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Tränen im Regen

von Mathilda Grace (Autor:in)
290 Seiten
Reihe: Die Ostküsten-Reihe, Band 7

Zusammenfassung

Kilian McDermott liebt sein ruhiges Leben als Künstler und die für ihn dazu gehörenden Affären mit Frauen und Männern. Einer davon ist Alex Corvin, der Halbbruder seines Adoptivvaters Mikael, der sie eines Tages beim Sex überrascht. Alex beendet daraufhin ihre Affäre und fliegt nach Europa. Kilian bleibt enttäuscht zurück und lernt ein paar Wochen später Dale Howard kennen. Er verliebt sich Hals über Kopf in den Polizisten, der seine Gefühle mit der gleichen Intensität erwidert. Doch plötzlich kehrt Alex aus Europa zurück.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

 

 

 

 

Gab es etwas Peinlicheres im Leben, als vom eigenen Vater beim Sex erwischt zu werden?

Wohl kaum. Es sei denn, der eigene Liebhaber war zufällig auch der Halbbruder seines Vaters. Genau das war Kilian gerade passiert. Wobei gerade nicht mehr das passende Wort dafür war, denn mittlerweile war es früh am Morgen und er saß seit Stunden nackt auf der Küchentheke und starrte vor sich hin.

Wie hatte das nur passieren können? Wie hatte er sich dazu hinreißen lassen können, trotz seiner Verabredung mit Mikael, mit Alex in seiner Küche Sex zu haben? Es wäre vermutlich gutgegangen, wenn Mikael nicht eine Stunde eher als geplant bei ihm in der Küche gestanden und sie in flagranti erwischt hätte. Und als wäre das an sich nicht schon schlimm genug gewesen, hatte Alex, nachdem Mikael wortlos kehrtgemacht hatte und gegangen war, seine Sachen genommen und ihm in wenigen Sätzen erklärt, er wolle noch heute auf unbestimmte Zeit nach Europa fliegen. Was gleichbedeutend mit einem Das war es mit uns gewesen war.

Kilian zuckte heftig zusammen, als das Telefon zu klingeln begann, blieb aber auf der Theke sitzen. Sein Anrufbeantworter war eingeschaltet und er wollte momentan mit niemandem reden. Nicht, bevor er nicht ein paar Tage Zeit gehabt hatte, das Ganze sacken zu lassen. Er konnte Mikael nie mehr unter die Augen treten. Wie der Alex und ihn angesehen hatte. Diesen vollkommen überraschten und zugleich entsetzten Blick würde Kilian niemals vergessen.

»Kilian? Geh ans Telefon.«

Colin. Auch das noch. Kilian verzog das Gesicht.

»Mik hat es mir erzählt. Bitte geh ans Telefon.«

Kam nicht infrage. Nicht in eintausend Jahren. Colin seufzte leise, worauf Kilian niedergeschlagen den Kopf hängen ließ. Seine Väter hatten nicht davon erfahren sollen. Niemand hatte erfahren sollen, was ihn und Alex verband. Jedenfalls nicht so. Und vor allem nicht, bevor sie sich überhaupt einig waren, was das zwischen ihnen war. Tja, die Frage hatte Alex letzte Nacht unverkennbar beantwortet, als er gegangen war.

»Wann immer du das abhörst, komm bitte nach Hause. Wir lieben dich.«

Bis vor ein paar Stunden war er sich dessen sicher gewesen, jetzt war er es nicht mehr. Nicht nach letzter Nacht. Kilian fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und lehnte sich zurück, bis er mit dem Rücken an den Küchenschrank stieß. Warum hatten sie damit angefangen? Warum hatten sie nicht die Finger voneinander lassen können? Was zwischen Alex und ihm die vergangenen sieben Monate gewesen war, war weder verwerflich noch verboten, immerhin waren sie nicht verwandt, dennoch fühlte sich Kilian auf einmal, als hätte er ein Verbrechen begannen. Als hätte er das Schlimmste getan, was man tun konnte, ohne dafür einen Namen zu haben.

Er starrte wie betäubt vor sich hin, bis er irgendwann hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Es dauerte etwas, bis er verstand, was das bedeutete, und da trat Niko gerade zu ihm in die Küche. Niko. Sein großer Bruder im Geiste und zudem der einzige, der Bescheid gewusst hatte. Und Niko wusste bereits, was letzte Nacht passiert war, so wie er ihn ansah. Kein Wunder, die Brüder lebten seit drei Jahren in einer Wohngemeinschaft zusammen. Alex musste es ihm erzählt haben.

»Er ist vor einer Stunde geflogen. Ich konnte ihn nicht aufhalten und er wollte mir nicht sagen, wieso er geht.« Niko trat auf ihn zu. »Was ist letzte Nacht hier abgelaufen? Hast du Alex endlich gesagt, dass du ihn liebst?«

Kilian glotzte Niko ungläubig an und brach in Tränen aus, als ihm schließlich bewusst wurde, wie recht sein Bruder hatte.

 

 

1. Kapitel

 

 

 

 

»Ich fasse es nicht, dass ich dabei mitgemacht habe«, murmelte Noah und stützte seine Ellbogen auf die Knie, um stöhnend das Gesicht in den Händen zu vergraben.

»Dad bringt uns um«, murrte Liam und rieb sich übers Gesicht. »Und dann verbuddelt er uns hinten im Garten.«

»Dito«, flüsterte Kilian und schämte sich zugleich in Grund und Boden. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, die Zwillinge in die Sache mit reinzuziehen? War er nicht ganz bei Trost?

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war er bereits seit einem Monat nicht mehr ganz bei Trost. Seit der Sache mit Alex und Mikael. Und dass er sich seither zu Hause verbarrikadierte und von seinen Vätern fernhielt, half ihm auch nicht sonderlich dabei, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Kilian hatte gehofft, sich mit genügend Arbeit abzulenken, würde das Ganze irgendwie leichter machen, leider das Gegenteil war der Fall. Mikael ging er komplett aus dem Weg, vor Colin war er in den letzten Wochen mehrfach wie ein Verbrecher aus seiner eigenen Hintertür geflüchtet, als sein Vater zu ihm gekommen war, und jetzt auch noch das.

Erwischt beim Diebstahl von drei Flaschen Wodka. Einfach so, aus einer Laune heraus, weil die Zwillinge übers Wochenende zu Besuch waren, und ihn unbedingt auf eine Party von ein paar ihrer Freunde hatten mitschleppen wollen. Tja, auf der waren sie nie angekommen. Stattdessen saßen Liam, Noah und er im Knast und warteten auf Adrian. Ihr Onkel war der einzige, den sie sich getraut hatten anzurufen, und wenn sie Glück hatten, würde Adrian schon bald auf der Matte stehen, sie finster ansehen, aber hoffentlich aus dieser Zelle holen, die sie sich mit fünf Besoffenen, zwei Dealern und drei Nutten teilten, die wie sie auf ihre Auslöse warteten.

»McDermott? Kendall?«

Kilian sah gemeinsam mit den Zwillingen auf. Vor der Zellentür stand der Cop, der sie erwischt hatte. Er grinste. Neben ihm stand Adrian Quinlan, wie immer perfekt angezogen und ganz der Anwalt, der er war. Er grinste allerdings nicht. Kilian hätte sich am liebsten unter der unbequemen Bank versteckt, auf der er saß, als Adrian in seine Richtung sah. Er wich dessen Blick aus und sah lieber zu dem Polizisten, der in dem Moment eine auffordernde Handbewegung machte.

»Los, aufstehen. Ihr seid draußen.«

Im Augenblick wäre er gerne in der Zelle geblieben, aber da das nun mal keine Option war, stand Kilian auf und schaute zu den Zwillingen, die genauso begeistert wirkten wie er. Kilian trat sich vor die zwei. Wenn Adrian ihn anbrüllen wollte, sollte er es tun. Aber Liam und Noah hatten sich von ihm überreden lassen. Er war Schuld an dieser Sache, also würde er dafür geradestehen. Allein.

Allerdings brüllte ihr Onkel sie nicht an. Das Gegenteil war der Fall, denn Adrian sagte kein einziges Wort, während sie einige Papiere unterschrieben und anschließend das Revier verließen, um Richtung Parkplatz zu laufen. Kilians schlechtes Gewissen wuchs mit jedem Schritt. Dass Adrian so still blieb war schlimmer, als wenn er sie wirklich angebrüllt hätte. Das konnte nichts Gutes heißen. So sah er das zumindest. Kilians Blick schweifte zu Liam und Noah, die, sofern er ihre nervösen Gesichtsausdrücke richtig deutete, ähnliche Gedanken wälzten.

»Ich will auf der Stelle tot umfallen«, sagte Liam auf einmal entsetzt.

Kilian folgte Liams Blick und erstarrte innerlich förmlich zu einer Salzsäule, denn Adrian war nicht allein hergekommen. Er hatte seine Väter, Liams und Noahs Väter und David mitgebracht. Ach, du Scheiße. Kilian sah sich unwillkürlich nach einem Fluchtweg um, aber Adrian hatte genau das scheinbar geahnt, denn plötzlich nahm er ihn am Arm und hielt ihn fest. Kilian war zu Tode verlegen, sagte aber nichts und wehrte sich auch nicht gegen Adrians eisernen Griff, der ihm eines deutlich klarmachte. Heute Nacht würde er keine Chance bekommen, um sich wegzuschleichen. Heute Nacht gab es Ärger.

»Warum?«, fragte Nick, nachdem sie alle beieinander standen und weder die Zwillinge noch er ein Wort hervorbrachten. »Kilian? Liam? Noah? Ich will eine Antwort.«

»Es war allein meine Idee«, sagte er sofort, um die Zwillinge zu schützen.

»Das weiß ich, aber unsere Söhne haben mitgemacht, obwohl sie es besser wissen sollten. Also?«, hakte Nick nach und Kilian presste die Lippen fest zusammen, weil er Nick nicht die Wahrheit sagen wollte. Er wollte nicht, dass der von dem ganzen Drama mit Alex und Mikael erfuhr, das Ganze war ihm auch so schon peinlich genug. Er sah zu Boden, weil er Nicks Blick nicht mehr standhalten konnte.

»Sie wissen es, Kilian«, sagte Colin leise und Kilians Kopf fuhr hoch. Fassungslos und völlig entsetzt. Das konnte sein Vater unmöglich ernst meinen, oder etwa doch? »Wir haben es ihnen auf dem Weg hierher erzählt.«

»Was?«, fragte er und verfluchte sich, da seine Stimme viel zu hoch und schrill klang. Seine Väter hatten allen erzählt, was passiert war? Wie konnten sie nur? »Habt ihr sie noch alle? Das ging niemanden etwas an.«

»Kilian!«, zischte Mikael und Kilian zuckte ertappt zusammen. »Das reicht jetzt. Wir fahren nach Hause und dann reden wir. Und wenn ich dich dafür in Handschellen abführen muss, tue ich das. Hast du verstanden?«

Kilian sah rot. »Versuch´s doch.«

»Hört sofort auf!« Adrian schob sich zwischen Mikael und ihn und sah ihn ruhig an. »Dass du Zeit gebraucht hast, verstehe ich, aber jetzt ist Schluss. Ihr wolltet heute einen Schnapsladen ausrauben, Kilian. Was kommt als Nächstes? Drogen? Körperverletzung? Saufen? Oder klaust du lieber alten Damen die Handtasche?«

Ein Eimer Eiswasser über seinem Kopf ausgeschüttet hätte nicht wirkungsvoller sein können. Kilian wurde übel, als ihm bewusst wurde, dass Adrian recht hatte. Er hatte vollkommen die Kontrolle über sich verloren und jetzt sogar noch die Zwillinge mit in seine privaten Angelegenheiten hineingezogen, die nicht einmal wussten, worum es eigentlich ging, das bewiesen ihm Liams und Noahs fragende Blicke gerade.

Bevor jemand etwas sagen konnte, hielt ein Taxi ganz in ihrer Nähe und Niko stieg aus. Scheinbar kam er von einer Party, denn für einen normalen Freitagabend war er zu sehr rausgeputzt. Kilian verzog ein weiteres Mal das Gesicht. Niko machte ihm wegen seines Verhaltens bereits seit einiger Zeit Feuer unter dem Hintern, und er würde auch jetzt nicht davor zurückschrecken seine Meinung deutlich zum Ausdruck zu bringen.

»Dann stimmt es also wirklich«, sagte Niko, nachdem er zu ihnen aufgeschlossen hatte, und schüttelte den Kopf, ehe er ihn wütend ansah. »Drehst du jetzt völlig durch, Kilian? Ich dachte zuerst, Mik verkohlt mich, als die SMS kam.«

»Was ist hier eigentlich los?«, fragte Liam und Kilian sah zu Boden. Eher würde er sich freiwillig von einem Hochhausdach stürzen, als diese Frage zu beantworten.

»Ich denke, wir sollten fahren«, warf David ein und deutete auf das Revier, als Kilian kurz zu ihm sah. »Wenn wir hier weiter rumstehen, haben wir bald Zuschauer.«

Damit war erst mal alles gesagt und wenig später fand sich Kilian auf dem Rücksitz von Mikaels BMW wieder. Er schwieg, während sie nach Hause fuhren. Was hätte er auch sagen sollen? Dass er nach Alex' Weggang vollkommen den Boden unter seinen Füßen verloren hatte? Dass er einfach nicht wusste, wie er seinem Vater je wieder in die Augen blicken sollte? Dass er Liebeskummer hatte wie ein Teenager? Dass er kein einziges Bild mehr gemalt hatte, seit Alex weg war?

Kilian war komplett neben der Spur und er wusste absolut nicht, wie er endlich wieder zur Normalität zurückkehren sollte. Er hatte schon als kleines Kind empfindlich auf unerwartete Veränderungen in seiner Umwelt reagiert, und nach dem Tod seiner Mutter und seiner Angst um Colin, als der fast Mikael verloren hatte, war es noch schlimmer geworden. Er brauchte eine gewisse Normalität im Leben, die das Zeichnen genauso mit einschloss wie die Luft zum Atmen. Doch seit sein Vater ihn mit Alex beim Sex erwischt und der ihn anschließend verlassen hatte, gab es überhaupt keine Normalität mehr.

 

Irgendwann fand sich Kilian im Wohnzimmer auf dem Sofa wieder. Colin und Mikael saßen ihm gegenüber, Adrian hatte neben ihm auf der Lehne Platz genommen. Scheinbar als Vermittler, denn der Rest ihrer Truppe war nicht zu sehen. Wahrscheinlich waren sie im Haus und im Garten verteilt, um in aller Ruhe miteinander reden und diese Sache klären zu können. Das hätte er auch gerne getan, Kilian wusste nur nicht, wie er überhaupt anfangen sollte.

»Kilian?«, riss ihn Adrians Stimme aus den Gedanken. Wie sein Onkel immer noch so ruhig sein konnte, war ihm ein Rätsel. »Eine Erklärung wäre für den Anfang nicht schlecht.«

Kilian wagte es nicht, einen der drei auch nur anzusehen, denn er fand es durchaus im Bereich des Möglichen, dass sie ihn für seine nächsten Worte auslachten. »Es war ein Jux.«

»Ein Jux? Wie meinst du das?«, fragte Colin und irgendetwas an seinem Vater störte Kilian, er kam nur nicht darauf, was es genau war.

»Es gab keinen Grund«, antwortete er und hätte am liebsten die Hände in die Hosentaschen geschoben, da er nicht wusste, wo er mit ihnen hin sollte. »Es war ein Scherz. Einfach nur so. Es gab keinen Grund für den Diebstahl.«

»Einfach nur so?« Mikael atmete hörbar durch. »Du klaust mehrere Flaschen hochprozentigen Alkohol aus einem Laden, einfach so? Mit den Zwillingen?«

Es klang so dämlich, wie Mikael das sagte, trotzdem nickte Kilian ehrlich. »Ja.«

»Spinnst du?«, schrie Mikael ihn daraufhin erbost an und Kilian zuckte zusammen. Das schien gerade zu einer Hauptbeschäftigung von ihm zu werden. Neben dem Schämen und Blicken ausweichen.

»Mik, bitte ... Das bringt uns nicht weiter«, versuchte Colin zu schlichten, hatte aber keinen Erfolg.

»Nein, Colin. Ich sehe mir das jetzt schon seit einem Monat an, das ist mehr als genug. Oder hast du vergessen, dass er vor dir durch die Hintertür seines eigenen Hauses geflüchtet ist? Seit vier Wochen geht uns unser Sohn aus dem Weg, wo er nur kann, und jetzt ruft uns mitten in der Nacht Adrian an, weil Kilian im Gefängnis sitzt. Im Gefängnis! Wegen Diebstahl. Und jetzt sag mir noch mal, dass ich mich beruhigen soll.«

Colin sagte nichts und Kilian sah vorsichtig auf. Er bekam gerade noch mit, dass sein Vater die Lippen zusammenpresste, ehe er ihn enttäuscht ansah. Kilian blickte beschämt wieder zu Boden und das ärgerte Mikael scheinbar mächtig.

»Verflucht, Kilian!« Sein Vater stand vom Sessel auf und begann im Wohnzimmer auf und abzulaufen. »Es geht doch gar nicht um diesen lächerlichen Diebstahl. Natürlich war ich schockiert, als ich dich mit Alex sah, weil ich einfach nie im Leben damit gerechnet hätte. Aber das heißt doch nicht, dass es mich stört oder ...« Mikael brach ab und seufzte. »Himmel, glaubst du wirklich, ich würde dich deswegen ablehnen? Du bist mein Sohn. Ich liebe dich.«

»Ich wusste einfach nicht, was ich denken soll«, platzte aus Kilian heraus und er wäre am liebsten in einem Loch im Boden verschwunden, als er aufsah und seine Väter und Adrian ihn ansahen. »Du hast deinen Blick nicht gesehen, als du uns entdeckt hast, aber ich schon, und ich ... Ich kann ... Ich weiß einfach nicht ... Ach, Scheiße.«

»Colin, wolltest du nicht eine rauchen gehen?«, fragte Adrian in die unangenehme Stille hinein, die seinen Worten folgte.

Colin schien zuerst verärgert ablehnen zu wollen, sah dann jedoch zwischen ihm und Mikael hin und her, ehe er seufzend nickte und sich Adrian anschloss, der schon aufgestanden war. Mikael wartete, bis beide den Raum verlassen hatten, bevor er sich ihm gegenüber auf den Couchtisch setzte. Kilian blieb, wo er war, obwohl er immer noch am liebsten weggelaufen wäre. Das Ganze war ihm mittlerweile so peinlich, dafür gab es gar keine Worte mehr.

»Ich will ehrlich sein, ja, ich war total von den Socken«, sagte Mikael leise und hielt sein Kinn fest, als Kilian dem Blick seines Vaters wieder ausweichen wollte. »Ich bin nicht blind und ich habe die Männer gesehen, mit denen du in den letzten Jahren ausgegangen bist. Genauso wie die Frauen. Alex passte da schon vom Äußerlichen her überhaupt nicht rein und deswegen war ich so überrascht.«

»Und er ist dein Bruder«, sagte Kilian leise, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Mikael diese Tatsache egal war.

»Ja«, gab Mikael zu und grinste schief. »Aber Alex und du seid nicht miteinander verwandt, also warum denn nicht? Und ja, wenn ihr es wärt, hätte ich ein Problem damit gehabt, das gebe ich zu.«

Kilian seufzte. »Ich wusste einfach nicht, was ich sagen soll. Zuerst dein Blick und dann war Alex auf einmal weg und ich ... ich ...« Kilian seufzte erneut. »Er ist abgehauen. Ich dachte, er wäre ... wir wären ...« Kilian brach ab und biss ich auf die Lippe, hatte aber schon zu viel gesagt, das verriet Mikaels nächste Frage deutlich.

»Liebst du Alex?«

»Schätze schon«, gestand er, worauf Mikael traurig lächelte und ihn losließ, um sich stattdessen durch die Haare zu fahren.

»Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wo Alex ist, damit ihr das vernünftig klären könnt, aber ich weiß es nicht. Er ist nicht zu finden und Europa ist groß.«

»Adrian?«, war Kilians erster Gedanke.

Mikael verdrehte genervt die Augen. »Ich habe ihn bereits vor zwei Wochen um Hilfe gebeten, aber er hat abgelehnt.«

Kilian blieb vor Erstaunen erst der Mund offen stehen, aber dann fiel der Groschen. »Er weiß irgendetwas und will es uns nicht sagen, oder?«

»Das denke ich auch.«

Na super. Kilian zog eine Grimasse, denn aus Adrian Informationen herausquetschen zu wollen, wenn der keine preisgeben wollte, war in seinen Augen reine Zeitverschwendung. Genauso gut hätte er den Kopf gegen eine Mauer schlagen können. Das Ergebnis wäre in etwa das Gleiche gewesen, nämlich tierische Kopfschmerzen. Adrian hatte irgendwelche dubiosen Verbindungen zum FBI, so viel wusste er, und er wusste auch, dass sein Onkel immer zur Stelle war, falls man Hilfe brauchte. Aber Kilian wusste leider ebenfalls, dass Adrian, wenn er nicht wollte, stur wie ein alter Ziegenbock sein konnte. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass Adrian in puncto Alex jede seiner Fragen unbeantwortet lassen würde.

Kilian schob das Thema Adrian erst mal beiseite. »Wieso ist er gegangen? Ich verstehe es einfach nicht. Alex ist gar der Typ für solche spontanen Aktionen.«

Mikael zuckte hilflos die Schultern. »Ich verstehe es auch nicht. Niko hat mir erzählt, Alex hätte sich schon seit Wochen merkwürdig benommen, aber immer, wenn er gefragt hat, was los ist, hätte Alex abgewunken und gemeint, es wäre nichts.«

Das war ihm ebenfalls aufgefallen. Er hatte nur nicht nachgefragt, musste sich Kilian zu seiner Schande eingestehen. Jedes Mal, wenn er mit Alex zusammen gewesen war, hatten sie andere Sachen getan, als sich über ihre Leben zu unterhalten. Meistens jedenfalls.

»Es tut mir alles so leid, Dad«, murmelte er, woraufhin Mikael sich neben ihn setzte und ihn in seine Arme zog. »Das mit Alex, der Diebstahl, mein Verhalten. Einfach alles.«

»Ich weiß, und es ist okay, hörst du? Wir kriegen das schon wieder hin. Ich liebe dich, Frechdachs. Das habe und werde ich immer.«

Kilian erwiderte Mikaels Umarmung und presste sich eng an ihn. Wie sehr er diese Nähe zu seinen Vätern in den letzten vier Wochen vermisst hatte, fiel ihm erst jetzt auf. »Dad? Muss ich ins Gefängnis?«

»Nein.« Mikael gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Haare. »Du hast dir bisher nichts zu schulden kommen lassen, sagt Adrian, sodass du wahrscheinlich mit einer Geldstrafe davonkommst. Bei Noah ist er sich nicht sicher.«

Scheiße, dachte Kilian, und war gleichzeitig erleichtert, dass er vielleicht mit einem blauen Auge davonkam. Das war Noah gegenüber zwar nicht sehr fair, aber er wollte nicht ins Gefängnis. Allein der Gedanke bescherte ihm Übelkeit. Kilian verkniff sich ein Stöhnen, als ihm etwas anderes einfiel.

»Ich zeichne nicht mehr.«

Mikael schwieg kurz, dann fragte er: »Seit Alex weg ist?«

»Ja«, gestand er und ließ zu, dass Mikael sich von ihm löste, um ihn ansehen zu können. »Kein Bild, keine Idee, absolut gar nichts. Ich werde noch völlig verrückt. Ich muss zeichnen können, Dad. Ich kann nicht ohne.«

»Ich weiß.« Mikael strich ihm über die Wange. »Wir wäre es mit einem Tapetenwechsel? Komm zu uns nach Hause. Für ein paar Tage oder auch Wochen. Einfach mal raus aus deinem eigenen Haus, vielleicht hilft es.«

Der Vorschlag war verlockend, aber er sollte lieber erst mal daheim und vor allem in seinem Leben klar Schiff machen. Es wurde wirklich Zeit, dass er wieder auf die Beine kam. »Ich bin langsam zu groß, um mich von euch verwöhnen zu lassen.«

»Dafür wirst du nie zu groß sein«, konterte Mikael trocken, was ihn grinsen ließ, bevor er sagte: »Ich denke drüber nach.«

»Gut.« Sein Vater nickte und wurde ernst, während er Richtung Flur deutete. »Tu mir bitte den Gefallen und rede mit deinem Vater, bevor du nach Hause fährst.«

Kilian verstand, was Mikael nicht offen aussprechen wollte. Sein Flüchten vor Colin musste dem sehr wehgetan haben und plötzlich wusste Kilian auch, was ihn an seinem Vater vorhin so sehr gestört hatte. Dessen Ruhe. Das passte nicht zu Colin und daher stand er auf, als Mikael ihn losließ, und machte sich auf die Suche nach seinem Vater. Er hörte Nick und Tristan in ihrer Küche mit den Zwillingen reden und Niko saß vor dem Haus in der seit Jahren quietschenden Schaukel auf der großen Veranda, mit David in ein leises Gespräch vertieft. Kilian wollte die beiden nicht stören und ging um ihr Haus herum in den Garten, wo er fündig wurde.

Adrian und Colin saßen auf der Terrasse und Adrian sah zu ihm, als er sich räusperte. Da er nicht genau wusste, wie er am besten anfangen sollte, schob Kilian die Hände in die Hosentaschen und schaute mal wieder verlegen zu Boden, was seinen Onkel leise seufzen ließ. Schweigen kehrte ein und als Kilian sich nach einiger Zeit traute den Kopf zu heben, war er mit Colin allein, der ihn nachdenklich musterte.

»Redest du jetzt gar nicht mehr mit mir?«

Es waren nicht Colins Worte, sondern die herauszuhörende Traurigkeit, die Kilians Beherrschung in sich zusammenfallen ließ. Wochenlang schleppte er das alles jetzt schon mit sich herum, es ging einfach nicht mehr. »Ich wusste nicht, wie ich euch je wieder ansehen soll. Das war mir alles so peinlich. Ich dachte, dass es euch stört und ...« Er brach ab und überlegte kurz. »Ich weiß nicht mehr so genau, was ich dachte, ich wusste nur nicht, was ich tun soll. Wie ich euch alles erklären soll. Das mit Alex, meine ich. Ich ... Es tut mir so leid. Auch der Quatsch mit dem Wodka heute ... Mir ist eine Sicherung durchgebrannt. Ich weiß nicht, wie ich es dir sonst erklären kann. So bin ich nicht, das weißt du. Ich habe mich noch nie zuvor in meinem Leben so sehr geschämt wie heute, Dad.«

»Ach Kilian ...«

Im ersten Augenblick zuckte er zusammen, als Colin ihn in seine Arme zog, aber dann erwiderte er dessen Umarmung, als wäre sie ein Rettungsanker. Sein Vater strich ihm zärtlich über den Kopf und hielt ihn fest, wie er es immer schon getan hatte, wenn Kilian mit Sorgen oder Problemen zu ihm gegangen war. Und als dann auch noch Mikael hinzukam und sich der Umarmung anschloss, fühlte sich Kilian zum ersten Mal seit Wochen wieder sicher und geborgen.

 

»Ich dachte, wir kriegen Hausarrest, so wie nach dieser Sache mit dem Auto von unseren Nachbarn«, sagte Liam und Kilian hörte Noah im Hintergrund lachen, was ihn grinsen ließ.

»Was war denn mit dem Auto?«, fragte er und drehte sich auf den Rücken, um besser telefonieren zu können. Die Sonne lachte ihn von einem strahlend blauen Himmel an und der Geruch, der vom Grill in seine Richtung strömte, ließ seinen Magen vernehmlich knurren. »Dad, ich verhungere langsam«, rief er Mikael zu, der am Grill am anderen Ende des Gartens stand und daraufhin lachte.

»Jammerlappen«, rief sein Vater feixend zurück, was Kilian mit einem »Pfft.« kommentierte, das nun wiederum die Zwillinge lachen ließ.

»Ruhe auf den billigen Plätzen«, grollte er gespielt ins Telefon, was weder bei Liam noch bei Noah Eindruck hinterließ.

Drei Wochen war der Diebstahl mittlerweile her und heute hatten sie die Verhandlung deswegen hinter sich gebracht, die, Nick und Adrian sei Dank, mit einer Geldstrafe für jeden erledigt gewesen war. Kilian störten die 6.500 Dollar nicht. Es war zwar viel Geld, aber er hätte ohne zu murren das Doppelte bezahlt. Ihm war wichtiger, dass die Sache endgültig hinter ihm lag und er nicht ins Gefängnis musste. Diese Vorstellung hatte in den letzten Wochen für einige schlaflose Nächte bei ihm gesorgt. Aber das war ab heute hoffentlich vorbei.

»Was war denn jetzt mit dem Wagen?«, kam er wieder auf seine Frage zurück.

»Och, nicht so wichtig«, wich Liam aus und Kilian lachte.

Er wollte es gar nicht so genau wissen. Die Zwillinge hatten ihre Väter in den ersten Jahren, nachdem sie zu Nick und Tristan gekommen waren, mehrfach an den Rand des Wahnsinns getrieben, und Kilian konnte sich recht gut vorstellen, wie oft sich die beiden ernsthaft gefragt hatten, ob ihre Zwillinge eine Strafe Gottes oder so etwas waren. Zumindest erinnerte er sich noch gut an mehrere Gespräche hier im Haus, wenn die Bande zu Besuch gewesen war, die sich um Versicherungen und Schadenersatz gedreht hatten.

»Ist bei euch jetzt wieder alles okay?«, wollte er wissen.

»Ja«, antwortete Liam und seufzte. »Sag mal, haben Onkel Mik und Onkel Colin bei dir damals eigentlich auch einen Aufstand gemacht, als du ausgezogen bist?«

Nanu? Standen bei den Kendalls Auszugspläne ins Haus? »Colin war anfangs natürlich nicht gerade begeistert, er gluckt ja gerne mal«, erzählte er. »Wollt ihr ausziehen?«

»Ich glucke nicht«, erklärte sein Vater im nächsten Moment, bevor Liam antworten konnte, und stellte einen Teller mit geschnittenem Gemüse auf den Tisch neben ihm, was die Zwillinge schallend lachen ließ. »Ich kann euch hören.«

»Ups«, erklärte Liam amüsiert und jetzt war es Kilian, der kicherte und den liebevollen Klaps auf den Kopf mit einer herausgestreckten Zunge in Colins Richtung kommentierte, was seinen Vater kopfschüttelnd grinsen ließ, bevor er zu Mikael ging und ihn küsste.

»Oha, Knutschalarm.«

»Ihhhh«, machten die Zwillinge synchron und Kilian prustete los. »Immer dieses Zungen verknoten, genauso wie bei unseren Dads.«

»Furchtbar, oder?«, neckte er Liam und Noah, was die natürlich prompt wieder lachen ließ. »Also? Was ist bei euch los? Wollt ihr ausziehen?«

»Ja.«

»Und wieso gibt es deswegen Stress?«, hakte er nach, denn das konnte unmöglich der einzige Grund für Liams Frage sein. Irgendetwas war in Baltimore im Busch, das spürte er.

»Na ja, es geht nicht grundsätzlich darum, dass wir ausziehen, sondern eher darum, wo wir hinziehen werden«, erklärte Liam ausweichend und aus Erfahrung wusste Kilian, jetzt kam es gleich ganz dick.

»Und?«, fragte er, als ihm die künstlerische Pause am anderen Ende der Leitung etwas zu lang dauerte.

»New York City.«

Kilian setzte sich abrupt auf. »New York?«, fragte er verdattert und laut, woraufhin Mikael und Colin überrascht zu ihm sahen. Er ignorierte ihre fragenden Blicke. »Was wollt ihr denn in New York City?«

»Leben? Vielleicht arbeiten? Spaß haben?«

Kilian blinzelte irritiert. »Könnt ihr das nicht in Baltimore?«

Liam seufzte. »Jetzt klingst du wie Dad.«

»Ich mein ja nur. Warum denn ausgerechnet New York?«

»Kilian, wir sind alt genug, um woanders hinzuziehen.«

Kilian seufzte. Natürlich waren die Brüder mit Mitte zwanzig alt genug, ihr eigenes Leben zu leben. Um ehrlich zu sein, wunderte ihn sowieso, dass Liam und Noah noch immer zusammen ein Zimmer bei Nick und Tristan bewohnten und sich trotzdem nicht ständig an die Gurgel gingen, so wie er selbst es von seiner Zeit bei David und Adrian erlebt hatte, in der Isabell und er sich jeden Morgen um das Badezimmer gezankt hatten. Er konnte aber auch Nick und Tristan verstehen, da er das Thema schon vor Jahren mit seinen eigenen Vätern durch hatte.

»Habt ihr schon einen Job in Aussicht?«

Liam lachte leise. »Warum glaubt eigentlich jeder, wir wollten sofort arbeiten gehen. Nein, darum geht es nicht. Eigentlich wollen wir uns erst mal eine Weile treiben lassen. Eine Auszeit nach unserem Studium. Wir hatten an ein Jahr gedacht, so lange wird das Geld in etwa reichen, das wir gespart haben.«

»Ach so.« Kilian schürzte die Lippen, als ihm ein Gedanke kam, der ihm in der Hinsicht gar nicht behagte. »Aber ihr zieht doch nicht nach Queens oder in die Bronx, oder?« Liam prustete los. »Das ist nicht lustig. New York City ist gefährlich. Na ja, manche Gegenden jedenfalls. Wann soll es denn losgehen?«

»Ähm ...«

Kilian roch den Braten sofort. »Wann, Liam?«

»Nächste Woche.«

»Nächste Woche?«, echote er empört und sprang auf. »Und das erzählt ihr mir erst heute?«

»Es hat sich irgendwie nicht ergeben«, murmelte Liam, was Kilian wütend schnauben ließ. Liam seufzte. »Ja, ich weiß, aber zwischen dem Schnapsladen, dem Anschreien und der tollen Aussicht auf Knast, fanden wir, es wäre ein ziemlich schlechter Zeitpunkt, um so eine Neuigkeit mitzuteilen.«

Kilian stöhnte laut und ließ sich wieder auf die Liege sinken. »Meine Fresse.«

»Was ist denn los?« Colin kam auf ihn zu und sah besorgt aus, als Kilian ihm nur das Telefon hinhielt. »Kilian?«

»Das sollen die beiden dir selbst erzählen. Ich brauche auf die Neuigkeit erst mal ein Bier.«

Colin sah ihn überrascht an und nahm das Telefon ans Ohr. »Liam? Was ist los?«

Kilian kam bis zur Terrassentür, dann schallte Colins entrüstetes »New York?« durch ihren Garten, was ihn grinsen ließ, während er in die Küche ging und sich ein Bier aus dem Kühlschrank nahm. Eine große Familie zu haben, in der jeder auf jeden aufpasste, konnte durchaus Nachteile haben. Und wenn es darum ging, dass die eigenen Kinder flügge wurden, gab es eigentlich nur Nachteile. Kilian lehnte sich gegen die Küchentheke und kicherte, als ihm einfiel, wie seine Väter ihn angegafft hatten, als er ihnen den Kaufvertrag für sein Haus gezeigt hatte, mit der Ankündigung nächsten Monat auszuziehen. Da war er fünfundzwanzig Jahre alt gewesen und gerade erst von David und Adrian zurück in sein Kinderzimmer gezogen, nachdem er sein Kunststudium abgeschlossen hatte.

Noch am gleichen Tag waren zwischen seinen und Isabells Vätern die Fetzen geflogen, da Adrian ihm beim Hauskauf geholfen und David das Geld vorgestreckt hatte. Heute hatte Kilian keine Schulden mehr bei David, denn seine Bilder brachten ihm genug Geld ein, um gut davon leben zu können. Und er schätzte, dass das auch einer der Hauptgründe war, warum Nick und Tristan von der New York Idee wenig begeistert waren, denn Liam und Noah wussten absolut nicht, was sie aus ihren Leben machen sollten. Mit Mitte zwanzig hatte er mit der Unterstützung von David bereits einen Fuß in der Tür mehrerer Galerien gehabt, die Zwillinge hingegen schienen sich einfach nicht entscheiden zu können. Trotz Studienabschlüssen in Kunst bei Noah und Sozialarbeit bei Liam. Das war zwar kein Drama, aber an Nick und Tristans Stelle hätte es ihn wohl auch ein wenig beunruhigt.

Mikael kam mit amüsiertem Blick in die Küche und nahm sich ebenfalls ein Bier, bevor er sich neben ihn stellte. »Colin ist in seinem Element.«

»Gluckt er?«, fragte Kilian belustigt.

»Und wie«, antwortete sein Vater. Sie lachten und stießen mit dem Bier an. »Ich schätze, Liam wird es Sam nachmachen.«

Kilian verschluckte sich an seinem Bier und fing an zu husten, um Mikael nebenbei verwundert anzusehen. »Wie kommst du darauf? Er hat Sozialarbeit studiert und nie etwas in Richtung Armee oder Marines erwähnt?«, fragte er, als er wieder genug Luft zum Reden hatte.

»Hast du vergessen, wie sehr er Sam ausgefragt hat?«

Kilian winkte ab. »Ginge es danach, müsste Noah längst einen Stapel Bilder gemalt haben.«

Mikael grinste. »Hat er doch.«

»Seine Graffiti?« Kilian verdrehte die Augen, als Mikael erneut nickte. »Ich sage nicht, dass das keine Kunst ist, immerhin hat er sein Studium mit Auszeichnung gemacht, aber gegenüber Nick sollten wir das besser nicht mehr erwähnen. Ihr letzter Streit nach den besprühten Bussen hat mir gereicht. Immerhin hatte ich sie danach zwei Wochen auf meiner Couch, weil Noah beleidigt war.«

Mikael zuckte die Schultern. »Nick sieht das zu eng. Allein schon aus dem Grund, weil die Stadt daraufhin noch mehr ihrer Busse mit Noahs Graffiti haben wollte. Ganz im Gegensatz zu dem sinnlosen Sprayen von Gangs, sehen Noahs Bilder gut aus. Ich glaube, Nick macht sich einfach zu viele Sorgen um seine Jungs. Ein Jahr New York City bringt sie nicht um.«

Da hatte sein Vater auch wieder recht. Noah hatte mit Farben und Pinseln nie etwas anfangen können. Erst als er Spraydosen in die Finger bekommen hatte, war er künstlerisch aufgeblüht. Liam hingegen fand alles interessant, was mit der Armee im Allgemeinen und dem Marines Corps im Speziellen zu tun hatte. Als Teenager war er daher alle Nase lang bei Sam zu finden gewesen, der ihn dann sogar mal auf seinen alten Stützpunkt mitgenommen hatte. Erst nach der Schule hatte sich das gelegt und schließlich war Liam an der gleichen Uni wie Noah aufgenommen worden und hatte sich komplett in den sozialen Bereich verliebt. Trotzdem machten die Brüder weiterhin alles zusammen, da wunderte Kilian auch nicht, dass sie gemeinsam nach New York City wollten.

Mikael stupste ihn in die Seite und stellte das Bier hinter sich auf die Theke. »Na los, lass uns deinem Vater das Telefon aus der Hand reißen und etwas essen, bevor alles kalt wird.«

Kilian grinste. »Er gluckt eben gerne.«

»Ich weiß.« Mikael zwinkerte ihm zu. »Und ich weiß auch, dass du heilfroh bist, dass er jetzt Liam und Noah im Visier hat und nicht dich.«

»Schamlose Unterstellung«, grollte er und schaffte es gerade so, nicht ertappt zusammenzuzucken.

Mikael lachte und verließ die Küche, was ihn zum Seufzen brachte. Sein Vater kannte ihn entschieden zu gut, aber das war ja nichts Neues. Andererseits, was konnte es Schöneres geben, als das Wissen, dass man so bedingungslos geliebt wurde? Kilian wusste es nicht und es interessierte ihn auch nicht. Er war derzeit glücklich und zufrieden. Vor allem, weil er vor drei Tagen endlich wieder seine Pinsel in die Hand genommen hatte. Wenn er jetzt noch ein saftiges Steak in die Finger bekam, würde diese Woche perfekt sein.

 

 

2. Kapitel

 

 

 

 

»Du bist so stur.« Kilian murmelte einen Fluch, als Adrian lachte. »Ich weiß nicht, was daran so lustig sein soll. Ich mache mir Sorgen um Alex und du findest das komisch?«

»Kilian ...«

»Komm mir nicht auf die Tour«, unterbrach er Adrian verärgert. »Ich bin doch nicht blöd. Du weißt was. Was ist es?«

»Hat dein Vater dich auf mich gehetzt?«, stellte Adrian eine Gegenfrage, anstatt seine zu beantworten, und Kilian hätte vor Wut fast das Telefon gegen die Wand geworfen.

»Das musste er gar nicht«, sagte er. »Die Aussage, dass du ihm nicht hilfst, Alex zu finden, war ausreichend.«

Adrian seufzte leise. »Kilian, ich habe Mikael nicht gesagt, dass ich ihm nicht helfe, sondern dass ich ihm nicht dabei helfe, Alex nachzuspionieren.«

»Das ist doch dasselbe«, schimpfte er und lief in seiner Küche wütend auf und ab.

»Ist es nicht«, hielt sein Onkel trocken dagegen.

Kilian stöhnte frustriert auf. Das Gespräch lief leider so, wie er es erwartet hatte, und das ärgerte ihn mehr, als er zugeben wollte. Er wollte doch nur wissen, ob Alex gesund und munter war, war das zu viel verlangt? Wieso schaltete Adrian in dieser Sache dermaßen auf stur? Irgendetwas war hier definitiv faul, er wusste nur nicht, wie er es aus Adrian rauskriegen sollte.

»Lebt er wenigstens noch?«, fragte er genervt und war heilfroh, als er dieses Mal eine Antwort bekam. »Immerhin etwas.« Kilian seufzte. »Wieso redest du nicht mit mir? Wir reden sonst auch über alles. Hat Alex irgendetwas angestellt?«

»Ich rede doch gerade mit dir«, wich Adrian zum x-ten Mal aus und Kilian verbot sich einen lästerlichen Fluch.

Adrian ließ ihn auflaufen, wie einen dummen Bengel. Das hatte er schon seit Jahren nicht mehr gemacht und Kilian war klar, wenn er nicht bald aufhörte mit den Fragen, würden zwischen ihnen die Fetzen fliegen. Er sah in den Kühlschrank, weil er jetzt dringend etwas Süßes brauchte. Nur hatte er vergessen einzukaufen und daher herrschte in seinem Kühlschrank wieder einmal gähnende Leere. Kilian gab es auf. Seine Laune war sowieso schon im Keller, da half auch kein Einkauf mehr. Er musste hier raus und sich austoben. Gott sei Dank war Freitagabend. Es würde nicht schwer werden, in einem Club jemanden aufzutreiben, mit dem er seinen Frust loswerden konnte. Allerdings würde er Adrian vorher noch eins reinwürgen, so viel Zeit musste sein.

»Ich muss einkaufen«, sagte er und warf die Kühlschranktür zu. »Und wenn ich schon dabei bin, besorge ich gleich eine Briefbombe und schicke sie dir.«

Jetzt war es Adrian, der stöhnte. »Kilian, Alex ist alt genug. Er hat Gründe und die wird er dir sagen, wenn er soweit ist.«

Das war nicht die Antwort, die er hatte hören wollen. »Ich könnte dich erwürgen«, grollte er halbherzig, was Adrian mit einem Lachen kommentierte. »Na schön«, schimpfte er daraufhin beleidigt. »Dann behalt deine Geheimnisse für dich und ich gehe jetzt aus, um mir einen netten Fick zu suchen.«

»Wo hast du bloß diese Ausdrucksweise her?«, fragte Adrian leise und gleichzeitig beunruhigt.

»Von der Straße«, feixte er, weil er wusste, dass Adrian sich darüber ärgern würde. Diese Zeiten waren zwar lange vorbei, aber die ersten Monate während seines Studiums in Baltimore, hatte er ein paar Mal mächtig über die Strenge geschlagen, was das bunte Nachtleben der Stadt anging. Das war allerdings nur so lange gut gegangen, bis er schließlich an den Falschen geraten und nach einer heftigen Schlägerei für eine Nacht im Krankenhaus gelandet war.

Danach hatten David und Adrian andere Seiten aufgezogen, um dafür zu sorgen, dass er sich benahm, und Kilian hatte mitgespielt. Nicht, weil er es unbedingt gewollt hatte, sondern weil Adrian ihn eiskalt damit erpresst hatte, seinen Vätern alles zu erzählen, wenn er nicht sofort mit seiner Rebellion aufhörte, und weil David ihm gedroht hatte, dafür zu sorgen, dass er als Künstler nie einen Fuß in die Tür bekam. Und das hatte gesessen. Er hatte aufgehört, sich wie ein verzogenes Kind zu benehmen, und sich um sein Studium gekümmert. Nur deshalb galt er heute, mit Anfang dreißig, als ein aufstrebendes Talent am Kunsthimmel. Ohne Adrian und David wäre es vielleicht nicht dazu gekommen.

Kilian verzog das Gesicht, weil er sich auf einmal schämte. »Entschuldige.«

»Du hättest in der Nacht sterben können, Kilian«, murmelte Adrian ernst. »Nutz das nie wieder aus, nur weil du mir eins reinzuwürgen willst, hast du verstanden?«

»Ja«, antwortete er und sah verlegen auf seine Füße, um mit den Zehen zu wackeln und zu grinsen, als ihm auffiel, dass er ein Loch in der linken Socke hatte. Es war dieselbe Socke, die er vor Wochen hatte wegwerfen wollen. »Ich habe ein Loch in meiner Socke, habe ich dir das schon erzählt?«

Adrian gluckste amüsiert. »Du bist wirklich ein Chaot. Sei nicht leichtsinnig heute Nacht, okay?«

»Bin ich nicht. Versprochen.«

»Ich hab dich lieb, Kleiner.«

»Ich dich auch, Onkel Adrian.«

 

Als Matt ihn in seine Wohnung ließ, wusste Kilian plötzlich, was ihn schon den gesamten Abend lang, im Hintergrund lauernd, irgendwie gestört hatte. So nett seine heutige Eroberung war und so gut er auch aussah, die erotischen Drucke an den Wänden, die schwarzen Möbel in seiner Wohnung und der jetzt fester werdende Griff um sein Handgelenk verrieten Kilian, dass ihr Abend und vor allem ihre Bekanntschaft hier und für immer zu Ende war. Matt war ein Spieler. Ein harter Spieler. Und das hieß für ihn: Finger weg. Kilian war beileibe kein Kostverächter und hatte bereits einige Dinge ausprobiert, von denen er Colin besser niemals erzählte, aber Matt wollte in seinen Augen eindeutig zu viel.

»Die Antwort ist Nein«, sagte Kilian und blieb stehen.

»Ich habe doch noch gar nicht gefragt.«

»Das musst du auch nicht.« Er erstarrte, als Matt ihm über den Rücken strich. »Kein Interesse.«

»Ach, komm schon. Ist doch nur Spaß. Wir kommen beide auf unsere Kosten.«

»Das glaube ich dir sogar.« Kilian warf einen Blick über die Schulter. »Aber ich sagte Nein, Matt, und das meinte ich auch so. Und jetzt lass mich auf der Stelle los.«

Matt studierte einen Moment sein Gesicht, danach nickte er und gab ihn frei, um anschließend von der immer noch offen stehenden Wohnungstür zurückzutreten. »Schade. Es hätte dir gefallen, Kilian.«

Kilian schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Spieler und vor allem bin ich kein Spielzeug. Für niemanden. Leb wohl, Matt.«

Er wollte keinerlei Zweifel aufkommen lassen, dass ihre Bekanntschaft damit beendet war, und Matt verstand ihn, denn er sagte kein Wort, schloss nur schweigend hinter ihm die Tür, als Kilian in den Flur getreten war. Er ging zurück zum Fahrstuhl und lehnte sich in selbigem gegen die Wand, um erst mal tief Luft zu holen. Das hätte schiefgehen können, den rein körperlich war Matt ihm haushoch überlegen gewesen. Aber Adrians und Davids Tipps in Sachen Spielen und deren Ablehnung waren wie immer Gold wert.

Ihm zitterten trotzdem die Hände, als er sich vor dem Haus ein Taxi nahm, fest entschlossen sich für die nächsten Wochen lieber von Clubs fernzuhalten. Mikael hatte recht. Er brauchte unbedingt einen Tapetenwechsel oder zumindest ein paar Tage Abstand von allem, was in letzter Zeit passiert war. Das Erlebnis eben sprach Bände, denn normalerweise erkannte er einen Spieler auf eine Meile Entfernung. Obwohl er wieder zeichnete und es ihm allgemein gut ging, der Gedanke an Alex ließ Kilian einfach nicht los. Und sein Telefonat mit Adrian heute hatte mit Sicherheit dazu beigetragen, dass er vorhin bei Matt nicht auf die Zeichen geachtet hatte.

Kilian bat den Taxifahrer auf ihn zu warten, als der vor seinem Haus hielt, und rannte nach drinnen, um das Nötigste für einige Tage einzupacken und zu seinen Vätern zu fahren. Vielleicht hatten Mikael und Colin einen Rat für ihn, wie er die Geschichte mit Alex endlich aus seinem Kopf bekam. Den Vorfall mit Matt würde er aber in Colins Anwesenheit besser nicht erwähnen. Sein Vater reagierte auf solche Vorfälle nicht sehr gut, seit er mit Anfang zwanzig nur mit Mühe und Not einer Vergewaltigung entgangen war. Kilian wollte die Erinnerungen daran nicht wecken, und außerdem war ihm ja nichts passiert.

 

»Kilian? Bist du das?«

So viel dazu, dass er sich unbemerkt ins Haus schleichen konnte. Wie machte Colin das nur immer? Manchmal hatte er das Gefühl, sein Vater hörte Flöhe husten. Zumindest hatte Mikael es früher immer so kommentiert, wenn er nachts nach Partys, die ein bisschen länger geworden waren als erlaubt, durch den Flur in sein Zimmer gewollt und Colin ihn regelmäßig dabei erwischt hatte.

»Ja, ich bin´s. Schlaft weiter.«

»Bleibst du länger?«

Kilian grinste. Die Frage war geradezu perfekt, um Colin zu ärgern. »Das kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Colin, wie alt musst du eigentlich werden, um nicht mehr darauf reinzufallen?«

»Dad!«, empörte er sich, woraufhin Mikael lachte und kurz darauf ging im Flur das Licht an, und er stand seinen Vätern gegenüber, die ihn angrinsten. »Ihr seid unmöglich«, grollte er und kämpfte gleichzeitig gegen den Drang, die beiden zu umarmen. Aber da er ziemlich nach Rauch stank, musste das nun wirklich nicht sein. »Kann ich schnell duschen? Ich wollte euch nicht wecken.«

»Natürlich, das weißt du doch.« Colin betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen und schien zufrieden. »Schlaf gut.«

»Ihr auch.«

Kilian verzog sich in sein altes Zimmer, räumte die Reisetasche aus, die er mitgebracht hatte, und ging duschen, um sich danach mit seinem Handy ins Bett zu verziehen, weil er nicht schlafen konnte. Aber wen durfte er mitten in der Nacht mit einem Anruf nerven? Na ja, eigentlich alle, wenn etwas los war, das wusste er, aber diese Sache mit Matt war kein Notfall. Er brauchte einfach nur jemanden zum Reden, weil er über solche Erlebnisse immer redete. Nur nicht mit seinen Vätern. Mikael hätte ihm zwar zugehört, aber das wäre heute Nacht etwas zu auffällig gewesen. Kilian lächelte, nachdem er einen Blick auf das Display geworfen hatte. Instinktiv hatte er schon die Nummer rausgesucht, die in fast allen Fällen seine allererste Anlaufstelle war, sobald er mit seinen Vätern über irgendetwas nicht reden konnte.

»Hey«, sagte er leise, als am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde.

»Kilian?« Der Frage folgte ein Gähnen, das ihn grinsen ließ. »Ist alles okay?«

»Ja.«

Kurzes Schweigen. »Willst du darüber reden?«

»Ja.«

»Warte kurz, ich gehe ins Atelier.«

»Schläft Adrian?«

»Träum weiter«, konterte David trocken, was Kilian leise lachen ließ. »Er fragt gerade, was los ist.«

Kilian überlegte kurz und zuckte dann die Schultern. Ob er es ihnen gleich zusammen erzählte oder David Adrian später auf den neuesten Stand brachte, kam ja ohnehin auf´s Gleiche raus. »Stellst du bitte auf Lautsprecher?« Er wartete, bis er das Okay bekam. »Ich habe heute Nacht jemanden kennengelernt. Matt. Er wollte spielen, Hardcore, ich nicht. Er ließ mich gehen, als ich ablehnte. Es ist nichts passiert.« Kilian warf einen Blick auf sein Handgelenk. »Ja, okay, ich kriege vielleicht blaue Flecken, aber sonst ...«

»Was für blaue Flecken?«, fuhr Adrian ihm so scharf dazwischen, dass er erschrocken zusammenzuckte. »Kilian?«

»Nur am Handgelenk«, antwortete Kilian und betete, dass Adrian das jetzt nicht unnötig aufbauschte. Er hörte David etwas sagen, aber der sprach zu leise, um seine Worte zu verstehen. »Matt hatte einen etwas zu festen Griff, mehr war nicht.« Als Adrian daraufhin tief einatmete, statt zu antworten, wurde Kilian nervös. »Adrian? Du wirst jetzt nicht einen auf FBI machen, kapiert?«

»Kilian ...«

»Ich bin zweiunddreißig Jahre alt und nicht zwölf. Außerdem habe ich nicht aufgepasst, sonst hätte ich früher gemerkt, wie er tickt. Er hat mich fest angefasst, das war´s. Mach daraus kein Drama, Onkel Adrian. Hätte Matt mir was getan, hätte ich ihn längst angezeigt, aber das hat er nicht.«

»Hm«, machte Adrian unentschlossen, was seine Wut sofort ins Nichts verpuffen ließ. Kilian wusste schließlich, dass seine Familie sich nur Sorgen machte. Sie übertrieben es allerdings manchmal, fand er.

»Kilian?«, fragte David leise und er wusste sofort, was sein Onkel wissen wollte.

»Mir geht es gut. Ich habe noch an der Tür gemerkt, was los ist und abgelehnt. Er ließ mich ohne Probleme gehen.«

Adrian seufzte tief und Kilian konnte ihn beinahe vor sich sehen, wie er sich mit der Hand durchs Haar fuhr. »Entschuldige. Ich kann bei so etwas nicht ruhig bleiben.«

Kilian lächelte. »Ich liebe dich auch, Onkel Adrian. David?«

»Ja?«

»Gib Adrian einen Kuss von mir.«

»Mit Zunge oder ohne?«

»Igitt«, antwortete er frech und grinste, als beide loslachten, bevor er mit einem »Ich hab euch lieb, aber beim Sex will ich euch nicht zuhören.« auflegte.

 

Es war beinahe Mittag, als Kilian am nächsten Tag aus dem Bett kam. Gähnend schlurfte er runter in die Küche, um nachzusehen, ob noch Kaffee da war, und entdeckte Colin, der am Küchentisch saß, Zeitung las und sich an einer Tasse festhielt, aus der es verführerisch duftete.

Ein Wochenende bei seinen Vätern. Wie sehr er es jedes Mal aufs Neue liebte. Das umsorgt werden, die frischen Brötchen, der Kaffee, die Gesellschaft seiner Väter. Einfach das ganze Paket. Es gab in Kilians Augen nichts Schöneres. Na gut, ihre Familientreffen vielleicht, wenn alle, aber auch wirklich alle, gemeinsam in einem Haus waren. Nach so einem Treffen war er zwar immer müde, taub und überfressen, aber Kilian liebte sie dennoch oder gerade aus dem Grund.

»Kaffee«, murmelte er begehrlich, was ihm ein Grinsen und ein Zwinkern einbrachte, bevor Colin zur Küchentheke deutete, auf der eine halb volle Kanne stand. »Du bist ein Gott.«

»Dad reicht völlig, aber danke.«

»Apropos ...« Kilian sah sich suchend um, während er sich eine Tasse aus dem Schrank nahm. »Wo ist ...?«

»Mik ist einkaufen. Wenn du Vielfraß wieder hier wohnst, reichen die Vorräte nicht.«

»Pah«, schmollte Kilian und setzte sich an den Tisch, während Colin ihn auslachte. »Das wirst du mir ewig vorhalten, oder? Dabei war ich fünfzehn und noch im Wachstum.«

»Deshalb hattest du ja auch ständig deinen Kopf im Kühlschrank«, neckte Colin ihn und blätterte zum Sportteil um.

»Das stimmt«, sagte Kilian amüsiert und fragte sich gleichzeitig, wie er es eigentlich geschafft hatte, so viel zu essen und trotzdem schlank zu bleiben, denn mit Sport hatte er noch nie viel am Hut gehabt.

Um ehrlich zu sein, hatte er allgemein nicht viel mit dem ganzen Körperkult am Hut. Natürlich sah er sich gerne schöne Männer an, die Muskeln an genau den richtigen Stellen hatten, aber deshalb gleich ins Fitnessstudio zu rennen, um selbst welche zu kriegen? Dafür war er viel zu faul. Da half er lieber seinem Vater und Devin beim hin und hertragen von Autoteilen in der Werkstatt oder rang sich, wenn er wirklich Lust hatte, ab und zu dazu durch, eine Runde zu joggen. Was alle Jubeljahre einmal vorkam, wenn überhaupt.

»Du zappelst zu viel herum«, sagte Colin in seine Gedanken hinein und Kilian sah ihn fragend an. »Deswegen bist du so dünn. Du kannst nie still sitzen, jedenfalls nicht oft.«

Colin hielt ihn für zu dünn? Kilian sah an sich herunter. Eigentlich fand er sich weder für zu dick noch für dünn. Er war ein durchschnittlicher Typ. Völlig normal. Gut, er hatte keinen Bauch oder kämpfte ständig mit zu engen Klamotten, aber dafür hatte er auch kein Sixpack. Wie gesagt, er war wie Millionen anderer Männer auch.

»Ich bin doch nicht zu dünn«, empörte er sich und runzelte die Stirn, als Colin grinste. »Was?«

»Ich habe nicht gesagt, du wärst zu dünn, sondern einfach dünn. Schlank. Nenn es, wie du willst.«

»Hm«, machte er und trank einen Schluck Kaffee, ehe sein Blick auf dem Brötchenkorb hängenblieb, der auf dem Tisch stand. »Ich könnte joggen gehen.«

Colin sah ihn verblüfft an. »Du hasst joggen.«

»Das stimmt nicht.«

»Okay, ich sage es anders, du meidest jede sportliche Betätigung wie der Teufel das Weihwasser. Einzige Ausnahme: Sex.«

»Wohl wahr.«

Colin lachte wieder und zeigte auf den Brötchenkorb. »Wie wäre es mit Frühstück? Oder gehst du gleich zum Mittagessen über? Mik will kochen.«

»Spaghetti mit Fleischbällchen?« Colins Blick war eindeutig und Kilian seufzte hingerissen. »Länger als eine Woche kann ich nicht bleiben, sonst passe ich in keine Hose mehr.«

Colin lachte los, um ihn im nächsten Moment entsetzt anzusehen. »Was ist mit deiner Hand passiert?«

Kilian sah verdattert auf seine ausgestreckte Hand, mit der er sich ein Brötchen hatte nehmen wollen, um seinen knurrenden Magen zu beruhigen, und entdeckte einige blauen Flecken, die sich letzte Nacht auf seinem Handgelenk gebildet hatten. Scheiße. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Jetzt saß er tief in der Tinte. Wie sollte er das Colin erklären?

»Ähm ...«

»Keine Ausflüchte, Kilian.« Sein Vater legte die Zeitung beiseite und sah ihn beunruhigt an. »Ich sehe, dass das ein Handgriff ist, also raus mit der Sprache. Bist du darum letzte Nacht hier ...« Colin brach ab und wurde bleich. »Kilian ...«

»Es ist nichts passiert«, wehrte er sofort ab, weil er wusste, was Colin jetzt durch den Kopf ging. »Jedenfalls nicht das, was du gerade denkst. Er hat mich sofort gehen lassen, als ich begriff, was er für die Nacht suchte, und ablehnte.«

»Wer?«

»Niemand. Eine Bekanntschaft in einem Club«, wehrte er ab, um das Schlimmste zu verhindern, obwohl Kilian aus Erfahrung wusste, dass es dafür längst zu spät war. »Dad, nicht.«

Colin schüttelte den Kopf und zeigte auf seine Hand. »Und was hat diese Bekanntschaft davor mit dir angestellt? Hast du etwa noch mehr solcher Spuren auf dir?«

»Dad ...«

»Sag mir die Wahrheit!«, fuhr Colin ihn an und Kilian zuckte zusammen, woraufhin Colin ihn fassungslos ansah, weil er diese Geste natürlich völlig missverstand. »Oh mein Gott.«

»Dad, hör auf. Ich ...«

»Was ist denn hier los?«, fragte auf einmal Mikael von der Tür her und runzelte misstrauisch die Stirn. »Kilian?«

Das hatte er wirklich super hinbekommen. Kilian seufzte. »Hier ist gar nichts los. Dad übertreibt.«

»Ich übertreibe nicht im Geringsten« Colin deutete auf seine Hand. »Sieh dir sein Handgelenk an, Mik.«

Mikael tat es, dann blieb ihm sichtlich schockiert der Mund offen stehen. »Kilian?«

»Himmel«, stöhnte er und stand auf, um Mikael die vollen Einkaufstüten abzunehmen, die der in den Händen hielt, und sie auf den Küchentisch zu stellen, wo er anfing sie auszuräumen. »Ich habe gestern Abend einen Spieler getroffen. Er wollte Sex, ich nicht, nachdem ich erkannte, worauf er aus war. Ich lehnte ab, er ließ mich gehen. Ende der Geschichte. Die blauen Flecken sind von Matts Handgriff, der ein bisschen fester war, aber das ist auch alles. Es ist nichts passiert.«

»Matt?«

»Ja, Matt«, nickte er, dann fiel der Groschen und er sah Colin böse an. »Vergiss es. Ich sage dir seinen Nachnamen nicht.«

»Kilian!«

»Dad!« Er sah auffordernd zu Mikael. »Tu was.«

»Rede nicht über mich, als wäre ich nicht da!«, fluchte Colin und das brachte Kilian erst recht auf die Palme.

»Dann benimm dich nicht so!«

»So?« Colin sprang vom Tisch auf. »Ich mache mir Sorgen um dich und du nennst das 'so'?«

»Ich schrei gleich«, schimpfte Kilian und fuhr sich frustriert durch die Haare, bevor er seine Kaffeetasse nahm und an Mikael vorbei aus der Küche verschwand.

»Kilian?«, rief sein Vater ihm verärgert nach. »Komm sofort wieder her.«

»Ich komme erst zurück, wenn du dich abgeregt hast!«, rief er und eilte nach oben in sein Zimmer, um die Tür hinter sich zuzuwerfen. »Verflixt noch mal«, fluchte er dann lautstark. »Jedes Mal läuft das so ab.« Kilian sah wütend auf die Tür. »Wieso glaubst du mir nie, wenn ich dir sage, dass nichts war?«, schrie er und hätte am liebsten die Tasse an die Tür geworfen. Er tat es nicht, da er sich die Antwort auf seine Frage selbst geben konnte, denn Colin war nun mal sein Vater und hatte sehr schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht, die er niemals in seinem Leben vergessen würde. »Scheiße.«

 

Auf das Klopfen an seiner Tür, eine halbe Stunde später, reagierte Kilian mit einem trotzigen Blick, inklusive einem »Haut ab!«, ehe er sich auf dem Bett zum Fenster drehte. Das war albern und kindisch, aber irgendwie wollte er heute albern und kindisch sein. Das hielt seinen Besucher nur leider nicht davon ab, ihm auf die Nerven zu gehen, denn kurz darauf wurde die Tür geöffnet.

»Du schmollst ja wirklich.«

»Devin!« Kilian drehte sich um und sprang grinsend vom Bett, um Devin zu umarmen, der ihm lachend in die Seite boxte und ihn danach ebenfalls umarmte. »Was machst du hier?«

»Mir ein leckeres Essen schnorren, wie immer an den Wochenenden«, antwortete Devin grinsend und rollte ins Zimmer, nachdem Kilian von ihm abgelassen hatte. »Sam hat mich vor einigen Minuten abgesetzt, er und Nathan besorgen noch was für Amber, frag mich nicht. Sie hat letzte Woche einen Zettel da gelassen, voll mit Kram, den sie unbedingt und am besten gestern fürs Studium braucht. Was muss das Mädel auch Wissenschaftlerin werden. Ich verstehe jedes Mal nur Bahnhof, wenn sie uns Neuigkeiten von der Uni erzählt.«

Kilian kicherte unwillkürlich. »Frag mal meine Väter über Kunst aus.«

Devin lachte leise und sah ihn dann schmunzelnd an. »Deinem Vater zufolge, müsstest du halb tot in der Ecke liegen.«

Wieso wunderte ihn das nicht? Kilian stöhnte auf. »Muss er immer so übertreiben? Es ist nichts passiert. Wirklich nicht.«

»Außer blauen Flecken.«

»Ein Versehen.«

Devin nickte. »Du weißt das, ich weiß das, Mikael weiß das. Colin weiß es auch, aber er kann bei solchen Dingen nicht aus seiner Haut. Dabei ist es völlig egal, dass er eine Therapie gemacht und Mikael das Ganze bis ins kleinste Detail erzählt hat. Er wird immer so überzogen reagieren, ganz besonders, wenn du im Spiel bist.«

Damit erzählte Devin ihm nichts Neues. Kilian seufzte tief. »Ich kriege jedes Mal die Krise, wenn er das macht. Ich weiß, er meint es nicht böse, aber er gibt mir damit einfach das Gefühl, dass er mir nie glaubt, dass nichts passiert ist. Das macht mich verrückt.«

»Colin hat Angst um dich, Kilian. Er wird immer Angst um dich haben.«

Auch damit sagte Devin ihm nichts Neues. »Ich weiß.« Kilian zog einen Flunsch. »Es würde mich wahrscheinlich weniger ärgern, wenn ich mir dabei nicht immer vorkäme, als wäre ich plötzlich wieder fünfzehn.«

»Für deinen Dad wirst du immer fünfzehn bleiben.« Devin lachte, als er schnaubte. »Ich weiß, ich weiß, Kinder müssen erwachsen werden und sie müssen aus dem Haus. Aber Amber kann erwachsen sein, soviel sie will, für mich ist sie mein kleines Mädchen. Gleiches wird für Nathan gelten, sobald er erwachsen ist. Ihr seid nun mal unsere Kinder, und so wie ich in Amber und Nate immer meine Babys sehen werde, wird Colin in dir immer seinen Jungen sehen. Mikael denkt das übrigens auch, er kann es nur besser verbergen.«

»Devin ...«, stöhnte er und ließ sich aufs Bett sinken. »Ich liebe euch wirklich, aber manchmal möchte ich euch am liebsten irgendwo einbuddeln.«

»Den Spruch kenne ich. Den gibt meine Kleine auch immer zum Besten, wenn Sam sie über ihre Freunde ausfragt«, konterte Devin belustigt, was Kilian aufhorchen ließ.

»Hat sie wieder einen?«, fragte er, doch statt einer Antwort grinste Devin nur. »Aha. Das heißt, sie hat. Weißt du was?«

»Nicht mehr als du, leider.« Devin verdrehte seufzend die Augen. »Sie hält ihn versteckt, weil wir ihn angeblich verschrecken würden. Deswegen bringt sie ihn auch noch nicht mit zu uns nach Hause.«

»Habt ihr Nate auf sie angesetzt?«, fragte er belustigt, denn das war seit Jahren eine übliche Tour von Samuel und Devin, sobald Amber einen neuen Freund hatte und nicht über ihn reden wollte.

Devin gluckste. »Hat Sam versucht, aber Nate ist zehn Jahre alt und mittlerweile auf der Seite seiner großen Schwester.«

»Mist.«

»Wem sagst du das«, seufzte Devin.

»Wir haben also nicht einmal seinen Namen?«, fasste Kilian zusammen und Devin nickte.

»Nope. Nada. Nix.« Devin hob hilflos beide Arme und lachte los, als Kilian enttäuscht aufseufzte. »Behaupte du noch mal, dass wir Klatschtanten wären. Du bist keinen Deut besser.«

»Na und?«, stichelte er und sie lachten, bis ein Klopfen am Türrahmen Kilian aufsehen ließ. Colin und Mikael standen in der Tür und Colin warf ihm einen sehr verlegenen Blick zu. Kilian grinste. Devin war wie immer genau zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen, denn sein Ärger auf Colin war längst verpufft. Eines gab es aber noch zu tun. Er sah seinen Vater streng an. »Es tut mir wirklich leid, Kilian, und ich werde es niemals wieder tun. Sag es.«

Colin erwiderte das Grinsen. »Es tut mir wirklich leid, mein Sohn, und ich werde es immer wieder tun.«

»Dad!«

Devin, Mikael und Colin lachten los, was ihn die Augen zur Decke verdrehen ließ. Irrenhaus. Eindeutig Irrenhaus. Aber er liebte es, weil es eben sein Irrenhaus war.

 

 

3. Kapitel

 

 

 

 

Zwei Wochen später saß Kilian im Dark Seven, einem großen Nachtclub etwas außerhalb seines üblichen Jagdreviers, an der Bar und sah sich suchend nach einer passenden Bekanntschaft für die Nacht um.

Das Geschlecht war ihm dabei egal, er wollte nur Druck abbauen, und zwar jede Menge, da die Überfürsorge seiner Väter ihn vor einer Stunde im Eilschritt aus dem Haus getrieben hatte. Es war Zeit, dass er zurück in sein eigenes Haus zog, bevor Colin und Mikael noch anfingen, ihm Ratschläge fürs Leben zu geben. Gut, das machten sie sowieso in regelmäßigen Abständen und allgemein störte er sich nicht daran, aber im Augenblick konnte er keinen einzigen mehr hören. So gerne er seine Väter um sich hatte, Kilian fehlte der Freiraum, den er bei sich zu Hause hatte.

Da gab es niemanden, der an seine Zimmertür klopfte und fragte, ob er zum Essen runterkam. Niemand holte ungefragt seine dreckige Wäsche aus dem Zimmer, und niemand störte sich daran, dass dreckiges Geschirr tagelang in der Spüle oder sonst wo herumstand. Es war schön, umsorgt zu werden, keine Frage, aber er wollte wieder nach Hause. Morgen würde er seine Tasche packen und gehen, um in seinem gewohnten Chaos zu versinken und dann darauf zu warten, dass Colin oder Mikael bei ihm reinschneiten, um ihm nach einem langen Rundum-Blick amüsiert zu erklären, dass er ein Chaot war. Kilian grinste, als ihm Colins Seufzen und Mikaels Kopfschütteln einfiel, die typischen Gesten seiner Väter für diese Gelegenheiten. Er liebte sie wirklich, über alles, obwohl sie ihm heute schwer auf die Nerven gegangen waren.

»Na holla«, murmelte ein Mann neben ihm an der Bar, den Blick auf den Eingang gerichtet.

Kilian war neugierig genug, um von seinem Bier abzulassen und dem Blick zu folgen. Wow, war sein erster Gedanke. Höllisch heiß, der zweite, wobei heiß es nicht mal ansatzweise traf. Der Mann, der gerade den Club betrat, brauchte für sich mit Sicherheit einen Waffenschein. Mehr als 1,80m groß, kurzes Haar und wache Augen, die jetzt den Club ausführlich unter die Lupe nahmen. Der Kerl war ein Jäger wie er, erkannte Kilian und betrachtete den Unbekannten genau. Sexy und echt gut gebaut, stellte er fest und ließ seinen Blick ganz langsam über das eng anliegende schwarze Shirt wandern, das zwei trainierte Oberarme ausgesprochen gut zur Geltung brachte, um sich dann genüsslich den Rest anzusehen, der in einer tief auf den Hüften sitzenden, schwarzen Jeans steckte. Lange Beine, Boots, ein weißer Gürtel mit aufgesetzten Nieten.

Verdammt lecker, entschied Kilian und leckte sich über die Lippen, als sein Blick den des Fremden kreuzte, der längst von allen Seiten angestarrt wurde. Bei Alex hatte diese Taktik funktioniert. Mister Sexy entlockte sie ein Lächeln, aber es war eines von der Sorte Okay, überzeug mich, was Kilian innerlich lachen ließ, bevor er sich demonstrativ wieder der Bar zuwandte, den Mann dabei aber über den Spiegel an der Wand gegenüber im Auge behielt. Das tat der im Übrigen auch, inklusive eines weiteren Lächelns, während er langsam in seine Richtung kam.

Neidvolle Blicke wurden Kilian von allen Seiten zugeworfen, was er verstehen konnte, denn hätte Mister Sexy sich anderweitig umgesehen, wäre er ebenso neidisch gewesen. Stattdessen zitterten seine Nerven vor Anspannung, als der Mann hinter ihm stehenblieb, um ihn herum griff und sich das Bier klaute, um dann einen Schluck zu nehmen. Dabei ließ er keine Sekunde den Blickkontakt zu ihm fallen und Kilian begann auf dem Barhocker herumzurutschen, weil er auf einmal unglaublich nervös wurde.

Was, wenn der Typ wie Matt war?

Die Frage bewirkte in Kilian dasselbe, als hätte ihm jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Er wich instinktiv zur Seite, als der Mann das Bier zurückstellte, kam aber nicht dazu, vom Barhocker zu rutschen und zu flüchten, da im nächsten Augenblick zwei Arme um seinen Bauch lagen. Fest, aber nicht festhaltend. Eher beschützend.

»Schlechte Erfahrungen gemacht in letzter Zeit?«, fragte der Fremde leise. Kilian sparte sich die Suche nach einem lockeren Spruch und nickte einfach. »Ich hoffe, du hast ihm dafür kräftig in den Arsch getreten.«

»War nicht nötig. Er hat es vorher verstanden.«

»Was hat er verstanden?«

»Dass ich kein Spielzeug bin.«

Mister Sexy nickte zufrieden. »Und ich bin kein Spieler.«

Kilian glaubte ihm. Warum, das wusste er nicht, aber er tat es und entspannte sich langsam wieder. »Bist du Kubaner?«, fragte er interessiert, denn die dunklere Haut des Mannes war ihm bei dessen Eintreffen im Club sofort aufgefallen.

»Zur Hälfte. Stört dich das?«

Und das war eindeutig eine Fangfrage. Sein Gegenüber hatte mit Männern, wahrscheinlich mit Weißen, offenbar auch seine schlechte Erfahrungen gemacht und wollte daher sofort die Fronten klären. Kilian hob die Flasche und prostete dem Mann durch den Spiegel hinweg zu. »Nein. Ich bin Kilian.«

»Dale.« Der Mann sah auf seine Flasche und warf ihm dann einen fragenden Blick zu. »Trinkst du nur oder tanzt du auch?«

»Kannst du denn tanzen?«, stellte er eine Gegenfrage, was ihm einen amüsierten Blick einbrachte, bevor Dale ihm zum zweiten Mal heute das Bier aus der Hand nahm und es auf die Theke stellte. Dass er sich dabei kurz an ihm rieb, konnte ein Zufall sein. Das freche Lächeln sprach jedoch dagegen. »Mach das noch ein paar Mal und wir können das Tanzen lassen.«

»Was? Das?« Dale ging erneut auf Tuchfühlung und Kilian schnappte nach Luft, als schlanke Finger dabei spielerisch über seine Leiste strichen. »Interessiert?«

Und ob er an Mister Sexy interessiert war. »Du hast keine Vorstellung wie sehr.«

»Dann lass uns tanzen und dabei die Details deiner Kapitulation besprechen«

Kilian musste lachen. Er genoss den angenehmen Schauer, der über seinen Rücken rann, als er Dales ausgestreckte Hand nahm und sich auf die volle Tanzfläche ziehen ließ. Scheinbar war seine Suche nach einer Begleitung für die Nacht soeben zu Ende gegangen, und er hatte nichts dagegen. Kilian hatte auch nichts gegen das Tanzen auf Tuchfühlung, weil für etwas anderes kein Platz war. So konnte er genüsslich mit seinen Fingern über Dales Rücken fahren und dessen Wirbelsäule erkunden. Als Dale ihn warnend ansah, gab er sich total unschuldig, verschränkte aber gleichzeitig seine Hände in Dales Nacken.

»Hast du eigentlich einen Waffenschein für dich?«, wollte Dale im nächsten Moment wissen und schmunzelte, als Kilian grinste. »Ich schätze, das heißt nein.«

Kilian sah Dale in die Augen, während sie sich eng aneinander geschmiegt auf der vollen Tanzfläche bewegten. Ein ruhiger Song von Gavin Rossdale lief an und die Tanzfläche füllte sich mit weiteren Pärchen oder solchen, die es für die Nacht vielleicht werden würden. So wie sie selbst, und Kilian fand es perfekt, dass Dale und er in etwa gleichgroß waren.

»Brauche ich denn einen?«

Dale beugte sich vor, bis ihre Münder nur noch wenige Millimeter voneinander trennten. »Hast du eine Ahnung, wie viele Männer hier gerade mit mir tauschen wollen?«

»Das musst du gerade sagen, Mister Sexy auf zwei Beinen«, konterte er trocken, was nun Dale grinsen ließ, bevor der sagte: »Mein Shirt hat aber nicht eintausend Löcher und meine Hose wird auch nicht nur vom Gürtel gehalten.«

»Ich mag es eben luftig«, tat Kilian harmlos, obwohl er genau wusste, wie er heute aussah. Dafür hatte er schließlich eine Weile vor dem Spiegel gestanden. Und so wie Dales Hände auf seinem Rücken lagen, hatte er sein Outfit aus einem löchrigen Shirt und der locker sitzenden Jeans genau richtig gewählt.

»Das scheint deinen Brustwarzen zu gefallen.«

»Nur meinen Brustwarzen?«, fragte er und Dales Blick war eindeutig. »Wir könnten gehen«, schlug er leise vor, was mit einem weiteren Lächeln beantwortet wurde, ehe Dale sich zu seinem Ohr beugte.

»Wir gehen, wenn du so heiß bist, dass du nicht mehr klar denken kannst.«

Wenn es danach ging, wären sie längst nicht mehr im Club. Kilian befeuchtete seine Lippen und beugte sich dann seinerseits zu Dale vor, um dem etwas ins Ohr zu flüstern, was nicht für die anderen Clubbesucher gedacht war und mit einem eindeutig gequälten Stöhnen beantwortet wurde, bevor Dale ihn fragend ansah.

»Gar nichts?«

Kilian grinste und rieb sich an Dale. »Prüf es nach.«

Das tat Dale dann auch, und als er feststellte, dass er wirklich keine Unterwäsche trug, war das neckische Geplänkel zwischen ihnen plötzlich vorbei. Kilian erkannte es an Dales Blick, aber auch daran, dass der ihn noch ein Stück näher zog. Kein Blatt hätte mehr zwischen sie gepasst. Nicht dass es ihn störte. Das Gegenteil war der Fall, denn es war allein Dales Kleidung, die Kilian im Moment noch davon abhielt, über den herzufallen, was Dale auch wusste, so wie er ihn gerade anschaute. Kilian verlor die Geduld.

»Zu mir oder zu dir?«

»Was für ein Klischee«, antwortete Dale, was ihn glucksen ließ und ihm gleichzeitig eine Gänsehaut bescherte. Dales tiefe Stimme war verdammt erotisch, fand Kilian. Im nächsten Moment fiel ihm wieder ein, wo er gerade schlief.

»Vergiss die Frage, zu mir geht nicht. Ich schlafe momentan bei meinen Vätern.« Und er hatte keine Lust, sich erst ins Haus zu schleichen, dabei garantiert von seinen Vätern erwischt zu werden, tausend peinliche Fragen beantworten zu müssen, um dann aus seinem alten Zimmer den Schlüssel von seinem eigenen Haus zu holen.

»Väter?« Dale sah ihn neugierig an. »Mehrzahl?«

»Genau zwei an der Zahl und beide sind wahnsinnig neugierig, was mein Liebesleben betrifft.«

Dale grinste. »Faszinierend. Gut, dann zu mir.«

 

Dale schlief noch, als er wach wurde, was Kilian ausnutzte, denn er musste ihn unbedingt sofort malen.

Die Decke bis zum Hintern heruntergerutscht, lag Dale neben ihm auf dem Bauch und sah zum Anbeißen aus. Kilian hätte zu gerne ein wenig an Dale geknabbert, wie er es in der letzten Nacht getan hatte, aber er wollte ihn nicht aufwecken, also schlich er vorsichtig aus dem Bett, um nach einem Blatt Papier und einem Stift zu suchen. Im Wohnzimmer wurde er fündig. Auf dem Tisch lagen ein Block und obendrauf sogar ein Kugelschreiber. Ein weicher Bleistift war ihm für das Zeichnen von Portraits zwar lieber, aber man konnte nicht alles haben.

»Was machst du?«, fragte Dale verschlafen, als Kilian eben mit den ersten Konturen fertig war, und drehte sich mit einem Gähnen auf die Seite. »Mhm, du sitzt splitterfasernackt neben mir im Bett, ich könnte auf Ideen kommen.«

»Ideen?«, fragte er amüsiert und fing Dales Gesicht ein. Die dunklen Augen, noch nicht ganz wach, die kurzen Haare, vom Schlaf zerzaust, und der erste Schatten eines Bartes. Wunderschön, dachte Kilian, den Blick auf Dales Lippen gerichtet, die sich jetzt zu einem verheißungsvollen Lächeln verzogen. »Bleib genau so. Nur für eine Minute«, bat er und Dale verharrte tatsächlich. Der Kugelschreiber flog förmlich über das Papier und er zog einen Strich nach dem anderen, bis er zufrieden war, und Dale anlächelte. »Danke.«

»Was zeichnest du da?«

Kilian drehte den Block um und ließ Dale schauen, dessen Augen sich daraufhin erstaunt weiteten.

»Du bist ein Künstler?«

»Ja«, antwortete er und grinste, als Dale sichtbar versuchte, seinem Gesicht einen passenden Namen zuzuordnen. »McDermott«, kam er der Frage zuvor.

»Der irische Überflieger?«, fragte Dale verblüfft und brachte ihn damit zum Lachen.

»Das hast du gelesen? Oh Gott.«

Dale grinste und stützte sich seitlich auf. »Soll ich posieren, oder wie immer ihr Künstler das nennt?«

»Nein«, wehrte er amüsiert ab und drehte den Block wieder zu sich um. »Sei einfach natürlich.«

»Natürlich wach oder natürlich heiß?«

Kilian sah über den Rand des Blocks. »Wie dringend ist es denn?« Anstatt zu antworten, warf Dale die Bettdecke beiseite, und was er dann sah, war mehr als dringend. Kilian legte den Block und den Stift auf den Nachttisch und rückte zu Dale auf. »Tut das nicht weh?«

Dale zog ihn auf seinen Schoß. »Sogar sehr.«

»Ich kenne da eine Therapie ...«, murmelte er und stöhnte auf, als Dale eine Hand zwischen sie schob, um ihn zu streicheln. »Mir scheint, du kennst sie auch.«

»Interessiert?«

 

»Wow«, machte Mikael und grinste, als Kilian drei Stunden später in die Küche seiner Väter kam.

Er hatte sich mit Mühe und Not von Dale losreißen können, und der hatte Kilian nur gehen lassen, nachdem er ihm hoch und heilig versprochen hatte, heute Abend wiederzukommen. Kilian hatte zwar eigentlich nichts dergleichen vor, das ging ihm zu schnell, aber da war irgendetwas an Dale, das ihn anzog. Vielleicht würde er doch gehen, einfach um zu sehen, was passierte. Aber jetzt wollte er erst mal in Erfahrung bringen, was seinen Vater so amüsierte und sah den fragend an.

»Was ist?«

Das schien Colin im Übrigen auch wissen zu wollen, denn er sah zuerst Mikael an, danach ihn und runzelte im nächsten Augenblick die Stirn. »Ähm ...«

Weiter kam sein Vater nicht, denn in der Sekunde betraten Samuel und Devin die Küche. Devin hielt mehrere volle Tüten vom Bäcker hoch, aus denen es verführerisch duftete, und Kilians Magen knurrte vernehmlich.

»Hey, wir haben unseren Sohn für ein paar Stunden an die Nachbarn verkauft. Habt ihr Lust auf Frühstück? Wir waren eben in ...« Devin brach ab und sah ihn an, um dann süffisant zu grinsen. »Na holla.«

»Was ist?« Kilian sah ratlos an sich hinunter. »Habe ich was an mir, oder wieso guckt ihr alle so?«, wollte er wissen und sah wieder in die Runde.

»Heiße Nacht gehabt, was?«, fragte Samuel frech und Kilian blieb der Mund offen stehen, während er gleichzeitig knallrot anlief.

»Sam!«, zischte Colin, was den allerdings in Gelächter ausbrechen ließ.

»Woher wisst ihr das denn?«, fragte Kilian fassungslos.

»Du siehst irgendwie befriedigt aus«, antwortete Mikael belustigt und Kilian spürte, wie er noch röter wurde.

»Das sieht man mir an? Oh Gott, ich geh mich erschießen.«

Devin und Mikael fielen in Samuels Gelächter ein, während Colin ihn einer intensiven Musterung unterzog. Kilian fühlte sich auf einmal nackt. So hatte sein Vater ihn das letzte Mal nach der Sache mit Matt angesehen und es gefiel ihm gar nicht. Vor allem, da er wusste, was gleich passierte, wenn er seinen Colin nicht umgehend davon abhielt, ein Verhör zu starten.

»Dad, lass das!«, befahl er und verschränkte seine Arme vor der Brust. Langsam wurde das Ganze peinlich. »Und spar dir jede Frage dazu.«

»Mann oder Frau?«

»Dad!« Jetzt fing auch noch Colin an zu grinsen, was Kilian stöhnen ließ. »Na schön. Ich hatte eine verdammt heiße Nacht mit einem verdammt heißen Kerl, zufrieden?« Er klaute Colin die Kaffeetasse, die der in der Hand hielt, und machte kehrt. »Das gibt es doch nicht. Jetzt sieht man mir schon an, wann ich Sex hatte«, fluchte er und ignorierte das daraufhin einsetzende schallende Gelächter hinter sich, während er nach oben in sein altes Zimmer flüchtete. Es war echt Zeit, dass er wieder in sein eigenes Haus zog.

Ein Räuspern an der Tür lenkte ihn nur wenig später von der Suche nach seinem Hausschlüssel ab. Kilian sah zur Tür und seufzte tief auf. »Dad, muss das sein?«

Colin grinste schief und trat ins Zimmer. »Ich kann nicht anders. Das ist bei mir genetisch bedingt. Ich muss dich einfach von oben nach unten angucken und prüfen, ob wirklich alles okay ist, und wenn nicht, den Kerl ausfindig machen und ihn verprügeln.«

»Du hast Matt nicht verprügelt«, erinnerte er seinen Vater.

»Nur weil du mir seinen Namen nicht sagen wolltest«, konterte Colin beleidigt und da musste Kilian lachen, während er zugleich den Kopf schüttelte. Sein Vater war echt unmöglich. »Also? Wer ist der heiße Typ von letzter Nacht?«

»Er heißt Dale, ist zur Hälfte Kubaner, etwa mein Alter und sieht umwerfend aus.«

Colin schmunzelte. »Ich muss ihn also nicht verprügeln?«

»Nein«, gluckste Kilian und ließ sich auf sein Bett sinken. »Ich überlege noch, ob ich mich heute Abend wieder mit ihm treffen soll.«

»Ach ja?«, hakte sein Vater interessiert nach und kramte auf seinem Schreibtisch unter einem Stapel frisch gewaschener T-Shirts herum, wo er dann seinen Hausschlüssel zutage förderte. »Suchst du den?«

Kilian stöhnte und fing den Schlüssel auf, als Colin ihn ihm zuwarf. »Danke. Und was Dale angeht, er scheint nicht davonlaufen zu wollen wie Alex.«

Colin nickte, da er die unausgesprochenen Worte in diesem Satz sehr wohl verstanden hatte. »Um ehrlich zu sein, hatte ich das von Alex nicht erwartet. Keiner hat das. Auch Mik nicht.«

»Hat er was von ihm gehört?«

Colin seufzte und zuckte anschließend mit den Schultern. »Nur eine SMS, dass er nach Rom will, danach nach Mailand, und weiter nach Deutschland und England. Keiner weiß, was Alex sich dabei gedacht hat.« Colin runzelte die Stirn. »Mik ist ratlos und er macht sich gleichzeitig Vorwürfe.«

Kilian horchte auf. »Wieso das denn?«

»Weil er bei dir ins Haus geplatzt ist.«

Jetzt war es Kilian, der seufzte. »Dafür kann er doch nichts. Wir waren schließlich verabredet. Es ist einfach alles schiefgelaufen an dem Abend.«

»Alex hat dir mehr wehgetan, als du zugeben willst, nicht?«

Kilian ließ sich nach hinten sinken, bis er langgestreckt auf dem Bett lag. »Ich bin selbst schuld, Dad. Nun ja, zum Teil jedenfalls. Ich wusste nicht, was er mir bedeutet, bis er abgehauen ist. Jetzt ist es zu spät. Auch wenn ich mir trotzdem Gedanken mache.«

»Wegen Dale?«, fragte Colin und setzte sich neben ihn. Kilian sah ihn an.

»Vielleicht.«

»Wie ist er denn so?«

»Keine Ahnung. So gut kennen wir uns noch nicht.«

»Hm«, machte Colin unzufrieden, was Kilian kichern ließ. »Schon gut. Ob er darin gut ist, will ich nun wirklich nicht wissen.« Kilian grinste. »Also nur die letzte Nacht?«

»Bisher«, antwortete er, woraufhin Colin erneut ein »Hm.« von sich gab. Kilian sah ihn fragend an. »Was?«

»Was ist eigentlich aus Melanie geworden?« Kilian zuckte mit den Schultern, was Colin nicken ließ. »Verstehe.«

»Stört es dich?«

»Was?«, wollte sein Vater ratlos wissen.

»Dass Dale ein Mann ist?«, wurde Kilian genauer, weil ihm Colins Frage nach Melanie irgendwie komisch vorkam.

»Nein.« Colin sah ihn verdattert an. »Wie kommst du denn darauf?«

»Weil du gerade nach Melanie gefragt hast«, antwortete er und sein Vater lachte leise.

»Es stört mich nicht, dass du Männer und Frauen magst, das hat es nie. Ich habe nach Melanie gefragt, weil ich versuche mich irgendwie an das Thema Beziehung heranzutasten. Du scheinst solche Sachen immer ziemlich locker zu sehen.«

»Hä?«, machte Kilian ratlos, da er keine Ahnung hatte, was sein Vater meinte.

»Ich will nicht indiskret sein, aber ...«

»Dad? Wovon redest du eigentlich?«

Colin fuhr sich durch die Haare und setzte sich seitlich auf sein Bett, um ihn besser ansehen zu können. »Okay, ich wollte dich fragen, ob Alex schon da war, als du im Frühjahr angefangen hast, mit Melanie auszugehen?«

Kilian setzte sich abrupt auf. »Dad!«

Colin hob abwehrend seine Hände. »Das soll keine Beurteilung sein. Ich frage nur.«

»Und warum?«, fragte er verlegen und zugleich ein wenig verärgert, denn aus diesem Teil seines Privatlebens hielt er seine Väter allgemein heraus, weil das nur ihn etwas anging, fand Kilian. Es gab Dinge, die mussten Colin und Mikael nicht unbedingt wissen, und die Tatsache, dass er ab und zu zwei Affären gleichzeitig hatte, gehörte dazu. Solange alle Parteien voneinander wussten und damit einverstanden waren, fand Kilian an Dreiecksbeziehungen rein gar nichts verwerflich.

»Na ja ...« Sein Vater wich seinem Blick aus. »Na weil ... Oh Mann ...«

»Weil dein Vater gern wissen will, ob du öfters mehrere Affären nebeneinander hast, oder ob das mit Melanie und Alex eine Ausnahme war«, erklärte plötzlich Mikael und tauchte an der Tür auf.

Kilian schnaubte und erhob sich, um seine Reisetasche aus dem Schrank zu nehmen. »Bei aller Liebe, aber das geht euch überhaupt nichts an.«

»Also ja«, sagte Mikael daraufhin und Kilian verdrehte die Augen zur Decke, bevor er anfing zu packen. »Wusste Melanie Bescheid?«

Das ging jetzt eindeutig zu weit. »Dad!«, fluchte Kilian und warf eines seiner Shirts nach Mikael, der es lässig auffing. »Ich sagte schon, dass es euch nichts angeht, klar?«

»Wir wollten nur ...«

»Euch einmischen, wie üblich«, fuhr er Colin wütend über den Mund und machte im nächsten Moment eine abwinkende Handbewegung. »Und das zieht nicht mehr, seit ich mit siebzehn mit Josey im Mustang rumgemacht habe.« Colin klappte die Kinnlade runter, was Kilian grinsen ließ. »Ups.«

Mikael gluckste und warf ihm sein T-Shirt zurück, bevor er zu Colin aufschloss und den vom Bett zog. »Wir sollten besser gehen, bevor unser Sohn noch auf die glorreiche Idee kommt, mir haarklein davon zu erzählen, was er damals alles mit dem BMW angestellt hat.«

Kilian grinste süffisant und Colin stöhnte. »Ich könnte euch diese Sache mit Noah und Liam erzählen.«

»Die Zwillinge?«, fragten Mikael und Colin synchron und eindeutig schockiert und Kilian prustete los. Er war mit Noah und Liam mit dem BMW zwar nur im Autokino gewesen, um ein paar arrogante Schulkameraden von den Zwillingen zu beeindrucken, aber diese Retourkutsche hatten seine Väter mehr als verdient.

»Na warte, Frechdachs«, murrte Colin gespielt und stürzte sich auf ihn.

Kilian konnte nicht schnell genug ausweichen und lag im nächsten Moment auf seinem Bett, Colin über sich, der ihn kitzelte, bis ihm vor Lachen die Tränen übers Gesicht liefen. Und als sich dann auch noch Mikael der Folter anschloss, war alles zu spät. Er flehte um Gnade, als ihm vor lauter Lachen schließlich die Luft ausging, und dann lagen sie alle drei nebeneinander auf seinem Bett. Irrenhaus. Er lebte wahrlich und wahrhaftig in einem Irrenhaus. Kilian lachte leise und wischte sich dabei die Tränen aus dem Gesicht.

»Ja«, sagte er kurz darauf und sah zu Colin. »Melanie wusste Bescheid und es hat sie nie gestört. Ich habe immer alle Karten offen auf den Tisch gelegt, wenn ich zwei Affären zur selben Zeit laufen hatte.«

»Oh«, machte Colin unbehaglich. Sein Vater sah mit der Erkenntnis nicht sehr glücklich aus.

»Dad ...«

»Ist schon gut«, wehrte Colin verlegen ab. »Lass mir nur ein bisschen Zeit, mich daran zu gewöhnen, ja?«

Kilian schmunzelte. »Ich bin einfach nicht der Typ fürs Heiraten. Macht bitte keine große Sache daraus.«

»Hm«, machte Colin nur wieder und grinste, als Kilian ihm dafür gegen den Arm boxte. »Ich gebe mir Mühe.«

»Dad, ich bin zweiunddreißig Jahre alt. Denkst du echt, ich glaube noch an die Geschichte von Bienen und Blumen?«

»Man kann doch wohl hoffen, oder?«

Kilian lachte und sah zu Mikael, der schmunzelte. »Was?«

»Bist du glücklich?«

»Im Moment oder allgemein?«, stellte er eine Gegenfrage.

»Beides.«

Kilian zuckte die Schultern. »Es könnte besser laufen.« Sobald er eine Antwort auf die Frage fand, warum Alex verduftet war, würde es mit Sicherheit besser laufen, aber den Gedanken behielt er für sich.

»Vielleicht kann dein Dale dir dabei helfen.«

»Er ist nicht mein Dale«, widersprach Kilian und ertappte sich im nächsten Augenblick bei der Überlegung, wie es wohl wäre, wenn Dale in der kommenden Zeit zu ihm gehörte. Keine schlechte Vorstellung, aber irgendwie ängstigte sie ihn auch etwas. Kilian stand auf. »Ich muss jetzt los.«

»Wohin? Es ist Wochenende«, fragte Colin verwundert und Kilian sah ihn amüsiert an.

»Nach Hause. Bevor ihr noch auf die Idee kommt, diese Geschichte mit Derek näher beleuchten zu wollen.«

»Wer ist das?«, fragte sein Vater wie erwartet prompt und Mikael lachte los, wonach Colin völlig verständnislos die Stirn runzelte. »Was denn?«

Kilian gluckste. »Kennst du Adrian? Du weißt schon, dieser Anwalt, der immer über alles Bescheid weiß und sich gerne mal aufführt, wie eine Henne mit ihrem Ei?« Colin nickte, warf ihm aber gleichzeitig einen fragenden Blick zu. »Derek wusste zwar nicht über alles und jeden Bescheid, aber er war der erste für mich und er sah aus wie eine jüngere Version von Adrian.«

»Kilian«, murmelte Mikael amüsiert, als Colin wieder einmal der Mund offen stehen blieb.

»Was? Ihr habt gefragt«, konterte er trocken und schmunzelte bei der Erinnerung an seinen ersten Liebhaber. Derek hätte seinen Vätern als Freund überhaupt nicht gefallen, er hatte nämlich nur auf ersten Blick eine frappierende Ähnlichkeit mit Adrian gehabt. Auf den zweiten Blick hatte es dank unzähliger Tattoos, dem Tragen von Lederklamotten und dem ständigen Rauchen von Gras und allem möglichen anderen Kram, keinerlei weitere Ähnlichkeit mit Adrian gegeben. Gott sei Dank.

»Ich glaube, mehr will ich echt nicht wissen«, murmelte sein Vater schließlich und verdrehte seufzend die Augen zur Decke, als er dafür von Mikael ausgelacht wurde. »Ja, ich bin selbst schuld, ich weiß. Kilian, versprich mir bitte nur, dass du auf dich aufpasst.«

»Habe ich das nicht immer?«

Colin grinste. »Falls du Kondome oder Gleitgel brauchst ...«

»Oh Gott, ich muss echt hier abhauen«, stöhnte Kilian und seufzte, als seine Väter schallend zu lachen anfingen, während er seine restlichen Sachen in die Tasche packte und dann machte, dass er aus dem Haus kam, bevor er noch mehr hilfreiche Tipps für sein Sexleben bekam.

 

 

4. Kapitel

 

 

 

 

Was sollte er nur anziehen? Jeans und T-Shirt, so wie gestern, oder etwas anderes? Etwas edleres vielleicht?

Kilian starrte vollkommen ratlos auf seinen Kleiderschrank und griff schließlich zum Handy. Er wollte für Dale gut aussehen, und zwar richtig gut, wo er sich schon entschieden hatte, doch zu ihm zu gehen. Aber irgendwie hatte er plötzlich nichts zum Anziehen. Dabei war sein Schrank voll mit Kleidung. Angeblich war das doch ein Frauenproblem. Von wegen. Er konnte sich zwar auf die Schnelle nicht daran erinnern wegen Alex je so einen Aufstand gemacht zu haben, aber Alex und er kannten sich seit Jahren, das war etwas völlig anderes.

»Ich habe ein wahnsinnig heißes Date und ich weiß absolut nicht, was ich anziehen soll«, fiel Kilian jammernd mit der Tür ins Haus, als abgenommen wurde.

Niko lachte. »Hi, Bruderherz.«

»Selber hi, Brüderchen«, konterte er und grinste.

Im Gegensatz zu Alex und ihm, neckten Niko und er sich immer mit Bruderherz und Brüderchen, sobald sie sich trafen. Irgendwie war seine Verbindung zu Niko von vornherein anders gewesen, als die zu Alex, und Kilian war dankbar dafür. Obwohl Alex früher genauso dazugehört hatte wie später Liam und Noah, wenn sie zusammen in die Stadt gefahren waren, um einen Abend lang Party zu machen oder einfach nur eine Weile herumzuhängen, war Niko für ihn immer das gewesen, was einem Bruder am nächsten kam.

»Hast du eine neue Eroberung gemacht?«, fragte Niko neugierig und Kilian beschrieb ihm Dale, wonach Niko anerkennend durch die Zähne pfiff. »Heiß. Wirklich heiß. Du musst umwerfend aussehen.«

»Und das schaffe ich wie?«

»Hm ...« Niko überlegte einen Moment. »Hast du diese weiße Jeans noch? Die mit dem schwarzen Gürtel dazu?«

»Das ist eine gute Frage.« Kilian begann im Schrank herumzukramen und wurde schließlich fündig. »Ja.«

»Anziehen.«

Kilian lachte und stellte das Handy auf Lautsprecher, um sich die Hose anzuziehen. Kurz darauf stand er mit gerunzelter Stirn vorm Spiegel. Also entweder war das Teil eingelaufen, oder er selbst in den letzten Jahren einige Zentimeter gewachsen. Kilian betrachtete sich im Spiegel langsam von allen Seiten und schluckte. »Niko? Das sieht verboten aus.«

»Verboten geil?«

»Wenn die Bullen mich anhalten, lande ich im Knast wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses«, sagte er und Niko begann zu lachen. Kilian grinste und betrachtete seine eng anliegende Jeans, die wirklich tief auf den Hüften saß und keinen Zweifel zuließ, worauf er heute Nacht aus war. Unter der Hose konnte er sich Unterwäsche außerdem sparen und das wiederum würde Dale garantiert gefallen. »Okay, und sonst?«

»Das bordeauxfarbene Hemd.«

Kilian runzelte verwundert die Stirn. »Ich besitze kein bordeauxfarbenes Hemd.«

»Ich schon. Ich mach mich gleich auf den Weg.«

»Oh Mann«, murmelte Kilian, nachdem Niko aufgelegt hatte, und kicherte los, während er gleichzeitig anfing, nach dem schwarzen Gürtel zur Hose zu suchen.

 

»Du hast Recht, diese Hose sieht wirklich verboten aus«, erklärte Niko eine Stunde später zustimmend und warf ihm das Hemd zu. »Anziehen.«

Kilian tat es. Niko war ein Stück kleiner als er, aber da die Ärmel des Hemds kurz waren, fiel das nicht sonderlich auf. Bis auf eine Ausnahme und das bemerkte auch Niko gerade.

»Im Ganzen ein bisschen zu kurz, aber das heizt ihn mit Sicherheit nur an, wenn bei jeder Bewegung dein Bauchnabel zu sehen ist. So was würde jeden Typ anheizen, der dich ansieht.« Niko runzelte die Stirn, grinste aber schon im nächsten Augenblick dreckig. »Du solltest dich besser nicht bücken, bis du bei deinem Kerl angekommen bist.«

Kilian prustete los.

 

Dale öffnete ihm nach seinem zweiten Klopfen die Tür und das Lächeln in seinem Gesicht verblasste ebenso langsam, wie er seinen Blick über ihn wandern ließ. »Du willst mich umbringen, kann das sein?«

Genau so eine Reaktion hatte sich Kilian erhofft, nachdem er mit Niko eine weitere halbe Stunde in seinem Badezimmer verbracht hatte, um sich nach langem Hin und Her für ein Deo zu entscheiden und seine Haare mit etwas Gel in Form zu bringen. Er grinste sehr zufrieden, was Dale offenbar Antwort genug war, denn er trat von der Tür weg.

»Komm rein. Willst du etwas trinken? Ich habe Bier, Wein und Saft im Angebot.«

»Wein?«

»Rotwein.«

»Gerne«, sagte Kilian und folgte Dale in die Küche, wobei er seine Rückenansicht ausführlich musterte.

Dale trug eine edle schwarze Hose und ein ebenso schwarzes Hemd, das im Gegensatz zu seinem eigenen jedoch lange Ärmel hatte. Und wie gut er roch. Kilian musste unbedingt in Erfahrung bringen, welches Parfüm Dale benutzte, weil er sich am liebsten auf ihn gestürzt und ihn ins Schlafzimmer gezerrt hätte. Er blinzelte, als sie die Küche betraten. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt und auf dem Herd standen einige Töpfe, aus denen es herrlich duftete.

»Ein Essen?«, fragte er verwundert, weil er damit nicht gerechnet hatte. Dale zwinkerte ihm über die Schulter hinweg zu.

»Wir können nicht nur von Luft und Liebe leben.«

»Können wir nicht?«

Dale grinste und zog einen Stuhl zurück. »Darf ich bitten?«

Eine unwiderstehliche Einladung. Wie hätte er sie ablehnen können? Kilian setzte sich. »Danke. Kann ich etwas helfen?«

»Nein«, antwortete Dale und lächelte ihn an. »Ich hole den Wein. Bin gleich zurück.«

Kilian nickte und sah sich in der Küche genauer um, nachdem Dale sie verlassen hatte. Modern und zweckmäßig. Seine eigene war älter und chaotischer. Dale schien aber ohnehin viel von Ordnung zu halten, das war Kilian gestern Abend schon aufgefallen. Er würde aufräumen müssen, ehe er Dale zu sich nach Hause einladen konnte. Sofern er das denn wollte.

Er ließ den Gedanken fallen, als Dale zurückkam und den Wein mit zwei Gläsern auf die Arbeitsfläche stellte, bevor er in einer der Schubladen nach einem Korkenzieher zu suchen begann. Kurz darauf hielt Kilian ein Glas mit vorzüglichem Wein in der Hand und sah Dale beim Abgießen der Nudeln zu. Spaghetti in Käsesoße. Selbst gekocht. Umwerfend, fand er und lächelte, als Dale die Soße umkippte und leise fluchte, weil etwas daneben ging. Dale stellte den Topf wieder auf dem Herd ab und begann die Ärmel hochzukrempeln, woraufhin Kilian, das Weinglas in der Hand, auf halbem Weg zum Mund abrupt innehielt. Er hatte noch niemals etwas so Erotisches gesehen, als die Art und Weise, wie Dale seine Ärmel hochkrempelte.

»Was ist?« Dale sah ihn fragend an und Kilian wurde unwillkürlich rot. Darauf konnte er unmöglich antworten.

»Ähm, nichts ... Ich war ... Gedanken, genau. Ich war in Gedanken. Mehr nicht.«

Dale begann zu grinsen. »Ist dir heiß? Du bist auf einmal so rot im Gesicht.« Kilian spürte, wie er sofort noch röter wurde, was ihn verriet, denn Dales amüsiertes Grinsen verwandelte sich in ein wissendes. »Soll ich mein Hemd lieber ausziehen?«

Kilian atmete tief durch. »Nein.«

»Nein?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739310343
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Drama Ostküsten-Reihe schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Thriller, Romanzen und Fantasy. Weitere Informationen zu meinen Büchern und aktuelle News zu Veröffentlichungen findet ihr auf meiner Autorenseite.
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Titel: Tränen im Regen