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Tritt ins Herz

von Mathilda Grace (Autor:in)
230 Seiten
Reihe: Boston Hearts, Band 1

Zusammenfassung

Vom drogensüchtigen Stricher zum Besitzer dreier angesagter Szenebars in Boston – Cole Brighton hat es geschafft seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und Karriere zu machen. Was ihm zum perfekten Leben jetzt noch fehlt ist ein Partner, mit dem er eine eigene Familie gründen kann. Cole hat gewisse Vorstellungen, wie sein zukünftiger Ehemann sein soll, die allerdings mächtig mit der Realität kollidieren, als er eines Abends hinter seiner Szenebar mit einem jungen Dieb aneinandergerät, der weder blond noch grünäugig ist, dafür aber eine verdammt große Klappe hat.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Das »Boston Hearts« ist ein privat geführtes LGBT-Zentrum für obdachlose und anderweitig gefährdete Jugendliche in Boston, eröffnet von dem Anwalt Maximilian Endercott vor über fünfundzwanzig Jahren. Heute betreiben er und sein Ehemann Elias, der gleichzeitig Arzt des Zentrums ist, das »Bostons Hearts« gemeinsam und haben seit der Gründung nach und nach acht teils schwer missbrauchte und traumatisierte Jugendliche als Ziehkinder angenommen und sie mit viel Liebe und Geduld großgezogen.

 

Diese Männer erzählen in der »Boston Hearts Reihe« ihre Geschichten.

 

 

Vom drogensüchtigen Stricher zum Besitzer dreier angesagter Szenebars in Boston – Cole Brighton hat es geschafft seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und Karriere zu machen. Was ihm zum perfekten Leben jetzt noch fehlt ist ein Partner, mit dem er eine eigene Familie gründen kann. Cole hat gewisse Vorstellungen, wie sein zukünftiger Ehemann sein soll, die allerdings mächtig mit der Realität kollidieren, als er eines Abends hinter seiner Szenebar mit einem jungen Dieb aneinandergerät, der weder blond noch grünäugig ist, dafür aber eine verdammt große Klappe hat.

 

 

Prolog

Cole

 

 

 

 

Nach seiner ersten Schlägerei flickten sie ihn ohne ein Wort des Tadels wieder zusammen.

Nach seiner zweiten Schlägerei tauschten sie lange Blicke untereinander, die ihn einerseits nervös machten, andererseits aber auch seinen Trotz weckten.

Nach seiner dritten Schlägerei, die dank eines gebrochenen Beins für Cole im Krankenhaus endete, saßen sie abwechselnd an seinem Bett und leisteten ihm Gesellschaft. Wieder ohne ein Wort des Tadels, und dadurch berührten sie etwas in ihm, von dem er nach Jahren auf der Straße, voll mit Drogen oder den Arsch für alte, geile Böcke hinhaltend, vergessen hatte, dass er es überhaupt noch besaß – sein Herz.

Nach seiner vierten und vorläufig auch letzten Schlägerei, die mit einem Messer in seiner Brust endete, holten sie ihn aus diesem LGBT-Zentrum heraus, in das ihn das Jugendamt und wohlmeinende Sozialarbeiter gesteckt hatten, und nahmen ihn mit zu sich nach Hause. In dieses dreistöckige Herrenhaus mit drei hohen Schornsteinen, schwarzen Fensterläden, gewaltigen Anbauten zu beiden Seiten und einem riesigen Garten, voll mit blühenden Tulpen, Kirschbäumen und Büschen. Er bekam ein eigenes Zimmer, eigene Kleidung, Bücher, Schulsachen, einen Laptop und sogar ein Fahrrad. Dinge, die er nie zuvor besessen hatte, und von denen er auch nie geglaubt hatte, sie jemals zu besitzen. Aber auf einmal waren sie da und sie gehörten ihm, und alles, was dafür als Gegenleistung verlangt wurde, waren gutes Benehmen, gute Noten und ein aufgeräumtes Zimmer.

Cole traute dem Braten das ganze erste Jahr nicht, aber er lief nicht weg, wie er es anfangs vorgehabt hatte. Er blieb dort, in diesem Haus, mit einer netten Putzfrau, einer freundlichen Köchin, einem alten, brummigen Gärtner und dem schwarzen Chauffeur Clinton, der sich nicht zu fein war, ihn kurzerhand zum Auto waschen zu verdonnern, nachdem er aus Trotz und purer Langeweile einen Kaugummi auf die Motorhaube dieser silbernen Lexus-Limousine geklebt hatte, die Maximilian meist fuhr, nur um damit jene beiden Männer zu ärgern, die ihm den Traum eines neuen Lebens ermöglichten und dafür weder mit Drogen noch seinem Körper bezahlt werden wollten.

Mit dreizehn verlor er beinahe sein Leben.

Mit vierzehn wurde er der erste von später insgesamt acht Ziehsöhnen eines stinkreichen Anwalts und dessen Ehemanns, einem Arzt mit ruhigen Händen und großer Geduld, den Cole während eines Streits um Ausgehzeiten irgendwann mit einem recht frustrierten »Mann, Dad, ich bin doch kein Baby mehr.« bedachte, was ihm allerdings erst hinterher auffiel, als Köchin Maria, die ihren Streit gehört hatte, in Tränen ausbrach.

Mit fünfzehn nannte er schlussendlich auch seinen zweiten Vater »Dad.«, ebenfalls während eines Streits, nachdem er sich vor dem Haus mit einem mageren Dieb geprügelt hatte, weil der versucht hatte, ihm sein Fahrrad zu klauen.

Anstatt die Polizei zu rufen, behielten sie Dare Richards, so wie sie ihn behalten hatten, und begannen damit eine Art von verrückter Tradition, denn in den kommenden Jahren folgten weitere sechs Jungen, die zu seinen Brüdern wurden, und die, genauso wie Cole selbst, das erste Mal in ihrem jungen Leben Teil einer richtigen Familie waren.

Wirklich gewollt und ehrlich geliebt, trotz all ihrer Macken und Fehler.

Und diese unendlich scheinende Liebe seiner Väter war es, die Cole half, das College erfolgreich zu beenden und sich den Traum der Selbstständigkeit zu erfüllen, indem er an mehreren Kursen zu den Themen BWL und Geschäftsführung teilnahm und sich vor allem der Frage widmete, wie man aus einer total heruntergekommenen Halle eine profitable Szenebar in Boston machte.

Am Ende waren es ein Kredit seines Vaters Maximilian, der ihm das benötigte Startkapital bescherte, ein gutes Händchen für ansprechende Werbung, aber vor allem die Tatsache, dass der offen schwul lebende Ziehsohn der Endercotts eine Bar mit Strip-Tänzern führte, die Cole innerhalb weniger Jahre in der ganzen Stadt erfolgreich machte.

So erfolgreich, dass aus einer Bar ruckzuck drei wurden.

 

 

Kapitel 1

Cole

 

 

 

 

Cole Brighton liebte eine gute Schlägerei.

Allerdings tat er das heutzutage nur unter bestimmten Voraussetzungen und vor allem in einem begrenzten Rahmen. Am besten mit Boxhandschuhen an beiden Händen und einem Ringrichter in der Nähe, der darauf achtete, dass der Kampf einigermaßen fair und nach den Regeln ablief.

Sich mit einem braunhaarigen Lockenkopf in einem abartig stinkenden Müllcontainer hinter seiner eigenen Szenebar um die Vorherrschaft seiner Brieftasche zu prügeln, zählte für Cole eindeutig nicht in die Kategorien: fair und nach Regeln.

Das hatte er nun von seiner Freundlichkeit, weil er diesen Jungen für einen Obdachlosen gehalten hatte, der im ekligen Abfall nach etwas Essbarem suchte. Cole war durchaus dazu bereit gewesen, ihm ein paar Dollar zu geben oder ihn auf ein dick belegtes Sandwich und einen heißen Kaffee einzuladen, so wie es ihm seine Ziehväter vor langer Zeit beigebracht hatten. Er war jedoch nicht bereit, dafür seine Geldbörse herzugeben. Um das Bargeld ging es ihm dabei nicht mal, aber er hasste schon den Papierkram, der in seinen Bars ständig anfiel, und er wollte nicht wegen eines Diebs gefühlte eintausend Formulare und noch mehr Anträge ausfüllen müssen, um sich gestohlene Kreditkarten und den Führerschein ersetzen zu lassen.

»Jetzt lass endlich los, ich will doch nur deine Kohle haben, du Idiot!«, fauchte der Dieb ihn überraschend an und Cole war darüber so verdutzt, dass er kurz innehielt. Ein Fehler, denn im nächsten Moment hatte er eine ziemlich harte Faust im Gesicht und sah etwa eine Million Sterne vor seinen Augen tanzen, ehe der Dieb ihm die Geldbörse aus der Hand riss und sich über den Rand des Müllcontainers schwang, um zu flüchten.

Es folgten ein lautes Rumpeln, ein Schmerzensschrei und ein saftiger Fluch, dann herrschte Ruhe.

Cole blinzelte ein paar Mal und betastete danach vorsichtig sein Gesicht. Okay, er hatte noch eine Nase, auch wenn selbige derzeit pochte und heftige Schmerzwellen durch seinen Körper schoss, so als hätte man sie ihm abgerissen. Und das Blut, das auf sein Jackett tropfte, sorgte auch nicht gerade für Freude bei ihm, denn der Anzug war brandneu und hatte ein Vermögen gekostet. Jetzt konnte er ihn wegwerfen, weil keine Reinigung der Welt diesen Geruch aus dem Müllcontainer jemals aus dem edlen Stoff herausbekommen würde.

Mit einem Stöhnen kämpfte er sich auf die Füße, lugte ganz vorsichtig über den Rand des Containers, da er wahrlich keine Lust auf eine weitere eiserne Faust im Gesicht hatte, und brach in schallendes Gelächter aus.

»Das ist nicht so lustig, wie es für dich vielleicht aussieht«, knurrte sein Dieb vom dreckigen Betonboden her, auf dem er lag, ein Bein in die Luft gestreckt, weil er bei seiner Flucht im Gurt einer ausgemusterten Handtasche, von der Cole gar nicht wissen wollte, wie sie im Müllcontainer seiner Bar hatte landen können, hängengeblieben war.

»Strafe muss sein, sagt dir das was?«, konterte Cole feixend und kletterte aus dem Müllcontainer. Mit einem angewiderten Laut wischte er sich eine faule Bananenschale, Nudelreste und etwas, das vielleicht mal Tomatensoße gewesen war, von seiner Kleidung und hatte hinterher das meiste an der Hand hängen. »Igitt«, murrte er und holte mit der anderen Hand sein Handy aus dem Jackett.

»Wen rufst du an? Etwa die Bullen?«

Cole verdrehte die Augen, als er die Angst in der Stimme des Jungen hörte, der bei näherem Hinsehen allerdings älter zu sein schien, als er anfangs geglaubt hatte. »Verdient hättest du es allemal. Aber nein, ich rufe einen Krankenwagen.«

»Ich brauche keinen ...«

Der Rest des empörten Einspruchs ging in einem erneuten Schmerzensschrei unter, der Cole sogar mitfühlend das Gesicht verziehen ließ, weil er genau wusste, wie sich ein gebrochenes Bein anfühlte und die Art und Weise, wie der Unterschenkel in dem Gurt hing, verriet Cole, dass dem Dieb genau das passiert war. Also würde er nachher sehr wohl die Polizei anrufen und Anzeige erstatten, aber für den Anfang war ein Krankenwagen für den verunglückten Dieb eindeutig wichtiger.

 

»Es geht mir gut.«

»Das entscheide in dieser Familie ja wohl immer noch ich.«

Cole verkniff sich ein Seufzen und vor allem ein belustigtes Grinsen, weil sein Vater Elias ihm für beides schnurstracks den Hintern versohlt hätte, während er bereits seine auf gefühlte Fußballgröße angeschwollene Nase behutsam abtastete.

Einen erfahrenen Arzt als Vater zu haben, war manchmal wirklich praktisch. Noch praktischer wäre es jedoch gewesen, keinen kleinen Bruder zu haben, der ihn, ohne dabei auch nur mit der Wimper zu zucken, bei seinen immer viel zu besorgten Vätern verpetzt hatte, nachdem er heute Morgen einen recht verdutzten Blick auf seine schmerzende Nase geworfen und danach die Geschichte, wie selbige gestern entstanden war, aus ihm herausgekitzelt hatte.

Darum stand er nun auch mit dem Rücken an den Tresen seiner ersten Bar gelehnt, die in einer ehemaligen Lagerhalle außerhalb des Stadtzentrums von Boston untergebracht war, und musste sich dem äußerst strengen Blick seines Vaters Elias Endercott geschlagen geben, den sein zweiter Vater Maximilian vor einer halben Stunde hier abgesetzt hatte, um, nach einem amüsierten und zugleich auch prüfenden Blick in sein Gesicht, weiter in die florierende Anwaltskanzlei zu fahren, die sein Großvater einst gegründet hatte und die heute zu den besten von Boston und der näheren Umgebung zählte.

»Gebrochen ist nichts«, entschied sein Vater schließlich und gab ihm das Kühlpad zurück, welches Cole bereits den ganzen Morgen über immer griffbereit hatte. Genauso wie eine Dose Schmerztabletten, denn das Puckern in seiner Nase hatte zwar nachgelassen, war aber noch längst nicht so schwach, als dass es ihn nicht bei der Arbeit gestört hätte.

Cole streckte Finn triumphierend die Zunge heraus, was der hinterhältige Verräter mit einem belustigten Kopfschütteln kommentierte, dabei war er die letzten zwanzig Minuten nicht müde darin geworden, feixende Blicke in ihre Richtung zu schicken. Jeder seiner sieben Brüder hatte in den vergangenen Jahren oft genug erlebt, was es bedeutete, wenn Elias Endercott den Arzt herauskehrte, um bei einem von ihnen einfallen und sich um ihn kümmern zu können.

Und er tat das besonders gerne bei seinen älteren Söhnen, denn Paul, Leon und Luca lebten noch daheim, während Cole selbst, Dare, die Zwillinge Kade und Marc und natürlich Finn längst eigene Wege gingen.

Das würde sie allerdings auch nicht davon abhalten, schon bald bei ihm auf der Matte zu stehen, um seine Nase genauer in Augenschein zu nehmen, denn so wie Cole ihren familiären Buschfunk kannte, würde spätestens am Abend jedes Mitglied der Familie über die wenig ruhmreiche Prügelei des ältesten Endercott-Sprösslings in seinem eigenen Müllcontainer hinter der Bar Bescheid wissen.

Sein Handy begann zu klingeln und nach einem kurzen Blick auf das Display verzog Cole das Gesicht, um hinterher seinen Vater Elias finster anzusehen, der jedoch nur amüsiert grinste und ihn seinem Schicksal überließ. Soviel dazu, dass es bis heute Abend dauerte.

»Verräter«, nörgelte er, was Elias lachen ließ, dann nahm er den Anruf an. »Hi, Großvater.«

»Was muss ich da von Maximilian hören?«, fragte eine sehr geliebte und überaus empört klingende Stimme. »Jetzt prügelst du dich schon in einem stinkenden Müllcontainer hinter einer deiner eigenen Bars? Wo bleibt denn bitteschön dein Stil, Cole Brighton? So hat mein Sohn dich nicht erzogen.«

»Nur zu deiner Information, Großvater, dein Sohn, der rein zufällig mein Vater ist, hat mich überhaupt nicht erzogen. Das hat dein Schwiegersohn übernommen und ist damit genauso grandios gescheitert wie du.«

»Frecher Bursche«, grollte Adrian Endercott gespielt, denn Cole konnte die Belustigung in der Stimme des alten Mannes deutlich hören. »Was sagt Elias zu deiner Nase? Laut meines Sohnes hat sie etwa die dreifache Größe wie normal und lässt dich aussehen wie einen Troll. Zwar einer in einem teuren Tom Ford Anzug, aber nichtsdestotrotz ein Troll. Das werde ich dir übrigens nie und nimmer verzeihen, Junior. Wie kannst du nur Anzüge von Tom Ford tragen? Kein Mitglied meiner Familie trägt etwas anderes als Zegna oder Armani. Willst du den Ruf der Endercotts völlig ruinieren?«

Cole feixte. »Wie gut, dass ich mit Nachnamen immer noch Brighton heiße.«

»Pah. Ich hätte Maximilian dafür damals den Hosenboden stramm ziehen sollen. Acht tolle Kerle großziehen und keinem unseren Namen aufdrücken. Es ist eine Schande.«

»Es erleichtert mein Leben wirklich sehr, nicht ständig mit dir in Verbindung gebracht zu werden.«

»Du ...«, murrte sein Großvater lang gezogen und seufzte danach hörbar betrübt. »Wann kommst du endlich mal wieder zu Hause vorbei? Deine arme Großmutter weiß schon gar nicht mehr wie du aussiehst.«

Oh nein, jetzt ging das wieder los.

Cole sah hilfesuchend zu Elias, der jedoch ungerührt seine Arzttasche einräumte und ihn dabei stoisch ignorierte. Tja, das hatte er davon, dass er seinen Vätern nichts von der Prügelei hatte erzählen wollen, da ihm klar gewesen war, dass sie sich umgehend Sorgen um ihn machen würden, die in diesem Fall jedoch unnötig gewesen wären. Der Dieb hatte kein Messer dabei gehabt, das er ihm in die Brust hätte stoßen können, und außerdem war Cole keine dreizehn mehr, sondern mittlerweile beinahe vierzig Jahre alt und sehr wohl dazu in der Lage, sich gegen einen Angreifer zu verteidigen.

Er schielte auf seine geschwollene Nase. Nun ja, vielleicht sollte er bei der nächst passenden Gelegenheit ein paar extra Trainingsstunden im Boxring einlegen. Nicht, dass er dafür in den letzten Jahren Zeit gehabt hätte. Mit der Leitung der Bars hatte Cole mehr als genug zu tun.

»... und wenn Maximilian uns nicht regelmäßig heimlich von euch Burschen gemachte Bilder schicken würde, hätte ich längst vergessen, dass ich überhaupt Enkel habe«, wetterte sein Großvater mit Begeisterung weiter und Cole kicherte, denn die Steilvorlage konnte er sich unmöglich entgehen lassen.

»Nanu? Dad hat gar nicht erzählt, dass du seit Neuestem an Vergesslichkeit leidest? Obwohl, in deinem hohen Alter soll das ja schon mal vorkommen, nicht wahr?«

»Komm du mir nach Hause«, schimpfte Adrian und Cole lachte leise. »Das kostet dich mindestens eine Flasche von dem köstlichen Glenmorangie, den du deinen Vätern letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hast, um mich vielleicht wieder milde zu stimmen.«

»Ich könnte mich ja möglicherweise dazu überreden lassen, eine selbst gemachte Pizza obendrauf zu legen«, lockte Cole, weil er genau wusste, dass sein Großvater eine Schwäche für seine Salami-Pizza hatte, eines der wenigen Gerichte, die er gut und gerne machte, und grinste, als er das tiefe Einatmen am anderen Ende der Leitung hörte. »Und wie wäre es mit Dads leckerem Schokoladenkuchen für den Nachtisch? Ich überrede Elias, ihn nur für uns beide zu backen, entführe meine überaus nervigen Brüder und dann fallen wir alle am Wochenende bei euch ein und bleiben die Nacht. So kannst du höchstpersönlich einen prüfenden Blick auf meine trollverdächtige Nase werfen und mich hinterher auslachen.«

»Gekauft!«

Cole lachte und legte einfach auf, um anschließend einen vor dem Spiegel einstudierten und in seinen Jugendjahren sehr häufig benutzten Schmollmund aufzulegen, mit dem er dann seinen Vater bedachte, der bereits mit in die Seite gestemmten Händen dastand, da er natürlich alles gehört hatte und genau wusste, was ihm jetzt blühte.

Cole seufzte leidend und schlug die Augen nieder, weil er – erwachsen oder nicht – immer noch wusste, wie er bekam, was er unbedingt haben wollte, und auch diesmal funktionierte es, denn sein Vater knickte um, wie die berühmte Primel im Wind, ehe er lachend auf ihn zutrat und ihm durchs Haar wuschelte, als wäre er wieder ein dreizehnjähriger Rotzbengel, was Cole hasste, aber für Elias' göttlichen Schokoladenkuchen nahm er einiges in Kauf und das war seinem Vater natürlich bewusst, darum nutzte er es jedes Mal aus, so auch heute.

»Lass dir die Haare schneiden, dann bekommst du Adrians und deinen Lieblingskuchen.«

»Die Haare schneiden?«, echote Cole entsetzt und fuhr sich mit einer Hand durch seine nackenlange, schwarze Mähne, die bereits erste graue Strähnen aufwies, was vor allem die jungen Gäste in seinen Bars immer völlig verrückt machte, weswegen er schon seit Jahren keine Probleme hatte, sich regelmäßig eine nächtliche Begleitung zu organisieren. Oder auch zwei. »Aber die Jungs in den Bars lieben meine Haare.«

Elias zog eine Braue hoch. »Du meinst diese halben Kinder, über die du dich regelmäßig bei uns aufregst, weil sie zwar alle mit dir ins Bett wollen, aber an einer richtigen Beziehung, wie du sie suchst, keinerlei Interesse haben?«

Cole stöhnte. Manchmal war es einfach nur ein Gräuel, zu dieser Familie zu gehören, in der jeder einfach alles über jeden zu wissen schien, und sich auch niemand zu fein war, zu allem seinen Senf, ob erwünscht oder nicht, dazuzugeben. Nicht mal Maria, die länger Köchin im Endercott-Haus war, als er selbst dort gelebt hatte, und die heute stolze Großmutter von sieben lebhaften Enkeln war, hielt mit ihren Kommentaren hinter dem Berg, wenn sie der Meinung war, es wäre nötig, sie ihm, seinen Brüdern oder sogar seinen Vätern mitzuteilen.

Und so hielten es alle im Endercott-Haushalt, angefangen vom Chauffeur bis hin zu Gärtner Eric, wobei letzterer seine Meinung ziemlich oft darauf beschränkte, einen mit der Harke zu bedrohen oder böse Blicke auszuteilen.

Cole und seine Brüder nannten ihren Gärtner heimlich seit vielen Jahren einen Grinch, was der Mann hoffentlich niemals herausfand, sonst würde Eric definitiv aufhören, ihnen mit der Harke nur zu drohen. Und vermutlich bekam er dabei sofort die Unterstützung von Clinton, der ihn wahrscheinlich nie den Vorfall mit dem Kaugummi vergessen lassen würde, obwohl er sonst ein wirklich netter Kerl war. Dasselbe galt für Rose, ihre Putzfrau, auch wenn Cole immer noch tiefrot anlief, sobald er sich daran erinnerte, wie sie eines Morgens, nach mehrmaliger, sehr lauter Vorwarnung, in sein Zimmer geplatzt war, mit einem Eimer voll kaltem Wasser in der Hand, um ihn aus dem Bett zu jagen, damit sie endlich die Fenster putzen konnte und er pünktlich in die Schule kam, während Cole noch eine Hand in seiner Unterhose gehabt hatte, um … Nun ja.

Sie sprachen nicht darüber und Rose hatte ihn auch nie bei seinen Vätern verraten, aber manchmal, wenn er sich daneben benahm, bedachte sie ihn mit diesem wissenden Blick, der ihm selbst mit seinen neununddreißig Jahren noch vor Verlegenheit heiße Wangen bescherte.

Cole räusperte sich, als er Elias' amüsierten Blick bemerkte. »Na gut, ich lasse mir die Haare schneiden.«

Sein Vater nickte zufrieden. »Dann bekommst du auch den Kuchen. Jetzt muss ich aber erst mal ins Zentrum und werde mich später nach dem Bein dieses jungen Mannes erkundigen, der aus deinem Müllcontainer gefallen ist. Es wäre im Übrigen das Mindeste gewesen, nach seinem Namen zu fragen.«

Cole sah seinen Vater entrüstet an. »Dieser Typ wollte mich überfallen und ausrauben und du schimpfst mit mir, weil ich seinen Namen nicht weiß?«

»Natürlich. Wüssten wir seinen Namen, müsste dein Vater gerade nicht überall herumtelefonieren, um herauszufinden, in welchem Krankenhaus er gelandet ist, damit er später in unser Zentrum verlegt werden kann.«

Cole klappte die Kinnlade runter. »Was?«

Elias ließ den Verschluss seiner Arzttasche zuschnappen. »Wir haben wieder einen Platz frei und wegen des versuchten Überfalls auf dich wird man ihn nicht einsperren, falls er keine anderen Vorstrafen vorzuweisen hat.«

Oh nein. Cole ahnte Schlimmes. »Dad ...«

»Papperlapapp«, bügelte sein Vater den Einspruch rigoros ab und grinste anschließend. »Hätten wir auf dich und deine Brüder gehört, als ihr damals plötzlich der Meinung wart, dass sechs Ziehkinder genug sind, hätten Maximilian und ich heute nur sechs tolle Söhne, und wer weiß, was dann aus Luca und Leon geworden wäre. Oder willst du mir jetzt etwa ernsthaft weismachen, dass du es super findest, den armen Jungen mit einem gebrochenen Bein zurück auf die Straße zu jagen?«

Cole stöhnte resigniert und sein Vater klopfte ihm nickend auf die Schulter. »Da hast du es. Jetzt sei nett und fahr mich ins Zentrum. Um diese Uhrzeit sind die Bahnen und Busse immer brechend voll und du weißt, wie sehr ich es hasse, mich hinter das Steuer eines Fahrzeugs zu setzen.«

Kein Wunder, dachte Cole und schauderte unwillkürlich bei der Erinnerung an die verdammt gruseligen Geschichten über Elias' unfallträchtige Fahrversuche, die seinen zweiten Vater Maximilian einen Wagen und unzählige graue Haare gekostet hatten, bis es ihm schlussendlich gelungen war, Elias davon zu überzeugen, sich in Zukunft von Clinton fahren zu lassen, ein Taxi zu bestellen oder aber die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen.

»Natürlich, Dad.«

»Danke.« Elias nahm lächelnd seine Tasche und trat abrupt vor ihn. Cole erstarrte auf der Stelle. »Falls du zufällig vergisst, dir die Haare zu schneiden, wirst du nicht mal einen Krümel von meinem Schokoladenkuchen abbekommen.«

»Dad!«

 

 

Kapitel 2

Derrick

 

 

 

 

Derrick Foster wusste absolut nicht, was er von diesem in seinen Augen völlig verrückten Angebot halten sollte, das mit Sicherheit einen gewaltigen Haken hatte.

Er hatte mit einer Verlegung in die nächste Gefängniszelle gerechnet, nachdem man seinen gebrochenen Unterschenkel in einer Operation wieder zusammengeflickt und geschient hatte, weil der Chirurg ihm keinen Gips anpassen wollte, solange das Bein geschwollen war und die Wundnaht regelmäßig versorgt werden musste.

Stattdessen stand oder besser gesagt lag er im Augenblick einem Anwalt im teuren Zwirn gegenüber, der ihm angeboten hatte, sich um die Anzeige wegen versuchten Raubüberfalls zu kümmern, wenn er sich dafür auf eine Bewährungsstrafe von mindestens einem Jahr einließ, die er in einem LGBT-Zentrum namens »Boston Hearts« abzusitzen hatte, das dem besagten Anwalt vor ihm gehörte.

»Sie verarschen mich doch.«

»Warum sollte ich das tun?«, wurde er verwundert gefragt, dann zog sich der Mann einen Stuhl heran und setzte sich mit einem interessierten Blick zu ihm ans Bett, wo er elegant ein Bein über das andere schlug und gepflegte, schlanke Finger übereinanderlegte. Am Ringfinger seiner linken Hand funkelte ein schmaler Goldreif, der sich von der leicht gebräunten Haut deutlich abhob.

Alles an Maximilian Endercott, wie er sich ihm vorgestellt hatte, schrie förmlich nach Geld und wer Geld hatte, der warf es nicht umsonst aus dem Fenster oder bot seine Hilfe an, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Das war das Erste, was Derrick auf der Straße gelernt hatte – wenn Männer mit Geld um sich werfen, lauf so weit und so schnell du kannst. Oder greif dir die Kohle und lauf dann. 

»Wo ist der Haken?«

Eine geschwungene Augenbraue wanderte ein Stück nach oben und der bislang interessierte Blick des blonden Anwalts wich einem ratlosen, sodass Derrick sich gedrängt fühlte, ein bisschen genauer auszuholen.

»Was kostet mich dieses eine Jahr Bewährung?«, fragte er und ließ seinen Blick anschließend unmissverständlich über den augenscheinlich ziemlich ansehnlichen Körper des älteren Mannes wandern. »Willst du meinen Hintern für deine Hilfe? Läuft das so bei euch? Ich meine, ich stehe zwar auf Ältere, in der Regel sind sie aber nicht ganz so alt wie du.«

Maximilian Endercott war so schnell aus dem Stuhl hoch und hatte sich über ihm aufgebaut, dass Derrick nur ein leises Keuchen schaffte, bevor sich seine Augen vor Furcht weiteten. Es war eine Sache, eine große Klappe zu haben, denn ohne die kam man auf der Straße nicht weit, aber in einem Krankenbett zu liegen, ohne die Möglichkeit zur Flucht, mit einem Kerl wie diesem über sich gebeugt, der unter seiner eleganten, reichen Fassade offenbar weit mehr verbarg, als Derrick gedacht hatte, war etwas völlig anderes.

»Um eines gleich mal klarzustellen, Derrick, keiner meiner Jungs aus dem Zentrum bezahlt mit seinem Körper für meine Hilfe. Ihr geht zur Schule, ihr arbeitet und ihr übernehmt jeder ein paar alltägliche Pflichten im Haus, weil ihr nämlich alle alt genug seid, euer Bett zu machen und eure dreckigen Sachen zu waschen. Das »Boston Hearts« ist kein Fünf-Sterne-Hotel mit Vollverpflegung, sondern ein sicheres Haus, das Kindern und auch jungen Männern wie dir Schutz, einen Rückzugsort und ein Dach über dem Kopf bietet. Du musst mein Angebot nicht annehmen, Derrick. Es steht dir frei, zurück auf die Straße oder ins Gefängnis zu gehen, ich werde dich nicht aufhalten, aber wage es nie wieder mir zu unterstellen, ich würde von meinen Jungs Sex fordern, hast du das verstanden?«

Derrick nickte stumm, weil er zu viel Angst hatte, auch nur den Mund aufzumachen. Und scheinbar sah Endercott ihm die Angst an, denn er wich zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl, als wäre nichts gewesen.

»Bevor du danach fragst, das »Boston Hearts« ist ein LGBT-Zentrum. Zwar nicht ausschließlich, aber hauptsächlich. Mein Ehemann Elias und ich holen jetzt seit über fünfundzwanzig Jahren Obdachlose, Ausreißer und unzählige andere Kids von den Straßen und geben ihnen ein richtiges Zuhause. Acht von ihnen haben wir zu unseren Söhnen gemacht, und wir hoffen, dass einer das Zentrum eines Tages übernehmen wird, denn es gibt immer jemanden, der Hilfe braucht. Wir arbeiten sowohl mit dem Jugendamt von Boston als auch mit Psychologen und Ärzten, mit Streetworkern, Lehrern, der Polizei und besonders mit vielen Ehrenamtlichen zusammen, die aushelfen, wenn es mal brennt. Aktuell leben über dreißig Kinder und Jugendliche im »Boston Hearts« und wir haben noch genau einen Platz frei, der dir gehört, wenn du ihn willst.«

»Sie haben Lehrer dort?«, fragte Derrick überrascht, weil er alle anderen Berufsgruppen verstand, aber wozu gab es Lehrer in diesem Zentrum?

»Die meisten der Kinder haben jahrelang keine Schule von innen gesehen. Sie müssen langsam wieder an einen normalen Unterrichtsalltag herangeführt werden, dafür gibt es im Haus zwei Schulklassen. Zumindest bis zu den Sommerferien. Wir planen jedes Schuljahr neu, ganz nach Bedarf.«

Derrick wusste nicht, ob er beeindruckt sein oder sich bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Staub machen sollte. Kein Mensch betrieb freiwillig so einen Aufwand für Straßenkinder. Die meisten wollten nicht mal wahrhaben, dass es sie gab. Aus den Augen, aus dem Sinn. Normale Menschen gaben sich nur mit Leuten wie ihm ab, wenn sie seinen Körper kaufen wollten. Oder um ihn zu verprügeln, weil er schwul war. Oder einfach, weil man gern jemanden schlug.

Derrick hatte alles erlebt und nicht damit gerechnet, dass es noch etwas gab, das ihn überraschen konnte, aber der Anwalt hatte das in den vergangenen dreißig Minuten bereits zweimal geschafft, einmal mit diesem Angebot, ihn von der Straße zu holen, und das zweite Mal, als Derrick bewusst geworden war, dass der reiche Typ es wirklich ernst meinte.

Nicht, dass er Maximilian Endercott vertraute, so verrückt war er nicht, aber der Kerl log ihn zumindest nicht an, dessen war sich Derrick sicher. Trotzdem. Er wollte eine Erklärung für dieses Angebot, weil er einfach nicht glauben konnte, dass es ausgerechnet ihm gemacht worden war.

»Warum tun Sie das?«

Endercott lächelte ihn offen an. »Ganz einfach, weil wir es können, Derrick. Weil meine Familie so stinkreich ist, dass wir fünfzig oder hundert solcher Zentren eröffnen könnten, und es wären dennoch nie genug. Du weißt selbst, wie hart das Leben auf den Straßen ist, du hast es jahrelang gelebt und dich damit arrangiert, vielleicht nie etwas anderes haben zu können, aber das stimmt nicht. Jetzt nicht mehr. Darum will ich von dir hier und heute wissen, willst du zurück auf die Straße? Oder packst du die Gelegenheit beim Schopf und lässt mich dir helfen, aus diesem Trott ohne jede Perspektive herauszukommen?«

»Ein Jahr auf Bewährung gegen ein neues Leben?«, fragte er leise, unfähig den Zweifel aus seiner Stimme zu verbannen, dennoch nickte Endercott.

»Ganz genau.«

»Das klingt zu schön, um wahr zu sein«, murmelte Derrick und da lachte der Anwalt, während er zugleich erneut nickte.

»Ja, ich weiß. Du bist nicht der erste von unseren Jungs, der das sagt, aber bisher konnte ich sie am Ende alle überzeugen. Also, Derrick Foster?« Endercott beugte sich ein Stück vor und fixierte ihn mit einem herausfordernden Blick. »Hast du genug Mumm, mir das eine Jahr Zeit zu geben, um dir zu beweisen, dass ich die Wahrheit sage?«

»Vielleicht«, murmelte Derrick, weil er auf einmal ziemlich nervös war und sich nicht festlegen wollte. Bevor Endercott auf seine Worte irgendwie reagieren konnte, grinste er. »Für einen alten Mann sind Sie übrigens echt heiß.«

»Das lasse ich dir nur durchgehen, weil es stimmt.«

Derrick sah den Mann baff an. »Hallo? Einbildung ist auch eine Bildung. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«

Endercott gluckste heiter, erhob sich und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. »Für jemanden, der von einer langweiligen Damenhandtasche zu Boden gestreckt wurde, bist du ziemlich vorlaut.«

Derrick stöhnte. »Das kriege ich jetzt wie lange zu hören?«

»Solange ich es für nötig halte«, antwortete der Anwalt und zwinkerte ihm zu. »Wir mögen im »Boston Hearts« übrigens keine Kraftausdrücke. Ja, sie fallen gelegentlich, das ist bei den vielen Jungs und wenigen Mädchen nicht zu verhindern, aber wir erwarten, dass die Älteren, zu denen du zählen wirst, sich zurückhalten. Sei den Jüngeren ein Vorbild, Derrick.«

Derrick starrte Endercott verdattert an. »Sie wissen schon, was ich auf der Straße gemacht habe, oder?«

»Ja, das weiß ich«, antwortete Endercott und betrachtete ihn mit einem ernsten Blick. »Aber damit ist ab sofort Schluss. Wenn du es nicht willst, wirst du dich nie wieder für ein paar Dollar verkaufen müssen.«

»Außer an einen reichen Schnösel mit manikürten Nägeln, der sich aufführt, als wäre er mein Vater.«

Endercott seufzte gespielt. »Maniküre, Pediküre, sehr teure und maßgeschneiderte Anzüge, und das alles um einen Dieb mit einem recht eigentümlichen Faible für Damenhandtaschen davon zu überzeugen, dass ich ein richtig netter Kerl bin. Ich habe wirklich ein hartes Leben.«

Derrick prustete los und schaute kurz darauf auf eine ihm entgegen gestreckte Hand. »Äh ...«

»Nenn mich Maximilian.«

»Ernsthaft?«

Der Anwalt lachte und nickte dazu. »Ganz ernsthaft.«

Derrick ergriff die dargebotene Hand. Wenig später hatte er das schmale Bett wieder für sich, denn Maximilian Endercott hatte erneut seinen Platz auf dem Stuhl eingenommen und betrachtete ihn milde lächelnd, bis Derrick ungewollt rot anlief und sich am liebsten unter der Decke versteckt hätte.

»Was?«, platzte schließlich aus ihm heraus, was den Anwalt nur grinsen ließ. »Oh Mann, hören Sie auf, so zu gucken. Was ist denn?«

»Ich frage mich, wie du zartes Persönchen es geschafft hast, meinem Ältesten fast die Nase zu brechen.«

»Zartes was?«, fragte Derrick angesäuert, um gleich darauf verwundert zu blinzeln, als ihm aufging, was Endercott noch gesagt hatte. »Moment … Ihr Sohn?«

»Cole Brighton, dein Überfallopfer.«

»Der Typ ist … Oh. Äh. Hm.«

»Ich nehme deine Entschuldigung an.«

Derrick schnaubte erbost. »Ich werde mich garantiert nicht dafür entschuldigen, dass Ihr Sohn eine verfluchte Handtasche auf mich gehetzt hat.«

»Geschenkt.« Endercott winkte amüsiert ab und erhob sich, um seinen Anzug glatt zu streichen und hinterher einen letzten Blick auf ihn zu werfen. »Ich kümmere mich um die Verlegung ins »Boston Hearts« und um eine außergerichtliche Einigung bezüglich der Anzeige wegen deines versuchten Raubüberfalls auf meinen Sohn. Da du keine Vorstrafen hast, dürfte das kein Problem sein, und sobald dein Arzt sein Okay gibt, hole ich dich nach Hause.«

»Ich habe mich noch gar nicht für Ihr seltsames Zentrum entschieden«, warf Derrick hastig ein, weil er es nicht gewohnt war, dass jemand in seinem Leben die Zügel in die Hand nahm und er absolut nicht wusste, wie er das finden sollte. Panik war eine harmlose Umschreibung für das Gefühl, das im Moment seinen Magen in Aufruhr brachte.

»Doch, Derrick, das hast du«, widersprach Endercott und hatte damit vermutlich sogar recht, denn Derrick mochte ein obdachloser Stricher sein, aber er war kein Idiot.

Ein Angebot wie dieses durfte er sich auf gar keinen Fall entgehen lassen, selbst wenn es am Ende nur dafür reichte, ein paar Wochen ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett und regelmäßige Mahlzeiten zu haben. Alles war besser, als auf die Straße zurückzugehen und in Müllcontainern in Seitenstraßen nach Essen zu suchen, um sich nicht jeden Abend für einen Burger an einen Perversen verkaufen zu müssen. Aber das vor diesem Mann zuzugeben kam nicht infrage.

»Wir sehen uns in schätzungsweise einer Woche«, erklärte Endercott, der zu ahnen schien, was in ihm vorging, weil er es wohl schon sehr oft erlebt hatte, und Derrick beschränkte sich auf ein stummes Nicken, bevor er dem Anwalt nachsah, bis die Tür hinter dem zufiel.

Es dauerte allerdings noch eine ganze Weile, ehe er endlich wieder in der Lage war, sich ein bisschen zu entspannen, und irgendwann begriff Derrick dann auch, zu was er da eigentlich gerade seine schweigende Zustimmung gegeben hatte.

Ein neues Leben. Ein richtiges Zuhause. Vielleicht.

»Ach du Scheiße«, flüsterte er daraufhin fassungslos in die Leere seines Zimmers hinein.

 

»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.«

»Was meinst du?«, fragte Maximilian Endercott eine Woche später nichts ahnend, während er seine teure Lexus-Limousine eine lange und zu beiden Seiten mit dicht belaubten Bäumen gesäumte Zufahrt entlang lenkte, die sie auf direktem Wege zu einem Schloss bringen würde.

Zumindest sah das mehrstöckige Gebäude mit Türmen, so wie sie früher auf Burgmauern gang und gäbe gewesen waren, für Derrick auf den ersten Blick wie ein echtes Schloss aus. Er entdeckte lange Schornsteine, grüne Spitzdächer, große Fenster und eine gewaltige Gartenanlage hinter dem Haus, die sogar einen Pavillon beinhaltete. Offenbar war Maximilian Endercott nicht einfach bloß reich, wie er es im Krankenhaus behauptet hatte, nein, er war stinkreich. Ein Milliardär vermutlich. Wie hätte er sonst dazu in der Lage sein sollen, seit mehr als einem Vierteljahrhundert finanziell so ein Haus zu unterhalten? Von dem dazugehörigen Grundstück gar nicht zu reden.

»Oh Gott«, murmelte Derrick, als sie näher kamen und ihm langsam die Ausmaße des Geländes bewusst wurden. Er hätte am liebsten die Wagentür aufgestoßen, um aus dem fahrenden Wagen zu flüchten. Allerdings wäre das seinem Gips kaum gut bekommen, daher ließ er es bleiben. »Es ist ein Schloss.«

Maximilian gluckste heiter. »Dafür ist es nicht groß genug«, widersprach er amüsiert und Derrick hätte nur zu gerne einen Scherz über verrückte, alte Anwälte gemacht, aber er hatte auf einmal einen Kloß im Hals und bekam keine Luft mehr.

Nie und nimmer würde er in so einem Haus leben können. Er war doch nur ein billiger Stricher. Er passte nicht hierher, er würde niemals hierher passen. Selbst wenn er wirklich damit aufhörte, seinen Körper zu verkaufen, die Schule fertig machte und sich einen anständigen Job suchte, würde er trotzdem nie im Leben in dieses Gemäuer passen, in dem sie wahrscheinlich von silbernen Tellern aßen und goldene Wasserhähne hatten.

»Halt an«, presste er keuchend heraus und Maximilian fuhr sofort rechts ran. »Das ist nicht … Ich kann so nicht ...« Derrick verstummte, weil er plötzlich panische Angst davor hatte, sich im Innenraum dieses schicken Wagens zu übergeben, wenn er auch nur noch ein einziges Wort sagte.

»Es ist nur ein Haus, Derrick.«

Das Geräusch, das daraufhin seiner Kehle entfloh, konnte Derrick nicht mal selbst identifizieren. Nur ein Haus? War der Mann verrückt? Eine hübsche Villa mit dreißig Zimmern und zehn Bädern war für Reiche vielleicht nur ein Haus, aber doch kein sechsstöckiges Gebäude aus grauen, dicken Steinmauern mit geschätzten einhundert oder wohl eher mehr Zimmern. Er wollte gar nicht wissen, wie viele Putzfrauen, Gärtner, Köche und Hausmeister es brauchte, um alles einigermaßen in Schuss zu halten. Nur ein Haus. Derrick hatte noch nie zuvor so eine Untertreibung in drei Worten gehört.

»Es ist wirklich nur ein Haus«, sagte Maximilian leise und strich ihm beruhigend über den Nacken, als Derrick sich nach vorn beugte und tiefe Atemzüge machte, in der Hoffnung, dass das seinen Magen beruhigte. »Viel Stein, viel Holz, viel Licht, das durch die großen Fenster fällt, und vor allem im Winter haben wir dank vieler Kamine ein kuscheliges Flair und jede Menge Platz für den Weihnachtsbaum in der großen Halle im Erdgeschosse. Mittlerweile gibt es auch in der Bibliothek jedes Jahr einen geschmückten Baum. Die Kids lieben Weihnachten. Sie bringen Leben in die dicken Mauern, denn ohne Bewohner wäre das »Boston Hearts« nur eine leere, kalte Hülle.«

»Muss es deshalb gleich so groß sein?«, fragte Derrick nach einer Weile und richtete sich nach einem bewussten Einatmen ganz langsam wieder auf, um Maximilian mit einer leidenden Grimasse anzusehen, die den schmunzeln ließ. »Wissen Sie eigentlich, wie einschüchternd diese Hütte ist?«

Der Anwalt nickte. »Das weiß ich, da es mir genauso ging, als meine Eltern mit mir zum ersten Mal hierher fuhren, damit ich es mir ansehen kann. Aber am Ende bleibt es trotzdem nur ein Haus, und gerade weil es so groß ist, können wir hier umso mehr Kindern eine neue Heimat bieten. Sicherheit. Schutz. Ein Zuhause. Und die meisten hatten vorher nie ein Zuhause. Ja, es kostet ein Vermögen, es zu unterhalten, aber es ist jeden Dollar wert, denn ich bekomme dafür Jahr für Jahr glückliche Kinder und viele lächelnde Gesichter.«

Das konnte nicht real sein. Er musste träumen. Männer wie Maximilian Endercott gab es einfach nicht. Jedenfalls nicht in seiner Welt. »So gut können Sie nicht sein.«

Maximilian lächelte. »Doch, Derrick, das kann ich. Die Welt ist voller Egoisten, Selbstdarsteller und böser Menschen, aber es gibt auch gute Kerle. Glaub mir, ich weiß das, denn ich habe den allerbesten überhaupt geheiratet und ich ziehe mit ihm seit mehr als fünfundzwanzig Jahren weitere gute Kerle groß.«

»Ich bin kein guter Kerl.«

»Ha!«, machte Maximilian herausfordernd und grinste ihn an. »Darüber unterhalten wir uns in einem Jahr noch mal.«

Derrick schnaubte abfällig, erwiderte aber das Grinsen des Anwalts, bevor er wieder nach draußen schaute. »Warum liegt es eigentlich so weit außerhalb der Stadt?«

»Ich denke, du kennst die Antwort auf diese Frage bereits«, sagte Maximilian und Derrick schürzte die Lippen, eher er den Anwalt wieder ansah, weil er sehr wohl eine Idee hatte.

»Damit die Kids nicht einfach abhauen, wenn es mal etwas schwieriger wird?«

Maximilian nickte. »Das stimmt. Wir bringen jeden zurück in die Stadt, der uns darum bittet, oder er nimmt den Bus oder fährt mit der Bahn. Beide Haltestellen sind nur einige Minuten Fußweg vom Tor entfernt. Doch manchmal reicht bereits ein langer Spaziergang durch unsere Gärten, um sich zu beruhigen und um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich werde dir nichts vormachen, denn neu anzufangen ist nie leicht und nicht allen gelingt der Absprung. Aber du kannst es schaffen, Derrick, wir bieten dir alle Möglichkeiten dafür. Was du am Ende für dich daraus machst, musst du allerdings allein entscheiden.«

»Wie viele Ihrer Kinder haben Sie verloren, seit es das Haus gibt?«, fragte Derrick leise, denn er ahnte, nein, er wusste, dass hinter der Warnung von Maximilian sehr viel Wahrheit steckte.

Auch ein grandioses Haus konnte keine seelischen Wunden heilen, geschweige denn von jetzt auf gleich alles im Leben gut oder wenigstens besser machen. Noch dazu musste man sein Leben ändern wollen, sonst half nichts und niemand. Derrick hatte in den letzten Jahren genug Leute gesehen, die niemals von der Straße wegkommen würden, einfach weil sie es nicht mehr wollten, und denen konnte man nicht helfen. Nicht mal mit allem Geld der Welt.

»Achtzehn«, antwortete Maximilian ebenso leise und sah ihn mit einem traurigen Lächeln an. »Und ich erinnere mich an all ihre Namen und Gesichter. Vermutlich genauso gut, wie du dich an deine Freier erinnerst.«

Derrick nickte und starrte erneut nach draußen. »Ich habe die Schwestern im Krankenhaus darüber reden gehört. Dass Maximilian Endercott mal wieder einen neuen Jungen für sein Sozialprojekt gefunden hat«, erzählte er und erinnerte sich gut daran, wie sehr ihn das gewurmt hatte. Er kam gut alleine klar, er brauchte keine Hilfe, und er war auch niemandes Projekt. Er war kein verdammtes Ding, sondern ein Mensch.

»Das hat dir gar nicht gefallen, oder?«, fragte Maximilian und traf damit direkt ins Schwarze.

Derrick schnaubte. »Ich bin kein Projekt«, spie er verärgert aus. »Ich könnte auch auf die Straße zurückgehen«, murrte er und blickte den Anwalt dann wütend an. »Reden die immer so abfällig über Sie?«

Maximilian nickte. »Ich bin daran gewöhnt. Eins der ersten Dinge, die mein Vater Adrian mir beigebracht hat, war, niemals auf das zu hören, was Fremde hinter vorgehaltener Hand über mich oder über andere tuscheln. Die Welt ist voller Neider und Missgunst, und dass ich so viel Geld ausgebe, um Kinder und junge Erwachsene wie dich von der Straße zu holen, geht sehr vielen Menschen gegen den Strich. Ja, das »Boston Hearts« ist riesig, aber das Grundstück und das Haus sind seit mehreren Generationen im Besitz der Endercotts. Doch mein Vater wollte hier draußen nicht wohnen. Was soll ich mit so einem riesigen Haus, hat er immer zu mir gesagt, und meine Mutter stimmte ihm da zu. Er hat es mir ohne zu zögern überlassen, als ich vor vielen Jahren mit der Idee des »Boston Hearts« auf ihn zutrat.« Maximilian ergriff seine Hand und drückte sie aufmunternd. »In unserem Haus leben nur Kinder, die niemals zuvor auch nur den kleinsten Luxus für sich besaßen. Keiner von ihnen hat früher daran geglaubt, einen Ort wie diesen jemals von innen zu sehen, geschweige denn, darin leben zu dürfen, aber jetzt tun sie es und ich kann ihnen zeigen, dass sie so gut wie alles im Leben erreichen können, was sie wollen.«

»Hallo?« Derrick zeigte ungläubig auf das riesige Haus und Maximilian schmunzelte.

»Ja, in Ordnung, ich gestehe dir deinen Einwand zu. So ein Haus sein Eigentum nennen zu können, dürfte etwas mehr als nur Glück und einen guten Job brauchen, aber mit einem tollen Job hat man immerhin schon den ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht. Und vor diesem Job steht was?«

Derrick stöhnte auf. Das musste jetzt wieder kommen. »Ja, ja, ja, ich habe Ihnen versprochen, die Tests zu machen, damit ich meinen Schulabschluss nachholen kann, und ich halte mein Wort, zufrieden?«

»Gut«, antwortete Maximilian und startete den Lexus. »Na dann, auf in dein neues Leben, Kleiner.«

Derrick knurrte erbost. »Nur weil ich niemandem auf den Kopf spucken kann, bin ich nicht klein. Es kann ja nicht jeder so ein Lulatsch sein wie Sie.«

Maximilian begann zu lachen.

 

 

Kapitel 3

Maximilian

 

 

 

 

»Der Junge hat mir seinen Körper als Bezahlung für unsere Hilfe angeboten.«

Maximilian Endercott schüttelte den Kopf, während er sein Jackett auf den Bügel hängte. Sein Blick suchte den von Elias, der bereits hinter ihm im Bett lag und jetzt von dem E-Book-Reader aufsah, den Maximilian ihm vor drei Jahren geschenkt hatte, nachdem Elias endlich zugegeben hatte, dass ihm die Schriftgröße in den meisten Büchern langsam zu klein wurde.

Sein Mann liebte Bücher und hatte eigentlich ständig eines am Wickel, das er durchs ganze Haus trug, um darin zu lesen, wann immer er dazu kam. Eine Leidenschaft, die Maximilian nicht teilte, er sah sich lieber einen guten Actionfilm an, aber bei Elias förderte, indem er ihm alle naselang neuen Lesestoff besorgte. Allerdings waren sie beide nicht mehr die Jüngsten und das traf nun mal auch auf ihre Augen zu.

Maximilian trug seine Lesebrille mit Würde, Elias hingegen ignorierte sie die meiste Zeit, dabei stand ihm das schmale Goldgestell wirklich ausgezeichnet. Und dank des Readers, auf dem er sich die Schriftgröße einstellen konnte, wie er wollte, würde sich daran in nächster Zeit wohl auch nichts ändern. Sein Mann war und blieb ein Sturkopf, den Maximilian gerade deshalb nur umso mehr liebte.

Außerdem war sein Mann ein sehr mitfühlender Charakter, der rund um die Uhr zu wissen schien, in welcher Stimmung Maximilian selbst, ihre Söhne und vor allem auch die Kids im Zentrum waren. Eine Eigenschaft, die ihm als Arzt zugutekam, obwohl Maximilian sich schon manches Mal gewünscht hatte, seine Launen etwas besser vor Elias verbergen zu können, um ihn nicht damit zu belasten.

Maximilian schlüpfte aus seiner Hose und warf sie in den Wäschekorb. »Ich habe ihm umgehend die Leviten gelesen. Du hättest dabei sein Gesicht sehen sollen, er hatte panische Angst vor mir.«

»Wir bekommen einfach immer die schlimmsten Fälle ins Haus, nicht wahr?«, fragte Elias und lächelte, was Maximilian erwiderte, obwohl er über Derrick Fosters Worte immer noch entsetzt war.

Mit welcher Selbstverständlichkeit der junge Mann davon ausgegangen war, dass Freundlichkeit etwas kosten musste. Es schockierte ihn jedes Mal aufs Neue, dabei hatten sie derartige Angebote schon so oft gehört, seit sie das »Boston Hearts« mit den ersten Kindern gefüllt hatten, in der Hoffnung, dass diese ihnen mit der Zeit genug vertrauten, damit sie ihnen beweisen konnten, dass es auch gute, anständige Menschen auf der Welt gab. Menschen, die halfen, ohne dafür eine Gegenleistung, egal welcher Art, zu verlangen.

»Er erinnert mich an Cole.«

Elias legte seinen Reader auf den Nachttisch. »Was geht dir schon den ganzen Abend durch den Kopf, Maximilian?«

Eine Menge, dachte Maximilian und warf sein Hemd zu der Hose, ehe er sich von Socken und Unterwäsche befreite. Seinen Kopf konnte er damit jedoch nicht von den umherwirbelnden Gedanken befreien, mit denen er immer beschäftigt war, wenn sie einen neuen Schützling nach Hause holten. Doch irgendwie brachte Derrick Foster eine Saite an Maximilian zum Klingen, die er zuletzt gehört hatte, nachdem sein Blick das erste Mal auf ihr Nesthäkchen Luca gefallen war.

»Er geht dir näher als die anderen, habe ich recht?«

Elias durchschaute ihn natürlich, wie er es immer tat, und Maximilian versuchte gar nicht erst, das zu leugnen. »Ja.«

»Warum?«

»Erinnerst du dich, als wir Luca das erste Mal sahen?«

Elias seufzte leise. »Wie könnte ich das vergessen? So klein und zart. Und halb verhungert, als er mit diesem Taxifahrer bei uns auftauchte. Wir haben ihn angesehen und wussten, dass er zu uns gehört. Ist es dir bei Derrick auch so gegangen?«

Maximilian nickte und verschwand in ihr Badezimmer, das dem Schlafzimmer direkt angeschlossen war, um zu duschen, sich die Zähne zu putzen und auf die Toilette zu gehen. Als er wieder ins Schlafzimmer trat, schlug Elias die Bettdecke für ihn zurück, sodass Maximilian sich sofort an seine Seite schmiegen konnte, was er auch mit einem genüsslichen Seufzen tat, denn er liebte es, mit Elias in seinen Armen einzuschlafen.

»Wann kannst du ihn abholen?«, fragte Elias, nachdem sie das Licht ausgeschaltet hatten und eng aneinandergeschmiegt in der Dunkelheit lagen.

»Wahrscheinlich am Wochenende. Der Chirurg möchte sein Bein noch ein paar Tage im Auge behalten. Nur zur Sicherheit, sagt er.«

Elias lachte auf einmal leise und Maximilian kommentierte das mit einem fragenden »Hm?«, was ihm einen sanften Kuss einbrachte, bevor sein Mann sagte: »Ich kann immer noch nicht glauben, dass er unseren Boxer-Sohn fast k. o. geschlagen hat. Ich gestehe, ich hätte zu gerne Coles Gesicht gesehen, nachdem er zu Boden gegangen ist. Oder sollte ich besser sagen, im Müll gelandet war.«

»Elias«, tadelte Maximilian nur halbherzig, weil er bei der Vorstellung selbst grinsen musste, immerhin hatte Cole früher Männer von ganz anderen Formaten auf die Bretter geschickt, ehe er beschlossen hatte, sich mit seinen Szenebars, Clubs, oder wie immer man diese in seinen Ohren viel zu lauten Tanz- und Trinktempel heutzutage nannte, selbstständig zu machen.

Maximilian horchte auf, als draußen ein Wagen vorfuhr. Sie hatten das Fenster auf Kipp stehen, weil sie beide mit frischer Luft besser schlafen konnten, und natürlich war so ein offenes Fenster die perfekte Möglichkeit, ihre drei verbliebenen Söhne zu belauschen, die noch hier wohnten, sobald einer oder alle spätnachts nach Hause kamen. Wobei es in den letzten Wochen meistens nur einer war, der um diese Zeit daheim auftauchte, sehr zu ihrem Verdruss.

»Wir könnten wetten«, schlug Maximilian in einem Anflug von Humor vor und zuckte zusammen, als er dafür umgehend einen harten Ellbogen in die Rippen bekam. »Aua.«

»Geschieht dir recht«, murmelte Elias und seufzte mit ihm auf, als draußen plötzlich Pauls Stimme zu hören war, der mit irgendjemandem am Telefon äußerst verärgert diskutierte. »Ich verstehe nicht, wie Jameson das zulassen kann. Es ist mitten in der Nacht und er kommt gerade erst aus dem Büro. Der Junge arbeitet sich noch zu Tode.«

»Du weißt, dass Jameson alles versucht, um unseren Sohn zu normalen Arbeitszeiten zu bewegen. Er will nicht.«

Eine Autotür wurde zugeworfen und kurz darauf war Paul unten im Haus zu hören, wie er, immer noch am Telefon, in die Küche ging. Eine weitere Tür wurde geschlossen, dann kehrte Ruhe ein.

»Ich hoffe für ihn, er isst heute noch, was Maria ihm in die Mikrowelle gestellt hat, sonst gibt es morgen Ärger.«

Maximilian nickte gedankenverloren, denn neben der mit jedem Tag ansteigenden Arbeitswut vergaß Paul in letzter Zeit eindeutig zu oft das Essen, und das nahm Maria langsam aber sicher persönlich. Ihre langjährige Köchin war ein echtes Genie am Herd und liebte es, sowohl sie hier im Haus, als auch ihre eigene Familie, inklusive gleich sieben lebhafter Enkelkinder, zu verwöhnen. Dass Paul ihr Essen immer wieder stehenließ, wenn er später nach Hause kam, wurmte Maria genauso sehr, wie es ihr Sorgen machte, und damit war sie nicht allein, denn Elias und er selbst sorgten sich ebenfalls.

Leise Schritte auf der Treppe verrieten Paul einige Minuten später und Maximilian war sich nicht zu fein, sein gutes Gehör auszunutzen. »Ich hoffe für dich, du hast den Teller gefunden, den Maria dir in die Mikrowelle gestellt hat, denn unsere hoch geschätzte und dir sehr zugetane Köchin wird dir morgen den Hintern versohlen, falls du wieder einmal beschlossen hast, ihr Essen zu ignorieren, wie du es seit Monaten mit deinen Vätern tust, sobald sie dir raten, weniger zu arbeiten.«

»Maximilian!«, zischte Elias empört, aber Maximilian hielt ihn davon ab aufzustehen und Paul im Flur abzufangen, denn keiner ihrer Söhne schätzte es, wenn sie ihnen zu sehr auf die sprichwörtliche Pelle rückten. Nicht, dass sie das je abgehalten hätte, genau das eben doch zu tun, aber heute Nacht wollte er Paul nicht mit einem tadelnden Blick ein schlechtes Gewissen einreden. Seine Worte mussten reichen. Vorerst.

Es dauerte, bis Paul im Flur reagierte, aber das tiefe Seufzen war schließlich unüberhörbar. »Ich hab euch lieb.«

»Wir dich auch«, erwiderte Elias und dann stießen sie beide erleichtert die Luft aus, als Schritte nach unten verrieten, dass Paul den Rückweg in die Küche antrat, um hoffentlich endlich etwas zu essen. »Maximilian ...«

»Ich weiß«, unterbrach er Elias und küsste ihn beruhigend auf die nackte Schulter. »Geben wir Jameson noch etwas Zeit, den Boss raushängen zu lassen, bevor wir unserem Sohn selbst den Kopf zurechtrücken. Er kann nicht der beste Anwalt von Boston werden, wenn er sich vorher zu Tode arbeitet.«

»Wo wir gerade davon reden … Wirst du Adrian den Kopf zurechtrücken oder soll ich es tun? Er hat vor, Cole einen guten Ehemann zu suchen, weil, und ich zitiere: 'Der Bursche ist fast Vierzig und immer noch Single. Das hat er von dir, Elias.' Zitat Ende.« Elias wandte sich ihm zu und Maximilian konnte den finsteren Blick selbst in der Dunkelheit förmlich vor sich sehen, mit dem er jetzt durchbohrt wurde. »Dein Vater ist unmöglich und ich habe irgendwie das Gefühl, dass es anfangs deine Idee war, dass unser Ältester endlich einen anständigen Partner an seiner Seite braucht.«

Oha, er war ertappt. Maximilian schürzte die Lippen. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

Elias gluckste. »Also wirklich, Maximilian, du solltest dich schämen, deinen Ehemann so schamlos anzulügen.«

Maximilian verkniff sich ein Grinsen. »Ich würde mich nie und nimmer wagen, meinen klugen und wirklich umwerfend heißen Ehemann anzuschwindeln. Deswegen schwöre ich bei deiner sexy Lesebrille, dass ich unschuldig bin, was eventuelle Hochzeitspläne für unsere Söhne angeht.«

»Maximilian!«

 

 

Kapitel 4

Cole

 

 

 

 

»Du kommst spät.«

Cole verriegelte grinsend seinen Aston Martin und hob die Flasche Glenmorangie hoch, damit sein Großvater, der in der offenen Tür eines zweistöckigen Herrenhauses mit überdachter Veranda stand und augenscheinlich auf ihn wartete, das Etikett auch sehen konnte, bevor er sich theatralisch an die Brust griff und zu zitieren begann.

»Ich komme niemals zu spät. Ebenso wenig zu früh. Ich komme immer genau dann, wann ich es für richtig halte.«

Adrian stemmte die Hände in die Seiten. »Ich hätte mit dir niemals diesen Film gucken dürfen. Dein Vater hat noch Jahre später gedroht, mich zu erwürgen, weil du ständig mit Zitaten von Gandalf um dich geworfen hast.«

Cole lachte und schloss zu seinem Großvater auf, wobei er einen kurzen Blick auf die anderen Wagen warf, die die ganze Einfahrt belegten. Scheinbar war er der letzte, obwohl ihm der klapprig aussehende Pick-up hinter dem Lexus seines Vaters nichts sagte, aber das hieß nicht viel. Bei sieben Brüdern gab es immer etwas Neues zu berichten, und wahrscheinlich gehörte der weiße Pick-up Leon, der regelmäßig solche alten Kisten auf Polizeiauktionen fand, sie billig kaufte und dann mit viel Liebe reparierte, um sie anschließend weiterzuverkaufen.

»Es ist wirklich ein toller Film.« Er blieb dicht vor Adrian stehen und grinste frech. »Und? Hast du Grandma mittlerweile endgültig in den Wahnsinn getrieben oder warum begrüßt sie ihren Lieblingsenkel nicht?«

Emma Endercott hatte ein viel zu ausgeglichenes Gemüt, um sich von ihrem Ehemann aus der Ruhe bringen zu lassen. Was auch gut war, sonst hätte sie ihn garantiert längst mit der Pfanne erschlagen. Cole erinnerte sich jedenfalls an so einige Gelegenheiten, wo er kurz davor gestanden hatte, das selbst zu tun, denn sobald sein Großvater der Meinung war, es wäre mal wieder an der Zeit, seinen Enkeln auf die Nerven zu fallen, tat er das auch. Sogar wenn er dafür Samstagnacht unangemeldet in Coles Schlafzimmer platzte, um seinem One-Night-Stand in trockenen Worten zu erklären, der wäre unübersehbar zu dünn und sollte lieber etwas essen gehen, anstatt mit seinem ältesten Enkel das Kamasutra nachzuspielen.

Cole war in jener Nacht vor Verlegenheit beinahe gestorben und hatte aus Sicherheitsgründen in den kommenden Wochen jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Stuhl schräg unter den Türknauf seines Apartments geklemmt, um zu verhindern, dass sein Großvater ihn noch mal beim Sex störte.

»Deine Großmutter steht in der Küche und versorgt unsere Jüngsten mit Nahrung«, erklärte Adrian und betrachtete dabei sein Gesicht ein bisschen genauer. »Der Junge hat einen guten Schlag, das muss man ihm lassen. Und wie man so hört, hat er sich bereits gut im »Boston Hearts« eingelebt.«

»Woher soll ich das wissen?«

Cole drückte seinem überaus neugierigen Großvater rabiat die Flasche in die Hand, bevor er sich durch seinen erst gestern Morgen gekürzten Haarschopf fuhr, weil er sich auf gar keinen Fall auf eine längere Debatte über diesen Müllcontainerdieb einlassen wollte.

Vor allem nicht mit Adrian Endercott, der beständig auf der Jagd nach einer guten Partie für Cole und seine Brüder war und ohnehin fand, dass Cole längst alt genug war, um endlich sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. Es war nicht mal so, dass er Adrian da grundsätzlich widersprochen hätte, aber er wollte sich seinen Zukünftigen selbst aussuchen und Cole hatte gewisse Vorstellungen, was besagten Zukünftigen anging. Dieser verunglückte Dieb mit seiner großen Klappe entsprach keiner einzigen davon, also würde er sich auch nicht weiter mit ihm befassen. Basta.

»Hast du noch nicht nach ihm gesehen?«, fragte Adrian mit einem amüsierten Schmunzeln und Cole verdrehte die Augen. Subtilität war eindeutig nicht Adrians Stärke.

»Ich habe gearbeitet. Meine Bars leiten sich schließlich nicht von allein.«

»Papperlapapp.« Adrian winkte herrisch ab und erinnerte ihn mit dieser Geste so sehr an seinen Vater Maximilian, dass Cole unwillkürlich grinsen musste. »Dein Grinsen verrät mir, dass du irgendetwas angestellt hast, aber ich werde brav sein und nicht nachfragen. Außerdem hat mich dein Bruder bereits auf den neuesten Stand gebracht, was deine Geschäfte angeht. Es läuft richtig gut, weswegen ich übrigens verdammt stolz auf dich bin, und du denkst offenbar darüber nach, eine vierte Bar zu eröffnen?«

Ja, er dachte darüber nach, sein Geschäft zu erweitern, aber das war alles noch längst nicht spruchreif, was sein jüngerer Bruder Finn Henderson, im Übrigen die Nummer fünf in der langen Liste von Endercott-Sprösslingen, der als Bedienung in seiner Bar arbeitete, auch ganz genau wusste, denn Cole wog derartige Pläne immer sehr gründlich ab, bevor er sie in die Tat umsetzte oder es bleiben ließ, und eine vierte Szenebar war gleichbedeutend mit noch mehr Arbeit und das hieß, er würde sich eine rechte Hand oder einen Teilhaber suchen müssen, mit dem er sich die anfallende Arbeit teilen konnte. Aber zu beiden Möglichkeiten fehlten ihm momentan sowohl die Personen als auch das dafür notwendige Vertrauen.

Wenn man will, dass etwas gut und auch richtig gemacht wird, muss man es selbst erledigen, war schon seit jeher Coles oberstes Motto, und damit lebte er seit nun mehr über neununddreißig Jahren ziemlich gut.

»Finn ist eine Klatschtante«, nörgelte er und sein Großvater lachte. »Womit hast du ihn bestochen?«

»Mit Essen natürlich«, antwortete Adrian gelassen und gab im Anschluss ein betont leidendes Seufzen von sich. »Ihr Jungs würdet jämmerlich verhungern, würde ich euch nicht ständig einladen, damit Emma euch füttern kann. Wieso zieht man von zu Hause aus, wenn man nicht kochen kann?«

Cole feixte. »Sagen dir die Worte Mikrowelle, Lieferdienst und Backofen etwas?«

»Frecher Bursche«, grollte sein Großvater und sah ihn böse an. »Apropos Backofen, wo ist die versprochene Pizza?«

»Welche Pizza?«, konterte Cole trocken, denn die zu backen hatte er schlicht und ergreifend vergessen, aber das konnte er Adrian gegenüber unmöglich zugeben. »Bist du sicher, dass du es dir nicht bloß eingebildet hast, dass ich welche mitbringe? In deinem Alter kann so was schon mal vorkommen.«

»Cole Brighton!«

Cole flüchtete lachend ins Haus.

 

Es war laut, es war voll, es war ein Irrenhaus.

Dennoch liebte Cole jede Sekunde davon, während er nach und nach an seine frechen Brüder weitergereicht wurde, um sich umarmen und wegen seiner Nase schadenfroh auslachen zu lassen, bevor er am Ende bei seinen Vätern ankam, die ihn beide nur angrinsten, ehe sie ihn zu Emma weiterschoben, die ihn auf beide Wangen küsste, ihn wegen der Prügelei tadelte und ihm dann ein extra dickes Stück Schokoladenkuchen gab, das sie für ihn aufgehoben hatte, weil er wie üblich zu spät gekommen war, was ihm wiederum äußerst finstere Blicke von seinen Brüdern einbrachte, während Cole sich das köstliche Stück Kuchen feixend schmecken ließ.

Insgeheim liebte er diese Familientreffen, obwohl sie es viel zu selten schafften, wirklich alle zusammenzubekommen, weil irgendwer immer arbeiten musste oder wegen anderweitiger Termine keine Zeit hatte. Darum war Cole umso zufriedener, dass es ihm diesmal gelungen war, offenbar drohend genug zu klingen, als er in den letzten Tagen seine Brüder nacheinander abtelefoniert und ihnen kurze Nachrichten hinterlassen hatte, mit dem Inhalt, gefälligst heute Abend hier zu erscheinen, weil er sonst Adrian auf sie hetzen würde.

Eine Drohung, die einfach immer funktionierte, weswegen sie allgemein als letztes Mittel eingesetzt wurde. Meistens von ihren Vätern, wenn sich einer ihrer Sprösslinge rar machte. Sie hielten die Familie und ihre Kinder fest zusammen und wenn es nach Cole ging, konnte das ruhig für immer so bleiben.

Nachdem er das Kuchenstück bis auf den letzten Krümel aufgegessen hatte, räumte er das benutzte Geschirr brav in die Spülmaschine und schlängelte sich danach durch eine munter vor sich hin redende Truppe an Familienmitgliedern, bis er bei Leon ankam, der mit einem Bier in der Hand gemütlich an der Arbeitsplatte lehnte und gedankenverloren aus dem Fenster in den Garten hinaussah.

»Darf ich davon ausgehen, dass dieses potthässliche, weiße Ding in der Einfahrt dir gehört?«

Leons Mundwinkel zuckten sichtlich belustigt, als er seinen Blick auf ihn richtete. »Hast du Angst, ich könnte eine Beule in deine Protzkiste machen? Wobei mein Baby das mit Sicherheit besser überstehen würde als deine Schwanzverlängerung.«

»Als ob ich eine Schwanzverlängerung nötig hätte.« Cole lehnte sich grinsend neben Leon an die Arbeitsplatte, der nach seinem Konter lachte. »Also? Neues Projekt von dir? Der SUV von Weihnachten sah besser aus.«

Leon winkte ab. »Verkauft.«

»Und diese hässliche Familienkiste, die wirklich bestialisch nach nassem Hund stank?«

»Tausend.«

Das musste ein Scherz sein. Cole starrte Leon verdattert an. »Jemand hat dir ernsthaft eintausend Dollar für diese uralte, stinkende Mühle bezahlt?«

Sein Bruder zuckte mit den Schultern. »Er hatte einen sehr großen Hund und brauchte viel Platz.«

»Grundgütiger«, murmelte Cole kopfschüttelnd und nahm sich ebenfalls ein Bier aus dem Kühlschrank. Als er sich zurück zu Leon gesellen wollte, war sein Platz von dem einzigen Cop ihrer Familie belegt, der ihn breit angrinste. »Was?«

»Ich habe gehört, du musstest deinen schicken Anzug nach dem kleinen Abenteuer im Müllcontainer wegschmeißen? Wie viel hatte der noch mal gekostet? Zweitausend?«

»Dreitausend«, murmelte Cole, weil er darüber immer noch nicht hinweg war. Sein schöner Anzug. Aber leider konnte kein Parfum der Welt dieses Müllcontainer-Flair übertünchen, also war ihm nichts anderes übrig geblieben, obwohl er im ersten Moment ernsthaft darüber nachgedacht hatte, dem Schuldigen an der Misere eine Rechnung zu schicken. Er hatte es nur nicht getan, weil es den Ärger nicht wert war, den er damit riskiert hätte, hätten seine Väter davon erfahren. Ganz besonders für Maximilian war ein Anzug zwar ein wichtiges Statussymbol, aber dennoch nur ein Anzug und Cole hatte schließlich genug Geld, um sich einen neuen zu kaufen, während die Kinder auf den Straßen nicht mal genug Geld für eine warme Mahlzeit pro Tag besaßen.

Jedes Mitglied in seiner Familie wusste um die Verbindung zwischen Macht, Reichtum und teurer Markenkleidung, aber sie wussten ebenfalls, dass am Ende nichts davon wirklich von Bedeutung war. Geld konnte man nicht essen, wenn es darauf ankam, und genau deshalb gaben seine Väter seit Jahrzehnten Unmengen davon aus, um Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die absolut nichts besaßen, alles zu bieten, was sie brauchten, um sich ein gutes Leben aufzubauen. Ein Leben, in dem sie sich nicht für ein paar lausige Dollar prostituieren, auf der Straße schlafen oder andere Leute bestehlen mussten, um wenigstens ein-, zweimal die Woche eine warme Mahlzeit in den Magen zu bekommen.

»Hast du dem Dieb schon die Rechnung geschickt?«, fragte Dare und feixte, als Cole unwillkürlich zusammenzuckte und einen Blick zu seinem Vater Maximilian warf, der ausgerechnet diesen Moment wählen musste, um seinen Blick zu erwidern. »So ein Mist, wir sind ertappt. Wie macht er das bloß immer?«, murmelte sein Bruder und machte sich kurzerhand mit Leon vom Acker, als sich Maximilian in Bewegung setzte.

»Als du mich das erste Mal so angesehen hast wie gerade, hattest du am Morgen mit deinem Hausschlüssel einen Kratzer in den Lack meines alten Lexus' gemacht.«

»Himmel«, stöhnte Cole und fühlte sich auf einmal wieder wie der 16-jährige dumme Bengel, der er damals gewesen war und der aus Trotz Maximilians Auto zerkratzt hatte, nachdem sein Vater ihm verboten hatte, in einen blutigen Horrorfilm zu gehen, den er unbedingt im Kino hatte sehen wollen.

Dieses Verbot war bestehen geblieben, bis er achtzehn Jahre und damit alt genug geworden war, um sich die Videokassette zum Film zu kaufen, und heute verstand er die Hartnäckigkeit seiner Väter, auf Regeln zu beharren, denn bei insgesamt acht Söhnen musste man mitunter auch ein wenig hart sein, um zu verhindern, dass sie einem auf der Nase herumtanzten.

»Das letzte Mal war vor zwei Jahren, als Dare dich erwischt hat, wie du angetrunken Auto gefahren bist und ihr beide mir das nicht erzählen wolltet«, kramte sein Vater weiter in für ihn peinlichen Erinnerungen und Cole verzog das Gesicht.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich glatt anfangen zu glauben, dass du ein fotografisches Gedächtnis hast«, sagte er schließlich und verdrehte seufzend die Augen, als sein Vater nur grinste. »Ja, ja, ja … Ich wollte dem Müllcontainerdieb eine Rechnung für meinen ruinierten Anzug schicken.«

»Cole!«

Sein Vater sah ihn empört an und Cole winkte ab. »Ich habe es ja nicht getan, oder? Ich habe nur darüber nachgedacht, aber da ich ja weiß, dass du … Was ist?«, fragte er irritiert, weil der Blick seines Vater auf einmal abgelenkt schien und er die Stirn runzelte, während er angestrengt aus dem Fenster blickte. Cole folgte dem Blick und entdeckte Leon und Elias auf der großen Rasenfläche dicht beieinander stehend. Sein zweiter Vater hatte eine Hand auf Leons Schulter gelegt und sprach mit besorgtem Gesichtsausdruck auf seinen Bruder ein. »Ist mit Leon alles in Ordnung?«, wollte Cole wissen und sah zurück zu Maximilian, als der leise seufzte. Die grünen Augen seines Vaters sprachen eine deutliche Sprache. »Oh nein, Gibbons?«

Maximilian nickte. »Er hat eine Einladung bekommen. Für eine Veranstaltung von der Stadt. Gelungene Resozialisierung von ehemals straffällig gewordenen Jugendlichen, um Spenden für neue Projekte in der Richtung zu sammeln. Du kannst dir sicher vorstellen, wie das bei ihm angekommen ist.«

»Scheiße«, murmelte Cole entsetzt und warf seinem Vater einen entschuldigenden Blick zu, als der ihn tadelnd ansah. »Er wird nie damit abschließen können, wenn man ihn ständig an seine Vergangenheit erinnert. Es ist schon schlimm genug, dass er immer noch jeden Monat zum Friedhof geht. Ihr hättet ihm das damals verbieten sollen.«

»Cole ...«

Sein Vater sah ihn mitfühlend an, aber Cole schnaubte nur. »Na ist doch wahr. Leon quält sich seit fünfzehn Jahren damit, dabei war es ein Unfall. Er war noch ein Kind, Dad.«

»Ein Kind, das einen Mann getötet hat, vergiss das nicht.« Maximilian strich ihm liebevoll über die Wange, bevor er etwas sagen konnte. »Ich weiß, aber wir können ihm die Schuld nicht abnehmen. Solange Leon sich nicht selbst verzeiht, was er, und das brauchst du mir nicht zu sagen, ich weiß es, dringend tun sollte, wird er das, was damals passiert ist, nie wirklich hinter sich lassen können.«

»Aber ...« Cole verstummte wieder, als sein Vater den Kopf schüttelte, und schürzte die Lippen. »Redet er mit Sean?«

»Sean ruft ihn einmal pro Woche an. Wenn er ihn dreimal nicht erreicht, ruft er uns an.«

Und genau das war wohl passiert, wenn er den besorgten Blick seines Vaters richtig deutete, ehe der ihm auf die Schulter klopfte und dann aus der Küche verschwand. Wenig später sah Cole zu, wie Maximilian sich Elias anschloss und Leon einfach in seine beschützenden Arme zog, obwohl der zuvor den Kopf schüttelte, sich hinterher aber an seinen Vater klammerte, wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Leon war Endercott-Sprössling Nummer sieben und zehn Jahre jünger als er selbst, hatte dafür aber gewaltige Probleme gehabt, als seine Väter ihn mit nach Hause gebracht hatten. Man bekam schließlich nicht jeden Tag einen neuen Bruder präsentiert, den der damalige Staatsanwalt von Boston am liebsten für immer wegen Mordes weggesperrt hätte.

Gott sei Dank hatte Maximilian das verhindert, denn Leon hatte keinen Mord begangen, obwohl er sich bis heute deshalb schuldig fühlte. Aber ein 14-jähriger, der im Affekt einen Mann erschoss, weil er vor lauter Angst, wieder einmal vergewaltigt zu werden, nicht mehr klar denken konnte, war kein Mörder, und das hatten auch die Geschworenen so gesehen. Statt einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe hatte er Bewährung und eine neue Familie bekommen, aber auch seine Väter, Cole und seine Brüder hatten nicht verhindern können, dass Leon seit damals dennoch zu lebenslänglich verurteilt war, denn dass er einen unschuldigen Mann getötet hatte, der nur versucht hatte, ihm zu helfen, konnte Leon nicht verwinden.

»Gibbons?«, fragte sein Bruder Dare auf einmal neben ihm und Cole nickte seufzend. »Scheiße.«

»Lass das nicht Dad hören«, meinte Luca, ihr Nesthäkchen, auch wenn diese Bezeichnung ihn mittlerweile unflätig fluchen ließ, und schaute aus dem Fenster. »Umarmungen konnte Dad schon immer echt gut.«

Stimmt, dachte Cole und legte einen Arm um Luca, als der sich gegen ihn lehnte. Ihr Küken war zugleich der sensibelste von ihnen allen, dennoch hatte er vor als Musiker Karriere zu machen und berühmt zu werden, was Cole ihm auch zutraute, denn er hatte Luca singen gehört und ihn bei einigen Auftritten gesehen. Sein Bruder hatte in seinen Augen eindeutig das Zeug zum Star, denn er konnte die Massen begeistern und hatte eine tolle Stimme. Beides würde Luca brauchen, um erfolgreich zu sein, und Cole hoffte, dass er sich bis dahin noch ein dickeres Fell zulegte, denn das würde er ebenfalls brauchen, um in der Welt der Stars zurechtzukommen, ohne an ihr zu zerbrechen.

»Hey, Kleiner, hast du deine Gitarre mitgebracht?«, wollte Dare wissen und Cole grinste, als Luca gespielt die Augen zur Decke verdrehte und stöhnte, obwohl ihm deutlich anzusehen war, wie gerne er etwas gespielt hätte.

»Ich bin hier, um mich von Grandma verwöhnen zu lassen und nicht um Musik für Banausen wie dich zu machen.«

»Na warte«, murrte Dare und wenig später stand Cole breit grinsend daneben, während sein Bruder ihr Küken über seine Schulter warf und Luca unter dem Gelächter aller anderen aus der Küche trug.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752125450
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Boston Hearts Liebesroman schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Tritt ins Herz