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SchachMatt

Könige meines Herzens

von Mathilda Grace (Autor:in)
250 Seiten

Zusammenfassung

»Mein Name ist Simon Ford und ich liebe zwei Mörder.« Es ist nicht leicht, das auszusprechen, und zu meiner Rechtfertigung kann ich nur sagen, dass ich nicht wusste, mit wem ich diesen heißen Dreier hatte, bis mein Leben plötzlich von Schlägertypen im Armani-Anzug bedroht war. Ich hatte keine Ahnung, dass Darryl und Mace Ford Auftragskiller sind. Ich wusste nicht, dass sie mit Messern und Waffen besser umgehen können, als so mancher Arzt oder Polizist. Und ich wusste ebenfalls nicht, dass Auftragskiller ein Gewissen haben, denn sie töteten nur Verbrecher. Vergewaltiger, Mörder, Kinderschänder und anderen Abschaum. Doch das ist Vergangenheit. Heute töten sie niemanden mehr. Heute leben wir ein Leben, wie ich es mir nie erträumt hätte. Heute bin ich glücklich, denn ich trage den Namen zweier Männer, die die Welt aus den Angeln heben würden, um mein Leben zu retten. So wie sie es schon einmal getan haben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

 

- Kanada, außerhalb Calgarys, Montag, 16. Januar 2017 -

 

 

 

 

Es gibt Tage, da hasse ich meinen Körper.

Besser gesagt, ich hasse diese dürre, narbenübersäte Ruine, zu der er geworden ist, obwohl Mace und Darryl nicht müde werden mir zu versichern, dass sie meine Narben nicht das Geringste stören, und dass ich vor allem aufhören soll, meinem Körper ständig zu viel zuzumuten. Ich kann von Glück reden noch am Leben zu sein und sie würden mich notfalls sogar ans Bett fesseln, wenn ich nicht auf meinen Physiotherapeuten höre, der regelmäßig mit mir trainiert.

Einmal hat Darryl das tatsächlich schon getan, nachdem er mich dabei erwischte, die wirklich schmerzhaften Übungen für mein zerschmettertes Knie ohne Hilfe zu machen. Mir klingeln heute noch die Ohren von dem Gebrüll, das ich mir daraufhin anhören durfte. Dicht gefolgt von weiterem Gebrüll, als Mace mich am Abend mit Krawatten ans Bett gebunden vorfand und darüber nicht sonderlich amüsiert war.

Mace kommt in unser gemeinsames Schlafzimmer. Er trägt nur ein Handtuch um die Hüften und rubbelt sich mit einem zweiten die schwarzen Haare trocken, die er mittlerweile fast bis zur Schulter hat wachsen lassen. Ich liebe seine schwarzen Locken und Mace weiß es. Auf dem Weg zum Kleiderschrank wirft er aus Gewohnheit einen Blick aus dem Fenster auf die große Terrasse. Im nächsten Moment hält er abrupt inne und schüttelt den Kopf, bevor er knurrt und das Fenster aufreißt.

»Zieh dir was an, du Idiot! Draußen sind Minus 12 Grad.«

»Mir ist aber warm«, schallt trotzig vom Holzplatz zurück und ich muss ungewollt grinsen, weil ich sehr genau weiß, was Darryl gerade treibt und vor allem, was als Nächstes passieren wird.

So läuft es immer, wenn er oben ohne im Schnee steht und Holz für unseren Kamin hackt. Das macht er nämlich nur, weil Mace ihm jedes Mal ungeniert die Leviten liest, was allgemein darin endet, dass entweder Beleidigungen oder Schneebälle oder beides fliegen, bis Mace sich etwas überzieht und Darryl eine Abreibung verpasst. Die zwei sind manchmal wie kleine Kinder und ich liebe es, sie dabei zu beobachten, wie sie sich kabbeln, weil sie es völlig ungeniert vor mir tun.

Etwas, das vor einem Jahr noch völlig undenkbar war.

Die beiden haben mir das Leben gerettet und ich liebe sie heute über alles, aber als das zwischen uns begann, war es eine Zweckgemeinschaft, entstanden aus reiner Not heraus, weil sie nicht wollten, dass ich ihretwegen umgebracht werde.

Mein Blick fällt auf mein Bein.

Tja, beinahe wäre es damals doch dazu gekommen, und in der zugigen, widerlich stinkenden Halle habe ich mir den Tod am Ende auch gewünscht.

»Simon?«

Ich sehe auf, als Mace das Fenster schließt und mich dabei milde tadelnd ansieht. Mit einem schiefen Grinsen zucke ich die Schultern. Er weiß, woran ich momentan denke und er mag es nicht, weil es immer zu neuen Albträumen führt, die uns in den letzten Monaten ohnehin nächtelang wach gehalten haben, bis ich endlich dazu bereit war, eine Therapie anzufangen und Medikamente gegen meine schweren Schlafstörungen und die immer stärker werdenden Angstzustände zu nehmen.

»Wie schlimm ist es heute?«, fragt er, wirft das Handtuch für seine Haare ans Bettende und setzt sich neben mich.

»Sieben bis acht«, gebe ich zu, denn ich habe letzte Nacht kaum geschlafen und außerdem Schmerzen. Seit Tagen schon, aber bisher kamen sie immer nur schubweise und waren ganz erträglich. Weit von der gefährlichen zehn entfernt, die wir als Ende der Skala benutzen, sobald meine Männer wissen wollen, wie es mir geht.

Mace' Lächeln weicht einem besorgten Gesichtsausdruck, bevor er zum Telefon greift. Ich schüttle entsetzt den Kopf, was völlig sinnlos ist. Wenn es um meine Gesundheit geht, lassen die zwei nicht mit sich reden.

»Guten Morgen, hier ist Mace Ford … Wir brauchen einen Termin bei Doktor … Ja, genau. Er hat Schmerzen. Vermutlich schon seit Tagen, Sie kennen ihn ja … Das passt perfekt, danke. Wir sind in zwei Stunden da.«

»Muss das sein?«, frage ich launisch, nachdem er aufgelegt hat und Mace schnaubt nur, bevor er zur Tür deutet. Ich folge seinem Blick und zucke ertappt zusammen, denn Darryl steht dort und sieht mich verärgert an. Wie ist er so schnell ins Haus gekommen? Und woher hat er gewusst …?

»Ich weiß es immer, du Dickschädel«, grollt Darryl und tritt an den Kleiderschrank. »Hilfst du ihm beim Duschen? Ich lege euch Sachen raus und mache uns Frühstück. Wir sollten spätestens in einer Stunde los, für den frühen Nachmittag ist wieder Schneefall angesagt und wir müssen noch einkaufen.«

Ich könnte protestieren und einen Streit vom Zaun brechen, weil die letzten Arztbesuche immer darauf hinausliefen, dass ich erneut operiert werden musste. Mein Bein wird nie mehr so werden, wie es einmal war. Ich weiß nicht mal, warum sie sich noch solche Mühe dabei geben, es retten zu wollen. »Sie sollten es einfach abschneiden, dann wäre wenigstens Ruhe.«

»Kein Arzt schneidet seinem Patienten einfach ein Bein ab.« Darryl packt mich abrupt am Kragen meines Schlafshirts und der stinkwütende Blick seiner hellbraunen Augen bohrt sich in meine. »Du wirst das Bein nicht verlieren, klar? Und ich werde dir, verdammt noch mal, in den Arsch treten, wenn du diesen bescheuerten Vorschlag noch einmal machst.«

»Darryl ...«

»Nein!«, unterbricht er Mace herrisch, ohne dabei den Blick von mir zu nehmen. »Ich weiß, dass es wehtut. Dass du einfach nur die Schnauze voll hast. Dass du dich nach deinem früheren Leben sehnst, wo alles leicht und unkompliziert war, aber das gibt es nicht mehr. Du bist fast gestorben und das ist und bleibt unsere Schuld, aber das heißt noch lange nicht, dass ich neben diesem Bett stehe und zulasse, dass du aufgibst. Du gehörst zu uns, hast du verstanden?«

»Ich bin ein Krüppel«, platzt weinerlich aus mir heraus und ich würde mich am liebsten wie ein kleines Kind unter der Bettdecke verstecken.

Ich hasse es, wenn ich so bin. Jammernd, schwach, ein Abziehbild des vorlauten Kerls, der ich war, bevor ich Dimitri Romanov in die Hände fiel.

Darryl nickt und lächelt gleichzeitig. »Ja, das bist du, Simon Ford, aber das ist mir egal. Ich liebe dich. Wir lieben dich. Wir haben dir einen Ring an den Finger gesteckt, du trägst unseren Namen und du wirst hier in diesem Bett schlafen, bis wir drei alt und grau sind. Und ob du das mit zwei Beinen oder einem tust, ist uns scheißegal. Hauptsache, du tust es.«

 

 

Kapitel 1

 

- USA, Boston, Samstag, 17. Oktober 2015 -

 

 

 

 

»Eines Tages bringen dich die Dinger um.«

Die brennende Kippe zwischen den Zähnen zeigt Will mir den Stinkefinger, als ich leise lachend an ihm vorbeigehe, um die Müllsäcke in meinen Händen in den stinkenden Container direkt hinter der Bar zu werfen. Das »Deep Soul« hat zwar eine eigene Putztruppe, aber die ist nicht sehr zuverlässig, was im Umkehrschluss für mich und die anderen Barkeeper bedeutet, dass wir ihren Job übernehmen müssen, wenn sie mal wieder nicht auftauchen.

Als Rausschmeißer bleibt Will von derart niederen Arbeiten wie diesen, wie er sie gerne nennt, natürlich verschont. Gott sei Dank, sollte ich besser dazusagen, denn seit einem One-Night-Stand weiß ich, wie es bei ihm zu Hause aussieht.

Ein Hygieneinspektor würde entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und schreiend das Weite suchen. Das habe ich zwar nicht getan, aber nachdem ich aus seiner Bude raus war, führte mich mein erster Weg daheim unter die heiße Dusche, während meine muffeligen Klamotten sofort in der Waschmaschine landeten, wo sie drei Tage vor sich hinstanken, bis sich mein damaliger Mitbewohner schließlich erbarmte und die Maschine anstellte. Mittlerweile ist Marcus ausgezogen und ich muss jede Schicht übernehmen, die ich kriegen kann, um mir weiter die Miete für das Loch leisten zu können, denn mehr ist es nicht mit seinen zugigen Fenstern, der ständig gluckernden Heizung und dem uralten Heißwasserboiler, der nur heißes Wasser liefert, wenn es ihm in den Kram passt.

Die City von Boston ist nicht billig und ich kann mir nichts anderes erlauben, falls ich nicht wieder in einer WG leben oder so weit ab von der Innenstadt wohnen will, dass ich jeden Tag stundenlang mit Bus und Bahn zur Arbeit bräuchte.

Dabei verdiene ich grundsätzlich gar nicht so schlecht. Die Trinkgelder machen eine Menge aus und hätte ich nicht einen Haufen Schulden am Arsch, sähe mein Leben vermutlich ganz anders aus. Mein Fehler war meine eigene Blödheit. Man leiht sich eben kein Geld von einem Kredithai, um es dann in einem Casino zu verlieren.

Als ich meinen Eltern meine Spielsucht gestand, war schon alles zu spät und ich lag mit drei gebrochenen Knochen, die als Warnung gedacht waren, im Krankenhaus.

Die Spielsucht bin ich längst losgeworden, den Kredit auf ihr Haus, den meine Eltern für mich aufnahmen, um mich von dem Berg Schulden loszueisen, werde ich noch mehrere Jahre abbezahlen. Aber lieber zahle ich jeden Monat fast ein Drittel meines Gehalts an eine gierige Bank, als irgendwann tot im Charles River zu landen. Auch wenn das bedeutet, dass ich mit 40 Jahren vermutlich immer noch hinter einer Bar stehe und Drinks mixe.

Was soll´s, ich hätte es schlechter treffen können. Außerdem gefällt mir mein Job und eine eigene Familie zu versorgen habe ich auch nicht. Obwohl Grandpa das garantiert gefallen würde, denke ich belustigt, als plötzlich mein Handy klingelt und sein Name auf dem Display erscheint.

»Hi, Grandpa.«

»Ah, da ist ja mein Junge. Wo treibst du dich rum? Daheim habe ich dich nicht erreicht.«

»Arbeiten.«

»Es ist Samstagnachmittag. Ein Mann in deinem Alter sollte nicht immer nur arbeiten. Gönn dir auch mal was.«

»Ich habe Rechnungen zu bezahlen.«

»Papperlapapp«, wischt Grandpa meinen Einwand einfach bei Seite, wie er es immer tut. »Wir erwarten dich morgen zum Essen, denk dran, mein Junge.«

»Als würde ich je Grandmas Mittagessen verpassen.«

Er lacht. »Ein Feinschmecker warst du schon immer, Simon Wilcox. Barney freut sich schon auf dich.«

»Und du nicht?«

»Natürlich nicht. Du bekommst jedes Mal die besten Stücke vom Braten, während ich zusehen muss, wo ich bleibe.«

Ich muss lachen.

»Ja, ja«, grollt Grandpa gespielt. »Deine Grandma lässt dich übrigens fragen, ob sie dir etwas Besonderes zum Nachtisch zaubern soll.«

Essenswünsche darf man in unserer Familie eigentlich nur zu besonderen Anlässen wie Weihnachten oder Geburtstagen äußern. Deswegen macht mich seine Frage sofort misstrauisch. »Ist irgendwas los?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortet er und klingt dabei so schuldig, dass ich umgehend die Augen verdrehe. »Dürfen wir unseren einzigen Enkel jetzt nicht mehr verwöhnen?«

»Grandpa ...«

»Na schön, aber reg dich nicht auf.«

Jetzt kommt es ganz dick. »Oh je.«

»Wir haben überlegt, eine Lebensversicherung aufzulösen, um damit ...«

»Nein!«, unterbreche ich ihn scharf, was mir gleich wieder leidtut, als Grandpa verstummt. Aber ich kann nicht anders. Es ist nicht so, dass ich ihre regelmäßigen Angebote nicht auf eine gewisse Weise zu schätzen wüsste, immerhin sind sie alles an Familie, was mir nach dem Tod meiner Eltern geblieben ist. Ich kann in der Beziehung nur einfach nicht aus meiner Haut. »Ich will euer Geld nicht, das weißt du genau.«

»Simon ...«

»Es war mein Fehler und ich stehe auch dafür gerade.«

Grandpa flucht unterdrückt. »Du rackerst dich seit Jahren für deine Schulden ab und wir wissen doch sowieso nicht, was wir mit dem Geld machen sollen. Simon, wir haben das Haus und den Wagen längst abbezahlt, und außer dir ist von unserer Familie niemand mehr hier, dem wir etwas vererben können. Wir haben uns das sehr genau überlegt. Wir bezahlen deine Schulden und haben trotzdem noch genug übrig, um das Haus zu streichen, uns ein paar neue Möbel anzuschaffen und sogar noch irgendwelchen albernen Firlefanz zu kaufen, bevor wir in die Grube fahren.«

Ich hasse es, wenn er so redet. Nur weil sie schon über 80 sind, bedeutet das noch lange nicht, dass sie nächste Woche tot umfallen. Meine Großeltern sind gesund und putzmunter und dafür danke ich dem lieben Gott, oder wer auch immer dafür verantwortlich ist, jeden Tag aufs Neue.

»Grandpa!«

»Wir reden morgen darüber, einverstanden? Sei pünktlich, sonst wird das Essen kalt. Hab dich lieb, mein Junge.«

Er legt auf, ohne mir die Chance zu geben, noch etwas dazu zu sagen. Und das hasse ich genauso, weil er so jeden Streit um das Geld abwürgt und mich daran hindert, ihm die Leviten zu lesen. Es ist ihr Geld, verdammt noch mal. Sie haben es sich in den Jahren harter Arbeit redlich verdient.

Nur leider heißt das ebenfalls, dass sie damit tun können, was sie wollen, was immer wieder das Standardargument von meinen Großeltern ist, sobald wir uns deswegen ein weiteres Mal in die Haare kriegen.

»Ärger?«

Will tritt neben mich und sieht mich fragend und auch ein bisschen besorgt an. Er mag eine Schlampe sein, sowohl in der Höhle, die er Apartment nennt, als auch was seine ständigen Fickgeschichten angeht, aber sonst ist er ein netter Kerl, Marke Daddy, und irgendwie sogar so etwas wie ein Freund.

»Meine Großeltern mal wieder.«

»Oh je.« Er zieht eine Grimasse. »Was wollen sie denn jetzt verscherbeln, um dich freizukaufen?«

Irgendwann, in einem redseligen, alkoholbedingten Anfall von Jämmerlichkeit habe ich ihm die Geschichte mit meinen Schulden erzählt. Er hat sich nie auf eine Seite geschlagen, was ich ihm verdammt hoch anrechne, obwohl er mir oft sagt, dass er an meiner Stelle das Geld längst genommen hätte.

»Ihre Lebensversicherung.«

»Hm«, macht er und überlegt eine Weile, bevor er sich eine neue Zigarette anmacht und sie mir anbietet.

Ich nehme einige Züge und reiche sie ihm zurück. Rauchen ist nicht mein Ding, ebenso wenig wie Alkohol, aber abstinent lebe ich deswegen noch lange nicht. Das wäre in einem Club wie dem »Deep Soul« auch Utopie. Wir sind zwar keine völlig von Drogen und schnellem Sex verseuchte Lasterhöhle, aber es vergeht keine Woche, in der ich nicht irgendwo einen Kerl oder eine Tussi erwische, wie sie mit bunten Pillen oder den kleinen Tütchen mit weißem Inhalt dealen. An guten Tagen rufen wir bei so einem Vorfall die Bullen, aber an den meisten übersehen wir die Dealer. Vor allem wenn sie gerade Sam, unserem Boss, ihr Zeug unter die Nase halten.

»Ganz ehrlich ...« Will sieht mich plötzlich ernst an. »Nimm es an und sieh zu, dass du hier die Biege machst.«

»Warum das denn?«, frage ich verblüfft und als er mich am Arm nimmt und ein paar Meter vom Hinterausgang wegführt, ist das ziemlich verdächtig und irgendwie unheimlich. Was hat er nur? »Was ist denn los?«

»Das weißt du nicht von mir.«

»Okay«, antworte ich langgezogen, während er einen Blick zur Tür wirft, so als wolle er sichergehen, dass niemand in der Nähe ist.

»Ich habe einen Kumpel bei der Polizei. Wir ficken ab und zu und … Egal. Jedenfalls hat er mir vorletzte Woche gesteckt, dass die DEA hinter Sam her ist. Sieht schwer danach aus, als hätte er aufgehört, sich das Zeug nur selbst durch die Nase zu ziehen oder einzuwerfen. Stattdessen verkauft er es jetzt an die kleinen Jungs, die er immer zu den Mottopartys reinlässt.«

Sam hat angefangen zu dealen? »Ach du Scheiße.«

Will nickt. »Sie überwachen ihn und ich denke, in ein, zwei Wochen werden sie ihn hochnehmen und den Laden fürs Erste dichtmachen. Ich hab mir deswegen schon was Neues gesucht. Fange nächstes Wochenende an und … na ja ...« Will zuckt die Schultern. »Ich mag dich, Si, aber der Laden hier ist schon bald Geschichte und du wirst in drei Jahren 40. Sam war okay, bis er angefangen hat zu koksen, nachdem dieser Arsch ihn für einen Jüngeren sitzengelassen hat, und keiner von den neuen Clubs in der City stellt alternde Barkeeper ein, verstehst du?«

Und wie ich das verstehe. Ich gehöre zum alten Eisen. Gut, das ist nicht wirklich neu, wenn ich mir den Altersdurchschnitt meiner Kollegen hinter der Bar ansehe, aber das auf einmal so schonungslos um die Ohren gehauen zu kriegen, lässt mich dann doch schlucken. Vor allem, weil ich nichts anderes kann außer Drinks mixen und mit den Gästen flirten.

Mein Grandpa hat einmal scherzhaft gemeint, ich wäre nie richtig erwachsen geworden und damit hat er auch recht. Doch bis eben war mir nicht klar, dass ich mich dadurch eines Tages selbst aufs Abstellgleis schießen würde.

»Ich brauch den Job, Will.«

Er schüttelt den Kopf. »Deswegen sag ich doch, nimm das Geld und kauf dich frei. Du findest was anderes, wenn du erst mal die verdammten Schulden los bist.«

Das sagt sich so leicht, dabei weiß Will ganz genau, dass ich damals zu faul für eine vernünftige Ausbildung war. Ich habe lieber in Spielcasinos rumgehangen und Geld verspielt, das ich gar nicht hatte. »Ich hab nie was anderes gelernt.«

»Dann lern es jetzt. Alles ist besser als mit 40 aufzuwachen und zu merken, dass man in seinem Leben nichts auf die Reihe gekriegt hat.« Er lächelt traurig. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich hole schon seit einem Jahr meinen Abschluss auf der Abendschule nach.«

Also damit habe ich niemals gerechnet. Will hat eine miese Kindheit, mit Knast und ohne Schulabschluss hinter sich. Ganz anders als ich mit einem guten Elternhaus, einer guten Schule und allen Chancen, die man als netter Junge mit einem Faible für Bücher haben kann. Und was habe ich daraus gemacht? So gut wie nichts, genauso wie Will. Ich kenne zwar keine Details, aber ich war mit ihm im Bett und die insgesamt sechs Narben von Kugeln und Messerstichen an seinem Körper waren mehr als aussagekräftig. Und jetzt erzählt er mir so nebenbei, dass er wieder die Schulbank drückt?

»Wow.« Mehr fällt mir zu seiner überraschenden Eröffnung nicht ein und Will grinst schief.

»Ja, wow. Und das kannst du auch, Si. Ich sag ja nicht, dass du gleich studieren sollst, aber du hast Sam so oft geholfen … Mach doch was in Richtung Betriebswirtschaft. Dafür hast du ein Händchen, das habe ich oft genug gesehen. Du magst ja als Bengel keine Ahnung von Geld gehabt haben, aber jetzt kannst du damit umgehen.« Will sieht auf die Uhr. »Scheiße, ich muss los. Meine Schicht fängt an. Denk drüber nach, okay?«

»Mache ich«, verspreche ich Will, obwohl mir gerade völlig der Kopf schwirrt. »Danke, dass du ...«

Er winkt ab und setzt sich in Bewegung. »Kein Thema. Wir sehen uns.«

 

»Geht das denn?«, fragt meine Grandma besorgt, während sie mir die dampfenden Kartoffeln reicht. »Ich meine, können die einfach so euren Arbeitsplatz schließen?«

Ich zucke mit den Schultern, denn mit Gesetzen kenne ich mich nicht aus. Allerdings bezweifle ich, dass es die Cops groß kümmern wird, was aus mir und meinen Kollegen wird, wenn Sam im »Deep Soul« Drogen an Minderjährige verkauft. Wie heißt es immer so schön? Mitgehangen, mitgefangen … oder so ähnlich.

»Wenn Sam auf seinen Wochenend-Mottopartys Drogen an junge Leute unter 21 verkauft, dürfte es der Polizei völlig egal sein, was aus den Angestellten wird. Ich bin schließlich nur ein kleiner Barkeeper. Will hat schon recht, ich sollte machen, dass ich von da wegkomme.«

»Also nimmst du unser Geld?«, fragt Grandpa prompt und grinst, als ich ihn böse ansehe. »Du bist genau wie dein Vater. Stur bis zuletzt.«

»Grandpa ...«

»Dein Großvater hat recht«, mischt sich Grandma amüsiert ein und reicht mir die Soße. »Dein Dad war genauso. Von wem hat er das wohl gehabt?«

»Melanie!«

»Ja, ja«, winkt Grandma glucksend ab und zwinkert mir zu, als ich leise lache. »Aber um mal beim Thema zu bleiben. Dein Will ist ein kluger Mann, dass er den Club verlässt, bevor man ihn in die Sache hineinzieht. Das solltest du auch tun.«

»Er ist nicht mein Will.«

»Könnte er es denn werden?«

Ich sehe meine Großmutter verblüfft an. »Grandma!«

»Was? Ich bin alt, nicht senil. Dass du Männern den Vorzug gibst, wissen wir schon ewig.«

Woher bitteschön, will ich sie fragen, denn war das nie ein Thema bei uns. Ich verleugne mich nicht oder führe meine Affären im Schrank, aber das sind meine Großeltern. Das ist in meinen Augen fast noch schlimmer, als seine eigenen Eltern im Bett zu erwischen, und das habe ich mehr als einmal getan. Du lieber Himmel. Erstaunlich, dass ich ihr einziges Kind war, so verrückt wie sie nacheinander waren, bevor sie das Blitzeis aus meinem Leben gerissen hat.

Ich grinse schief. »Nein.« Grandma zieht einen Flunsch, der mich erneut lachen lässt. »Grandma, er ist nett, ja, aber absolut nicht mein Typ.«

»Was ist denn dein Typ?«

»Schatz, das Essen wird kalt«, mischt sich Grandpa ein und ich atme sichtlich erleichtert aus, was nun ihn lachen lässt.

Ich liebe die beiden wirklich sehr und auch wenn ich beim Tod meiner Eltern schon 22 Jahre alt und damit erwachsen war, sind sie für mich längst zu einem Elternersatz geworden. Das wird sich auch nicht mehr ändern, schätze ich. Ich mag ja fast 40 sein, aber ich vermisse Mum und Dad trotzdem. Wer würde das auch nicht an meiner Stelle? Aber Grandpa und Dad waren sich so ähnlich, da fiel es mir nicht sonderlich schwer, meinen Vater in Grandpa zu sehen. Und weil Mum auch schon lange keine Familie mehr hat, gibt es nun mal nur noch uns drei und Bernhardiner Barney, der laut schnarchend auf der Couch im Wohnzimmer liegt.

»Hast du dich schon nach anderen Jobs umgehört?«, fragt Grandpa weiter und nimmt sich ein Stück Braten.

»Nein«, antworte ich, denn das Gespräch mit Will lag mir den ganzen gestrigen Abend schwer im Magen, da halfen auch das gute Trinkgeld und der schnelle Blowjob auf der Toilette nicht, den ich mir nach Feierabend, neben drei Bier und einer Reihe Kurzer gönnte.

Wenigstens war der Kerl gut im Blasen und das Geld werde ich für ein paar neue Klamotten ausgeben, die ich für den bald startenden Winter dringend brauche.

Boston ist schließlich nicht Hawaii, wo man den lieben Tag lang in Shorts rumlaufen kann. Für Mitte Oktober ist es derzeit zwar noch überraschend warm, aber ich weiß aus Erfahrung, dass das nicht so bleiben wird. Spätestens in zwei Wochen ist Schluss mit der dünnen Sommerjacke, die eh kein weiteres Jahr durchhalten wird. Genauso wie mein sich verflüchtigender Job im »Deep Soul«.

»Das wird auch nicht ganz einfach werden.«

»Wieso?«, fragt Grandma verständnislos. »Du bist ein sehr guter Barkeeper.«

Nicht dass sie das beurteilen könnte, schließlich war meine Großmutter noch nie in einem Club wie dem »Deep Soul«, und das soll auch bitte so bleiben. Ich grinse schief. »Ich bin zu alt.«

»Quatsch.« Grandpa vergisst das Bratenstück samt seiner Gabel und sieht mich empört an. »Du bist erst 37, seit wann ist das zu alt für einen Job?«

»Für einen Barkeeper ist 37 gleichbedeutend mit – auf dem Weg in die Gruft.«

Grandma schnappt nach Luft. »Simon!«

»Das ist Diskriminierung«, entrüstet sich Grandpa und die Gabel mit dem Bratenstück fällt zurück auf seinen Teller. »Das dürfen die doch nicht, oder? … Oder?«

»In dem Job geht es nicht darum, was die dürfen oder was nicht, es ist einfach so. Das »Deep Soul« ist keine typische Bar für Jedermann, sondern ein moderner Tanzclub, der vor allem von Frischflei... äh, von Leuten bis höchstens Mitte 30 besucht wird. Die bringen Sam nun mal das meiste Geld ein und die bestimmen damit auch, wer für ihn arbeitet. Ich bin der Älteste in seiner Truppe und er hat mich vermutlich nur noch nicht auf die Straße gesetzt, weil ...«

Weil ich seit Jahren allgemein wegsehe, wenn es in seinem Laden nicht mit rechten Dingen zugeht. Weil ich keinen Ärger will. Weil ich nichts gegen das zusätzliche Geld habe, das ich ab und an in meinen Jackentaschen finde, wenn ich mich nach Feierabend auf den Heimweg mache. Weil ich käuflich bin und Sam weiß das. Scheiße.

»Weil?«, hakt Grandpa nach und sieht mich so eindringlich an, dass ich automatisch eine Grimasse ziehe und mich damit verrate. »Simon! Wie konntest du nur?«

»Was denn?«, fragt Grandma verblüfft und sieht zwischen uns umher. »Charles? Was ist?«

»Er weiß, was sein Boss treibt und hat geschwiegen, statt es richtig zu machen und zur Polizei zu gehen.«

Grandma sieht mich entsetzt an. »Simon … Ist das wahr?«

Mist. Jetzt sitze ich ernsthaft in der Tinte. »Ja«, gebe ich zu und das beendet unser Gespräch ziemlich abrupt. Es wird für den Rest des Mittagessens auch nicht mehr aufgenommen, und als Grandpa schließlich schweigend den Tisch verlässt, so wie er das nach dem Essen immer macht, um auf der Veranda eine Zigarre zu rauchen, halte ich die Stille nicht mehr aus.

»Es tut mir leid, Grandma.«

Meine Großmutter seufzt leise und beginnt dann den Tisch abzuräumen. Als ich ihr helfen will, drückt sie mich sanft, aber doch bestimmt zurück auf den Stuhl, der bereits seit vielen Jahren mein Stuhl ist. Zumindest war er das bis heute. Was morgen ist, wer weiß. Ich habe echt Scheiße gebaut.

»Weißt du, dein Dad hat mal, da war er fast noch ein Junge, gesehen wie einer seiner Klassenkameraden verprügelt wurde. Er hat sich nicht getraut, uns davon zu erzählen. Erst als dieser Junge an seinen Verletzungen gestorben ist, kam er zu uns.«

Ich sehe Grandma sprachlos an. Davon weiß ich gar nichts. »Das hat er mir nie erzählt.«

»Ich weiß«, sagt sie und lächelt mich traurig an. »Er hat es nicht einmal deiner Mutter erzählt, weil er sich dafür geschämt hat. Weil er glaubte, ein Feigling zu sein. Aber das war er nicht und das bist du auch nicht. Was ich dir damit sagen will, ist, es ist manchmal nicht ganz leicht, das Richtige zu tun. Und das weiß auch dein Großvater. Wie ich ihn kenne, erinnert er sich gerade wieder an diesen Vorfall und fragt sich, was er verkehrt gemacht hat, dass sein Enkel sich auch nie getraut hat, mit ihm darüber zu reden.«

»Aber er hat doch gar nichts verkehrt gemacht.«

Grandma gibt mir einen spielerischen Klaps auf die Wange. »Eben. Darum gehst du jetzt auch raus und sagst ihm das. Wir lieben dich nämlich und wir hören nicht damit auf, nur weil du einen Fehler gemacht hast, verstanden?«

»Ja, Mam.«

»Ich gebe dir gleich Mam«, grollt Grandma und droht mir mit der Soßenkelle, als ich aufstehe und ihr einen Kuss gebe.

»Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch, mein Schatz.«

Ich lasse sie allein und finde meinen Großvater draußen vor dem Haus. Er sitzt auf der alten Schaukel, die schon auf dieser Veranda steht, seit ich alt genug war, mich an ihr festzuhalten, und schaukelt gemütlich vor sich hin, während er mit einem nachdenklichem Blick an seiner Zigarre zieht. Was er an diesen stinkenden Dingern findet, ist mir seit jeher ein Rätsel, dabei gönne ich mir selbst gelegentlich eine schnelle Zigarette. Aber die stinken wenigstens nicht so penetrant.

»Sei nicht sauer«, bitte ich ihn leise, als die Fliegengittertür hinter mir zugeschlagen ist.

Grandpa schüttelt den Kopf und klopft neben sich auf die freie Seite der Schaukel. »Ich bin nicht sauer«, sagt er, nachdem ich mich zu ihm gesetzt habe. »Ich bin enttäuscht, Simon, denn so haben Marie und John dich nicht erzogen.«

Muss er ausgerechnet Mum und Dad ins Spiel bringen? Ich lasse deprimiert den Kopf hängen. »Ich weiß.«

»Warum hast du es dann getan?«

Ich zucke die Schultern. Es war leicht. Den Mund zu halten und nichts zu sehen ist meist einfacher als sich einzumischen. Ich wollte mein unkompliziertes, bequemes Leben nicht damit durcheinanderbringen, dass ich Sam verpfeife, danach meinen Job verliere und wahrscheinlich sogar noch vor Gericht gegen ihn aussagen muss. Ich wollte schon immer einfach nur meine Ruhe haben. Außerdem war es leicht verdientes Geld, mit dem ich mir ab und zu etwas gegönnt habe. Wenigstens manchmal wollte ich nicht jeden Cent zweimal umdrehen müssen, um bis zum Monatsende etwas zu essen zu haben, auch wenn ich sehr wohl weiß, dass es falsch war, Sams Drogensucht einfach unter den Teppich zu kehren.

»Oh, Simon«, murmelt Grandpa mit einem Seufzen, als ich ihm das alles gesagt habe.

»Es tut mir leid«, entschuldige ich mich, worauf er mir eine Hand auf die Schulter legt und sie aufmunternd drückt.

»Tust du mir einen Gefallen, mein Junge?«

»Jeden.«

»Kündige. Gleich morgen.« Er lächelt liebevoll, als ich ihn überrascht ansehe. »Und dann nimmst du unser Geld, bezahlst deine Schulden, ziehst aus dieser Bruchbude, die du Wohnung nennst, vorübergehend in unser Gästezimmer und fängst ganz von vorne an.«

»Aber ...« Sein Kopfschütteln lässt mich verstummen.

»Du hast so viele Möglichkeiten, Simon. Du könntest einen neuen Beruf lernen, noch mal zur Schule gehen oder du suchst dir meinetwegen wieder einen Job in einer normalen Bar, wo es egal ist, wie alt du bist. Ich will dir das nicht vorschreiben, das kann ich gar nicht, du bist schließlich erwachsen. Aber mit dem Geld von uns kannst du erst mal in aller Ruhe nachdenken, was du wirklich tun willst.«

»Ich mag meinen Job.«

Grandpa zuckt die Schultern. »Dann such dir wieder einen als Barkeeper. Aber vorher machst du ein paar Wochen Urlaub bei uns und lässt es dir gut gehen, einverstanden? Außerdem brauche ich jemanden, den ich im Winter zum Schneeschippen verdonnern kann.«

Ich lache los und lehne mich an meinen Großvater, der sich mir daraufhin anschließt und einen Arm um mich legt.

»Wir machen alle mal Fehler, Simon. Der Trick ist, sich am Ende für den richtigen Weg zu entscheiden.«

Er hat ja recht, das weiß ich, und deshalb nicke ich, als sich unsere Blicke schließlich wieder treffen. »Okay, ich kündige.«

»Du bist ein guter Junge.«

 

 

Kapitel 2

 

- Kanada, Calgary, Montag, 16. Januar 2017 -

 

 

 

 

»Sie wären glücklich, wenn sie dich jetzt sehen könnten.«

Ich muss unwillkürlich lächeln. Mace hat mich vom ersten Tag an durchschaut und daran hat sich nichts geändert. Dabei habe ich meine Großeltern auf der Fahrt hierher in die Praxis von Doktor Scott mit keinem Wort erwähnt. Aber das ist auch gar nicht nötig. Jedenfalls nicht bei Mace, und anfangs fand ich es verdammt unheimlich, dass er mir meine Stimmungen oder auch Gedanken förmlich an der Nasenspitze ablesen kann.

Irgendwann hat Darryl mir gesagt, daran müsse ich mich gewöhnen, denn er, also Mace, könne einfach nicht anders. Also habe ich mich daran gewöhnt.

»Ja, ich weiß … Sie fehlen mir.«

Mace sagt nichts, aber er nimmt meine Hand und so warten wir schweigend, während Darryl uns bei der Schwester an der Information anmeldet. Ich schwitze leicht. Nicht, weil es in der gemütlich und in hellen Farben eingerichteten Praxis zu warm wäre. Nein, ich habe Angst vor dem, was mein Arzt mir wegen des kaputten Beins sagen wird. Außerdem sind die Schmerzen heftiger geworden. Die wenigen Schritte vom Parkplatz bis ins Wartezimmer, wo ich erleichtert auf den erstbesten freien Stuhl gesunken bin, haben meinem Bein nicht gerade gutgetan.

Und mir auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Ich will das Bein nicht verlieren, ganz egal, wie oft ich darüber nachdenke, dass es einfacher ohne das verdammte Ding wäre. Keine Schmerzen mehr. Kein ständiges um Hilfe bitten, wenn ich an schlechten Tagen nicht allein vom Bett zum Klo komme. Dabei ist es nicht mal die schlimmste Verletzung gewesen. Dafür allerdings die schmerzhafteste. Man sagt immer, Menschen vergessen schlimme Erlebnisse, um zu verhindern, dass sie vollkommen ihren Verstand verlieren.

Bei mir hat das leider bis heute nicht funktioniert. Ich weiß noch genau, wie es sich anhörte, als der Vorschlaghammer auf mein Knie traf. Das Splittern der Knochen, meine gellenden Schreie, das Blut, als Teile meiner Knochen an den Seiten und hinten durch die Haut brachen.

Ich höre immer noch das hämische Lachen von Yuri und sehe sein Grinsen vor mir, als wäre es erst gestern gewesen.

Dank des plastischen Chirurgen im Krankenhaus sind die Narben in meinem Gesicht, als Romanov überlegte, ob er mich einfach nur in Streifen schneidet oder mir vorher meine Augen herausschält, weil ihm die grüne Farbe gefiel, kaum mehr zu sehen. Was ich von denen auf dem Rücken zwar nicht gerade behaupten kann, aber die sehe ich wenigstens nicht ständig.

Ich habe nichts vergessen. Gar nichts. Und ich wünschte, es wäre anders, denn manchmal kann das Vergessen ein wahrer Segen sein. Andererseits hätten sie mir wirklich beide Augen ausstechen müssen, damit ich diese elendig langen Stunden in Romanovs Folterkammer vielleicht vergessen kann, denn die langen und wulstigen Brandnarben, die auf meiner linken Seite vom Ohr, über den Hals, bis hinunter zur Schulter führen, sehe ich jeden Tag im Spiegel.

Benzin.

Als Romanov kurzerhand beschloss, dass er lange genug auf meine Entscheidung gewartet hat. Er wollte mich lieber bei lebendigem Leib abfackeln, als das Risiko einzugehen, dass ich seine Folter vielleicht doch überlebe.

Meine Männer kamen gerade rechtzeitig, um das Feuer zu löschen, meinen halb toten Arsch in die nächste Notaufnahme zu schaffen und sich dann um Romanov zu kümmern.

Ich weiß bis heute nicht, was sie ihm alles angetan haben. Ich weiß nur, dass er tot ist. Und das man ihn nur anhand von Zahnabdrücken identifizieren konnte, nachdem ein oder auch mehrere Unbekannte eine bis zur Unkenntlichkeit zugerichtete Leiche vor einem Polizeirevier an der Tür aufknüpften. Als man mich schließlich aus dem künstlichen Koma holte, wurde über den brutalen Mord an Romanov gerade aufs Heftigste in allen Nachrichten spekuliert.

Und während ich mich langsam erholte und den Polizisten, die sich bei mir die Klinke in die Hand gaben, immer wieder erzählte, dass ich mich an gar nichts erinnern könne, habe ich gehofft, dass meine Männer noch leben.

Wobei sie es zu dem Zeitpunkt noch nicht waren. Nicht mal ansatzweise. Es hat eine Weile gedauert, bis ich aufhörte, ihnen am Tod meiner Großeltern die Schuld zu geben und noch viel länger, bis ich damit aufhörte, mich selbst zu belügen, weil ich mich in die Männer verliebt hatte, die der Grund dafür waren, dass ich beinahe zu Tode gefoltert worden war.

Meinem Herzen war das nämlich scheißegal, obwohl ich es oft genug dafür gehasst habe. Manchmal gibt es eben nicht nur schwarz oder weiß. Manchmal gibt es viele feine Abstufungen von Grau und ich war ohnehin schon Schachmatt, als ich ihnen in jener ersten und eisigen Dezembernacht in ihr Hotelzimmer folgte. Aber heute kann ich das mir gegenüber auch zugeben, ohne mich dabei wiederholt zu fragen, ob ich noch ganz richtig im Kopf bin, zwei gefühllose Auftragskiller zu lieben.

Mittlerweile ist mir ebenfalls klar, dass es mit dem gefühllos bei den beiden nicht allzu weit her ist. Zumindest, wenn es um mich geht. Das beweist Darryls Blick mir im nächsten Moment deutlich, als er sich zu mir setzt und vorsichtig mein verletztes Bein auf seinen Schoß zieht. Er fängt an, es ganz behutsam zu massieren und eine Mutter, die uns mit ihrem etwa 5-jährigen Sohn direkt gegenüber sitzt, grinst mich daraufhin an. Sie lacht leise, als ich nur die Schultern zucke.

»Er flirtet schon wieder«, murmelt Mace zu meiner Rechten und als ich ihm dafür in die Seite boxe, kichert die junge Frau belustigt. Ihr Sohn guckt neugierig zu ihr hoch, weiter zu uns und dann wieder zu seiner Mutter.

»Mama?«

»Ja, Patrick?«

Was immer er fragen will, geht im Öffnen einer Tür unter, als Doktor Scott aus einem der drei Behandlungsräume tritt. Er teilt sich die Praxis mit zwei Kollegen und ist spezialisiert auf schwere Verletzungen an den Extremitäten. Was er alles kann, habe ich schon wieder vergessen, ich weiß nur, dass ihm meine Männer vertrauen, also kann ich das auch tun.

»Ah, Mister Ford. Stur wie eh und je. Kommen Sie rein. Ich sehe mir Ihr Bein gleich mal an.« Er macht kehrt und hält im nächsten Moment schon wieder inne. »Wenn es geht, kommen Sie bitte allein.«

»Aber ...«, erheben Mace und Darryl gleichzeitig Einspruch und verstummen ebenso schnell wieder, als sie ein warnender Blick trifft. Was immer die zwei mit meinem Arzt verbindet, er hat offensichtlich Narrenfreiheit bei ihnen und kann sich damit weit mehr erlauben als jeder andere.

Ich verkneife mir ein breites Grinsen, was mir wohl mehr schlecht als recht gelingt, ihren bösen Mienen nach zu urteilen, als ich aufstehe und umgehend wegknicke, weil mich das Bein absolut nicht mehr tragen will.

Verfluchter Mist.

»Was zum …?«

Der Arzt ist sofort bei mir und tastet vor der jungen Frau, die jetzt ebenso erschrocken dreinblickt wie ihr kleiner Sohn, mein lädiertes Knie ab. Und er ist dabei nicht sehr feinfühlig. Ich muss einen gequälten Aufschrei unterdrücken, als er eine empfindliche Stelle erwischt und mich mit seiner Berührung beinahe in die Ohnmacht treibt, da ich den Jungen gegenüber nicht zu Tode ängstigen will. Mace und Darryl greifen prompt nach meinen Armen und halten mich aufrecht.

Doktor Scott sieht stirnrunzelnd zu mir auf und erhebt sich. »Darryl, trag ihn auf die Liege in mein Behandlungszimmer, hilf ihm beim Ausziehen der Hose und danach raus mit dir. Ich muss telefonieren und einen Termin für ein CT machen. Falls ihr heute noch irgendetwas vorhabt, erledigt das besser gleich, denn Simon wird so bald nirgendwo hingehen.«

 

Eines muss ich meinem Arzt lassen. Er hält sein Wort.

Das hat er schon immer getan, seit er mich behandelt, aber normalerweise ist er dabei nicht so wütend wie jetzt, während er am Telefon mit dem Kollegen spricht, der ihm vor wenigen Minuten die Ergebnisse des CT geschickt hat, zu dem er mich vor zwei Stunden verdonnert hatte. Scott gefällt offensichtlich gar nicht, was er auf den Bildern sieht und ich schätze, meine Schonfrist der netten Worte dürfte gleich vorbei sein.

»... Wenn er das machen würde, säße er nicht schon wieder hier und hätte Dauerschmerzen«, grollt mein Arzt gerade und wirft mir einen verärgerten Blick zu. Ich senke lieber den Kopf, was mir ein Schnauben einbringt. »Das weiß ich … Ja, Brandon … Nein, das mache ich nicht … Ich weiß, dass es leichter wäre, vermutlich sogar das Klügste bei der Schwere der Verletzung, aber erst mal will ich die beiden neuen Entzündungsherde mit Medikamenten behandeln. Ich schneide keinem 38-jährigen ein Bein ab, das ich vielleicht noch retten kann.«

Mein Kopf ruckt entsetzt nach oben und dieses Mal weiche ich Scotts Blick nicht wieder aus, auch wenn er dadurch mit Sicherheit den perfekten Einblick auf meine gerade beginnende Panikattacke hat.

»Ja, ist gut … Nein, er ist noch hier, darum mache ich jetzt auch Schluss, damit ich ihm den Ernst seiner Lage klarmachen kann … In Ordnung … Werden wir. Bis bald, Brandon.«

Doktor Scott legt auf und sieht mich dann so eindringlich an, dass mir bittere Galle in der Kehle hochsteigt. Oh Gott, ich verliere mein Bein wirklich, oder? Als ich anfange zu würgen, ist er sofort an meiner Seite und hält mir den Papierkorb vors Gesicht.

»Besser?«, fragt er ein paar Minuten später und drückt mir ein am Waschbecken befeuchtetes Handtuch gegen die Stirn, während er mit der anderen Hand den Puls fühlt. »Simon, Sie hören mir jetzt genau zu, verstanden?«

»Schneiden Sie nicht mein Bein ab.«

Scott schüttelt mit ernstem Blick den Kopf. »Das werde ich überhaupt nicht müssen, wenn Sie endlich auf mich und Ihren Physiotherapeuten hören. Ab sofort sind alle Übungen bis auf Weiteres komplett gestrichen, und zwar wirklich alle, haben wir uns verstanden? Ich weiß, dass Sie endlich wieder auf die Beine kommen wollen, weil Sie Angst haben ...«

»Ich ...«

»Mund halten, jetzt rede ich«, unterbricht Scott mich eisig und wirft mir einen warnenden Blick zu. »Haben die beiden Ihnen eigentlich erzählt, woher wir uns kennen?«

»Nein.«

Er nickt, als hätte er nichts anderes erwartet. »Gut, dann tue ich es. Sie haben den Mörder meines Sohnes getötet, denn das Gericht war nicht in der Lage ihn wegzusperren, weil er genug Geld für einen teuren Anwalt hatte und es keine ausreichenden Beweise gegen ihn gab. Ich bin den beiden einiges schuldig, Simon, und ich habe nicht vor, diese Schulden zu begleichen, indem ich zulasse, dass Sie Ihr Bein verlieren. Aber Sie müssen mithelfen. Sie müssen auf das hören, was ich und Ihre Therapeuten Ihnen sagen. Sie haben panische Angst davor, dass Mace und Darryl es sich eines Tages anders überlegen, weil Sie jetzt ein Krüppel sind, aber das werden sie nicht.«

Ich schüttle den Kopf. »Das können Sie nicht wissen.«

»Doch, das weiß ich, weil ich jedes Mal sehr genau hinsehe, wenn sie dich anschauen. Und das solltest du bei Gelegenheit auch tun, dann müsstest du dich nämlich nicht fragen, wie es um ihre Gefühle für dich bestellt ist. Dann wüsstest du es.« Er reicht mir seine Hand. »Ab sofort heißt es Burton und nicht Sie, verstanden?«

Ich nehme das Angebot an. »Simon.«

Er nickt. »Die zwei lieben dich und sie werden dich niemals verlassen, es sei denn, du beschließt, dass du sie nicht mehr in deinem Leben haben willst.«

Als ob das je passieren würde. Ich bin für meine Männer durch die Hölle gegangen. Gut, dazu wäre es nicht gekommen, hätte ich meinen Verstand benutzt, statt wütend und kopflos in das Haus meiner Großeltern zu stürmen, nachdem ich in den Nachrichten im TV gesehen hatte, dass sie und Barney eiskalt ermordet worden waren. Aber das gehört jetzt nicht hierher.

»Ich liebe sie.«

Er nickt und hilft mir zurück auf die Liege, damit ich mein Bein hochlagern kann. Dann geht er zu einem abgeschlossenen Schrank und holt Handschuhe, zwei steril verpackte Spritzen und zwei kleine Fläschchen heraus.

»Das hier«, beginnt er zu erklären, während er die Spritzen aufzieht, »ist einmal ein Entzündungshemmer und einmal ein zusätzliches Schmerzmittel. Ich werde dir noch Tabletten für zu Hause verschreiben, die du mit den anderen Medikamenten deiner Therapie kombinieren kannst. Sollten Nebenwirkungen auftreten, setzt du sofort alles ab und meldest dich.«

»Wie immer«, murmle ich nickend und schließe die Augen, als er mit den Spritzen näher kommt. Ich hasse die Dinger.

»Also noch mal zum Mitschreiben … Keine Übungen mehr, bis die Entzündungen abgeklungen sind, was übrigens einige Wochen dauern wird. Ich werde später bei deinem Physiogenie Cooper anrufen und ihm Bescheid geben, ehe du noch auf die Idee kommst, ihm nichts davon zu erzählen.«

Das habe ich wirklich einmal gemacht und damit zu Hause einen mächtigen Ehekrach ausgelöst. Dicht gefolgt von meinen mehr als wütenden Ärzten, als sie davon erfuhren. Dabei hatte ich an dem Morgen einfach nur den Kopf voll und schlichtweg nicht daran gedacht. Natürlich hat mir das keiner geglaubt und das konnte ich ihnen schlecht verübeln, weil ich es hasse, so hilflos zu sein und mich dementsprechend nicht immer wie ein Musterpatient benehme. Ich war mein ganzes Leben lang stolz auf meine Unabhängigkeit und jetzt bin ich 38 Jahre alt und muss ständig wie ein alter Mann herumgetragen, gewaschen und angezogen werden.

Andererseits sind die Schmerzen in manchen Nächten auch ganz hilfreich, aber das kann ich keinem sagen. Ich will nicht, dass Mace und Darryl davon erfahren. Alles, nur das nicht. Ich könnte es niemals ertragen. Ich ertrage schon diese verfluchte Hilflosigkeit kaum und wenn sie jetzt noch wüssten, dass ich meine Schmerzen viel zu oft willkommen heiße, weil sie mich davon abhalten, daran zu denken, was Romanov mir anbot, als ich am Ende war, und wie ich fast zugestimmt hätte … Allein die Vorstellung, dass meine Männer das herausfinden, beschert mir eine Welle von Übelkeit.

Nein, das darf einfach nicht sein.

Niemals.

»Simon?«

Ich sehe blinzelnd auf. »Was?«

Burton betrachtet mich prüfend. »Wo warst du gerade? Du wurdest plötzlich weiß wie eine Wand.«

»Nirgends«, wehre ich ab, was er mir nicht glaubt, ich sehe es ihm an. Aber er fragt nicht weiter nach, Gott sei Dank.

»Deinen Traumapsychologen mit dem unaussprechlichen Namen werde ich ebenfalls informieren.«

Ich muss ungewollt grinsen. »Ken Akecheta.«

»Zungenbrecher, sag ich doch.«

»Das ist indianisch und bedeutet Kämpfer. So hat er es mir jedenfalls übersetzt, als ich … Au!«

»Jammerlappen«, sagt Burton und lacht, als ich ihn finster ansehe. »Wo waren wir?«, fragt er dann und entsorgt Spritzen und Handschuhe in einem gesonderten Mülleimer, der dafür neben der Behandlungsliege steht. »Also … Keine Übungen für die kommenden Wochen. Du wirst das Bein ruhig halten, nach oben lagern und nicht herumlaufen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Besuche im Badezimmer sind gestattet, aber langes Duschen fällt aus. Benutz eure Badewanne und lass dir bei allem helfen, was irgendwie geht, verstanden?«

»Und dann?«

»Dann«, wiederholt er sehr ernst und sucht meinen Blick, »werden wir sehen, ob es geholfen hat. In vier Wochen will ich dich wieder hier sehen. Möglichst ohne Schmerzen und auf den Beinen. Simon, ich habe deine Krankenakte gesehen. Ich weiß, was du durchgestanden hast. Mach das bitte nicht mit deiner Ungeduld kaputt. Dein Bein wird immer steif bleiben und du wirst nie mehr komplett ohne Hilfe klarkommen, dafür sind deine Schultern durch die Brandnarben und dein Rücken wegen der durchtrennten Nerven zu stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Das musst du akzeptieren. Aber ...« Er hält mein Kinn mit der Hand fest, als ich wegsehen will. »Aber du kannst sehr wohl ein ruhiges, eigenständiges Leben mit Darryl und Mace führen, wenn du deinem Körper endlich die Zeit gibst, die er zur Heilung braucht. Okay?«

Ich nicke schweigend und er hilft mir mich aufzusetzen.

»Gut. Dann hole ich jetzt deine ungeduldigen Männer rein. Noch irgendwelche Fragen, bevor ich das Rezept ausstelle und wir den Termin für nächsten Monat ausmachen?«

»Nein.«

 

»Bleib bei mir.«

Ich bin nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe, was auch der einzige Grund ist, dass ich meinen Kopf langsam anhebe und ihn ungläubig ansehe. Dimitri Romanov lacht und streicht mir liebevoll über meine blutverschmierte Wange.

»Ich meine das ernst, Simon. Bleib bei mir.«

»Warum?«, krächze ich. Ich habe in den vergangenen Stunden so oft und laut geschrien, dass ich meine eigene Stimme mittlerweile nicht mehr wiedererkenne.

»Du bist so wunderschön.«

Ich fange an zu lachen, was in einen blutigen Husten übergeht, und Romanov zieht ein weißes Taschentuch aus der Hosentasche und wischt mir den Mund ab. Keuchend ringe ich nach Luft, was wehtut und auch nicht mehr richtig funktioniert. Es fühlt sich an, als würde irgendetwas in mir drin meine Lungenflügel abquetschen.

»Weißt du, Simon, ich stehe auf Narben. Besonders auf die, die ich meinen Jungs selbst verpasst habe. Und ich kümmere mich um meine Jungs, du kannst Yuri gerne fragen. Ich gebe dir alles, was du willst. Kleider, Geld, Drogen, ein großes Haus, einen schicken Wagen – du kannst sein, wer immer du sein willst, wenn du bei mir bleibst. Ich will dich nicht töten, Simon, wirklich nicht. Ja, ich foltere gerne, das gebe ich zu, aber du bist so stark, wie keiner zuvor. Keiner hat so lange durchgehalten wie du. Du imponierst mir. Ich will dich haben. Ganz für mich allein.«

Ich kann kaum glauben, dass ich das wirklich tue, aber ich fange an, über sein Angebot nachzudenken. Ernsthaft nachzudenken, denn es wäre besser als das hier. Besser als der Tod. Oder?

»Ich würde dich natürlich auch ficken wollen.«

Aha, da ist er ja, der Haken, auf den ich insgeheim gewartet habe, doch bei meinem angewiderten Blick lacht Romanov sofort heiter und winkt amüsiert ab.

»Nein, nein, doch nicht so. Ich hatte es noch niemals nötig einen meiner Jungs zu vergewaltigen. Ich will dich ficken, Simon. Ich will, dass wir beide dabei Spaß haben, und das würden wir, das kann ich dir versprechen. Aber ich werde dich nicht zwingen. Wenn du lieber heute sterben willst, ist das deine Entscheidung.« Romanov streicht mit dem Daumen etwas Blut aus der Wunde über meinem Auge und leckt es genüsslich ab. »Mhm, so süß. Davon würde ich wirklich gern mehr haben, und zwar regelmäßig.« Sein Blick wird eisig. »Aber ich warne dich, ich teile nicht. Meine Jungs gehören immer nur mir. Du kannst alles von mir haben, dir wünschen, was immer du willst, aber niemand außer mir fickt dich, klar?«

»Haken?«

Romanov hebt eine Hand wie zu einem Schwur. »Kein Haken … Mein Ehrenwort drauf. Du weißt, was ich erwarte: Treue und deinen Arsch für mich. Was du mit deinem restlichen Leben anfängst, bleibt dir überlassen. Willst du einen Job? Kein Problem. Willst du lieber den ganzen Tag rumhängen? Kein Problem. Du entscheidest. Also? Wie sieht es aus, Simon? Gehörst du mir oder nicht?«

Es klingt verlockend. Geld ohne Ende gegen ein bisschen Sex. Im Grunde nichts anderes als ich es bisher gemacht habe, wenn ich den Mund hielt. Nur dass Sam nie mit mir ficken wollte. Andererseits ist alles besser als hier zu verrecken. Also warum nicht?

»Okay.«

»Ja?« Romanov fängt an zu lächeln, als ich nicke. »Perfekt.«

Er tritt auf mich zu und beugt sich zu mir, doch in der Sekunde, wo mir klar wird, dass er mich küssen will, fange ich an zu schreien.

 

»Simon!«

Hände sind auf mir, halten mich fest, drücken mich auf den Boden und ich wehre mich verzweifelt. Ich will das nicht. Ich will nicht, dass er mich küsst. Ich will, dass er verschwindet. Er soll tot umfallen, verrecken, in der Hölle krepieren.

»Lass mich los, du Schwein!«

»Simon, nicht … Du verletzt dich … Simon!«

Ich bin doch schon halb tot, noch viel mehr verletzen kann ich mich also kaum, oder? Was für ein Idiot. Er kann mir nicht erzählen, dass er wirklich besorgt um mich ist. Wie kann man nur so ein Sadist sein? Genau wie sein Bruder, nur hatte der es mit kleinen Jungs und nicht mit erwachsenen Männern, wie ich einer bin. Oder mal war, denn mehr als ein Klumpen blutendes Fleisch ist von mir längst nicht mehr übrig.

»Ich mach das nicht. Geh runter von mir. Ich werde nie im Leben dein ...«

»Simon!«

Zwei Hände packen mein Gesicht und halten es eisern fest. Ich kann meinen Kopf nicht mehr bewegen und plötzlich fange ich an zu stutzen. Irgendwas ist hier seltsam. Unter mir ist kein harter, kalter Steinboden, nein, es ist weich und so warm. Und dieser Geruch … Die Erkenntnis, wo ich mich befinde und dass ich alles geträumt habe, kommt ebenso schnell wie der rasende Schmerz, der sich auf einmal nicht mehr nur auf mein kaputtes Bein beschränkt. Mein gesamter Körper brennt, als stünde er wieder in Flammen. Ich stöhne gequält auf.

»Wie schlimm?«, fragt Mace, den ich jetzt auch endlich als Mace erkenne.

»12«, presse ich wimmernd hervor und öffne endlich meine Augen. Ich sehe nur verschwommen und dann läuft etwas aus meinen Augenwinkeln. Scheiße, das sind Tränen. Aber bei der nächsten Schmerzwelle ist mir sogar das egal. »Tut so weh.«

»Ich geh schon.«

Das Bett bewegt sich und ich höre Darryls nackte Füße über den Flur ins Bad rennen. Ich weiß, wo er hinwill. Wir haben für derartige Notfälle einen kleinen Tresor im Bad, zu dem nur die beiden die Kombination kennen. Und das ist auch besser so, da sie im Tresor alle möglichen Drogen und Schmerzmittel lagern, damit sie mir bei Schmerzschüben helfen können. Burton weiß davon und hat es abgenickt, auch wenn er nicht begeistert war. Aber wir brauchen selbst im Normalfall schon eine Stunde bis nach Calgary, in Burtons Praxis oder in die nächste Notaufnahme, und weder Mace noch Darryl wollten im schlimmsten Fall so lange tatenlos zusehen, wie ich mich quäle.

Bisher haben wir den Tresorinhalt erst zweimal gebraucht, weil ich mich überanstrengt hatte. Ein Albtraum als Auslöser ist neu und er wird mir eine Menge Fragen einbringen, sobald sich mein Körper nicht mehr wie die sprichwörtliche Hölle aus gleißenden Schmerzen anfühlt.

»Was hast du ausgesucht?«, fragt Mace, als ich einen Stich im Oberschenkel spüre.

»Fentanyl«, antwortet Darryl und ich blinzle ein paar Mal herum, als ich ihn mit etwas hantieren höre. Was macht er da? Als ich die Schiene erkenne, will ich instinktiv wegrücken und schreie sofort vor Schmerzen auf. Darryl sieht mich wütend und zugleich besorgt an. »Halt still, Simon, sonst kette ich dich ans Bett«, droht er mir und fixiert bereits im nächsten Moment mein verletztes Bein mit der Schiene, die ich letztes Jahr schon ewig lange getragen habe, um mein Knie ruhigzustellen.

Ich hasse das verdammte Ding und das weiß er. Das wissen sie beide. Ich hasse dieses nutzlose Bein und ich hasse sie, weil sie mich dazu zwingen, stillzuliegen und alles mit mir machen zu lassen. Genau wie Romanov es getan hat. Gefesselt, beinahe zu Tode gefoltert und dadurch psychisch in ein totales Wrack verwandelt. Die ganze Zeit war ich gefesselt und konnte mich nicht dagegen wehren. Ich war hilflos. So wie jetzt. So wie ich es den Rest meines jämmerlichen Lebens sein werde.

»Ich hasse euch«, presse ich zwischen den Zähnen hervor und verfluche die neuen Tränen, die meinen Worten folgen.

Ich bin so armselig. Manchmal glaube ich, ich bin gar kein Mensch mehr, sondern ein billiges Abziehbild. Eines, das man hin- und herschiebt, wie man will, weil es sich nicht dagegen verteidigen kann. Ich bin nur noch ein kleines Puzzlestück in einem miesen Spiel, das andere mit mir spielen, und so wie ich Romanov damals haben tun lassen, was immer er wollte, lasse ich heute Mace und Darryl tun, was sie wollen.

Die Welt um mich herum verschwimmt in einem Dämmer aus Tränen und herrlich weicher Watte, die mich einhüllt und die Schmerzen aus mir herauszieht.

Erleichtert seufzend lasse ich mich fallen.

Irgendwohin.

Nirgendwohin.

 

»So geht das doch nicht weiter.«

»Ich habe Ihnen gesagt, dass das passieren wird, Darryl. Er leidet an einer schweren Depression, auch wenn er momentan der letzte ist, der das zugeben würde. Simon braucht Zeit. Eine vernünftige und vor allem anschlagende Therapie erledigt sich nicht in ein paar Wochen. Schon gar nicht bei der Stärke seiner Angstzustände und dem, was ihm letztes Jahr angetan wurde. Und auch das habe ich Ihnen bereits gesagt.«

Oh Gott, sie haben Ken angerufen. Auch das noch. Der Tag wird immer schlimmer. Dabei ist er erst knappe zehn Stunden alt, stelle ich nach einem Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch fest. Ich muss mehrere Stunden geschlafen haben, nachdem sie mir das Fentanyl gaben.

»Er hat uns anfangs gar nicht erkannt. Er dachte, wir wären Romanov und er wollte … Ich bin nicht sicher, was er wollte.«

»Er beginnt mit der Aufarbeitung, das ist gut, Darryl. Dass er davon Albträume bekommt, ist natürlich nicht gut, aber ein Anfang auf diese Weise ist besser als keiner … Wie meinen Sie das, Sie sind nicht sicher, was Simon wollte?«

»Er hat Dinge gesagt, die für mich keinen Sinn ergeben. Es sei denn ...«

»Weiter, Darryl. Reden Sie weiter.«

»Ich werde nie im Leben dein … Was?«, mischt sich Mace ein und mir wird kotzübel, weil ich weiß, was gleich passieren wird. Mace ist zu gut in diesen Dingen, er wird die richtigen Schlüsse ziehen und dann bin ich geliefert. Auf einmal höre ich ihn harsch die Luft einziehen. »Oh mein Gott.«

»Was?«, fragen Darryl und Ken gleichzeitig und mein Blick schweift automatisch zum Fenster, das ich in meinem Zustand zwar nicht erreichen kann, aber der Wunsch zu flüchten und nie mehr aufzutauchen ist gerade übermächtig.

»Dimitri Romanov hat sich gern Männer oder besser gesagt Jungs für sein Privatvergnügen gehalten. Er war ein Sadist und er hat das an diesen Jungs ausgelebt. Dafür bekamen sie alles, was sie wollten. Geld, ein sorgenfreies Leben, alles. Und genau das hat er Simon angeboten.«

»Dieser miese ...«

»Und Sie glauben, Simon hat sein Angebot angenommen?«, fragt Ken, bevor Darryl aus der Haut fahren kann.

»Hätten Sie das nicht getan an seiner Stelle?«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Mace. Glauben Sie, dass er das Angebot angenommen hat?«

»Nein.«

»Aber Sie vermuten, er war kurz davor.«

»Ja.«

Scheiße. Oh Gott. Ich muss hier weg. Ich muss einfach. Wie soll ich den beiden je wieder in die Augen sehen? Wie soll ich das erklären? Ich war schwach. Völlig am Ende. Ich hätte alles versprochen. Alles. Weil ich nicht mehr daran glaubte, dass sie mich retten. Weil ich ihnen nicht vertraute. Weil ich dachte, sie hätten mich längst aufgegeben.

»Ändert das etwas für Sie? An Ihren Gefühlen für Simon, meine ich.«

»Nein«, antwortet Mace und klingt dabei so irritiert, dass ich verblüfft zur Tür sehe. »Was soll denn die Frage? Natürlich ändert es nichts an meinen Gefühlen für ihn.«

Was? Aber warum nicht? Nein, das kann nicht sein. Sie sind so stark und ich bin nur … Aber sie würden nicht lügen. Oder? Nein, Mace ist kein Lügner und Darryl auch nicht. Sie haben mir zwar anfangs nicht alles gesagt, wie soll man auch jemand erklären, dass man ein Auftragskiller ist, aber sie haben mich niemals bewusst angelogen. Warum sollten sie also jetzt damit anfangen? Vor allem, wo sie draußen im Flur stehen und gar nicht wissen, dass ich ihnen zuhöre.

»Und wenn er das glaubt?«

Ich verziehe ertappt das Gesicht, denn Kens Frage trifft voll ins Schwarze. Er kann mich bereits verdammt gut einschätzen, obwohl ich erst seit Dezember bei ihm in Therapie bin, und ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich das gut finde.

»Was? Blödsinn. Warum sollte er?«, grollt Darryl und klingt eindeutig verärgert. »Wir lieben ihn, das weiß er.«

»Simon hält sich für schwach … Für nutzlos.«

»Er. Ist. Nicht. Schwach.« Darryl hört sich an, als spräche er nur mühsam zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch und das ist ein deutliches Zeichen für mich, dass er kurz davor steht, die Geduld zu verlieren. »Haben Sie seine Krankenakte gelesen? Wissen Sie, wie schwer verletzt er war? Simon ist alles andere als schwach oder nutzlos, behaupten Sie nicht solchen Scheiß. Romanov hat ihm Dinge angetan … Ich kenne einige angeblich harte Kerle, die bei nicht mal der Hälfte von Simons Verletzungen bereits heulend alles gestanden hätten, was man ihnen vorwarf, vollkommen gleichgültig, ob sie es getan haben oder nicht. Simon und schwach, so ein Bullshit.«

»Sie haben recht. Er ist nicht schwach. Ganz im Gegenteil, er war es nie und wir wissen das. Das große Problem dabei ist allerdings, dass er das weder weiß noch glaubt. Simon hält sich für schwach, für nutzlos, für hilflos. Und er hasst es.«

»Deswegen treibt er sich so sehr an.«

»Ja«, sagt Ken und ich schließe gequält die Augen. »Dimitri Romanov hat ihm jede Kontrolle genommen. Er musste einfach alles über sich ergehen lassen und selbst jetzt, wo er wieder frei und hier bei Ihnen beiden ist, hat sich daran nichts geändert. Er hasst sich selbst und vor allem sein Bein, weil seine schweren Verletzungen ihn zwingen, weiterhin hilflos zu bleiben.«

Scheiße. Ken hat mich wirklich durchschaut. Ich schätze, er weiß noch viel mehr, das ich ihm gar nicht gesagt habe. Er hat während unserer Sitzungen immer diesen Blick … Ich kann es nicht beschreiben, aber es fühlt sich an, als würde er aus allen Sätzen, die ich sage, aus allem, was ich ihm erzähle, weit mehr für sich herausholen, als ich zugeben will. Mace kann das auch ganz gut, aber bis eben hätte ich nicht erwartet, dass da jemand ist, der Mace um Längen übertrifft. Andererseits, er wäre wohl kaum ein Traumatherapeut geworden, wenn er sich nicht gut in Menschen hineinversetzen könnte.

»Er muss damit aufhören, bevor es ihn wirklich umbringt«, sagt Mace leise und gequält und beschert mir damit einen Berg an Schuldgefühlen, weil ich nicht will, dass er sich mies fühlt. Meinetwegen. Mal wieder. Scheiße.

»Ich weiß, Mace, aber dieses Denken zu ändern, wird nicht von heute auf morgen machbar sein. Und je mehr Sie ihm helfen und ihn daran hindern wollen, zu weit zu gehen, umso schlimmer machen Sie es ungewollt, weil er instinktiv dagegen aufbegehrt. Simon will nicht mehr schwach sein. Er will laufen und sein Leben leben. Hier mit Ihnen. Er will nicht, dass ihm ständig alles abgenommen wird.«

»Aber er kann es noch nicht allein.«

»Ich weiß das, Darryl, aber ich glaube, Sie sollten es Simon dennoch tun lassen.«

»Was? Sind Sie verrückt? Dann verliert er sein Bein.«

»Dann verliert er es eben.«

»Scheiße noch mal, was für ein mieser Therapeut sind Sie eigentlich? Wir können doch nicht ...«

»Ihren Mann eine eigenständige Person sein lassen? Warum nicht? Mace gestehen Sie das doch auch zu.«

»Er ist auch nicht schwer verletzt.«

»Und?«

»Und? Jetzt hören Sie mal zu, Doc, er ...«

»Darryl, warte«, mischt sich plötzlich Mace ein und Darryl verstummt abrupt. »Ich glaube, ich weiß, was er sagen will. Er meint, dass wir aufhören sollen, Simon alles abzunehmen. Wir sollen warten, bis er selbst um Hilfe bittet, richtig?«

»Korrekt.«

»Das wird er nicht tun … Simon ist so stur, er würde eher auf allen Vieren ins Bad kriechen, als uns um Hilfe zu bitten.«

»Dann lassen Sie ihn kriechen. Lassen Sie ihn liegen, wenn er nicht weiterkommt. Lassen Sie ihn fluchen, schreien und Sie zur Hölle wünschen. Simon muss endlich begreifen, dass Ihre Hilfe keine Selbstverständlichkeit und schon gar kein Mitleid mit dem armen, jämmerlichen Kerl ist, für den er sich selbst hält. Und falls das bedeutet, dass er es wirklich so weit treibt, dass er sein Bein verliert, dann ist das seine Entscheidung.«

»Nein.«

»Doch, Darryl. Simon muss die Entscheidung allein treffen, ganz egal, welchen Preis er am Ende dafür zahlt. Er muss über sein Leben endlich wieder selbst entscheiden dürfen, denn seit Monaten tun das andere für ihn. Zuerst haben Sie beide über ihn entschieden, dann Romanov und danach taten es die Ärzte und Schwestern im Krankenhaus und in der Physiotherapie. Und jetzt tun Sie es wieder. Ich weiß, dass Sie es gut meinen, das hat man im Krankenhaus auch getan, aber Simon sieht das längst nicht mehr so. Daher bitte ich Sie … Hören Sie auf, ihm sein Leben abzunehmen. Sofort.«

»Aber ...«

»Dimitri Romanov wollte aus dem Mann, den Sie über alles lieben, ein nettes, kleines Schoßhündchen machen … Zwingen Sie Simon nicht aus Liebe genau dieses Leben auf.«

Darryl schnappt fassungslos nach Luft, während mir die Kinnlade förmlich zu Boden knallt, denn diese Worte waren unterhalb jeder Gürtellinie, und ich schätze, Ken weiß das. Ich glaube sogar, er hat sich mit Absicht derart schonungslos und brutal ausgedrückt, um Darryl den Ernst der Lage ein für alle Mal klarzumachen.

Und ungewollt hat er ihn auch mir mit den beiden Sätzen klargemacht. Ich stehe vor einem tiefen Abgrund und Darryl und Mace versuchen bereits seit Wochen alles, um mich von dort wieder wegzuzerren. Stattdessen haben sie mit ihrer Hilfe unbeabsichtigt genau das Gegenteil erreicht, weil ich dank Romanov heute so verkorkst bin, dass ich ihre Hilfe überhaupt nicht mehr als das erkenne, was sie in Wirklichkeit ist. Sorge und Liebe. Vor allem Liebe. Scheiße.

Ehe ich überhaupt begreife, was los ist, fließen bereits neue Tränen und als die Tür zum Schlafzimmer geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen wird, starre ich einfach weiter hoch zur Decke, weil jetzt ohnehin alles egal ist.

»Ach je«, meint Ken mitfühlend und die Matratze bewegt sich leicht, als er sich neben mich auf die Bettkante setzt. »Hat Ihnen denn nie einer gesagt, dass Lauschen manchmal keine so gute Idee ist?«

»Hat Ihnen nie einer gesagt, dass man derartige Gespräche nicht in der Nähe der eigenen Patienten führt?«

Ken lacht leise. »Erwischt.«

Und da begreife ich. »Das war Absicht?«, frage ich entrüstet und sehe ihn an. Als er nickt, will ich ihm wütend einen Vogel zeigen und reiße unbeabsichtigt den Arm hoch.

Doch das endet in einem erstickten Aufschrei, denn diese abrupte Bewegung findet meine Schulter überhaupt nicht gut. Die Brandnarben spannen und schicken heftige Schmerzwellen kreuz und quer durch meinen Körper, aber statt wie sonst, wo Mace und Darryl immer sofort zur Stelle sind, um meinen Arm nach unten zu drücken und ihn zu massieren, passiert heute gar nichts, denn Ken rührt keinen Finger, sondern wartet ruhig ab, bis mir irgendwann von selbst einfällt, meinen Arm wieder runterzunehmen und ihn stillzuhalten, in der Hoffnung, dass der Schmerz dann nachlässt.

Was er eine gefühlte Ewigkeit später auch tut, aber zu dem Zeitpunkt bin ich längst komplett schweißgebadet und ringe mit zusammengebissenen Zähnen nach Luft.

»Verstehen Sie jetzt?«, fragt Ken irgendwann leise und ich nicke, weil ich es tatsächlich tue. Mace und Darryl haben mir in den vergangenen Monaten, seit wir in dieses Haus außerhalb von Calgary gezogen sind, so viel abgenommen, um mich zu entlasten, doch ich habe das weder zu schätzen gewusst noch überhaupt begriffen.

»Ich bin eine Witzfigur.«

»Nein, Simon, das sind Sie nicht«, widerspricht Ken und als ich versuche mich aufzusetzen, um an das Wasserglas auf dem Nachttisch zu kommen, besteht seine einzige Hilfe darin, es mir zu reichen, weil ich sonst gezwungen gewesen wäre, mich auf dem Arm abzustützen, der an meiner verbrannten Schulter dranhängt.

»Danke«, sage ich und trinke langsam zwei Schlucke, bevor ich ihm das Glas reiche. Er reagiert nicht und ich zucke heftig zusammen, als ich verstehe. »Tut mir leid … Würden Sie bitte das Glas zurück auf den Nachttisch stellen?«

»Natürlich.«

Oh Gott, was war ich eigentlich für ein undankbarer Mistkerl? Ein Wunder, dass Mace und Darryl mich nicht schon vor Wochen eiskalt aus dem Fenster geworfen haben. Verdient hätte ich es.

»Ich kann Ihnen ansehen, dass Sie sich gerade einen Tritt in den Hintern geben wollen, daher spare ich uns beiden jetzt den entsprechenden Vortrag über Höflichkeit.« Ken lacht leise, als ich seufzend die Augen verdrehe, wird dann aber wieder ernst. Sehr ernst. »Simon, Sie müssen Geduld haben. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich Ihnen das gesagt habe, seit Sie das allererste Mal zu mir kamen, aber ich sage es Ihnen noch tausend Mal, bis Sie es wirklich verstehen. Geduld, Zeit und sehr viel Verständnis. Sowohl für sich selbst als auch für Mace und Darryl, denn im Augenblick wissen die zwei überhaupt nicht mehr, was sie noch tun dürfen und was nicht. Helfen Sie Ihren Männern dabei, aber ...«, er hebt mahnend einen Finger, »... fallen Sie bitte nicht wieder in dieses abwehrende Muster zurück, das Sie bislang hatten.«

»Es tut mir leid.«

»Das muss es nicht, Simon«, wehrt Ken ab und drückt kurz meine Hand. »Sie haben viel durchgemacht und jedes Opfer einer Gewalttat geht anders damit um. Das ist in Ordnung, da jeder Mensch anders ist. Sie haben bisher gekämpft. Vor allem gegen sich selbst und damit auch gegen die beiden Menschen, die einfach nur helfen möchten. Doch jetzt, wo Sie das wissen, können Sie gegensteuern.« Ken stützt sich auf einem Arm ab. »Das wird nicht leicht und es wird auch nicht sofort klappen, dessen müssen Sie sich bewusst sein. Sie müssen lernen, dass es niemals eine Schande ist, sich helfen zu lassen, wenn man Hilfe braucht, und Darryl und Mace müssen lernen, dass sie manchmal einfach nicht helfen dürfen, weil Sie alt genug sind, selbst zu entscheiden.«

»Haben Sie das eigentlich ernst gemeint?«, frage ich und als Ken mich ratlos ansieht, grinse ich schief. »Das mit dem auf dem Boden kriechen und so weiter.«

»Ja.« Ich verziehe das Gesicht und er nickt. »Wenn man es so direkt ins Gesicht gesagt bekommt, tut das weh, nicht?«

»Ja.«

»Ich weiß. Das muss es auch. Zumindest bei Ihnen, weil Sie als Mensch direkte Worte brauchen. Ich hatte Patienten, da war ein subtiler Hinweis völlig ausreichend, aber Sie und auch Ihre Männer müssen es hören. Und zwar völlig schonungslos, von Angesicht zu Angesicht. Obwohl ich vorhin für einen Moment befürchtete, Darryls Faust ins Gesicht zu bekommen.«

»Sie standen auch kurz davor.«

»Ja, das habe ich mir schon gedacht.« Ken deutet auf meine Schiene. »Ihr Albtraum … Möchten Sie darüber reden?«

Ich schüttle sofort den Kopf und Ken scheint davon nicht sonderlich überrascht, was mich nun wieder resigniert auf die Bettdecke starren lässt.

»Ich nehme an, Mace hat mit seiner Vermutung, Romanov betreffend, ins Schwarze getroffen.«

Bloß nicht antworten. Bloß nicht aufsehen. Ich würde mich nur verraten.

»Verstehe.«

Mist.

»Simon?«

Ich weigere mich Ken anzusehen.

»Wie kurz davor waren Sie aufzugeben?«

Seit meiner Befreiung aus der Halle war mir innerlich klar, dass irgendwer es eines Tages herausfindet und mir dann diese Frage stellen wird, und deshalb fürchte ich sie wie nichts sonst auf der Welt. Weil ich die Entscheidung bereits getroffen hatte. Weil ich nur einen Atemzug davor war. Ich hatte meinen Mund bereits geöffnet, als plötzlich die Tür aufflog und eine Hölle losbrach, die mir zuerst wahnsinnige Schmerzen und dann die Freiheit und ein neues Leben brachte. Nur ein Atemzug, mehr war nicht von mir übrig. Alles andere hatte Romanov aus mir herausgeschnitten. Ein einziger Atemzug, um mich zu seiner ganz persönlichen Hure zu machen, weil ich das Vertrauen in Mace und Darryl verloren hatte.

Aber das kann ich Ken nicht erzählen. Nicht heute, morgen oder nächste Woche. Wahrscheinlich niemals. Es vor mir selbst zuzugeben, zu wissen, dass ich mich aufgegeben hatte …

Ich weiß einfach nicht, wie ich damit jemals leben soll.

»Simon, ich weiß, dass Sie im Augenblick noch nicht bereit sind, sich genauer damit auseinanderzusetzen, aber ich möchte Ihnen dennoch etwas sagen, weil ich nämlich glaube, dass Sie es zumindest schon einmal hören müssen … Sie haben nichts falsch gemacht.«

Ich schnaube.

»Sie glauben mir das zwar nicht, aber jetzt, wo ich es Ihnen gesagt habe, werden Sie anfangen darüber nachzudenken. Sie können nämlich nicht anders und das macht es mir in diesem Punkt leicht, einen Zugang zu Ihnen zu finden. Sie denken viel zu viel nach, was leider oft in einem völligen Wirrwarr endet, aber eines Tages werden Sie verstehen, was ich gerade gesagt habe. Sie werden akzeptieren können, dass Sie an all dem, was Ihnen passiert ist, vollkommen unschuldig sind. Dass Sie getan haben, was notwendig war, um eine wahre Hölle zu überleben. Denn genau das hätte jeder andere Mensch in dieser Situation ebenfalls getan.«

»Das können Sie nicht so sehen.«

»Nein? Warum nicht? Weil Sie es nicht wollen?«

»Weil es falsch ist.«

»Warum?«

»Weil ich …«

»Weil Sie was?«, kontert Ken sofort, als ich hastig abbreche, doch dieses Mal hält ihn mein stoisches Kopfschütteln nicht ab, mir die Meinung zu sagen. »Weil Sie aufgegeben haben? Weil Sie es am Ende nicht mehr aushielten? Weil Sie bis zuletzt um Ihr Leben gekämpft haben? Weil Sie kurz davor waren, Ihren Verstand zu verlieren? Weil Sie aufhörten zu glauben … nein, zu hoffen, dass Mace und Darryl kommen und Sie retten?«

Ich will nicht zusammenzucken, aber ich kann mich einfach nicht daran hindern, und verrate Ken damit, was er vermutlich längst wusste. Doch statt sich dazu zu äußern, drückt er erneut meine Hand, steht auf und lässt mich allein. Und ich bin davon so überrascht, dass ich ihm immer noch sprachlos nachstarre, da hat sich die Tür längst hinter ihm geschlossen.

Das kann er doch nicht tun. Er kann nicht einfach so gehen und mich hier sitzenlassen, wo ich gerade zugegeben habe, ein Schwächling zu sein. Müsste er mir nicht sagen, dass ich genau das eben nicht bin? Die ganze Zeit erzählt er mir, dass ich nicht das Geringste verkehrt gemacht habe, und jetzt haut er einfach ab und lässt mich ohne ein weiteres Wort stehen? Sitzen. Was auch immer.

»Von wegen«, platzt unbeherrscht aus mir heraus, ehe ich wütend die Bettdecke zur Seite schlage und sofort innehalte. Wenn ich es heil aus dem Bett und ins Wohnzimmer schaffen will, oder wo immer die drei Verräter gerade sind, muss ich die Sache klug angehen.

Die Gehhilfen, fällt mir nach kurzem Überlegen ein. Wenn ich mich richtig entsinne, hat Mace sie in den Kleiderschrank getan, weil ich mich nach meinem Umzug hierher schließlich störrisch weigerte, sie weiterhin zu benutzen. Sie müssten aber zumindest noch da sein. Es ist den Versuch auf jeden Fall wert, entscheide ich und kämpfe mich vorsichtig auf die Beine. Ich hangle mich, auf meinem gesunden Bein hüpfend, an unserem Bett entlang, und bin heilfroh, dass der Kleiderschrank direkt gegenübersteht. Für gesunde Leute sind es vielleicht drei oder vier Schritte, für mich eine halbe Weltreise.

Zudem kann ich von Glück reden, dass das Fentanyl noch wirkt, sonst wäre ich vermutlich längst umgefallen.

Aber dank der hoch dosierten Helfer gelingt es mir dann, mich mit Hilfe der Gehhilfen durch den Flur zu kämpfen, was mit meiner lädierten Schulter nicht ganz einfach ist. Man muss offenbar nur wütend genug zu sein, um Dinge zu schaffen, die unter normalen Umständen unmöglich wären, denke ich, als ich die Mistkerle schließlich in der Küche entdecke und mitten im Raum stehenbleibe.

So sehr ich unser Holzhaus aus den dicken, hellen und ein paar dunkleren Baumstämmen liebe, hier und jetzt, in genau diesem Moment, hasse ich die großen, offenen Räume und die wenigen Wände, die ich zum Abstützen habe, denn das Wohn-Esszimmer und die Küche bestehen aus einem einzigen Raum. Für mich lahme Ente ist das eine wahre Quälerei und wer ist daran schuld? Genau. Meine Kerle.

»Ihr seid echt die Pest.«

»Simon!«

Mace und Darryl wollen beide gleichzeitig losstürmen, aber offenbar ist mein Blick mörderisch genug, um sie förmlich auf der Stelle erstarren zu lassen. Ken hingegen grinst nur und für etwa eine Sekunde frage ich mich, was hier gerade so lustig ist. Aber dann gehen die Nerven mit mir durch.

»Warum hat dieser Scheißraum eigentlich keine Wände, wo ich mich zwischendurch kurz festhalten kann? Wisst ihr wie anstrengend das als alter Krüppel ist, mit nur einem Arm und einem Bein, die man vernünftig gebrauchen kann?« Mein Blick findet den meines immer noch grinsenden Therapeuten. »Und Sie … Die ganze Zeit kauen Sie mir sprichwörtlich das Ohr ab, woran ich ja angeblich keine Schuld habe, aber wenn´s darauf ankommt, hauen Sie einfach ab? Was für ein Arzt sind Sie eigentlich?«

»Ich bin Traumathera...«

»Das ist mir scheißegal. Ich bin wütend und Sie werden mir jetzt zuhören, kapiert?«

»Kapiert.«

»Gut.« Ähm, wo war ich gerade? Ich blinzle irritiert. »Einen Moment, ich habe den Faden verloren.«

»Kein Problem, wir warten gerne.«

Oh, dieser arrogante … Ich deute mit einer Krücke auf ihn. »Wenn ich die verfickten Dinger nicht brauchen würde, würde ich sie Ihnen freundlich lächelnd um die Ohren hauen. Und so was nennt sich Psychologe, nicht zu fassen.«

»Traumatherapeut.«

»Ja, ja, ja … Als wenn mich das gerade interessiert. Sie sind ein Idiot, das sind Sie.«

»Ähm«, fängt Mace an und klappt seinen Mund wieder zu, als ich ihn drohend ansehe.

»Dein Glück«, murre ich und suche erneut Akechetas Blick. »Machen Sie das eigentlich immer so? Abwarten, bis Ihr irrer Patient sich öffnet und dann lassen Sie ihn sitzen?«

»Haben Sie sich denn geöffnet?«

»Fangen Sie jetzt nicht so an!«, brülle ich unbeherrscht und komme ins Schwanken, da ich in meiner Wut dann tatsächlich eine Krücke nach ihm werfe. Und nur mit der zweiten kann ich mich nicht lange auf den Beinen halten. Ich gehe stöhnend und schimpfend zu Boden.

»Simon!«

Der zweifache entsetzte Aufschrei geht in einem harschen Befehl von Ken unter, der Mace und Darryl eisig verbietet, mir zu Hilfe zu kommen. Im ersten Moment will ich ihm dafür an die Gurgel springen, während noch bunte Sterne vor meinen Augen tanzen, seit ich auf dem Parkett gelandet bin, aber nach und nach, zwischen mehreren gequälten Atemzügen und dem lästerlichen Verfluchen meines idiotischen Traumatherapeuten, begreife ich langsam, was Ken hier versucht. Was er bereits im Schlafzimmer angefangen hat. Nämlich mich endlich aus dem Zimmer rauszubekommen, das ich bereits seit unserem Einzug nur noch verlasse, wenn ich einen sehr guten Tag habe oder es unbedingt notwendig ist.

Irgendwann, nachdem mein Atem sich wieder normalisiert hat und ich lang genug die interessante Maserung der Holzbalken an der Decke bewundert habe, hebe ich den Kopf ein Stück und suche seinen Blick.

»Sie hätten auch einfach fragen können.«

Ken lacht und tritt auf mich zu, um sich dann neben mich zu hocken. »Als wenn Sie auf mich gehört hätten.« Er tastet mit ruhigen Händen mein Bein ab und achtet auf jedes Zucken in meinem Gesicht. »Gut«, entscheidet er und richtet sich wieder auf. »Und? Fühlen Sie sich jetzt besser?«

»Ja«, gebe ich mürrisch zu, weil es tatsächlich gutgetan hat, Ken und meine Männer anzuschreien, obwohl sie nichts dafür können, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Ich schätze, ich musste mir einfach nur mal Luft machen und Ken hat das gewusst und mir die Möglichkeit dazu gegeben. So ein manipulierender … Und ich kann ihn noch nicht einmal dafür anschreien, denn das ist schließlich sein Job. Mir helfen. Auch wenn ich diese Hilfe, dank meines Dickkopfes, oft genug mit Händen und Füßen abwehre.

»Wunderbar. Normalerweise würde ich Sie jetzt fragen, ob Sie mithilfe eines Stuhls alleine aufstehen können, aber ...«

»Kommt nicht infrage«, braust Darryl hinter ihm verärgert auf, was mich grinsen lässt. Ich hatte mich schon gewundert, dass er und Mace so lange ruhig geblieben sind.

»Genau das meine ich«, nimmt Ken den Faden wieder auf. »Deshalb lassen wir es für heute gut sein, einverstanden? Bis auf eine Sache.«

»Die da wäre?«

»Sie sind nicht irre.«

»Ja, ja.«

»Simon!«

»Ich bin nicht taub. Aber Sie sind trotzdem ein Mistkerl«, erkläre ich ihm griesgrämig, während Darryl und Mace bei uns auftauchen und alle drei mich anschließend ganz behutsam auf die Beine stellen.

»Damit kann ich leben«, kontert Ken und holt die Gehhilfe, die ich nach ihm geworfen habe. »Zur Couch sind es etwa zehn Schritte. Was meinen Sie, Simon? Wollen Sie es versuchen?«

»Nein!«

»Ja!«, widerspreche ich sofort und sehe Mace an. »Bitte. Er hat recht. Ihr dürft mir nicht immer alles abnehmen, das macht mich langsam aber sicher völlig verrückt. Auch wenn Burton dagegen ist, dass ich laufe, es sind nur ein paar Schritte … Wie soll ich denn lernen, was ich kann und was ich lieber noch für eine Weile lasse, wenn ich es nicht wenigstens versuche?«

»Du hast unser Gespräch mitangehört?«, fragt er leise und sieht zu Darryl, als ich nicke. »Alles?«

»Seit Darryl gesagt hat, dass es so nicht mehr weitergeht.«

Daraufhin verziehen beide ertappt ihre Gesichter, was gar nicht nötig wäre. Sie haben es immer nur gut gemeint, wie Ken sagte, aber es darf nicht mehr so weitergehen. Jedenfalls nicht wie bisher. Doch darüber können wir später in aller Ruhe reden, sobald wir wieder unter uns sind, denn so wie ich Darryl kenne, wird es ein harter Kampf werden, ihm beizubringen, dass er mich in Zukunft einfach fallenlassen soll, wenn ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand will.

Und ich schätze, wir sollten auch über Romanov sprechen. Ich weiß allerdings nicht, ob ich das heute schon kann. Darryl und Mace sind zwar nicht Ken, aber wenn ich nicht einmal mit ihm, einem Fremden, über diese Halle reden kann, wie soll ich es dann bei den Männern schaffen, die ich liebe?

»Stopp!«

Ich sehe Ken verdattert an. »Was?«

»Ich kann es förmlich hinter Ihrer Stirn rotieren sehen. Wir wollten zur Couch und uns hinsetzen, mehr nicht. Schluss mit dem Gedankenkarussell. Anweisung Ihres Therapeuten.«

Na wenn er meint …

Eine Viertelstunde später, so lange brauche ich nämlich für den Weg zur Couch, bin ich dermaßen fix und fertig, dass ich erst mal eine Weile keuchend im Polster hänge, bevor ich mich wieder in der Lage fühle, auch nur ein Wort von mir zu geben. Dass Mace zwischendurch mein Bein auf einem Kissen einfach auf dem Couchtisch hochlagert und Darryl mir eine Coladose in den Schoß wirft, kommentiert Ken mit einem Schmunzeln, sagt aber nichts dazu. Ich schätze, er sieht meinen Männern an, dass sie ihn hochkant rauswerfen, wenn er ihnen diese kleinen Hilfen auch noch verbietet. Und ehrlich gesagt, ich bin dankbar dafür, mich in der nächsten Zeit nicht mehr großartig bewegen zu müssen. Dabei fällt mir etwas ein.

»Danke«, sage ich und schäme mich gleich darauf in Grund und Boden, als Mace und Darryl mich für einen Moment völlig irritiert ansehen, ehe ihnen klar wird, dass ich die Cola und das Kissen meine. Beide winken lächelnd ab und verschwinden in die Küche. Und ich, tja, ich stöhne leise auf. »Scheiße.«

»Keine Schuldgefühle, Simon. Die bringen nichts mehr. Sie haben es jetzt begriffen, nur das ist wichtig.«

»Ich bin so ein undankbarer Arsch.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739436258
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Drama Thriller schwul Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: SchachMatt