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Stille Sehnsucht

von Mathilda Grace (Autor:in)
310 Seiten
Reihe: Die Ostküsten-Reihe, Band 8

Zusammenfassung

Als Leiter mehrerer Edelrestaurants in Philadelphia ist Niko Corvin es gewohnt, dass alles nach seinen Wünschen verläuft. Detective Tyler Johnson, Ermittler im Bereich Bandenkriminalität in New York City, hält das ebenso und versucht alles, um den Schützen zu finden, der Noah Kendall, Nikos jüngeren Bruder im Geiste, beinahe ermordet hat. Tylers rüde Art treibt Niko immer wieder zur Weißglut, dabei hat er auch so schon genug Probleme am Hals.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

 

 

 

 

»Ich war schon immer stur, das weißt du doch.«

»Du musstest ja nicht gleich sterben, um es mir wieder einmal zu beweisen.«

Alex seufzte leise und traurig. »Das konnte ich mir leider nicht aussuchen, kleiner Bruder.«

Niko schnaubte. »Hör mit diesem kleiner Bruder Mist auf, du weißt genau, dass ich das nicht ausstehen kann.«

»Na und? Es ändert nichts daran, dass du zwei Jahre jünger bist als ich, also beschwer dich nicht. Außerdem streitest du dich gerade mit einem Geist herum, falls dir das entgangen sein sollte. Wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen.«

»Ich würde nicht mit dir streiten, wenn du mir nicht auf die Nerven gehen würdest«, konterte Niko trotzig, erreichte damit bei Alex aber gar nichts. Im Gegenteil, denn sein Bruder lächelte und setzte sich neben ihn in den Sand.

»Du meinst, wie dieser Cop aus dem Krankenhaus?«

Niko blinzelte überrascht. »Detective Johnson? Was weißt du denn von dem?«

»Abgesehen davon, dass du ihn heiß findest?«, neckte Alex ihn und fing an zu lachen, als Niko sich grollend gegen die Stirn tippte.

»Tue ich nicht«, empörte er sich deshalb, obwohl Alex recht hatte, was er allerdings nie zugeben würde. Im nächsten Moment wunderte er sich darüber, dass sie an einem Strand saßen. Hatte er vorhin nicht zurück ins Hotel gewollt, um ein paar Stunden zu schlafen, da er seine Augen nach knappen zwölf Stunden Dauerwache an Noahs Krankenbett kaum noch aufhalten konnte? »Wo sind wir eigentlich?«

»Es ist dein Traum, Niko. Ich bin nur der Gast.«

Niko verdrehte die Augen. »Was willst du von mir? Ich meine, du bist tot, herrje.«

»Ohhhh, was für eine bahnbrechende Erkenntnis. Ich dachte, das wäre dir in den letzten sechs Monaten schon aufgefallen.«

»Sarkasmus steht dir nicht.«

Alex lachte erneut und sah ihn danach ernst an. »Rede mit Mik. Und zwar bevor dir die ganze Sache um die Ohren fliegt.«

»Nein«, konterte er entschieden und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kommt nicht infrage.«

»Du brauchst Hilfe, Niko. Ich hatte keine Zeit mehr, das Problem für uns zu lösen, also wird er es weiter bei dir versuchen. Lass nicht zu, dass er dir wehtut.«

»Ich schaff das schon.«

Alex fluchte unflätig und stand auf, um wütend auf ihn hinunterzusehen. »Nein, das tust du nicht. Und jetzt wach auf!«

 

Niko schreckte aus dem Schlaf, als der Wecker seines Handys losging. War er nicht gerade erst ins Bett gegangen?

Gähnend schaltete er die kleine Lampe auf dem Nachttisch ein und warf einen Blick auf die Uhr. Fünf Uhr morgens und er fühlte sich kein bisschen wacher, obwohl er sieben Stunden am Stück geschlafen hatte. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass er im Traum mit seinem verstorbenen Bruder gesprochen hatte. Niko wusste nicht mehr, wann das mit Alex angefangen hatte, aber sein Bruder tauchte mittlerweile seit Monaten regelmäßig in seinen Träumen auf, was jede Nacht zu einem Abenteuer machte, denn nach so einem Gespräch fühlte er sich im Allgemeinen wie gerädert. Dabei hatte er auch so bereits jede Menge Ärger am Hals und der Großteil dieses Ärgers hörte auf den Namen Tyler Johnson.

Niko seufzte leise, schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Dieser sture Bulle war das Letzte, was er momentan in seinem Leben brauchte. Was hatte der Kerl nur an sich, dass er nicht seine Finger von ihm lassen konnte? Wahrscheinlich fragte Johnson sich das ebenfalls, denn der Cop, der für Noahs und Liams Sicherheit sorgte, war über ihre Affäre, oder wie immer man das nennen sollte, was sich im Augenblick zwischen ihnen abspielte, genauso wenig begeistert wie Niko.

Detective Tyler Johnson.

Unhöflich, älter, raubeinig und eigentlich überhaupt nicht sein Typ. Trotzdem stiegen sie bereits seit Wochen miteinander ins Bett, trieben es auf der Herrentoilette vom Krankenhaus, im Treppenhaus und sogar in der Tiefgarage. Was eben gerade zur Verfügung stand. Himmel, das war nicht normal. Sie konnten sich überhaupt nicht ausstehen. Johnson und er stritten sich bei jeder Gelegenheit, was bereits zu mehr als einem verblüfften Blick seitens seiner Familie geführt hatte. Beim Sex passten sie allerdings gut zusammen, musste Niko eingestehen und stand auf, um sich zu strecken. Er würde duschen, sich einen Kaffee besorgen und dann ins Krankenhaus zurückfahren. Vielleicht gab es bei Noah in der Zwischenzeit etwas Neues.

Es klopfte an der Tür.

»Ich bin nicht da«, knurrte Niko mürrisch und wandte sich dem Bad zu. Er hatte keine Lust auf Gesellschaft.

»Mach die Tür auf oder ich trete sie ein!«

»Fuck!«, fluchte Niko, als er die Stimme erkannte, und war prompt auf hundertachtzig, während er kehrtmachte und die Tür des Hotelzimmers aufriss. »Fick dich, Bulle!«

Johnson sah überheblich auf ihn hinunter. »Wer von uns wen fickt, hatten wir doch gestern geklärt, oder?«

Niko schnappte erbost nach Luft, dann schnupperte er und sein Blick fiel auf die Tüte in Johnsons Hand. »Ist das Kaffee?«

Johnson nickte. »Für danach«, erklärte er und schob ihn ins Zimmer, um reinzukommen und die Tür hinter sich zuzuwerfen. »Wenn du lieb bist, kriegst du einen von den Muffins.«

Niko wäre diesem arroganten Kerl am liebsten ins Gesicht gesprungen. »Leck mich!«, knurrte er, was sein Gegenüber leider nicht im Mindesten beeindruckte, denn Johnson stellte die Tüte auf die Couch und zog seine Jacke aus, bevor er ihn packte und rückwärts zum Bett drängte.

»Genau das habe ich gleich vor, Corvin. Wie praktisch für mich, dass du nackt schläfst.«

 

 

1. Kapitel

 

 

 

 

Johnson war weg, als Niko zum zweiten Mal an diesem Tag die Augen aufschlug. Wie immer, dachte er und ärgerte sich trotzdem darüber. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah zur Couch. Auf dem kleinen Couchtisch stand ein Kaffeebecher, daneben lagen zwei Muffins. Toll. Wie sollte er auf diesen Arsch von Cop sauer sein, wenn der solche Dinge tat? Vor allem, weil es nicht das erste Mal war, dass Johnson ihn mit frischem Kaffee oder etwas zu essen versorgte.

»Mistkerl«, grummelte Niko und setzte sich auf, was ihn zischend einatmen ließ.

Oh ja, Tyler Johnson war definitiv ein Mistkerl. Aber ein fairer, und er wusste wirklich verdammt gut, wie man jemanden ins Nirwana vögelte. Für die kommenden Tage war Sex gestrichen. Am besten wäre es, wenn er gleich den ganzen Kerl von der Tagesordnung strich, aber Niko war zu alt, um an Wunschträume zu glauben. Außerdem hätte er lügen müssen, wenn er behauptet hätte, dass ihm der Sex mit dem Bullen nicht gefiel. Über den Mann dahinter konnte man streiten, was Tyler und er ohnehin ständig taten, aber irgendwie war Johnson eine Herausforderung, die Niko einfach nicht aufgeben wollte. Was immer zwischen ihm und Tyler war, Niko würde es herausfinden, sofern sie sich nicht vorher die Köpfe einschlugen.

Nach einer Dusche, bei der er den Kaffee trank und sich über die Muffins hermachte, fuhr Niko zurück ins Krankenhaus. Es war kurz nach sieben Uhr morgens, die Station schlief noch. Na ja, nicht alle, korrigierte er sich stumm, als sein Blick auf Nick und David fiel, die am anderen Ende des Gangs in ein Gespräch vertieft waren und ihn beim Eintreffen nicht bemerkten. Niko beließ es dabei und klopft leise an Noahs Zimmertür, bevor er eintrat. Dort erwartete ihn ein bekanntes Bild. Tristan lag mit dem Oberkörper auf dem Bett und schlief, während Kilian und Dale mit Liam Karten spielten. Adrian und Colin, die am Fenster standen, nickten ihm zu.

Niko gesellte sich zu Colin. »Wo ist Mik?«

»Vertritt sich die Beine.« Colin betrachte ihn prüfend. »Hast du was?«

Dieser Ire hatte einen unvergleichlichen Instinkt, bemerkte Niko nicht zum ersten Mal, und er wusste, dass er sofort ablenken musste, sonst würde sich Colin auf ihn einschießen und dann hatte er die nächste Zeit keine ruhige Minute mehr.

Er grinste. »Meinst du etwa die für mich ungemein erleichternde Tatsache, dass ich keinen Ring am Finger trage?«

Adrian lachte, während Colins Blick unwillkürlich zu Kilian und Dale wanderte, die ihn sofort angrinsten. Das funktionierte einfach immer und vor allem sorgte es für Aufheiterung, die sie gut brauchen konnten. Es gab einfach nichts für sie zu tun. Noah war letzte Woche von der Intensivstation in ein Einzelzimmer verlegt worden, seither wechselten sie sich an seinem Bett ab oder waren als Familie hier und hofften dabei auf eine Veränderung, die vielleicht nie kommen würde.

Auch wenn Tristan, Nick und vor allem Liam es nicht hören wollten, kein Arzt konnte sagen, ob Noah je aus dem Koma erwachen würde. Dass er am Leben war, grenzte für seine Ärzte an ein Wunder. Eine Kugel in den Kopf zu bekommen, überlebten nur sehr wenige Menschen und ob Noah wirklich dazugehörte, würde sich erst noch zeigen müssen.

Doch solange Noahs Herz schlug und sein Verstand arbeitete, gab es Hoffnung. Vor allem für die Polizei, die bislang keinen der Schützen hatten einbuchten können, was Niko wieder zu Johnson zurückbrachte. Der gehörte zur Abteilung Bandenkriminalität und es war jetzt sein Job dafür zu sorgen, dass den Zwillingen nichts passierte.

Liam und Noah waren die einzigen Zeugen dieser Schießerei und standen deshalb rund um die Uhr unter Polizeischutz. Mit Hilfe der Verbrecherkartei hatte Liam mehrere Gangmitglieder identifizieren können und laut dem Getuschel der Polizisten im Flur, waren das Typen, die als hochgradig gefährlich eingestuft waren und über Leichen gingen, um ihren eigenen Arsch zu retten. Aus diesem Grund ermittelte Johnson in dem Fall, weil er als der Beste seiner Abteilung galt.

Trotzdem hatte Niko ein mieses Gefühl bei der Sache, denn die Cops dachten offenbar darüber nach, Liam aus der Stadt zu schaffen, um sein Überleben und vor allem, um seine Zeugenaussage zu sichern. Zumindest hatte Niko das gestern Abend aus einem Gespräch zweier Polizisten herausgehört, die er auf der Toilette belauscht hatte.

Dabei war ein Name gefallen. Grace Maguire.

Vielleicht eine Polizistin und vielleicht sollte sie sich speziell um Liam kümmern. Niko würde Johnson bei passender Gelegenheit danach fragen und bis dahin schön seinen Mund halten. Das fehlte noch, dass Tristan und Nick erfuhren, dass die Polizei Liam wegschaffen wollte. Von Liam selbst gar nicht zu reden. Die ganze Situation war auch so schon schlimm genug und Niko bezweifelte, dass Liam freiwillig einen Fuß aus dieser Stadt heraus setzen würde. Nicht ohne Noah.

Niko hatte die zwei anfangs belächelt, weil sie sich oft wie siamesische Zwillinge verhalten hatten. Seit Alex tot war dachte er darüber anders und beneidete sie im Stillen darum, dass sie einander hatten. Zumindest im Moment noch. Niko seufzte innerlich. Hoffentlich hielt Noah durch und wachte wieder auf. Alex' Tod und Kilians Entführung waren noch immer äußerst präsent in seinem Kopf und seiner Familie dürfte es nicht anders gehen. Dazu kam bei ihm Johnson hinzu, der ein nerviges Ärgernis war, und ein Anrufer, der sein Handy bereits seit Monaten mit Nachrichten belegte.

Niko ignorierte ihn bislang, aber eine Dauerlösung war das leider nicht.

Nach einer Weile verzog er sich aufs Dach, um frische Luft zu schnappen. Das tat er regelmäßig, da hier oben der einzige Ort im ganzen Krankenhaus war, an dem man wirklich Ruhe haben konnte. Niko machte ein paar Anrufe nach Philadelphia, aber in den Restaurants war alles in Ordnung. Danach war er eine Weile damit beschäftigt, Devin und Samuel zu erzählen, dass es leider nichts Neues gab und wo er schon dabei war, rief er gleich noch alle anderen Familienteile an, die nicht mehr in New York waren, was ebenfalls einige Zeit dauerte.

Anfangs waren alle hier gewesen. Sogar Dominic und Cameron waren von ihren Klippen heruntergekommen, um da zu sein. Aber auf Dauer ging das nicht. Sie hatten Jobs, Unternehmen, Familien, Haustiere. Soweit Niko wusste, dachte Dale im Moment darüber nach, eine Sicherheitsfirma zu gründen und sich selbstständig zu machen. Er fand die Idee super und wäre Dale damit schon weiter, hätte er auch nicht hierbleiben können, um an Noahs Bett Wache zu halten.

So war ein Großteil der Familie nach und nach wieder nach Hause gefahren und wurde seither übers Telefon auf dem Laufenden gehalten. Dominic und Cameron, Devin und Samuel, Connor und Daniel sowie Eltern, Kinder und Enkel. Sie waren eine einzigartige Familie, trotzdem fühlte sich Niko seit Alex' Tod wie ein Außenseiter unter ihnen. Er konnte es nicht mal erklären, er hatte einfach ständig das Gefühl am Rand zu stehen und nicht mehr dazuzugehören, obwohl er gleichzeitig wusste, dass das Blödsinn war.

»Was läuft zwischen dir und Johnson?«

Niko zuckte zusammen und fuhr zu Mikael herum, der unbemerkt zu ihm aufs Dach getreten war. Das war kein guter Zeitpunkt für diese Frage, aber darum würde sich sein Bruder nicht kümmern. Das hatte Mikael nie getan, seit er damals für Alex und ihn in gewisser Weise eine Vaterrolle übernommen hatte. Und seit letztem November war Colin nicht mehr länger der Einzige, der in Nikos Augen zu viel gluckte. Aber er sagte nichts dazu, weil er Mikael verstehen konnte.

»Keine Ahnung. Wenn ich es wüsste, dann würde ich es abstellen«, beantwortete er Mikaels Frage, da er wusste, dass sein Bruder nicht lockerlassen würde.

»Hm«, machte Mikael ratlos und gesellte sich zu ihm. »Ihr kommt mir vor wie zwei hormongesteuerte Kater, die sich entweder anfauchen oder übereinander herfallen wollen.«

Niko seufzte. Der Vergleich war gar nicht so verkehrt, immerhin hatten sie, abgesehen von ihren Streitereien und dem Sex, keinerlei Bezugspunkte. Niko fühlte sich von Tyler immer irgendwie provoziert. Es gab Momente, da brauchte er Johnson nur anzusehen und schon war Niko stinksauer. Warum das so war, konnte er aber nicht erklären. Anfangs hatte er es auf die anhaltende, nervliche Belastung wegen Noah geschoben, doch der lag bereits seit einem Monat im Koma. Niko konnte dieses Hin und Her mit Johnson schon längst nicht mehr als nervlich bedingten Ausrutscher abtun, das wusste er. Es half ihm nur nicht dabei, eine Erklärung für das Ganze zu finden.

»Du bist scharf auf ihn.«

»Mik!«

Mikael sah ihn von der Seite her an. »Damit stehst du übrigens nicht allein da.«

»Was?«, fragte Niko verblüfft, was Mikael grinsen ließ.

»Du müsstest Johnsons Blicke sehen, sobald er sich unbeobachtet fühlt. Er ist genauso scharf auf dich, wie du auf ihn, und er ärgert sich wahnsinnig darüber.«

Niko schnaubte. »Kann ich etwas dafür? Ich habe ihn nicht gebeten, mich im Treppenhaus flachzulegen und ...« Er brach ab, hatte aber bereits zu viel gesagt. »Es ist nicht, wie du jetzt denkst«, beschwichtigte er Mikael auf dessen entsetzten Blick hin. »Wir hatten uns wieder gestritten, ein Wort gab das andere und am Ende ... Na ja ...«

»Ich schätze, weitere Details will ich nicht wissen?«

»Nein.«

Mikael runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht.«

Niko zuckte mit den Schultern. »Das ist mir klar, aber damit musst du leben. Ich bin alt genug, Sex in einem Treppenhaus zu haben, auch wenn mir ein Bett allgemein lieber ist, das gebe ich zu.«

»Hat er dir wehgetan?«

Diese Frage hatte kommen müssen. Niko verkniff sich ein Stöhnen und entschied, dass es an der Zeit war, ein paar Fakten auf den Tisch zu legen. »Nicht mehr als ich ihm vorgestern auf der Toilette und er mir heute morgen in meinem Hotelzimmer. Mik, wir haben Sex, und der zählt nun nicht gerade zur Blümchenkategorie, verstehst du? Warum haben wir Sex, willst du wissen? Ich habe keine Ahnung. Ich mag Johnson nicht mal. Er mag mich auch nicht. Ende der Geschichte.«

»Er war bei dir im Hotel?« Mikael schluckte. »Mehr will ich vermutlich wirklich nicht wissen.«

Niko lachte und lehnte sich auf die brusthohe Mauer, die das gesamte Krankenhausdach umgab und auf der er schon oft gesessen und in die Tiefe geblickt hatte. Ein perfekter Ort zum Nachdenken, obwohl Niko bei seinen Hauptproblemen bisher leider keinen Schritt weitergekommen war. Vielleicht sollte er für eine Weile nach Philadelphia zurückfahren und sich selber um die Restaurants kümmern, um irgendwas zu tun zu haben. Andererseits wäre er dort allein, da Mikael hierbleiben würde, so wie der Rest von ihnen, und das war keine gute Idee. Anrufe konnte Niko ignorieren, persönliche Besuche nicht, und darauf würde es hinauslaufen.

Nein, entschied er. Da war New York City die bessere Wahl, trotz Mister Raubein in Person, Tyler Johnson, den er am liebsten von diesem Dach geschubst hätte. »Mik, ich will ihn nicht scharf finden.«

»Wieso nicht?«

Meinte Mikael die Frage etwa ernst? Niko schnaubte. »Wieso wohl? Weil er nervt.«

Sein Bruder fing an zu lachen. »Na und? Das tut Colin gelegentlich auch. Ich habe ihn trotzdem geheiratet.«

»Er ist nicht mein Typ.«

»Du hast keinen Typ.«

»Was?«, fragte er überrumpelt und Mikael zuckte mit den Schultern, als Niko ihn verständnislos ansah. »Wie meinst du das denn?«

»Du hast keinen festen Typ. Den hattest du nie, um ehrlich zu sein. Allerdings hat dich bislang kein Mann so schnell und häufig auf die Palme gebracht wie Tyler Johnson.«

Da hatte Mikael recht, musste sich Niko nach kurzer Überlegung eingestehen. Seine bisherigen Liebschaften und Freunde hatten ihn nie derart geärgert. Eher im Gegenteil. Am Ende hatte Niko sich meist gelangweilt und schlussendlich das Weite gesucht. Johnson trieb ihn allerdings regelmäßig auf die Palme, von Langeweile keine Spur. Andererseits war dieser Bulle weder sein fester Freund noch seine Liebschaft. Er war eine lästige Nervensäge, die wie eine verfluchte Klette an seinem Bein hing. Allerdings eine, die in ihrem Job wirklich gut war und alles tat, um die Zwillinge zu beschützen, bis die von Liam identifizierten Gangmitglieder im Knast saßen.

»Ich würde ihn am liebsten auf den Mond schießen«, gab er nach einer Weile zu und Mikael grinste erneut.

»Das merkt man. Vielleicht solltest du mal aufhören, immer mit einem roten Wutnebel vor den Augen herumzulaufen, sobald der Detective in deinem Sichtfeld auftaucht.«

»Willst du uns verkuppeln?«, fragte er angesäuert.

»Er ist auf jeden Fall eine angenehmere Gesellschaft als diese Jungs, mit denen du dich zuletzt herumgetrieben hast«, konterte Mikael lässig und Niko sah ihn sprachlos an, worauf sein Bruder erneut mit den Schultern zuckte. »Sei nicht böse, aber du bist zu intelligent, als dass Männer wie dieser Sportler, mit dem du damals ausgegangen bist, oder der Geschichtsstudent im letzten Jahr, auf Dauer mit dir mithalten könnten.«

Niko schluckte. Mikael wusste eine ganze Menge über sein Liebesleben. »Woher weißt du von den beiden?«

Mikael verdrehte die Augen. »Ich bin doch nicht blind. Außerdem hast du dich oft aus ihren Betten geschlichen und bist zur Arbeit gekommen, ohne zu duschen.«

Niko lief rot an. »Mik ...«

»Wie schon gesagt, ich bin weder blind noch dumm«, winkte Mikael schmunzelnd ab.

»Lassen wir das Thema lieber«, murmelte er und war froh, als sein Bruder lachte. »Mik? Denkst du das wirklich? Dass Tyler Johnson mit mir mithalten kann?«

»Er ist älter, erfahrener und im Gegensatz zu all deinen anderen Betthüpfern, hat er kein Problem damit, dir Widerworte zu geben. Du brauchst definitiv einen Partner, der dir gewachsen ist, und nicht diese halben Kinder, mit denen du seit Jahren ins Bett steigst.«

 

Zwei Stunden später war Niko immer noch beleidigt.

Er hatte sich schon öfters mit Mikael gezankt, aber noch nie wegen Männern. Beziehungsweise darüber, welche Sorte Niko mit in sein Bett nahm. Halbe Kinder, von wegen. Keines dieser sogenannten Kinder hatte sich beschwert, unter ihm zu liegen. Außerdem waren sie erwachsen gewesen. Na gut, ein paar erst seit einigen Tagen, aber erwachsen blieb erwachsen. Zumindest war Niko bislang der Ansicht gewesen. Mikael schien das allerdings anders zu sehen und das ärgerte ihn. Es ging seinen Bruder nicht das Geringste an, ob er mit jungen Hüpfern oder Kerlen wie Johnson ins Bett stieg.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte Kilian, als Niko in Noahs Zimmer trat, wo von seinem Bruder nichts zu sehen war, wie er nach einem schnellen Rundblick erleichtert feststellte.

Niko winkte ab. »Kleine Meinungsverschiedenheit.«

»Mit wem?« Tristan musterte ihn interessiert.

Zu einer Antwort kam er jedoch nicht, weil die Tür aufging und Johnson ins Zimmer trat. Das tat er jeden Tag, um sich zu erkundigen, ob es bei Noah Neuigkeiten gab oder jemand von ihnen etwas brauchte. So mürrisch und raubeinig Johnson auf den ersten Blick meist wirkte, er kümmerte sich um die Leute, mit denen er zu tun hatte, und das mehr, als er gemusst hätte. Aber es gab nichts Neues zu berichten und das sagte Tristan dem Mann, woraufhin Johnson nickte und seine blauen Augen durchs Zimmer streifen lief. Sie blieben auf ihm hängen und Niko zog warnend die Brauen hoch. Wehe, wenn Johnson vor seiner Familie einen dummen Kommentar von sich gab.

»Schlecht geschlafen?«

Verflixt und zugenäht. Niko war umgehend noch wütender als zuvor. »Geht Sie das was an, Johnson?«, zischte er und wurde prompt von allen Seiten verdutzt angesehen. Niko ignorierte die Blicke stoisch und nahm einen der Besucherstühle in Beschlag, wofür er sofort die Quittung bekam, denn sein Hinterteil nahm ihm das Hinsetzen ziemlich übel.

»Niko?« Colin war sein schmerzhaftes Einatmen natürlich nicht entgangen.

»Heilsalbe soll helfen, habe ich gehört«, sagte Johnson trocken und machte kehrt.

Als Niko sich von dem Schock erholt hatte, war die Tür bereits hinter Johnson zugefallen, was dessen Glück war, sonst wäre er dem Bullen an die Gurgel gesprungen. Was bildete der Kerl sich ein? Bis zu dieser Sekunde hatten sie ihr Techtelmechtel hinter verschlossenen Türen und im Verborgenen geführt, und das aus gutem Grund. Wie sah es wohl für Noahs Familie aus, wenn er mit jenem Cop ins Bett stieg, der für den Schutz der Zwillinge abgestellt war? Es war schlimm genug, dass sein Bruder zwei und zwei zusammengezählt hatte. Dem Rest der Familie hatte Niko eigentlich nicht auf die Nase binden wollen, dass Johnson und er ein Techtelmechtel hatten.

»Korrigiere mich, falls ich mich irre, aber kann es sein, dass du mit dem Bullen ins Bett steigst, der unsere Söhne beschützen soll?«, fragte Nick ihn da auch schon mit einer Stimme, die Glas hätte schneiden können.

Niko wusste nicht, was er darauf antworten sollte und beschränkte sich daher auf ein Nicken.

»Das ist doch wohl ein Scherz, oder?«

Genau das hatte er vermeiden wollen. Einen Streit mit Noahs Vater und überhaupt die Diskussion darüber, dass er mit Johnson ins Bett stieg. Das ging niemanden etwas an. Er konnte Sex haben, mit wem er wollte, basta. Da gab es in seinen Augen nichts zu bereden, deshalb stand er schweigend auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Die Tür war noch nicht hinter ihm zugefallen, da wurde es drinnen bereits laut, aber darum kümmerte er sich nicht mehr, denn Johnson lehnte an der gegenüberliegenden Wand im Flur, was seine Laune ins Bodenlose abstürzen ließ.

»Halt das nächste Mal deine Fresse!«, fuhr er den Cop wutentbrannt an und verschwand im Treppenhaus, weil er keine Lust hatte, auf den Fahrstuhl zu warten. Niko kam nicht mal bis ins nächste Stockwerk, bevor Johnson ihn am Arm festhielt und mit dem Rücken gegen die Wand presste. »Lass mich sofort los!«, zischte Niko, was Johnson nicht im Mindesten beeindruckte.

»Habe ich dir wehgetan?«

Was sollte das denn jetzt werden? »Nein«, log Niko.

»Blödsinn!« Johnson sah verärgert auf ihn hinunter.

Es war das erste Mal, dass Niko sich dabei unwohl fühlte. Tyler Johnson war mit über 1,90m Körpergröße ein ziemliches Stück größer als er und außerdem bestand sein ganzer Körper aus trainierten Muskeln. Dieser sture Bulle war ihm körperlich weit überlegen und was ihn bis eben nicht die Bohne gestört hatte, beunruhigte Niko auf einmal.

»Lass mich los«, bat er nervös, was Johnson nicht entging, denn der trat sofort einen Schritt zurück und ließ ihn los.

»Ich pflege Männer, mit denen ich Sex habe, nicht zu schlagen oder auf irgendeine andere Art und Weise zu missbrauchen. Ist das bei dir angekommen?«

Das hatte er ja wieder ganz wunderbar hinbekommen. »Ja«, antwortete Niko peinlich berührt, hielt Johnsons abschätzenden Blick aber stand. »Sonst noch was?«

Johnson trat wieder auf ihn zu. »Ich frage noch mal ... Habe ich dir heute Morgen wehgetan?«

Wieso konnte dieser sture Kerl nicht einfach Ruhe geben? Niko verdrehte genervt die Augen. »Nicht mehr als ich dir auf der Toilette«, antwortete er genervt und Johnson nickte verstehend. »Was willst du eigentlich?«

»Ich habe bereits, was ich wollte, eine Antwort.«

»Schön. Dann zieh Leine.«

Johnson seufzte, stützte die Arme links und rechts von ihm an der Wand ab und beugte sich zu ihm hinunter. »Wenn das so einfach wäre, hätte ich dich heute Morgen nicht gefickt. Ach übrigens, mein Name ist Tyler.«

»Das weiß ich.«

»Dann benutz ihn!«

»Arschloch!«

Tyler nickte. »Das geht natürlich auch.«

Niko musste unwillkürlich grinsen und ärgerte sich sofort darüber. »Wenn ich dich so nerve, Bulle, setz jemand anderen auf diesen Fall an«, schlug er vor, was mit einem Kopfschütteln kommentiert wurde. »Warum nicht?«, fragte er giftig. »Was ist mit Grace Maguire?«

Tyler sah ihn für etwa zwei Sekunden überrascht an, dann wurde sein Blick tadelnd. »Du hast gelauscht.«

»Was keine Kunst ist. Deine Leute quatschen und das ständig. Ich müsste schon taub sein, um nichts zu hören. Also? Was ist mit Maguire?«

»Grace ist meine Partnerin und mehr musst du nicht über sie wissen«, antwortete Tyler entschieden, was Niko klarmachte, dass er nicht vorhatte, ein weiteres Wort über diese Frau zu verlieren.

»Wie schön für dich«, zischte er wütend, schlug Tylers Arm weg und machte, dass er die Treppenstufen hinunter und aus dem Krankenhaus kam.

 

 

2. Kapitel

 

 

 

 

Bei seiner Rückkehr lief Niko überraschend Tristan in die Arme, als der in die Cafeteria trat, wo Niko sich gerade einen Kaffee geholt hatte. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete Noahs Vater prüfend. Tristan schien allerdings nicht sauer auf ihn zu sein, sondern einfach nur erschöpft und müde. Nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf seinen Kaffee, hielt er ihn Tristan hin.

»Hier. Du scheinst ihn mehr zu brauchen als ich.«

Statt zu antworten, gähnte Tristan und nahm dabei den Becher an, um zu seufzen, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. »Was würde ich nicht alles für Kaffee geben, der nicht nach Spülwasser schmeckt. Dieses Zeug hier taugt nichts.«

Das hatte Krankenhauskaffee so an sich. Mit einem Lächeln deutete Niko auf die leeren Tische hinter sich. »Willst du dich ein bisschen hinsetzen?«

Tristan nahm noch einen Schluck und verzog das Gesicht, bevor er den Kopf schüttelte. »Ich würde viel lieber in ein Bett fallen, drei Wochen am Stück schlafen und wenn ich aufwache, stelle ich fest, dass alles nur ein Albtraum war und Noah gesund und munter ist.«

Tristan ging es gar nicht gut. Niko wusste nicht, was er sagen sollte, deshalb nahm er ihm den Kaffee aus der Hand, warf ihn in den Mülleimer und griff Tristan am Arm. »Komm mit.«

»Wohin?«

»Raus hier. An die Luft.«

»Aber Noah ...«

»Schläft«, unterbrach er Tristan streng und mehr brauchte es nicht, damit Noahs Vater ihm folgte, bis sie sich vor dem Krankenhaus wiederfanden. Niko zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Wie wäre es mit einem Spaziergang durch den Park?«

»Da kenne ich jeden Baum. Lass uns einfach für eine Weile die Straße runter gehen und vielleicht irgendwas kaufen«, bat Tristan und Niko nickte zustimmend.

Ob Frustshopping oder ein langer Spaziergang war ihm total egal, Hauptsache Tristan hörte auf, sich ständig die Augen zu reiben und so fix und fertig auszusehen. Noahs Vater fehlte mehr als drei Wochen Schlaf, soviel stand fest. Niko beobachtete Tristan aus den Augenwinkeln, während sie an Klamottenläden, Cafés und vielen anderen Geschäften vorbeiliefen. Sie redeten dabei nicht, aber Niko fiel auch nichts ein, was er zu Tristan hätte sagen können. Smalltalk war nicht gerade ein Fachgebiet von ihm und Niko sah keinen Sinn darin, daran etwas zu ändern.

»Wir sind nicht sauer auf dich«, meinte Tristan auf einmal übergangslos und Niko sah ihn fragend an.

»Was meinst du?«

»Wegen deiner Affäre mit Johnson«, wurde Noahs Vater genauer und Niko zuckte zusammen, was Tristan nicht entging. »Ja gut, ich gebe zu, Nick ist nicht begeistert, das war ich zuerst auch nicht, aber es ist dein Leben, Niko.«

»Tyler muss Noah und Liam beschützen.«

Tristan nickte. »Das stimmt, aber es bedeutet nicht, dass er deswegen kein Recht auf ein Privatleben hätte, was für dich im Übrigen genauso gilt.«

Niko verkniff sich ein resigniertes Seufzen. Zuerst Mikael und jetzt Tristan. Wer kam als Nächstes? »Können wir bitte das Thema wechseln?«

Tristan zuckte stumm mit den Schultern, während sie weitergingen, und Niko war froh darüber. Er wollte über sein Verhältnis mit Tyler nicht diskutieren. Niko wusste nicht einmal, ob es überhaupt etwas zu diskutieren gab. Tyler und er, das würde sowieso niemals mehr werden und darüber war er froh, denn er wollte derzeit weder eine Beziehung noch sonst etwas. Schon gar nicht mit diesem Raubein von Detective.

Niko stutzte, als er auf einmal bemerkte, dass Tristans Blick von irgendetwas an seiner linken Seite wie magisch angezogen wurde. Noahs Vater bekam nicht mal mit, dass Niko ihm zusah, wie er über seine Schulter sah, um den Blick so lange wie nur möglich halten zu können. Das war mehr als seltsam, fand er, darum warf er ebenfalls einen Blick über die Schulter. Seine Augen weiteten sich schockiert, als er erkannte, an welcher Art Laden sie eben vorbeigegangen waren. Niko blieb abrupt stehen und hielt Tristan fest, der ihn darauf überrascht ansah.

»Wie schlimm ist es?«, fragte er und kramte nebenbei nach seinem Handy. Egal, wie Nick gerade zu ihm stand, wenn Tristan darüber nachdachte, sich Alkohol zu besorgen, musste er ihm Bescheid geben.

Tristan runzelte ratlos die Stirn, um wenig später zu begreifen und wieder zu dem Laden zu sehen, in dessen Auslage die unterschiedlichsten Marken von Alkohol und alles Mögliche an Zubehör standen.

»Ich habe nichts getrunken, falls du das wissen willst.« Tristan seufzte kaum hörbar. »Aber ich denke seit ein paar Tagen darüber nach, es zu tun.«

Scheiße. Tristan war ein trockener Alkoholiker. Niko musste sofort etwas tun, um zu helfen, denn Tristan hätte ihm niemals ehrlich geantwortet, wenn er keine Hilfe gewollt hätte. Er zog eilig sein Handy aus der Hosentasche, um es Tristan zu zeigen, der stumm darauf starrte, bevor er ein zweites Mal seufzte und nickte, was für Niko Zustimmung genug war. Er suchte Adrians Nummer aus dem Telefonbuch, da er Nicks nicht hatte.

»Ja?«

»Ist Nick bei dir? Ich hab seine Nummer nicht.«

»Moment ...«

»Ja? Niko?«, fragte Nick und Niko zog Tristan von dem Geschäft weg, um sich mit ihm in das kleine Café eine Straße weiter zu setzen. Das kannte Nick, da konnte er ihn hin bestellen.

»Ich bin mit Tristan auf dem Weg zu dem Café, wo wir letzte Woche frühstücken waren. Erinnerst du dich? Mir fällt gerade der Name nicht ein.«

»Ja, ich weiß, welches du meinst. Niko, was ist los?«

»Du solltest hinkommen. Es ist wichtig.«

»Niko ...?«, fing Nick an und sein nervöser Tonfall machte ihm klar, dass Noahs Vater bereits irgendetwas ahnte. Aber es war nicht seine Aufgabe, Nick zu sagen, was los war, sondern die von Tristan.

»Ich kann es dir nicht sagen. Komm bitte in das Café«, bat er und setzte ein eindringliches »Jetzt!« hinterher.

»Ich mache mich sofort auf den Weg.«

 

Niko ließ Noahs Väter allein, als Nick im Café eintraf, um wieder zum Krankenhaus zu fahren, wo er überrascht stutzte, denn aus Noahs Zimmer drang lautes Gelächter in den Flur. Wenn Noah aufgewacht wäre, hätte Nick das im Café erwähnt, das konnte es also nicht sein. Neugierig geworden, drückte er die Tür auf und hörte, wie Dale von einem früheren Einsatz aus seiner DEA-Zeit erzählte und damit für das Gelächter sorgte. Mit einem harmlosen Blick in Adrians Richtung, der der ihn fragend ansah, trat Niko ins Zimmer.

»Und? Alles klar bei dir?«, fragte Kilian lächelnd und deutete neben sich.

Besser hätte Kilian nicht ausdrücken können, dass die Sache zwischen Johnson und ihm keine Probleme machen würde. Zumindest nicht bei den Anwesenden. Niko nickte und gesellte sich zu Kilian, was Adrian mit einem Grinsen beantwortete, das Niko klarmachte, dass er noch lange nicht vom Haken war. Er würde später flüchten müssen, um Adrians bohrende Fragen in Bezug auf Tristan zu entgehen.

Niko sah weiter zu Liam, der Dale beobachtete, mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen. Es war das erste echte Lächeln seit einigen Tagen. Niko hätte Liam am liebsten umarmt, so erleichtert war er über den Anblick. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Nick am Telefon nicht zu sagen, was mit Tristan los war, dachte er und konzentrierte sich auf Dale, um endlich zu erfahren, was der gerade erzählte.

»Die Sache hat jedenfalls für gewaltigen Ärger gesorgt und einige Leute haben dadurch den Job verloren.« Dale schüttelte tadelnd den Kopf, um hinterher in seine Richtung zu grinsen. »Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich den lieben Detective von früher kenne, Niko?«

»Du kennst Johnson?«, fragte Kilian überrascht, bevor Niko es konnte. Dass Dale den Cop kannte, davon hörte er zum ersten Mal.

»Hm«, machte Dale nickend und streckte die Beine aus, um es sich gemütlicher zu machen. »Tyler Johnson ist das Raubein vom Dienst und zugleich der Top-Mann, wenn es um Gangsachen geht. Deswegen leitet er die meisten Ermittlungen in dieser Ecke von New York. Hat er damals schon, als wir uns zufällig über den Weg gelaufen sind.« Dale überlegte kurz. »Das muss jetzt vier oder fünf Jahre her sein. Es war ein ziemlich großer Fall. Wir hatten einen Informanten von der Straße festgesetzt und wussten nicht, dass der Bengel Johnsons Informant in einem Fall war. Da die DEA sich bedeckt hält, hatte er natürlich keine Ahnung, dass wir ermitteln, und dachte, wir wollen dem Jungen an den Kragen. Der Kleine war sechzehn und hatte per Handy einen Notruf an Johnson geschickt, bevor wir ihn festsetzen konnten, und der tauchte rund eine Stunde später bei unserer Razzia auf. Bewaffnet wie John Rambo und genauso schlagfertig, hat er dann auch losgelegt.«

»Im Ernst?«, fragte Liam amüsiert und Niko konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, da es perfekt zu dem Bild passte, das er von Tyler hatte.

Dale nickte erneut. »Er hat drei unserer Männer, mich inklusive, aussehen lassen wie dumme Schuljungen, bis wir ihm endlich klarmachen konnten, wer wir sind.« Dale lachte. »Mir hat tagelang alles wehgetan, so hart hat er uns vermöbelt. Und damals war ich eigentlich der Meinung, in Selbstverteidigung sehr gut zu sein. Von einem zwölf Jahre älteren Cop so mühelos eingesackt zu werden, hat mein Ego ziemlich angekratzt.«

Alles lachte.

Sogar Niko, obwohl er sein Erstaunen nur mit Mühe verbergen konnte. Es war zwar unübersehbar, dass Tyler älter war als er, aber acht Jahre? Das war viel. Vor allem, da Niko bislang gänzlich in die entgegengesetzte Richtung tendiert hatte, was Männer betraf. In seinem Bett landeten junge Hüpfer, keine älteren, unhöflichen und mürrischen Cops. Obwohl 'alt' als Beschreibung auf Tyler wohl kaum zutraf. Und in seinem Hotelbett war er auch schon derartig oft gelandet, dass der Einwand ein wenig spät kam.

War er wirklich scharf auf Johnson, wie Mikael zu ihm gesagt hatte? Niko runzelte die Stirn, kam aber nicht dazu, diese Überlegung weiterzuführen, da sein Bruder genau in dem Moment ins Zimmer trat. Colin hinter sich und Hand in Hand, blieb Mikaels Blick umgehend auf ihm hängen. Niko reagierte darauf, indem er sich bei dem folgenden Stühle verrücken, da es für seinen Geschmack in Noahs Zimmer langsam etwas zu voll wurde, aus dem Staub machte. Den Fahrstuhl ignorierte er, das hätte zu lange gedauert.

»Erwischt.«

Niko stöhnte laut auf und ließ die Tür wieder zufallen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Wie machte dieser Mann das immer? Er hatte sich extra beeilt, um durchs Treppenhaus zu entkommen und trotzdem war Adrian schneller gewesen, der die Tür eben von der anderen Seite aufschob und sich vor ihm aufbaute, ein sehr amüsiertes Grinsen auf den Lippen.

»Du hast nicht ernsthaft geglaubt, dass du mir so leicht entkommen kannst, oder?«

Niko verdrehte die Augen. »Eigentlich schon.«

»Bist du nicht zu alt, um an Wunder zu glauben?« Adrian verschränkte die Arme vor der Brust. »Was läuft zwischen dir und Mik, dass du vor ihm davonläufst?«

Oh nein, darüber würde er sicher nicht mit Adrian Quinlan diskutieren. »Nichts«, wehrte er ab und war nicht mal erstaunt, als Adrian das mit einem mitfühlenden Lächeln kommentierte. »Wenn du es genau wissen willst, es geht dich nichts an.«

»Hört dieses nichts rein zufällig auf den Namen Johnson?«, hakte Adrian dennoch nach und nickte, als Niko unflätig fluchte. »Das dachte ich mir.«

Bloß nicht kontern, rief sich Niko innerlich zurecht, weil er wusste, dass Adrian nur darauf wartete, um damit die Wahrheit aus ihm herauszukitzeln. Darin war dieser sture Anwalt Spitzenklasse und Niko hatte nicht vor, ihm in die Hände zu spielen. Jedenfalls nicht hier und jetzt, solange er es verhindern konnte. Anstatt zu antworten, sah Niko Adrian nur an, bis der lachte und erneut nickte.

»Na schön, lassen wir das. Was ist mit Tristan?«

Niko schüttelte abwehrend den Kopf. »Das ist Nicks und Tristans Sache.«

»Ich finde es eh heraus«, konterte Adrian lässig.

»Dann muss es dir ja nicht erzählen«, sagte Niko mit einem triumphierenden Grinsen, das aber schon im nächsten Moment wieder in sich zusammenfiel, als ihm Adrians belustigter Blick auffiel. »Was ist?«

»Ist dir zufällig mal zu Ohren gekommen, dass ich sehr lästig sein kann, wenn ich etwas wissen will?«

»Nein, das habe ich noch nie gehört«, antwortete er trocken, was Adrian lachen und ihn erneut grinsen ließ, bevor Niko entschied, dem Anwalt zumindest ein kleines bisschen entgegenzukommen. Möglicherweise kam er so um eine Erklärung herum, was das zwischen Mikael und ihm anging. »Also gut. Du gibst mir was zu essen aus, dann erzähle ich es dir.«

»Erpressung?« Adrian griff sich theatralisch ans Herz. »Ich bin schockiert.«

»Und ich am Verhungern. Haben wir einen Deal?«

Adrian nickte. »Haben wir. Aber kein McDonalds.«

»Was hast du gegen McDonalds?«, fragte Niko verwundert, woraufhin Adrian angeekelt das Gesicht verzog.

»Wir leben seit Wochen von dem Zeug, ich kann es einfach nicht mehr sehen.«

Okay, das konnte Niko gut verstehen. »Wie wär's mit Chinesisch?«, fragte er, doch Adrian schüttelte den Kopf.

»Italienisch. Ich habe große Lust auf Nudeln. Wir besorgen uns unterwegs was und essen bei dir.«

»Bei mir?« Niko sah Adrian verwundert an. »Im Hotel?«

»Ja. Es sei denn, du hast dir eine Wohnung gemietet und es uns nicht erzählt.«

Niko seufzte, da Adrians folgender Blick eindeutig war. Der Anwalt hatte nicht vor, weitere Widerworte von ihm zu akzeptieren. »Na schön, bei mir.«

 

 

3. Kapitel

 

 

 

 

»Also?«, fragte Adrian eine Stunde später zwischen zwei Bissen und sah ihn auffordernd an.

Niko zuckte mit den Schultern. »Es ist nichts passiert. Jedenfalls noch nicht. Tristan hat ein Problem.«

»Problem?«

»Hm«, machte er zustimmend und kaute runter. »Wir waren spazieren und dabei hat er zugegeben, dass er beim Anblick von Alkoholflaschen seit ein paar Tagen den Wunsch hat zu trinken.« Adrian hielt im Kauen inne und sah ihn entsetzt an. Niko winkte ab. »Er hat bisher nur den Wunsch, nichts weiter. Deswegen habe ich bei dir angerufen und Nick ins Café bestellt. Ich schätze, da sitzen die beiden momentan noch und reden. Hoffentlich hilft es.«

Adrian dachte nach, während er weiter aß, was Niko recht war. Er ahnte, was im Kopf des Anwalts vor sich ging und die Überlegung, Noahs Väter für ein paar Tage aus der Stadt zu schaffen, damit sie abschalten und sich etwas erholen konnten, war ihm auch schon gekommen. Es stellte sich nur die Frage, wie das gehen sollte? Nick und Tristan würden New York City genauso wenig freiwillig verlassen wie Liam.

Apropos Liam, fiel Niko abrupt ein, woraufhin er sich räusperte und wartete, bis Adrian ihn ansah. »Weißt du etwas darüber, dass die Cops Liam wegschaffen wollen?«

Adrian runzelte die Stirn. »Ich hoffe, du hast das nicht Nick oder Tristan erzählt.«

Adrian war also im Bilde. Etwas anderes hätte Niko schwer gewundert. Er schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Ich habe die Bullen belauscht und es später Tyler an den Kopf geworfen. Ohne Erfolg.«

»Ist dir dabei der Name Maguire untergekommen?«

Niko hielt, mit der Gabel in der Hand, auf dem Weg zum Mund inne. »Ja, warum?«

»Behalt es bitte für dich«, bat Adrian ihn eindringlich. »Vor allem gegenüber Noahs Vätern und Liam. Ich weiß noch nichts Genaues, aber daran arbeite ich gerade. Scheinbar ist sie Johnsons Partnerin, aber irgendetwas an ihr ist merkwürdig, deshalb habe ich alte Kontakte angerufen, die mir noch Gefallen schulden. Und was Tristan betrifft, ich lasse mir etwas einfallen. Wir müssten alle für ein paar Tage aus diesem verdammten Irrenhaus raus, das sich Krankenhaus nennt.«

Niko verkniff sich einen Kommentar zu Adrians in seinen Ohren recht ungewohnter Ausdrucksweise. »Und wie willst du das anstellen?«

Adrian zuckte mit den Schultern. »Drohen. Bitten. Erpressung. Ganz egal. Was am Ende funktioniert.«

Niko zog ein finsteres Gesicht. »Ich gehe aber nicht.«

»Abwarten«, konterte Adrian lässig und widmete sich grinsend wieder seinen Nudeln, was Niko mit einem »Pfft.« kommentierte, bevor er weiter aß.

Ein lautes Klopfen an der Tür störte die eingetretene Stille und Niko sah verblüfft auf. »Erwartest du jemanden?«

»Ist das mein Hotelzimmer oder deines?«

»Stimmt auch wieder.« Er stellte den Essenskarton auf den Tisch und stand auf, um zur Tür zu gehen. »Ja?«

»Hey, ich bin´s.«

Mikael. Na wunderbar. Niko verkniff sich ein Seufzen und öffnete die Tür, um seinen Bruder mit einem Winken reinzulassen. Adrian, der ebenfalls aufgestanden war, sah zwischen ihnen umher, zog natürlich prompt die richtigen Schlüsse und griff nach seiner Jacke.

»Ich lasse euch allein.«

»Ich wollte dich nicht vertreiben. Bleib ruhig da«, warf Mikael ein, aber Adrian schüttelte den Kopf.

»Ihr solltet klären, was es offenbar zu klären gibt. Ich fahre zurück ins Krankenhaus, schnappe mir Trey und suche mir mit ihm ein lauschiges Plätzchen, um ...«

»Das wollen wir nicht wissen!«

Niko sah überrascht zu Mikael, der dieselben Worte im selben Moment ausgesprochen hatte wie er, was Adrian zum Lachen brachte, bevor er sie allein ließ. Niko sah ihm nach und fragte sich, wie hoch seine Chance stand, dass Mikael sich dem Anwalt anschloss. Gleich null, beantwortete er sich diese Frage selbst, während die Tür hinter Adrian ins Schloss fiel. Daraufhin schaute er zu Mikael, der seinen Blick eine Weile schweigend erwiderte, bis er schließlich die Augen verdrehte und zur Couch hinüberging, um sich zu setzen.

»Ach komm schon, Niko. Willst du mir jetzt ernsthaft weismachen, dass du sauer auf mich bist, weil ich meine Meinung zu deinen Ex-Lovern kundgetan habe?«

»Pfft«, machte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.

Niko wusste nicht einmal, was ihn so daran störte, dass Mikael seine Wahl an Affären und Liebschaften negativ beurteilte, aber es ging ihm eindeutig gegen den Strich, wie sein Bruder das gesagt hatte. Es mochte stimmen, dass er bei der Auswahl seiner Ex-Freunde noch nie eine allzu große Sorgfalt hatte walten lassen, darin gab er seinem Bruder sogar recht, aber er hatte niemals mit Kindern geschlafen.

»Um eines klarzustellen, ich habe nie mit Kindern gefickt«, erklärte Niko beleidigt und setzte sich ebenfalls.

Mikael sah ihn erst ratlos an, aber dann begriff er und lehnte sich stöhnend nach hinten, um sich durch die Haare zu streichen. »Das hat dich so sehr gegen mich aufgebracht? Niko, ich meinte damit nur, dass deine Freunde meist ziemlich jung waren. Ich hatte nie die Absicht, dir irgendetwas zu unterstellen.«

»Hast du aber.«

»Das habe ich nicht«, entrüstete sich Mikael mit erstauntem Blick, was ebenfalls stimmte, aber zurücknehmen wollte Niko den Vorwurf trotzdem nicht. »Es tut mir wirklich leid, dass das so bei dir ankam.«

Niko winkte ab, da er sich auf einmal dämlich vorkam. »Ist doch egal.«

»Nein, das ist es nicht«, hielt sein Bruder dagegen und setzte sich wieder aufrecht hin. »Nicht, wenn ein einziger Satz von mir dir so wehtut. Das wollte ich nicht und ich sage noch mal, es tut mir leid.«

»Ach, vergiss es einfach.«

Niko stand auf und begann eine unruhige Wanderung zwischen Couch und Bett. Was war bloß mit ihm los? Er verstand sich selbst nicht mehr. So bescheuert verhielt er sich doch sonst nicht. Wie kam er dazu, Mikael etwas vorzuwerfen, was sein Bruder nicht getan hatte? Und wieso? Um ihn zu verletzen, da Mikael ihn ungewollt verletzt hatte? Aus Rachsucht? Er schüttelte über sich selbst den Kopf, konnte den Gedanken dadurch jedoch nicht loswerden. War er in den letzten Wochen wirklich so tief gesunken?

»Niko!«

Niko zuckte erschrocken zusammen und hielt inne, um Mikael anzusehen. »Was?«

»Du hast kein Wort von dem gehört, was ich gerade wegen Tyler gesagt habe, oder?«

Niko wurde rot. »Ähm ...«

Mikael fing an zu grinsen und erhob sich, um auf ihn zuzutreten. »Dachte ich mir schon, und auch wenn du es nicht hören willst, ich glaube, du magst Tyler. Und zwar weit mehr als dir bewusst ist.«

»Tue ich nicht«, wehrte er krächzend ab und rieb sich die Hände, weil sie plötzlich unerklärlich schwitzten.

»Oh doch, tust du«, widersprach Mikael schmunzelnd und strich ihm über die Wange. »Mir gefällt´s. Ich mag ihn. Obwohl ich seinen Sinn für Humor noch nicht ganz verstanden habe.«

»Seit wann hat Tyler Sinn für Humor?«, fragte Niko verdattert und begriff erst anschließend, was Mikael mit seinen Worten wirklich gemeint hatte.

Oha, dachte er und wich einen Schritt zur Seite, um seine nervöse Wanderung wieder aufzunehmen. Mikael mochte den Cop und war zu ihm ins Hotel gekommen, um über Tylers Humor zu reden? Das sah für ihn schwer nach einer 'Verkuppeln wir Niko'-Aktion aus. Bei ihm stellten sich sämtliche Nackenhaare auf, weil er ahnte, was gleich kam.

»Wir sollten ihn mal zum Essen einladen.«

»Nein!« Niko fuhr auf dem Fuße herum und schüttelte den Kopf. »Kommt gar nicht infrage.«

»Und warum nicht?«

»Mik, ich warne dich ...«

»Was?«, gab sich sein Bruder unschuldig, doch seine amüsiert blickenden Augen verrieten ihn. »Ich tu doch gar nichts.«

»Du willst mich verkuppeln«, warf Niko ihm entrüstet vor und Mikael winkte lächelnd ab.

»Ich rede doch nur von einer freundlichen Einladung zu einem Essen, nicht vom Heiraten.«

»Heiraten?«, echote er vollkommen entsetzt und sein Bruder prustete los. »Mikael!«

Mikael wedelte entschuldigend mit den Händen und setzte sich lachend zurück auf die Couch, während Niko ihn mit einem finsteren Blick durchbohrte. Seinen Bruder kümmerte das nicht die Bohne. Stattdessen griff er nach Adrians Essenskarton, um sich über dessen Reste herzumachen. Niko seufzte und setzte sich wieder hin. Es brachte nichts, weiterhin beleidigt zu sein. Er hatte ohnehin keinen Grund dafür. Aber mit dem Bullen essen gehen, würde er ganz sicher nicht.

»Wag es ja nicht, ihn zum Essen einzuladen, Mik, dann erwürge ich dich«, drohte er halbherzig und wurde dafür wie erwartet ausgelacht. »Blödmann.«

»Ich liebe dich auch, kleiner Bruder«, neckte Mikael ihn mit einem Grinsen auf den Lippen, was Niko ungewollt schmunzeln ließ, während er nach seinem eigenen Essenskarton griff. »Adrian hat ihn letzte Nacht überprüft.«

Niko verschluckte sich und fing an zu husten, weil er genau wusste, wer mit ihn gemeint war. Adrian hatte Tyler überprüft? Nicht, dass es Niko großartig überraschte, das machte der Anwalt schließlich bei jedem, der neu zur Familie stieß. Aber wieso? »Warum?«

Mikael grinste. »Du kennst ihn doch. Er wollte sichergehen, dass Tyler gut für dich ist, nachdem euer kleines Geheimnis nun keines mehr ist.«

»Wie bitte?« Niko sah Mikael empört an. »Das entscheide ja wohl immer noch ich.«

»Sicher tust du das«, stimmte sein Bruder ihm zu und lehnte sich zurück, um mit der Gabel auf ihn zu deuten. »Und laut Adrian darfst du das auch tun, denn dein Bulle ist weder süchtig, noch weist er irgendwelche Psychosen auf, die ärztlich behandelt werden müssten. Ich gestehe, dass mich das beruhigt.«

»Mik«, sagte Niko warnend und Mikael nickte.

»Ja, ja, ich höre schon auf. Ich wollte nur sagen, dass ich Tyler mag. Ihr seid praktisch von jetzt auf gleich in diese Sache hinein gestolpert ...« Mikael brach ab und schüttelte den Kopf. »Gestolpert ... Wie das klingt ... Aber du weißt, was ich meine, oder?«

Niko nickte, sagte aber nichts dazu. Mikael schien in Plauderlaune zu sein und wo die Katze eh schon aus dem Sack war, interessierte ihn doch ein bisschen, was seine Familie darüber dachte. Immerhin würden sie mit Tyler so lange klarkommen müssen, bis diese Gangtypen gefasst waren, die nur wegen ihrer Straßenkriege beinahe Noah getötet hatten.

»Wir mögen Tyler jedenfalls und seinen Job macht er, laut Adrian, wohl auch sehr gut. Ich hoffe, er findet diese Mistkerle und ich hoffe ebenfalls, dass Noah bald wieder aufwacht.«

»Ich auch«, murmelte er und nahm sich etwas von der Cola, die Adrian auf sein Drängen hin gekauft hatte, da Niko dieses Edelwasser ohne Kohlensäure, was der Anwalt bevorzugte, eklig fand. »Du weißt von Tristans Problem, oder?«

Mikael nickte. »Es war nicht schwer zu erraten. Ein Grund mehr, zu hoffen, dass sich für Noah alles zum Guten wendet. Liam weiß übrigens nichts davon und ich glaube, es wäre das Beste, wenn es so bleibt.«

»Weiß Liam wirklich nichts oder glaubt ihr nur, dass er keine Ahnung hat?«, hakte er nach, denn ihn würde nicht wundern, wenn Liam längst zwei und zwei für sich zusammengezählt hatte.

»Gute Frage«, gab Mikael zu und streckte seine Beine aus, um es sich gemütlicher zu machen. »Ich schätze, er ahnt etwas, er ist schließlich kein Dummkopf. Colin und ich werden jedenfalls nichts dazu sagen, solange er nicht selbst mit dem Thema anfängt. Kilian und Dale halten das genauso. Wir tun so, als wüssten wir von nichts und halten dabei sämtliche Augen und Ohren offen, für den Fall, dass es Probleme gibt.«

»Wie man es in einer Familie nun mal tut«, murmelte Niko und musste lachen, als Mikael ihn daraufhin träge angrinste. »Lass es. Kein Verkuppeln. Keine Einladung zum Essen.«

»Na gut«, sagte Mikael gespielt enttäuscht und setzte sich wieder aufrecht hin. »Habt ihr zufällig an Nachtisch gedacht oder gibt’s nur Nudeln? Ich habe Lust auf etwas Süßes.«

»Dann wirst du wohl deinen Mann anrufen müssen.«

»Ich rede nicht von Sex, du Banause«, entrüstete sich sein Bruder gespielt und stand auf, um zum Telefon zu gehen. »Mal sehen, was der Zimmerservice im Angebot hat.«

»Wie hat Colin eigentlich darauf reagiert, dass Kilian und Dale auf ihrem Roadtrip geheiratet haben?«, fragte Niko, nachdem sein Bruder beim Hotel Vanilleeis mit Schokoladensoße und Erdbeeren geordert hatte.

»Och, na ja ...«

Mikael brach ab und fing an zu grinsen, was Niko erst richtig neugierig machte. »Nun sag schon«, drängelte er, denn die Hochzeit der beiden hatte selbst für ihre Familie, in der irgendwie nichts lange geheim blieb, unglaublich schnell die Runde gemacht. Außerdem war sie nach dem ganzen Drama um Alex und Kilian, die beste Nachricht der letzten Zeit gewesen. Niko freute sich wirklich sehr für Kilian und Dale, denn sie waren unübersehbar glücklich miteinander.

»Wenn du es weitererzählst, bist du ein toter Mann.«

»Ich schweige wie ein Grab«, versprach Niko amüsiert und Mikael zwinkerte ihm zu.

»Colin hat seinen Mund die ersten fünf Minuten nicht mehr zu bekommen. Da dachte ich allerdings bereits an Mord und Totschlag und habe am Telefon gehangen, um Kilian zurückzurufen.«

Niko prustete los.

»Wart ab, das Beste kommt erst noch.« Mikael gluckste und setzte sich zu ihm. »Nachdem mein lieber Ehemann sich eingekriegt hatte, hat er sich darüber beschwert, wie Dale es wagen kann, seinen Sohn zu heiraten, ohne uns vorher um Erlaubnis zu fragen. Und er meinte das tatsächlich ernst. Du weißt schon, auf seine gluckenhafte Art. Ich konnte mich kaum halten vor Lachen und überlege immer noch, ob ich Dale davon erzählen soll. Wie ich ihn kenne, holt er es sofort nach und fragt Colin ganz standesgemäß um Erlaubnis.«

Niko lehnte sich lachend an Mikaels Schulter, der ihm daraufhin durch die Haare strich. Diese Geschichte war so typisch für Colin. Falls Mikael Dale tatsächlich davon erzählte und der sich entschloss, Colin nachträglich um Erlaubnis zu fragen, würde Niko Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dabei sein und ein Foto von Colins Gesichtsausdruck zu machen.

 

 

4. Kapitel

 

 

 

 

»Warum tauchst du eigentlich immer wieder bei mir auf?« Niko war frustriert und außerdem hundemüde. »Wieso verschwindest du nicht aus meinem Kopf, Alex?«

»Das werde ich«, antwortete sein Bruder leise und Niko fühlte, wie die Matratze etwas einsank, als Alex sich neben ihn aufs Bett setzte. »Sobald du bereit bist, mich gehen zu lassen. Aber noch ist es nicht so weit.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich bin hier der Tote, schon vergessen?«

»Wie könnte ich?« Niko sah zur Seite. »Komisch.«

»Was?«

»Wie ein Toter siehst du gar nicht aus. Eher völlig normal«, antwortete Niko und Alex grinste.

»Was hast du erwartet? Ein weißes, durchsichtiges Nachthemd und rasselnde Ketten?«

»Vergessen wir das mit dem durchsichtig besser, sonst bekomme ich Albträume.«

Niko schüttelte sich übertrieben und grinste, als Alex zu lachen anfing, während er sich weiter auf das Bett setzte, um sich anschließen auf seiner linken Hand abzustützen und belustigt auf ihn hinunterzusehen.

»Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.«

Niko runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

»Miterleben zu dürfen, wie du dich verliebst«, wurde Alex genauer und Niko stöhnte auf.

»Nicht du auch noch. Habt ihr euch in den letzten Stunden alle abgesprochen, um mir wegen Tyler auf die Nerven zu gehen? Erst Mik, dann Tristan, dann Adrian, danach wieder Mik und jetzt du. Ich bin nicht verliebt.«

»Du magst ihn, Niko, und er mag dich auch. Ihr seid beide nur so sehr dagegen, dass ihr es nicht einsehen wollt und euch mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Allerdings hat bei Tyler schon das Verstehen begonnen. Du wirst früher oder später nachgeben müssen, um ihn nicht zu verlieren.«

»Alex ...«

Sein Bruder schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Hör endlich auf damit, das zwischen euch auf Sex zu reduzieren. Es war von Anfang an mehr und du weißt das.«

»Alex ...«

»Außerdem solltest du ihn helfen lassen.«

»Helfen?« Niko sah Alex ratlos an. »Wobei?«

»Wach auf, dann erfährst du es.«

 

Ein energisches Klopfen riss Niko aus dem Schlaf.

Er sah verwirrt neben sich, in der festen Überzeugung, Alex dort liegen zu sehen, aber die zweite Bettseite war leer und unberührt. Das Klopfen wiederholte sich und erst da registrierte Niko, dass er in seinem Hotelzimmer im Bett lag. Er musste an Mikaels Schulter eingeschlafen sein und sein Bruder hatte ihn ins Bett gebracht. Es klopfte zum dritten Mal.

»Ich weiß, dass du da bist. Mach auf!«

Tyler. Wer auch sonst? Heute wollte ihm scheinbar wirklich jeder in irgendeiner Form auf die Nerven gehen. Niko schlug gereizt die Bettdecke zurück und bemerkte erleichtert, dass er Shorts und eines seiner alten T-Shirts trug. Tyler nackt die Tür zu öffnen oder vorher nach seiner Kleidung suchen zu müssen, hätte Nikos Laune jetzt den Rest gegeben.

»Danke, Mik«, flüsterte er auf dem Weg zur Tür und zog sie auf. Tyler sah ihn kurz an und ließ dann den Blick über seinen Körper wandern, was Niko nur noch mehr ärgerte. »Noch nie einen Kerl gesehen, der Kleidung zum Schlafen trägt? Was willst du eigentlich schon wieder hier? Mein Hotelzimmer ist kein Durchgangsbahnhof für nervende Cops.«

Tyler runzelte sichtlich die Stirn und schob sich an ihm vorbei ins Zimmer.

»Komm ruhig rein, Tyler«, erklärte er mit deutlichem Sarkasmus in der Stimme. Tyler drehte sich zu ihm und zog spöttisch die Brauen hoch. Niko warf die Tür hinter sich zu. »Du bist ein Arschloch!«

»Wer hat dich denn geärgert?«

»Abgesehen von dir?«

Tyler seufzte tief und fuhr sich durch die Haare, die an den Schläfen bereits grau waren. Es war das erste Mal, dass Niko dieser Umstand auffiel. Merkwürdig, dass er vorher nie darauf geachtet hatte. Aber warum hätte er es auch tun sollen? Im Bett waren graue Haare schlichtweg uninteressant. Da zählten andere Dinge für ihn und von denen hatte der Cop jede Menge. Sowohl in Erfahrung als auch in Zentimetern. Allerdings hatte Niko weder auf das eine noch das andere Lust.

»Ich will mit dir reden«, antwortete Tyler, als Niko ihn gerade wieder hinauswerfen wollte, um zurück ins Bett zu verschwinden.

»Worüber?«, fragte er gelangweilt und wandte sich ab, um eine Flasche Wasser aus dem kleinen Kühlschrank zu holen, der zur Zimmerbar gehörte.

»Darüber, was ich im Krankenhaus gesagt habe.«

Niko brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, worauf Tyler hinauswollte, aber dann sackte seine Laune gleich noch um mehrere Stufen tiefer. Er nahm sich eine Flasche und warf die Kühlschranktür zu, ehe er zu sich Tyler umdrehte und ihn stinksauer ansah.

»Dafür hättest du eins auf die Fresse verdient. Was denkst du dir dabei, meiner Familie ...« Niko brach ab und atmete tief durch. »Nein, vergiss das. Ich muss mich korrigieren, denn du hast überhaupt nicht nachgedacht, sonst hättest du ihnen nicht auf die Nase gebunden, dass wir miteinander ficken.«

Tylers Blick verfinsterte sich. »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen.«

»Das wundert mich nicht. Geben eigentlich alle Cops ihren Verstand beim Eignungstest ab oder gilt das ausschließlich für dich?« Niko deutete auf die Tür, als Tyler die Hände zu Fäusten ballte. »Sieh zu, dass du Land gewinnst, und zwar sofort!« Tyler reagierte nicht auf seinen Rauswurf und Niko verdrehte die Augen. »Muss ich es für Doofe übersetzen? Raus hier!«

»Beleidigst du eigentlich jeden deiner Kerle oder bin ich die berühmte Ausnahme von der Regel?«

Niko grinste überheblich. »Willst du darauf wirklich eine ehrliche Antwort?«

»Nein.« Tyler musterte ihn mit einem Blick, den Niko sofort als besitzergreifend einordnete, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wollte nur sichergehen, dass es keinen anderen gibt. Ich teile nicht.«

Niko schnappte empört nach Luft. Also das schlug ja wohl dem Fass den Boden aus. Die kleine Wasserflasche landete mit einem Knall hinter Tyler an der Wand und zerbrach in unzählige Scherben, da hatte Niko noch gar nicht begriffen, dass er sie nach dem Cop geworfen hatte, der dank seiner langjährig trainierten Reflexe rechtzeitig ausweichen konnte.

»Das geht dich einen Scheiß an, Johnson! Selbst wenn ich neben dir zehn Typen hätte. Wir sind kein Paar und wir sind auch nicht verheiratet, was Gott verhüten möge, denn ehe ich jemanden wie dich heirate, springe ich lieber von der Brooklyn Bridge, kapiert?«

»Bist du jetzt fertig?«

Wenn es möglich gewesen wäre, wäre ihm bei Tylers herablassendem Tonfall jetzt Dampf aus den Ohren gestiegen. Niko fluchte unflätig und drängte sich an Tyler vorbei, der sich das wundersamerweise gefallen ließ, um in das zum Zimmer gehörende Badezimmer zu verschwinden. Dabei fegte er unbeabsichtigt eine Schatulle vom Schreibtisch. Ihr Deckel sprang auf, als sie auf dem Boden landete, und ein Stück Papier fiel heraus. Niko blieb stehen und starrte wie betäubt auf das Papier. Er war zu keinem Schritt mehr fähig. Auch nicht, als Tyler zu ihm trat und in die Hocke ging, um das Papier in die Hand zu nehmen. Niko konnte den raschen Wechsel von anfänglicher Irritation hin zu Begreifen beinahe spüren, als Tyler bewusst wurde, dass das fleckige Blatt Papier in seiner Hand ein unzählige Male gefalteter Brief war.

»Leg ihn zurück«, bat er mit hohler Stimme, denn er brachte es einfach nicht fertig, Tyler den Brief abzunehmen und es selbst zu tun.

»Was ist das?«

Niko schluckte die bittere Galle hinunter, die in seiner Kehle aufstieg. »Leg ihn zurück, Tyler.«

»Zwing mich dazu.«

Dieser verfluchte Mistkerl. Was hatte Niko nur getan, dass Gott ihm diesen Bullen in sein Leben geschickt hatte? Er würde Tyler erwürgen, sobald er einen Weg gefunden hatte, sich wieder zu bewegen und dem Mann die Waffe abzunehmen. Vielleicht sollte er ihn nicht erwürgen, sondern lieber erschießen. Das ging schneller und vor allem hätte er mit einer geladenen Waffe in der Hand zumindest eine kleine Chance, mit Tyler fertig zu werden, bevor der ihn schachmatt setzte.

»Hey, Bruderherz«, begann Tyler den Brief vorzulesen und sah fragend zu ihm hoch. Er stand auf, als Niko die Lippen fest zusammenpresste und schwieg. »Das ist Alex' Abschiedsbrief, oder?«

Scheiße. Verfickte Scheiße.

Woher wusste dieser Mistkerl davon? Die Antwort gab sich Niko im nächsten Augenblick selber, denn es war logisch, dass Tyler ihre gesamte Familie überprüft hatte. Er sollte schließlich für Noahs und Liams Schutz sorgen. Wahrscheinlich kannte Tyler die ganze miese Geschichte von Alex' Krankheit und seinem Selbstmord. Vermutlich wusste er auch von Kilians Entführung. Vielleicht wusste er sogar alles über ihn. Einfach alles. Niko wurde übel.

»Das hier ist der gefühlt tausendste Versuch, denn ich weiß einfach nicht, wie ich diesen Brief am besten anfange«, las Tyler vor und mit jedem neuen Wort zerbrach etwas in Niko.

Er kannte Alex' Brief in und auswendig. Jeden Satz und jeden leicht nach links geschwungenen Buchstaben. Jedes Stocken, wenn Alex beim Schreiben abgesetzt und erneut angefangen hatte. Niko hatte diesen Brief so oft in den Händen gehalten und gelesen, dass er sogar die Flecken auf dem Papier und seine Tränenspuren mit geschlossenen Augen finden würde.

»Hör endlich auf! Ich weiß, was in diesem verfickten Brief steht«, schrie er, am Ende mit den Nerven, und riss sich los. Sowohl von Tylers tiefer und ruhiger Stimme, als auch von seiner Position, um ins Bad zu flüchten und sich dort einzuschließen. Vielleicht begriff das Raubein ja auf diese Weise, dass er in seinem Zimmer nicht länger willkommen war.

Nur schien Johnson eine andere Definition davon zu haben, ob er willkommen war oder nicht. Niko traute seinen Ohren nicht, als er kurz darauf ein Schaben im Schlüsselloch hörte, bevor die Tür aufging und Tyler zu ihm ins Badezimmer trat. Mit einem Dietrich in der Hand warf Johnson einen abfälligen Blick auf die Tür und steckte dann seelenruhig sein Einbruchswerkzug in die Jackentasche.

»Dieses Schloss ist ein Witz.«

»Du hast gerade eine Tür aufgebrochen«, meinte Niko und wusste nicht, ob er Tyler dafür schlagen oder lieber in hysterisches Gelächter ausbrechen sollte.

»Und?«

»Du bist ein Cop.«

»Na und.«

»Na und?«, echote Niko fassungslos und sah von Tyler zur Tür und zurück. »Du kannst doch nicht einfach eine Tür aufbrechen.«

Tyler wirkte unbeeindruckt. »Wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, kann ich das sehr wohl.«

»Gefahr für Leib und Leben?« Niko schnaubte. »Was für ein Blödsinn. Ich wollte nur, dass du verschwindest.«

»Schon mal was von direkter Aussprache gehört?«

»Bitte?«, empörte sich Niko. »Ich habe gesagt Raus hier. Du hörst ja nicht auf mich.«

»Du warst sauer und ich wollte in Ruhe mit dir reden«, erwiderte Tyler und schloss die Badezimmertür, um sich von innen gegen das Holz zu lehnen. »Das will ich immer noch.«

Damit war das Thema Flucht vom Tisch, denn Niko machte sich keine Illusionen, was ein Vorbeikommen an diesem Sturkopf betraf. Er hatte nicht vergessen, dass er Tyler körperlich nichts entgegenzusetzen hatte. Niko würde härtere Geschütze auffahren müssen, um diesen Kerl loswerden, der sturer war, als er geglaubt hatte.

»Ich will nicht mit dir reden. Wann geht das endlich in deinen verdammten Dickschädel?«, fluchte Niko und klappte den Toilettendeckel herunter, um sich obendrauf zu setzen.

»Irgendwann müssen wir darüber reden.«

Was meinte Tyler damit nun wieder? »Worüber?«

»Uns.«

Niko stöhnte frustriert auf. »Es gibt kein uns, klar?«

»Gut, dann lass uns über Alex reden«, machte Tyler sofort den nächsten Vorstoß und Niko unterdrückte den Wunsch, mit dem Hinterkopf gegen die Wand zu schlagen.

»Nein!«

Tyler verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn abwartend an. Himmel, dieser Bulle war schlimmer als eine ganze Herde störrischer Esel. Niko hätte sich am liebsten die Haare gerauft und tat es schließlich, weil er mit seinem Latein am Ende war.

»Hätte ich eine Kanone, würde ich dich glatt umlegen. Meine Güte, wie kann man nur so penetrant sein?«

»Willst du meine haben?«, fragte Tyler trocken und Niko verlor die Beherrschung.

»Nein!« Er warf die neben der Toilette hängende Rolle Toilettenpapier nach Tyler, der einen Schritt zur Seite trat, um ihr auszuweichen. Tylers folgender Blick war so herrlich pikiert, dass Niko lachen musste, obwohl er es nicht wollte. »Du bist so ein Arsch«, japste er zwischen Lachen und Luftholen. »Ein arroganter, dickköpfiger und nerviger Arsch.«

Tyler seufzte leise. »Willst du was trinken, Niko?«

»Nein.«

»Du könntest einen Drink wirklich gebrauchen«, murmelte Tyler und fluchte lautstark, als plötzlich das Duschgel in seinem Bauch landete.

»Ja!«, jubelte Niko und grinste breit. »Strike. Treffer. Ich hab dich endlich erwi... Hey!« Er schrie auf, als Tyler ihn ohne ein weiteres Wort packte, in die Dusche schob und das kalte Wasser aufdrehte. »Bist du verrückt? Lass mich sofort hier raus!«

Niko wehrte sich mit aller Kraft, aber gegen Tyler war er chancenlos. Irgendwann gab er auf. Vor Kälte zitternd und am Rande eines Nervenzusammenbruchs, ließ er zu, dass Tyler ihn aus der Dusche zog, ihm seine triefenden Sachen vom Körper schälte und ihn in einen der beiden Bademäntel des Hotels wickelte, bevor er ihn hochnahm und ins Bett brachte. Danach sprach Tyler im Flüsterton mit irgendjemand und kurz darauf klopfte es an der Tür.

»Zimmerservice.«

Auch das noch. Was hatte der Bulle jetzt schon wieder gemacht? Er hörte, wie ein Mann Tyler versprach, ihre nassen Sachen in einer Stunde wieder zurückzubringen. Danach klappte die Tür und Tyler trat zu ihm ans Bett.

»Trink das.«

Niko vergrub sein Gesicht im Kopfkissen. Er wollte nichts trinken. Niko wollte, dass dieser hartnäckige und zu allem entschlossene Mistkerl aus seinem Leben verschwand. Oder wenigstens aus diesem Zimmer. Er wollte einfach nur seine Ruhe, war das denn wirklich zu viel verlangt?

»Es ist Tee, kein Alkohol.«

»Hau doch endlich ab«, flüsterte er in den Bezug des Kopfkissens, was wirkungslos blieb. Stattdessen zog Tyler so lange an seiner Schulter, bis Niko aufgab und sich mit einem genervten Blick im Bett aufsetzte. »Muss man dich erst erschießen, damit du Ruhe gibst? Der Bademantel steht dir übrigens nicht.«

»Ich kann ihn auch ausziehen und nackt herumlaufen, bis meine Sachen wieder trocken sind.« Tyler schnaubte, als Niko grinste, und deutete auf den Nachttisch. »Trink den Tee und iss die Suppe, sonst rufe ich deinen Bruder an und erzähle ihm, was hier los ist.«

»Mach doch«, murrte er voller Trotz und schnappte entsetzt nach Luft, als Tyler tatsächlich zum Couchtisch ging, wo neben seiner Waffe sein Handy lag. »Nein! Bist du verrückt?«

»Das höre ich seit Neuestem ständig.« Tyler legte das Handy zurück und kam wieder zum Bett, um sich zu ihm zu setzen. »Trinkst du jetzt den Tee oder nicht?«

»Ja, ja, ja ... Herrgott.« Niko nahm die Tasse vorsichtig vom Nachttisch und zuckte grinsend mit den Schultern, weil Tylers warnender Blick ihm verriet, dass der wusste, woran er eben gedacht hatte. »Es wäre den Versuch wert gewesen«, meinte er kichernd, woraufhin Tyler kopfschüttelnd seufzte und etwas murmelte, das doch ziemlich nach »Kindskopf.« klang. »Wieso nicht? Ein bisschen Tee im Haar hat noch keinem geschadet.«

»Niko!«

»Schon gut«, nörgelte er. »Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dir diesen schmackhaften Tee nicht über den Kopf zu schütten, zufrieden?«

Tyler sagte nichts mehr, sondern sah ihm schweigend dabei zu, wie Niko zuerst den Tee austrank und danach die Schüssel mit der Suppe leerte. Letztere schmeckte ihm sogar. Nicht, dass Niko es zugegeben hätte. Sonst hätte Tyler vielleicht eine zweite Schüssel bestellt und so weit ging seine Liebe zu Hühnerbrühe nun auch wieder nicht.

»Was stimmt eigentlich nicht mit uns?« Niko stellte die leere Schüssel zurück auf den Nachttisch und schaute Tyler nachdenklich an, der seinen Blick mit der für ihn so typischen Ruhe erwiderte. »Wieso können wir uns nie wie normale Leute unterhalten?«

»Ich hätte kein Problem damit, wenn du mich nicht ständig und überall reizen würdest.«

»Wie bitte?« Niko runzelte verärgert die Stirn. »Jetzt bin ich also wieder an allem Schuld, oder was?«

»Siehst du? Du fängst schon wieder an.«

»Ich fange überhaupt nicht an. Du hast doch gerade gesagt, ich wäre schuld daran, dass du ... Hmpf ...« Niko musste Tyler dreimal gegen die Brust schlagen, damit der wieder von seinen Lippen abließ. »Spinnst du! Du kannst mich doch nicht jedes Mal küssen, wenn wir uns streiten.«

»Anders kriegt man dich ja nicht zum Schweigen.«

»Das ist doch gar nicht wahr.«

»Und ob das wahr ist«, widersprach Tyler und packte Niko am Kragen seines Bademantels. »Und wenn du jetzt nicht aufhörst, ziehe ich dir den hier aus und zeige dir, was ich mit Leuten mache, die mich ständig ärgern. Du wärst nicht der Erste, der von mir den Arsch versohlt bekommt.«

Niko schnappte entrüstet nach Luft. »Das wagst du nicht.«

»Wetten?«

»Wenn du denkst, dass ich dir das wirklich abkaufe, dann bist du ... Hey! Tyler!«

Niko wollte nicht lachen, wirklich nicht, aber er tat es, als Tyler seine Drohung wahrmachte und er sich quer über dessen Schoß liegend wiederfand. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Tyler vorhatte, ihm den Arsch zu versohlen, wie er es zuvor ausgedrückt hatte. Aber Tyler schien genau das vorzuhaben und Niko wurde unsicher, als Tyler den Bademantel beiseiteschob und seine Kehrseite entblößte.

»Äh, Tyler ...?«

»Willst du immer noch wetten?«

Tyler legte eine flache Hand auf seine linke Backe und Niko spannte nervös schluckend seine Gesäßmuskeln an. »Hey, lass den Unsinn!«, befahl er, doch Tyler reagierte nicht darauf und Niko wurde unruhig. »Komm schon, hör auf damit. Es tut mir leid, okay? Ich hab´s versta...« Niko stockte verblüfft. »Hast du mir gerade in den Arsch gebissen?«

»Ja.«

»Du ... also ... du kannst mir doch nicht... Au! Tyler!«

»Hörst du jetzt endlich auf zu streiten?«

Niko musste sich arg zusammenreißen, um keines der Widerworte auszusprechen, die ihm auf der Zunge lagen. Oh, das würde Tyler ihm irgendwann büßen. »Ja.«

»Gut.«

Tylers warme Hand verschwand von seinem Hintern. Niko hielt in Erwartung eines Schlages die Luft an, um sie im nächsten Augenblick erschrocken entweichen zu lassen, als er eine Zunge zwischen seinen Backen spürte. »Oh, fuck!«

»So weit sind wir noch lange nicht«, konterte Tyler und glitt mit seiner warmen und feuchten Zunge erneut über Nikos zuckenden Muskel.

Niko stöhnte auf.

 

 

5. Kapitel

 

 

 

 

Tyler musste irgendwann in der Nacht gegangen sein, denn als Niko am nächsten Tag aufwachte, war seine zweite Bettseite leer und kalt.

Er setzte sich gähnend auf und entdeckte seine trockenen und gebügelten Sachen am Fußende des Bettes liegen. Der Bulle hielt sein Wort. Besser gesagt, der Zimmerservice. Sein Blick wanderte weiter zu jener Stelle an der Wand, an der gestern die Wasserflasche gelandet war. Keine Scherben. Nur ein Fleck auf dem Teppich war noch zu sehen. Tyler hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Niko seufzte und warf einen letzten Blick auf die leere Bettseite. Er spürte Enttäuschung in sich aufsteigen und stand auf, um duschen zu gehen und das ungewohnte Gefühl dabei hoffentlich wieder loszuwerden.

Dreißig Minuten später nahm sich Niko ein Taxi und fuhr ins Krankenhaus. Da es dort keinerlei Neuigkeiten gab, besorgte er erst mal Kaffee und Frühstück für seine Familie, wonach ihm auffiel, dass Noahs Väter nicht da waren. Er kam jedoch nicht zu einer Nachfrage, weil das Gespräch der beiden Beamten, die im Flur vor Noahs Zimmer Posten bezogen hatten, ihn ablenkte, als er gerade aus der Herrentoilette kam.

»Hast du gesehen? Er hat Maguire mitgebracht.«

»Als wenn man diese heiße Braut übersehen könnte.« Ein tiefes Seufzen folgte den Worten. »Soll sie den Schutz des Bruders übernehmen?«

»Ich dachte, Johnson wäre dagegen.«

»Vielleicht hat er seine Meinung ja geändert. Ich habe allerdings nichts davon gehört, dass Maguire Kendall aus der Stadt schaffen soll.«

»Was heißt das schon? Uns sagt doch eh keiner was.«

»Auch wieder wahr.«

»Zumindest kommen wir heute in den Genuss, Maguire direkt vor unseren Augen zu haben.« Einer der Cops lachte leise. »Was würde ich nicht alles für so eine tolle Braut geben. Johnson kann sich wirklich glücklich schätzen, die kleine Amazone als Freundin zu haben.«

»Das solltest du ihm besser nicht sagen.«

»Wieso nicht? Weil er mich dann umlegt?«

»Ich würde mir eher Sorgen um all die Dinge machen, die er tut, bevor er dich umlegt.«

»Falls er überhaupt dazu kommt. Oder hast du vergessen, dass Maguire solche Sachen gern persönlich erledigt?«

»Von ihr lasse ich mich sogar freiwillig erledigen.«

Die Cops kicherten und dann erhob sich einer, um die übliche Sicherheitsrunde zu starten, die sie jede Stunde liefen, um dabei die Etage, das Treppenhaus und die Aufzüge genauer in Augenschein zu nehmen. Niko nickte ihm zu, als der Beamte an ihm vorbeiging, und lehnte hinterher den Kopf nach hinten gegen die Wand, um seine Augen zu schließen und sich etwas zu sammeln.

Er hatte es bereits in dem Augenblick geahnt, als Tyler seine Nachfrage wegen dieser Frau so abrupt abgebügelt hatte. Niko verkniff sich den Schrei, der in seiner Kehle aufstieg. Das würde Tyler büßen. Ihn bei seiner Familie verpfeifen, nur um herauszufinden, ob er nebenbei eine zweite Affäre am Laufen hatte, und dabei zeitgleich mit der eigenen Partnerin ins Bett steigen. Er schnaubte. War das nicht eigentlich verboten? Auf jeden Fall war es der Gipfel der Frechheit in seinen Augen.

»Hi, Maguire.«

»Hi, Bolt.«

Niko blickte zum Fahrstuhl, dessen Türen sich eben hinter einer Frau schlossen, die er selbst zwar nicht als Amazone betitelt hätte, aber den Rest der Schwärmerei von den Cops konnte er jetzt gut verstehen. Grace Maguire war schön. Nicht auf die langweilige Modelart, mit blonden Haaren und blauen Augen, wie es so vielen Männern gefiel, sondern fraulich schön. Niko konnte nicht anders, als sie anzusehen, während Maguire den Gang entlang in seine Richtung kam.

Tylers Partnerin war klein, hatte tolle Rundungen an genau den richtigen Stellen, einen hoch gegelten Kurzhaarschnitt und die eindrucksvollsten Augen, die er je gesehen hatte. Dunkles Braun, beinahe schon schwarz. Mit sehr langen Wimpern und einem Blick, der eindeutig besagte: Leg dich nicht mit mir an. Tja, was das anging, hatte sie Pech, denn er würde genau das tun, sobald er Tyler in die Finger bekam.

Niko setzte ein herausforderndes Lächeln auf, als ihre Blicke sich trafen. Maguires Antwort war ein tiefes Stirnrunzeln, das ihn wiederum irritierte, weil sie ihn dabei genau in Augenschein nahm, als wüsste sie nicht, wer er war. Niko stutzte etwas. Hatte Tyler ihr nichts erzählt? Aber wie sollte das gehen? Die beiden arbeiteten zusammen.

»Grace.«

Tylers freudige Stimme lenkte Maguire genauso ab wie ihn. Niko wurde eiskalt, während er dabei zusehen musste, wie Tyler aus dem Fahrstuhl kam und mit langen Schritten zu Maguire aufschloss. Tyler lächelte zwar nicht, aber der warme Ausdruck in seinen blauen Augen sprach für Niko dicke Bände, als Tyler sich einen Moment mit Grace unterhielt und sie danach in die Arme schloss.

Das musste ein Albtraum sein. Wahrscheinlich schlief Niko noch und bildete sich alles nur ein. Das würde Tyler ihm nicht so offensichtlich antun, nicht nachdem, was in der vergangenen Nacht zwischen ihnen gewesen war. Andererseits, was war da schon gewesen? Tyler hatte ihn wütend gemacht und damit aus einem Tief geholt, mehr nicht. Sie hatten sich nichts versprochen. Gar nichts. Und das würden sie auch niemals tun, es war Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen.

Als Maguire Tyler vertraut anlächelte und ihm nach einem gemurmelten Spruch lachend in die Seite boxte, presste Niko seine Zähne so heftig aufeinander, dass sein Kiefer anfing zu schmerzen. Er hätte niemals mit diesem verlogenen Dreckskerl ins Bett steigen sollen. Ein Fehler, den er zwar nicht korrigieren konnte, aber er würde ihn auch nicht wiederholen. Nie mehr. Stattdessen würde er Detective Tyler Johnson aus seinem Gedächtnis streichen. Für immer.

Niko stieß sich von der Wand ab und registrierte aus den Augenwinkeln, dass sich die Tür von Noahs Zimmer öffnete. Wer dann hinter ihm in den Flur trat, sah Niko allerdings nicht mehr, denn sein Blick war stur auf Tyler gerichtet, während er zu ihm und Maguire ging. Er warf der Frau ein Lächeln zu, das so kalt war, dass es keinen Zweifel darüber zuließ, wie es in Wirklichkeit gemeint war, bevor er Tyler angrinste.

»Viel Spaß, Bulle. Ich hatte ihn jedenfalls.«

Tyler begriff umgehend, was er damit meinte. »Es ist nicht, wie du gerade denkst«, sagte er leise und machte es damit nur noch schlimmer.

Niko schnaubte herablassend. »Wie lustig. Das sagen immer genau diejenigen, die den meisten Dreck am Stecken haben.« Er trat dicht an Tyler heran, um es den Lauschern hinter ihnen schwer zu machen. »Wirf du mir noch einmal vor, etwas mit einem anderen Kerl am Laufen zu haben, du mieser Drecksack.« Tyler hielt ihn am Arm zurück, als Niko an ihm und Maguire vorbei wollte. »Lass mich los oder ich mache dir hier und jetzt eine Szene, die du nie wieder vergessen wirst!«

»Niko, ich habe dich nicht belogen.« Tyler ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. »Wir klären das später.«

Niko lachte hämisch und schüttelte dabei den Kopf. »Nein, werden wir nicht.«

»Niko ...«

»Wir sind fertig, Detective!«

Niko verschwand wutentbrannt im Treppenhaus. Das leise und hörbar verblüffte »Hast du es ihm denn nicht gesagt?« von Maguire, verdrängte er einfach, während er mit eiligen Schritten das Krankenhaus verließ, sich ein Taxi nahm und zurück ins Hotel fuhr.

 

Da hielt er sich am frühen Abend dann immer noch auf und starrte die Flasche Glenfiddich Whisky an, die er sich gleich bei seinem Eintreffen vom Hotel hatte organisieren lassen, um sich gepflegt zu betrinken. Getan hatte Niko es nicht, auch wenn er immer noch darüber nachdachte. Aber die Angst die Kontrolle zu verlieren, so wie im letzten Jahr, war einfach zu groß.

Stattdessen starrte er seit Stunden die verfluchte Flasche an, die ihn auszulachen schien, weil er insgeheim immer noch darauf wartete, dass Tyler sich meldete. Wie er es bereits den ganzen Tag über tat. Doch es schien, als wäre Tylers »Es ist nicht, wie du gerade denkst.« genau das, was er dachte.

Niko sah zur Tür, als es klopfte. Das vierte Mal, seit er aus dem Krankenhaus verschwunden war. Trotzdem ignorierte er Mikaels besorgte Frage, ob er da war. Genauso wie er das achte Piepen seines Handys ignorierte, das den Eingang einer neuen Nachricht preisgab. Wie oft es in den letzten Stunden geklingelt hatte, konnte er nicht mehr sagen. Nach dem zehnten Mal hatte er aufgehört mitzuzählen.

Anfangs hatte er noch hingesehen, in der Hoffnung Tylers Namen zu entdecken. Er hätte es besser wissen sollen. Irgendwann war sein letzter Rest an Hoffnung in Wut und Trotz umgeschlagen. Wenn er wütend war, tat es nicht so weh. Wütend zu sein, machte es leichter für Niko. So musste er sich wenigstens nicht mehr fragen, was das zwischen ihnen war oder vielleicht irgendwann hätte werden können.

Mit Wut konnte er umgehen. Sie war ihm so vertraut, wie das Atmen. Niko hatte sie perfektioniert. Vor Jahren schon. Gemeinsam mit Alex, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Wut und Widerstand waren die einzigen Gefühlsregungen, die ihr Vater verstanden hatte und mit denen sie sich gegen ihn behauptet hatten, bis es zum Eklat gekommen war.

»Vielleicht solltest du endlich aufhören, immer wie ein kleiner Feigling abzuhauen, sobald es Probleme gibt.«

Niko runzelte entrüstet die Stirn. »Wenn du nur hergekommen bist, um mich zu beleidigen, kannst du mich mal gernhaben. Und jetzt hau ab.«

Sein Bruder seufzte im Flur hörbar. »Niko, Tyler hat dir die Wahrheit gesagt.«

Sicher. Das taten Betrüger schließlich immer. »Pfft.«

»Er hat keine Beziehung mit Grace Maguire und das wüsstest du auch längst, wenn du nicht verschwunden wärst, sondern ihm erst mal zugehört hättest.«

Niko schwieg trotzig.

»Ich habe ihn einfach gefragt und er hat mir erzählt, wie er zu Grace steht.«

Na toll. Mit seiner Familie redete Tyler, aber mit ihm selbst nicht. »Ist mir egal.«

»Lügner«, widersprach sein Bruder ruhig, woraufhin Niko der Tür beleidigt die Zunge rausstreckte. Er würde nicht nachgeben. Tyler hatte genug Zeit gehabt. Den ganzen Tag hatte er gewartet, obwohl er es nicht zugeben würde. Aber er hatte gewartet und gehofft. Auf einen Anruf, eine Nachricht, irgendetwas. Und was war passiert? Nichts.

»Verschwinde einfach. Das kannst du ja schließlich genauso gut wie Tyler«, knurrte er und starrte auf die Whiskyflasche.

»Was soll denn das jetzt heißen?«

»Ich sag nur Australien.«

Mikael schnappte entrüstet nach Luft und murmelte einen Fluch. »Verdammt, Niko. Du bist dickköpfiger als ein Esel. Ich gehe. Ruf mich an, wenn du vorhast, dich nicht mehr wie ein Kind zu benehmen.«

»Dann geh doch! Hau ab und lass mich in Ruhe«, rief Niko und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. »Ich brauch dich nicht. Und deine Ratschläge brauche ich auch nicht.«

»Was du brauchst, ist ein ordentlicher Tritt in deinen sturen Hintern und den verpasse ich dir, sobald ich dich in die Finger kriege, verlass dich drauf.«

»Mik, das bringt nichts«, hörte er Colin leise sagen, was ihn nur noch mehr auf die Palme brachte. Jetzt kamen sie schon zu zweit, um ihm Vorwürfe zu machen.

»Wieso muss er immer so stur sein? Tyler hat nicht mit ...«

»Lass die beiden das selbst klären. Tyler hat die Geduld dafür, du nicht.«

»Wie soll man auch bitteschön geduldig sein, wenn er so einen Blödsinn redet? Colin, hör auf zu grinsen. Ich mache mir Sorgen und du grinst?«

»Du gluckst.«

»Genau wie du«, konterte Mikael angesäuert, was Niko ungewollt schmunzeln ließ.

Colin lachte. »Das weiß ich. Aber jetzt lass uns etwas essen gehen. Er kriegt sich schon wieder ein.«

»Ich will doch nur ...«

»Helfen, ich weiß. Das will ich auch.«

Mikael seufzte resignierend. »Wieso besteht unsere gesamte Familie eigentlich nur aus Dickschädeln?«

»Weil unser Leben ohne sie ziemlich langweilig wäre«, antwortete Colin amüsiert und Mikael gluckste.

»Ich hätte bedeutend weniger graue Haare.«

»Alles hat seinen Preis«, sagte Colin lässig und Mikael lachte. »Niko? Wir lieben dich, obwohl du ein Sturkopf bist. Willst du nicht mitkommen? Etwas essen und danach ins Kino?«

Das Angebot war verlockend, aber sein großer Bruder würde ihn den ganzen Abend lang nicht aus den Augen lassen und das konnte Niko in seiner aktuellen Stimmung nicht aushalten, ohne dass es wieder im Streit endete. Hierbleiben wollte er allerdings auch nicht. Es war das Beste, wenn er den Whisky einfach wegschüttete und ausging. Irgendwo würden sich garantiert ein netter Club und ein knackiger Hintern für eine Nacht finden lassen.

»Nein, ich werde ausgehen.«

»Ausgehen?«, fragte Mikael überrascht und Niko wünschte sich im nächsten Moment, nichts gesagt zu haben, denn er ahnte, was gleich kam. »Du willst doch nicht etwa ...?«

»Doch, das will ich«, unterbrach er seinen Bruder, griff sich die Flasche und ging zur Tür, um sie zu öffnen und dem sichtlich erstaunt dreinblickenden Mikael den Whisky in die Hand zu drücken. »Hier. Ich wollte mich anfangs besaufen, aber ich denke, ein Club und ein netter Arsch tun es auch.«

Mikael holte Luft, aber Colin war schneller, als er seinem Bruder eine Hand auf den Unterarm legte und danach ihn tadelnd ansah. »Du machst einen Fehler, Niko.«

Niko zuckte mit den Schultern. »Wäre schließlich nicht der Erste, oder? Gute Nacht.«

Er warf beiden die Tür vor der Nase zu und ging ins Badezimmer, um zu duschen und sich hinterher in die aufreizendsten Klamotten zu werfen, die er finden konnte.

 

 

6. Kapitel

 

 

 

 

Die New Yorker Clubszene war wirklich erste Sahne, stellte Niko gegen Mitternacht fest, als er aus dem dritten Taxi stieg, um in den nächsten Club zu gehen.

Er hatte gleich mit seinem ersten Taxifahrer einen Glückstreffer gelandet, denn ein knapper Blickaustausch zwischen ihnen war ausreichend gewesen, um zu wissen, dass sie dieselben Interessen hatten. Und da er ohnehin Miguels letzte Tour für diesen Abend gewesen war, hatte Niko den jungen Spanier auf ein paar Drinks eingeladen und war mit ihm danach in den Darkroom des Clubs verschwunden.

Aus Miguel war mittlerweile Travis geworden, der bei ihm im Taxi saß, jetzt aber nach Hause wollte, was Niko bedauerte, denn Travis war begnadet mit den Fingern. Er warf dem blonden Schönling nach dem Aussteigen ein freches Zwinkern zu, das mit einem breiten Grinsen erwidert wurde, dann trennten sich ihre Wege und Niko trat in den Club, um sich nach einer Begleitung für den Rest der Nacht umzusehen.

 

Stahlblaue Augen, ein attraktives Lächeln und ein umwerfender Körper, waren die ersten Dinge, die Niko auffielen, als er eine Stunde später gerade damit beschäftigt war einen Kerl loszuwerden, der mit ihm tanzen wollte. An sich hätte er nichts dagegen gehabt, aber der Bengel war sogar ihm viel zu jung. Er beugte sich zu dessen Ohr, behielt dabei aber den Fremden im Blick, was mit einem belustigten Grinsen kommentiert wurde.

»Kleiner, wenn du nicht sofort aufhörst, mir auf die Pelle zu rücken, frage ich mal bei der Security nach, seit wann in diesem Club Kinder zugelassen sind.«

Der Junge zuckte ertappt zusammen und verschwand wortlos in der Menge. Niko verdrehte die Augen in Richtung seines unbekannten Beobachters, der lachte, bevor er zu ihm auf die Tanzfläche kam.

»Zu jung?«, fragte der Mann, als er nah vor ihm stand, und Niko nickte, während er sein Gegenüber etwas genauer in Augenschein nahm. »Bin ich im Gegenzug zu alt?«

Noch vor einem Monat hätte er diese Frage eindeutig mit Ja beantwortet, musste sich Niko eingestehen, aber heute schüttelte er den Kopf und dachte an Tyler. Äußerlich hatte der Cop mit diesem Mann zwar nichts gemeinsam, aber vom Alter her trennte sie nicht viel.

»Ich bin Niko.«

»Thomas. Nenn mich Tom.«

»Wollen wir tanzen, Tom, oder stehen wir noch weiter wie bestellt und nicht abgeholt mitten auf der Tanzfläche herum?«

Tom gluckste und nahm seine Hand. Niko ließ sich darauf ein, legte eine Hand auf Toms Seite und die andere in seinen Nacken, als der ihn näher zu sich gezogen hatte. Ob Tyler wohl tanzte? Ging er überhaupt aus? Niko hatte keine Ahnung, würde aber auch nicht fragen. Jetzt nicht mehr, entschied er und schmiegte sich dichter an Tom, was den zufrieden seufzen ließ, ehe er beide Hände auf seine Seiten legte und dabei beide Daumen unter den Bund seiner Jeans schob. Ein unmissverständliches Zeichen.

»Was suchst du hier, Niko?«

»Eine Begleitung für eine Nacht«, antwortete er direkt und ehrlich, um ein Missverständnis von vornherein zu vermeiden. »Und du?«

»Dasselbe. Allerdings bin ich nicht allein hier.«

Tom schaute über seine Schulter und Niko folgte dem Blick zum Rand der Tanzfläche, wo ein Mann zur Hälfte im Schatten einer der zehn Säulen stand, die in einem Kreis um die Tanzfläche herum angeordnet waren, und sie ganz genau beobachtete. Er hatte einen hellen Cocktail in der Hand und sah auf den ersten Blick ebenso attraktiv aus wie Tom. Auf den zweiten Blick schauderte Niko jedoch, denn im Gegensatz zu den blauen Augen von Tom, die seine Gefühle offen und auch ehrlich zeigten, machten die grünblauen Augen von Toms Freund, Lover, oder wer immer dieser Mann war, Niko unwillkürlich nervös.

»Ist er so gefährlich, wie er aussieht?«

»Nur, wenn du mir wehtust.«

Eine merkwürdige Antwort. Niko runzelte die Stirn. »Ein Dreier?«, fragte er nach und zögerte, da der Blick des Fremden ungerührt auf ihm lag. Der Mann taxierte ihn und machte sich nicht die geringste Mühe, es vor Niko zu verbergen.

Tom lachte leise, während er mit den Fingern zärtlich über seinen Rücken strich und Nikos Blick damit zurück auf sich lenkte. »Kein Dreier. Nur wir beide. Eric sieht uns zu. Hättest du damit ein Problem?«

»Nicht in Bezug auf dich.« Niko schaute zurück zu der Säule, von wo aus er weiterhin angestarrt wurde. Nein, entschied er spontan aus dem Bauch heraus. Das Ganze war ihm zu unheimlich. »Ich habe nicht vor, dir wehzutun, aber ich habe auch nicht vor, mir im Gegenzug von ihm wehtun zu lassen. Sorry.«

Toms Lächeln verblasste. »Eric beschützt mich, aber das bedeutet nicht, dass er für dich eine Gefahr darstellt. Du schätzt ihn falsch ein, Niko.«

»Bist du dir da sicher?«

Toms Augen weiteten sich und Niko fuhr fassungslos herum, als er Tylers Stimme hinter sich hörte.

»Was willst du denn hier?«

»Colin hat mich angerufen«, antwortete Tyler und trat auf sie zu. »Und bevor du fragst, wie ich dich hier finden konnte, ich habe dein Handy orten lassen.«

Wie bitte? Niko war für einen Moment sprachlos. »Du bist doch nicht ganz dicht. So etwas nennt man Stalking, falls dir das bislang noch keiner erklärt hat. Nur weil du ein Bulle bist, hast du kein ...« Niko stutzte. »Moment mal. Colin hat dich angerufen? Warum?«

»Weil dein besorgter Bruder gerade stinksauer auf dich ist. Colin bat mich, dich zu suchen und wenn möglich vom Unsinn machen abzuhalten. Genau das tue ich hiermit.«

Niko schnappte entrüstet nach Luft. »Das gibt’s doch nicht. Ich bin kein kleines Kind mehr, verdammt!«

»Du verhältst dich aber wie eins.«

»Du betrügst mich, also komm mir nicht ...?« Niko sah verblüfft nach unten, als er spürte, wie sich etwas Hartes und Kaltes um sein Handgelenk legte. Handschellen? Er sah zu Tyler. »Jetzt gehst du eindeutig zu weit.«

»Nein, das denke ich nicht«, widersprach der jedoch ruhig und zog ihn aus Toms Umarmung, den er dabei drohend ansah. »Niko gehört zu mir.«

»Ihr kennt euch?«, fragte Niko und sah überrascht von Tyler zu Tom, der sie amüsiert beobachtete. »Woher?«

»Tyler hat mir mal geholfen.« Toms Blick schweifte zu Eric. »Ist lange her.«

»Du solltest dich von ihm trennen. Es wäre besser für euch beide, Burrows.«

Tom lächelte Eric an, dessen Gesichtsausdruck sich in den vergangenen Minuten nicht verändert hatte, und Niko bekam eine Gänsehaut. Erics Blick war wirklich einschüchternd und irgendwie hatte er auf einmal das komische Gefühl, von Tyler gerettet worden zu sein, was er sich nicht erklären konnte.

»Das werde ich nie tun, ich liebe ihn.«

»Thomas ...«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739310367
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Drama Ostküsten Reihe schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Thriller, Romanzen und Fantasy. Weitere Informationen zu meinen Büchern und aktuelle News zu Veröffentlichungen findet ihr auf meiner Autorenseite.
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Titel: Stille Sehnsucht