ich daran denke, dass Daniel noch draußen unterwegs ist, schnürt sich mir die Kehle zu. Ich blinzle Tränen weg, die meine Sicht verschwimmen lassen. Allein die Vorstellung, dass er es nicht zurückschafft, reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Schwankend gehe ich zum Sofa.

»Mama?«, fragt Lars vorsichtig. Er muss mir ansehen, dass ich verzweifelt bin.

Ich straffe die Schultern und versuche ein neutrales Gesicht zu machen. »Ja, Großer?«

»Frau Stremel war eben in unserem Garten. Sie ist über den Zaun gefallen, quer durchgegangen und dann drüben bei Bachmanns reingeklettert. Ihr Fuß war verdreht, aber sie ist trotzdem damit gelaufen. Und komisch geguckt hat sie auch.«

Zombies.

Das Wort ist einfach da. Das Wort, gegen das sich mein Gehirn längstmöglich gewehrt hat. Ich liebe Zombiefilme und Zombieromane. Daniel hat mich oft damit geneckt. Wäre ja immer dasselbe, aber ich habe die Geschichten mit all ihren Facetten so begierig verschlungen wie die beschriebenen Untoten die Gehirne ihrer Opfer.

Es kann doch nicht wahr sein. Es ist unmöglich, oder? Es kann einfach nicht sein.

Aber was soll es sonst sein?

Alles passt, sagt mir eine innere Stimme. Ich versuche mich mit mir selbst darauf zu einigen, dass ich für jede weitere Möglichkeit offen bleibe, bis wir wissen, was es tatsächlich ist. Auch das Unmögliche.

Ich lasse zuerst den Rollladen an der Terrassentür, dann auch die Rollos an den Fenstern im Erdgeschoss hinunter. Das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Außerdem sollen die beiden keine weiteren Beobachtungen machen, die für sie seltsamer sind als das, was sie ohnehin bereits aufgeschnappt haben. Dann schalte ich die Lampen und den Fernseher ein. Auf einigen Kanälen laufen Serien, wie immer. Die kleinen Regionalsender zeigen ein Standbild, auf den Nachrichtensendern wechseln sich unterschiedliche Schreckensnachrichten ab, aber alles wirkt weit weg. In den großen Städten ist seit letzter Nacht die sprichwörtliche Hölle los. Plünderungen, Überfälle, Leichen auf den Straßen. Und es breitet sich aus. Nicht langsam, es scheint längst überall zu sein. Als wäre die Welt nun vogelfrei. Und wir waren gemütlich am Küchentisch gesessen und haben nichts davon geahnt.

Kurz verfluche ich die internationalen Flüge und das weltweite Netzwerk, das mir mein Leben bisher so angenehm gemacht hat. Ich denke an die Pandemien, die alle paar Jahre über uns hereinbrechen, aber bisher war ein paar Wochen später stets wieder alles wie immer und die Krankheit ist vergessen. War das die Vogelgrippe oder die Schweinegrippe, die uns zuletzt zum vermehrten Händewaschen gebracht hat? Ich weiß es nicht mehr. Ich wünschte, weiter weg von der Stadt zu wohnen und damit sicherer vor einer vermeintlichen Seuche und ihren Auswirkungen zu sein.

Die Minuten vergehen langsam, wie zähflüssiger Honig. Nur ist daran nichts süß. Ein Bericht ist schlimmer als der vorherige. Mir fällt auf, dass meine Kinder noch neben mir sitzen und mit offenen Mündern den Fernseher anstarren. Ich bin so ein Trottel. Das schlechte Gewissen überrollt mich, aber vielleicht ist es ja wichtig, dass sie wissen, was los ist. Wissen rettet Leben, schon in einer normalen Welt. Wissen entscheidet darüber, wo du in der Gesellschaft stehst und wer du bist.

Apokalypse.

Noch so ein Wort, das mein Hirn mir besser erspart hätte. Das anklingende Ende in »Endzeit« finde ich so unfassbar unheimlich. Ist es das, worein wir geraten sind? Ist bald alles aus?

Eine neue Woge von schlechtem Gewissen überfällt mich. Meine Eltern!

Ich renne zum Telefon. Meine Hand zittert, als ich die Kurzwahltaste für meine Eltern drücke und mir den Hörer ans Ohr halte. Bis zum dritten Tuten erwarte ich überhaupt nicht, dass sie den Anruf annehmen. So schnell sind sie nie. Beim sechsten Freiton spüre ich ein Ziehen im Magen. Ich zähle weiter mit und das Ziehen verheddert sich zu einem Knoten. Bei zwanzig lege ich auf. Inzwischen ist mir speiübel. Sie haben bei ihrem altmodischen Telefon noch nicht mal einen Anrufbeantworter eingeschaltet. Ich muss nach ihnen schauen.

Zuerst wähle ich die Handynummer meiner Schwester. Eine von dreien, die ich auswendig kenne. Sie hebt quasi sofort ab.

»Geht’s euch gut?«, frage ich.

»Ja, warum?«

»Geh nicht raus. Ruf deinen Mann an, dass er von der Arbeit kommt. Sind die Kinder bei dir?« Ich klinge hysterisch, aber ich zähle darauf, dass sie mich nicht für verrückt halten wird. So etwas war noch nie da. Wie gut kennt sie mich also?

»Elisa, du machst mir Angst.«

»Irgendetwas ist da draußen los. Ehrlich? Ich glaube, es sind Zombies. Ich weiß, dass das ...«

»Zombies?« Sie klingt ungläubig, aber nicht belustigt. Meine wunderbare Schwester nimmt mich ernst, sogar wenn ich von Zombies spreche.

»Egal, was es ist. Bei uns bricht gerade das Chaos aus. Bleibt daheim, bis wir Näheres wissen. Passt auf euch auf. Rechnet mit allem. Was ist mit den Kindern?«

»Die panschen mit den Fingerfarben an der Scheibe herum.«

»Gut. Ich habe unsere Eltern nicht erreicht. Ich geh schnell rüber. Schau die Nachrichten! Ich ruf dich morgen an, ich muss weiter.«

»Sag Mama, sie soll mich anrufen, damit ich weiß, dass alles klar bei ihnen ist.«

»Okay.« Kurz bleibe ich still. Ich will ihr sagen, dass ich sie liebe, aber lasse es bleiben. Ich will mich nicht theatralisch von ihr verabschieden, als wäre es das letzte Mal, dass wir miteinander sprechen. »Das ist kein Spaß, bleibt drinnen. Passt auf.« Ich wische mir eine Träne weg, die mich am Kinn kitzelt.

»Machen wir. Danke. Ich melde mich nachher.«

Ich will das Telefon zurück in die Ladestation stellen, zögere aber. Ich muss auch Daniels Schwester anrufen. Ich wähle ihren Kontakt im Telefonbuch aus und lausche dem Freiton. Auch sie ist nicht erreichbar. Sobald die Aufnahme der Mailbox startet, rattere ich auch ihr eine Warnung herunter und verspreche, dass Daniel sich meldet.

Dann drehe ich mich zu Lars und Nele um, die sich auf der Couch nicht gerührt haben. »Ihr zwei geht jetzt bitte rauf in Lars‘ Zimmer. Lars, du sperrst deine Tür ab und machst nur auf, wenn Papa oder ich es dir sagen. Okay?«

Ich kann erkennen, wie sich seine Pupillen zusammenziehen. Seine Finger klammern sich um mein Handgelenk. »Zombies?«, flüstert er.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es ja etwas völlig anderes. Bleibt drin, auch wenn es noch eine Weile dauert, bis Papa wieder da ist. Ich muss Oma und Opa Bescheid geben. Vielleicht bringe ich sie besser sogar mit, oder? Vielleicht backt uns Oma ja sogar ihren Schokokuchen. Ich bin auf jeden Fall ganz schnell zurück.«

Lars fällt nicht darauf rein, aber Nele nickt kräftig. Ich sehe ihm an, dass er mich bitten möchte, hierzubleiben, aber er presst die Lippen zusammen. Dieses tapfere Kind, mein Herz geht über.

Meine Eltern wehren sich gegen Handys und das Internet, obwohl viele Senioren ihres Jahrgangs beides zu nutzen wissen. Eine Freundin meiner Mutter ist eine wahre Meisterin in dem Spiel, in dem man Bonbons zerplatzen lässt. Wie oft habe ich den beiden erklärt, dass es ihnen das Leben leichter machen könnte, wenn sie der Technik zumindest eine Chance gäben. Ihre Morgenzeitung wird ihnen den Ernst der Lage nicht verdeutlichen und bis sie heute Abend die Nachrichten einschalten, ist es möglicherweise zu spät. Ich beschließe, dass ich meine Eltern mit hierher hole. Ansteckung! Ansteckung! Ansteckung! Es dröhnt in meinem Kopf wie eine zu schrille Sirene, aber ich muss erst einmal zu ihnen, dann kann ich diese Entscheidung treffen.

Ich bringe die Kinder nach oben in Lars‘ Zimmer, aus dessen Fenster sie mir nachschauen können. Neles Blick in den Garten würde ich vorziehen. Aber ich weiß, dass die beiden mich so lange wie möglich beobachten wollen, um sich mir näher zu fühlen. Ich küsse beide heftig auf Stirn und Wange und drücke sie an mich. »Ich beeile mich. In fünf Minuten bin ich wieder da, okay? Vielleicht einen Ticken länger. Bleibt hier drinnen, ich liebe euch.«

»Mami«, sagt Nele und mein Herz bricht fast.

Lars verschließt die Tür von innen, ich lasse ihn testen, dass richtig abgeschlossen ist, und rufe noch einmal: »Bis gleich!«

Bevor ich gehe und – oh, mein Gott – meine Kinder hier alleine zurücklasse, wenn auch nur für einen kurzen Moment, vergewissere ich mich, dass alles verschlossen ist. Dann fällt mir die Außentür vom Garten zur Waschküche ein. Unten im Keller. Ich bin mir nicht sicher, ob sie verriegelt ist. Manchmal gehen die Kinder auf diesem Weg nach draußen und schließen sie später nicht wieder ab, wenn sie über die Terrasse oder zur Haustür zurückkommen. Es muss genügen, dass ich hier oben die Tür zum Keller abschließe.

Es muss!

ZWEI.

Die Verwandlung

Die Haustür quietscht hinter mir, ehe sie ins Schloss fällt. Ich fühle mich unsicher und verwundbar wie nie zuvor, obwohl ich nur tagsüber vor meinem Haus stehe. Aber ich muss nur die Straße runter laufen. Hundert, vielleicht zweihundert Meter, dort wohnen meine Eltern. Was wäre ich für eine Tochter, wenn ich es nicht wenigstens versuchen würde. Sie müssen erfahren, was los ist. Ich würde mir für immer Vorwürfe machen, wenn ihnen etwas zustieße, weil ich zu feige war, überhaupt aufzubrechen.

Der Drang, einfach zurück zur Haustür zu rennen und ins sichere Haus hineinzuschlüpfen, ist dennoch immens. Ich will bei Lars und Nele bleiben. Aber hier in der Nachbarschaft ist es ruhig. Was auch immer Frau Stremel in unserem Garten wollte, sie ist in die andere Richtung verschwunden.

Geschlurft, denkt mein Zombiefilm-Fanhirn.

Nirgendwo ist jemand – oder etwas – zu sehen und es ziehen auch keine Wolken mit saurem Regen am blauen Himmel auf. Irgendwie hoffe ich noch darauf, dass es eine nukleare Katastrophe ist und nicht das, was es zu sein scheint, obwohl ich keine Ahnung habe, ob das besser wäre. Ich entferne mich ein paar Schritte von der Haustür.

Nach einem kurzen Stück bleibe ich wieder stehen. Hätte ich nicht eine Waffe mitnehmen sollen? Die Frage quält mich. Welche Waffe würde mir aber nutzen? Und wie sollte ich sie überhaupt einsetzen? Ich setze Spinnen in den Garten, verscheuche Fliegen so oft wie eben nötig und würde in meinem Haus niemals eine dieser zuklappenden Mausefallen erlauben. Geprügelt habe ich mich nie. Ich habe keinerlei Kampferfahrung und trotzdem hätte ich gerne eine Waffe in der Hand. Auch wenn ich sie wahrscheinlich gar nicht benutzen könnte.

Mein Ausflug wird schon gut gehen. Kurz und schmerzlos wird er, beschließe ich. Ich mache die Heftpflasternummer und verdränge den Gedanken, dass es trotzdem wehtut, auch wenn man ein Pflaster schnell abreißt. Elternhaus erreichen, Mama und Papa warnen, beide zwei Minuten das Nötigste einpacken lassen, da wir ja immer hierherkommen können, um etwas zu holen, und dann flitzen wir zurück zu den Kindern. Ich sehe es vor mir wie einen Film in meinen Gedanken.

Nach einem tiefen Atemzug, als müsste ich auf einen Tauchgang gehen, statt über von der Sommerhitze glühenden Asphalt zu rennen, sprinte ich los. Mitten auf der Straße, wie nie zuvor. Die Nachbarn können mich gerne für verrückt halten, aber hier fühle ich mich am sichersten. Hier habe ich alles im Blick und nichts, was hinter einer Hecke hervorspringt, kann mich direkt erwischen.

Fünfzig Meter. Hundert Meter. Und noch ein bisschen mehr, dann renne ich über die Einfahrt meiner Eltern und hin zu deren Haustür. Ich greife nach der altmodischen Klinke, will mein Glück versuchen. Abgesperrt ist selten.

Die Tür ist heute sogar nur angelehnt. Ob das ein schlechtes Zeichen ist oder ob ihnen schlichtweg aus Unachtsamkeit ein kleiner Fehler unterlaufen ist, muss ich herausfinden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihnen so etwas passiert, aber es ist der absolute Ausnahmefall.

Ich schüttle den Kopf über ein solches Maß an Arglosigkeit. Hoffentlich ist es wirklich nur das. Aber ich bin froh, mich auf den Weg gemacht zu haben. Es hätte wer weiß wer – oder was – hier einfach hereinspazieren können, wie ich es gerade tue. Sie sind zu vertrauensselig, das sage ich ihnen schon lange. Leise schließe ich die Tür hinter mir. Warum, weiß ich selbst nicht genau. Ein Impuls ohne Grund. Der Instinkt eines Tieres, das nicht länger an der Spitze der Nahrungskette thront.

Bevor ich nach ihnen suche, lausche ich. Es ist nichts zu hören, aber ich hoffe, dass sie trotzdem zu Hause sind. Mein Vater sitzt bestimmt am Küchentisch, tief über sein Kreuzworträtsel gebeugt, eine halb leere Tasse inzwischen kalten Kaffees neben sich. Meine Mutter liest entweder neben ihm die Zeitung oder sie macht einen ihrer komplizierten Scherenschnitte.

Dann höre ich eine Art Schmatzen. Mein Gehirn fabriziert eine Palette von Fantasien in verschiedenen Rottönen. Lauter Szenen, wie sie Zombiefilme zeigen. Ein Zombie beugt sich über meine im Todeskampf ein letztes Mal zappelnde Mutter, über meinen die Hand nach mir ausstreckenden Vater oder über beide und verspeist genüsslich die typische Zombiedelikatesse: das Gehirn. Oder aber der Schädel ist längst leer, der Untote aber noch hungrig. Die Bauchdecke ist aufgerissen und der Zombie wickelt sich den Dünndarm wie eine Spaghetti um den Unterarm, um daran zu knabbern. Dann fällt mir ein, was weitaus schlimmer wäre: Das Gehirn ist noch, wo es hingehört, und meine Eltern schauen zu, wie sie lebendigen Leibes gefressen werden. Sie sehen, wie sie Stück für Stück weniger werden, fühlen, wie stumpfe Zähne sich in die Haut graben, um Fleischfetzen von den Knochen zu reißen. Mir wird übel.

Ich denke an meine Kinder und treibe mich zur Eile an. Die Eltern retten und nach Hause schleppen. Kinder umarmen. Den Mann daheim begrüßen. Dann wäre ich erst einmal am Ziel.

»Hallo, ist jemand da?«, frage ich. Obwohl ich rufen will, verlässt kaum ein Ton meinen Mund.

Das Schmatzen ist regelmäßig. Zu regelmäßig, wie ich finde. Vielleicht ist es auch ein Tröpfeln? Ich folge dem Geräusch zur Küche. Mein Herz verkrampft, während ich noch denke: Wie süß, sie ist am Tisch sitzend über ihrem Scherenschnitt eingeschlafen.

Aber sie schläft nicht.

Zwar liegt ihr Kopf auf ihren Armen auf dem Tisch, aber Mamas Augen sind offen und starren ins Leere. Das Tropfgeräusch kommt vom Blut. Sie hat einen Biss im Hals, aus dem so viel von ihrem Blut fließt, dass sich auf dem blank polierten Küchentisch eine Lache gebildet hat, die über die Kante läuft. Tropfen für Tropfen. Die Wunde sieht tief aus und die Spur, die die Zähne gegraben haben, kann man deutlich erkennen.

Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und schaue vorsichtig in das Treppenhaus und den Flur. Ist der Zombie noch hier? Ist mein Vater noch hier und hält sich irgendwo versteckt? Dass er womöglich gerade irgendwo im Haus, von meiner Mutter verletzt, um sein Leben kämpft, will ich mir gar nicht vorstellen.

Dann kommt mir ein Gedanke, von dem ich mich fast übergeben muss: Möglicherweise ist sie infiziert. In jedem Zombiefilm würde sie sich jetzt erheben und mich angreifen.

Tu das bitte nicht, flehe ich sie an. Dringlicher, als ich jemals um Süßigkeiten oder um eine verlängerte Zu-Bett-geh-Zeit gebettelt habe. Ich habe nichts, womit ich mich wehren kann, ganz abgesehen davon, dass ich es wahrscheinlich kaum über mich brächte. Noch stehe ich im Türrahmen, aber ich zögere hineinzugehen, um mir ein Messer aus dem Messerblock zu nehmen. Nein, es sind nicht die drei Schritte die Küche hinein, die ich nicht zu tun wage. Ich will mich meiner Mutter nicht weiter nähern. Ich halte die Luft an und tue es trotzdem. Sie darf sich nicht rühren, das würde ich nicht verkraften. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich so etwas hoffen würde, aber ich hoffe inniglich, dass sie tot ist und bleibt. Dass sie sich niemals wieder rührt. Und sich nicht als Untote erhebt, um uns Lebenden zu verschlingen.

Sobald ich das Messer habe, ziehe ich mich wieder in den Flur zurück und spähe weiter zur Küche hinein. Sie wirkt reglos. Ich traue mich nicht, sie anzufassen. Ob sie schon kalt ist oder nicht, einen Puls werde ich nicht finden. Kurz habe ich das Verlangen, einen Krankenwagen zu rufen. Die Sanitäter sollen alles wiedergutmachen. Sie sollen kommen, meine Mutter retten und die Welt ist wieder gut. Aber so einfach ist es nicht. Es geschehen schlimme Dinge, die einen wehrlos machen. Die einem zeigen, wie wenig Macht man über sein Leben hat. Die dich hilflos wie ein Baby machen und dich ebenso sehr weinen lassen. Ich schließe die Küchentür mit einem Klicken hinter mir. Vielleicht hält das Mama ja auf, sollte sie doch als Zombie wieder aufstehen. Ich sehe aber keinen Sinn darin, das Messer in meiner Hand in den Schädel meiner Mutter zu rammen, weil ich einerseits nicht weiß, ob es wie in den Filmen etwas nutzt, und weil ich es andererseits nicht könnte. Ob ich psychisch und physisch in der Lage dazu wäre. Ich glaube, man muss viel Kraft aufwenden, selbst mit so einem Fleischmesser, um einen Schädelknochen zu durchstoßen.

Durchs Auge geht es leichter. Oder durch die Schläfe, denke ich und presse den Handrücken der Hand, in der ich das Messer halte, gegen meine Lippen. Ich will meiner toten Mutter nicht in den Flur kotzen.

»Was würden die Nachbarn sagen«, stelle ich mir ihre Stimme vor und Gänsehaut rinnt über meinen Körper, »wenn ich hier tot herumliege, während du Kotze über meinen Küchenboden verteilst?« Okay, Kotze würde sie nicht sagen. Erbrochenes schon eher.

Ich schaue ins Wohnzimmer. Leer. Ebenso wie die Diele, das Gäste-WC und die Vorratskammer. Ich versuche mir zu merken, dass ich von hier Vorräte mitnehmen könnte. Das tut man doch in einer Zombie-Apokalypse, aber irgendwie glaube ich trotz allem noch nicht daran, dass das wirklich passiert. Es gibt keine Zombies. Das geht gar nicht. Punkt. Ebenso wenig wie Vampire oder Werwölfe existieren können. Dieses Wissen erscheint mir sicher. Es muss eine andere Erklärung für die Indizien geben, die ich bisher gefunden habe. Am Ende wird die Auflösung dieses Falls hoffentlich lächerlich sein. Zitternd atme ich ein. Egal, was hier los ist: Lächerlich wird es nicht, denn meine Mama werde ich nicht zurückbekommen.

Auf der Treppe finde ich auf fast jeder Stufe einige Bluttropfen und je höher ich steige, desto mehr davon sind es. Und sie werden zunehmend größer. Auf halber Höhe finde ich eine verwischte Blutspur am Handlauf. Dass sie mit ihrer Verletzung eine Blutspur hinterlassen hat, hätte ich früher erkennen müssen. Ich folge also der Spur meiner Mutter, die alleine am Küchentisch sterben musste. Ein erneuter Faustschlag in den Magen. Ich hätte gerne ihre Hand gehalten. In vielen Jahren an ihrem Sterbebett gesessen, ihr von ihrem Leben erzählt, ihr alle wunderschönen Momente in Erinnerung gerufen, bis sie nicht mehr ist. Sie hätte einschlafen sollen mit der Liebe ihrer Tochter an der Hand, glücklichen Erinnerungen in ihren Gedanken und mit Wärme im Herzen. Nicht allein und verängstigt am harten Küchentisch.

Ich schüttle meinen Kopf, als könnte ich diese Vorstellung damit loswerden. Ich muss mich konzentrieren. Die Bluttropfen führen mich den Flur entlang durch das Schlafzimmer meiner Eltern. Zwischen Bett und Kleiderschrank ist der größte Fleck, eigentlich schon eine kleine Lache, im weißen Teppich versickert. Die Laken sind zerwühlt, eins hängt halb aus dem Bett. Der Vorhang ist von der Stange gerissen und liegt vor dem Fenster auf dem Boden.

Ich höre etwas an der Tür des dem Schlafzimmer angeschlossenen Badezimmers. Der Schlüssel steckt von außen. Auch hier auf dem Weg vom Bett zur Tür finde ich kleine Bluttropfen auf dem Boden. Trotzdem flüstert mir die Hoffnung ins Ohr, dass meine Mutter meinen Vater vielleicht zu seiner Sicherheit eingesperrt hat. Rechtzeitig, bevor sie ihm etwas antun konnte! Um ihn vor ihr zu retten, auch wenn er dann auf Hilfe von außen angewiesen ist, falls er sich nicht durch das schmale Fenster quetschen kann. Allerdings gibt es einen Gedanken, der mir einen Kloß in der Kehle verursacht: Hätte er sich dann nicht viel eher selbst im Bad eingeschlossen? Der Schlüssel würde dann innen stecken.

Ein kalter Schauer überläuft mich. Meine Hoffnung verpufft. Der Schlüssel macht nur Sinn, wenn sie Papa zu ihrem eigenen Schutz im Bad eingesperrt hat. Wenn er vor ihr zu einem dieser Wesen geworden ist. Ich verfluche die Angst, die mich kaum klar denken lässt!

Aber womöglich – hoffentlich – hält sich mein Vater woanders versteckt und im Bad ist ein Eindringling gefangen, der das Unglück ins Haus gebracht hat. Ein Fremder, der mir nichts bedeutet, und nicht Papa.

Ich lege meine Hand an die Tür. Ich wollte nächste Woche meinen Geburtstag mit ihnen feiern. Ein Picknick im Park mit allerlei Leckereien. Mit Mamas Schokokuchen.

Noch ist es still im Bad. Dann klopfe ich und frage: »Papa, bist du da drin?«

Geschrei wird laut. Zischen und Knurren, wie ich es nie von meinem Vater, nie von irgendeinem Menschen gehört habe. Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich mein Vater hinter der Tür lauert oder ob es ein Fremder ist. Aber genau das muss ich herausfinden. Ich weiß nur nicht, woher ich die Kraft nehmen soll, meinen Körper zu bewegen. Es ist, als wäre sie aus mir herausgeflossen, genauso wie all die Tränen, die meine Wangen nass machen.

Das Wesen rennt von innen gegen die Tür.

Ich überlege, was in meinem Elternhaus wohl geschehen ist. Mir ist dabei klar, dass ich Zeit schinde, aber es ist leichter, als mich von der Stelle zu rühren und herauszufinden, dass auch mein Vater nicht mehr der ist, der er war. Meine Mutter wollte sich vor Papa in Sicherheit bringen, hat es aber nicht rechtzeitig geschafft, ihn von sich zu stoßen. Oder vielmehr sich loszureißen. Er hat sie in den Hals gebissen. Wie durch ein Wunder schafft sie es, ihn einzusperren. Immerhin verletzt er sie nicht weiter. Anschließend geht sie hinunter in die Küche, vielleicht sucht sie Verbandszeug, vielleicht steht sie einfach unter Schock. Nur wer ist es, der sie schlussendlich getötet hat? Definitiv das Monster im Bad. Nein! Möglicherweise gibt es einen weiteren Untoten im Haus. Mein Herz schlägt wie verrückt. Die Möglichkeiten sind zu vielfältig, als dass ich sicher wissen kann, was passiert ist.

Obwohl ich mich vor dem fürchte, was ich gleich zu sehen bekomme, beuge ich mich zum Schlüsselloch hinunter. Viel kann ich nicht erkennen. Manchmal wird es dunkel, wahrscheinlich, wenn mir der Mensch im Bad die Sicht versperrt, und dann kann ich wieder die leere – von Blut bespritzte – Badewanne sehen.

Die Angst, dass aus meinen Kindern dasselbe geworden ist, wenn ich gleich nach Hause komme, schnürt mir die Kehle zu und liegt wie ein Stein in meinem Magen. Ich habe Angst vor den Monstern dort draußen auf der Straße, vor den Zombies hier im Haus und auch vor dem Rückweg. Mit zitternden Händen versuche ich erneut, mein Gesicht von den Tränen zu trocknen, aber ohne Erfolg. Meine Hände sind selbst ganz feucht und zu viele Tränen laufen beständig nach.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752112795
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Zombie Grusel Zombies Untote Tod Apokalypse Endzeit Fantasy düster dark Dystopie Utopie Science Fiction

Autor

  • Tanja Hanika (Autor:in)

Tanja Hanika ist Autorin von Horror- und Schauerromanen. Geboren wurde sie 1988 in Speyer, studierte in Trier Germanistik und zog anschließend in die schaurig-schöne Eifel, wo sie mit Mann, Sohn und Katze lebt. Seit sie mit acht Jahren eine »Dracula«-Ausgabe für Kinder in die Hände bekam, schreibt und liebt sie Gruselgeschichten.
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Titel: Ich verwese