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Philadelphia Blues

von Mathilda Grace (Autor:in)
270 Seiten
Reihe: Die Ostküsten-Reihe, Band 5

Zusammenfassung

Überarbeitete Neuauflage, November 2018 Der Tod seiner Schwester Gwen wirft Colin McDermotts Leben von einem Tag auf den anderen vollkommen über den Haufen. Mit den Plänen für eine eigene Autowerkstatt beschäftigt, muss er sich neben der Trauer um Gwen plötzlich um seinen 15-jährigen Neffen Kilian kümmern, der mit dem Verlust seiner Mutter genauso wenig zurechtkommt wie Colin damit, auf einmal Vater eines Teenagers zu sein.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

 

 

 

 

Es wäre möglich.

Er würde zwar die ersten Jahre am Hungertuch nagen, aber mit einem Kredit auf sein Haus und dem, was er in den letzten Jahren von der Arbeit gespart hatte, wäre der Traum einer eigenen Autowerkstatt realisierbar.

Colin überschlug im Kopf einige Zahlenreihen, während er dabei das Radio leise drehte, um nicht durcheinander zu kommen. Er würde eine Halle brauchen, in der er seine Werkstatt einrichten konnte. Material sowie Werkzeug zu besorgen, dürfte auch kein allzu großes Problem sein. Die anfallenden Kosten für Miete, Steuern, Versicherungen und was mit einer Werkstatt sonst noch alles auf ihn zukommen würde, schob er fürs Erste beiseite, weil es es noch nicht geschafft hatte, Dominic anzurufen, um sich die Telefonnummer von Adrian Quinlan geben zu lassen. Bevor er sich weiter in diese Idee stürzte, wollte er sich den Rat eines Anwalts holen, beziehungsweise Adrian fragen, ob der jemanden kannte, der ihm helfen konnte.

Der Wetterbericht lenkte ihn ab und Colin drehte das Radio wieder lauter. Seit Tagen herrschte in Philadelphia Dauerfrost, denn der Winter hatte noch mal so richtig zugeschlagen. Da erzählte der Moderator nichts Neues und auch die ausgefallenen Heizungen und Stromleitungen in einem Außenbezirk waren ihm nicht unbekannt. Das Stromnetz in diesem Land war wirklich ein Witz, deshalb hatte er in seinem Haus mit einem Generator für den Notfall vorgesorgt.

Seine Gegend war nicht die Beste, geschweige denn die Sicherste, aber damit konnte er leben. Er fand die Vorstellung, im Winter im Kalten zu sitzen, viel schlimmer, als die, möglicherweise in einen Überfall zu geraten. Dafür hatte er ja schließlich seine Fäuste und dass er sich mit denen vor einem Jahr gegen den Bruder seines besten Freundes Devin behauptet hatte, hatte seinem Selbstvertrauen einen gehörigen Schubs gegeben.

Colin gluckste und bog in die Straße zu seinem Haus ein, während er sich daran erinnerte, wie er sich mit Dominic in Tonys Schuppen geprügelt hatte. Ihm hatte noch eine Woche später jeder Finger und Knöchel in seinen Händen wehgetan, aber es war die Prügelei wert gewesen, denn in den letzten Monaten hatten Dominic und er es geschafft, Freunde zu werden. Das war weit mehr, als Colin sich jemals erhofft hatte.

»... und vergesst bloß eure Mützen, Schals und Handschuhe nicht. Es wird eisig heute Nacht.«

Colin nickte, bevor er das Radio ausschaltete und kurz darauf die Stirn runzelte, als er auf dem Gehweg vor seinem Haus jemanden entdeckte, der da garantiert nicht hingehörte. Jedenfalls nicht um die Uhrzeit und in den Klamotten. Er parkte seinen alten Mustang vor der Garage und warf beim Aussteigen einen misstrauischen Blick auf den Teenager, der mit einer viel zu dünnen Lederjacke, einer löchrigen Jeans und ziemlich mitgenommen aussehenden Turnschuhen bei Minusgraden mitten auf seinem Gehweg herumstand. Wer war das denn?

»Hi, Onkel Colin. Hast du mal 'ne Kippe?«

Colin wollte seinen Ohren nicht trauen. Die Stimme kannte er, und zwar sehr gut. Er schlug die Wagentür zu und trat auf den Gehweg, um sicherzugehen. Ja, das Gesicht passte zu der Stimme, obwohl er sein Gegenüber zuletzt vor fünf Jahren gesehen hatte und da war Kilian noch ein ganzes Stück kleiner gewesen. Jetzt war der Junge fast so groß wie er selbst und hatte das normale, typisch schlaksige Aussehen eines Teenagers.

Allerdings stimmte der traurige Ausdruck in Kilians blauen Augen nicht mit dem fröhlichen Kinderblick überein, den er in Erinnerung hatte. Sein Neffe war eindeutig nicht hier, um 'Hallo' zu sagen. Vor allem hätte Gwen ihn niemals grundlos allein von Irland nach Philadelphia geschickt. Seine Schwester war zwar eindeutig zu früh Mutter geworden, aber sie liebte Kilian mehr als alles andere und kümmerte sich gut um ihn. Irgendetwas war hier im Busch.

»Was ist passiert, Kilian?«, fragte er leise und trat auf Kilian zu, der die Schultern zuckte und seinem Blick auswich, ehe er in die Hocke ging und in einem Rucksack kramte, der zu seinen Füßen stand, um ihm im nächsten Augenblick einen Stapel Papiere zu reichen.

»Mum ist tot. Sie hat ein Testament hinterlassen, wo drinsteht, dass ich bei dir bleiben soll. Oma und Opa sind wütend deswegen und wollen mich nicht haben, darum bin ich hier.« Kilian sah wieder zu ihm auf, die Augen voller jugendlichem Trotz. »Also? Hast du jetzt 'ne Kippe für mich, oder nicht?«

 

 

1. Kapitel

 

 

 

 

»Du hast ihm die Zigarette verweigert, hoffe ich.«

Devin klang so entrüstet, dass Colin lachen musste, obwohl ihm eigentlich zum Heulen zumute war. Seine kleine Schwester war tot. Gestorben bei einem schweren Autounfall. Und sie hatte ihren Sohn, seinen Neffen, zu ihm in die USA geschickt, damit er sich um ihn kümmerte. Colin hatte es im ersten Moment nicht geglaubt. Er hatte gedacht, Kilian wäre von zu Hause abgehauen und würde ihm nur eine Lüge auftischen. Er hatte es solange geglaubt, bis ihm die unterdrückten Tränen in Kilians Augen aufgefallen waren. Das war jetzt knapp zwei Stunden her, die Colin gebraucht hatte, um den ersten Schock zu verdauen, Kilian in die Wanne zu stecken, ihm etwas zu essen zu machen und anschließend dafür zu sorgen, dass sein Neffe ins Bett kam.

»Das ist nicht witzig. Er ist erst fünfzehn.«

»Und damit alt genug, um zu rauchen, Alkohol zu trinken, Sex zu haben und Drogen zu nehmen«, konterte Colin trocken und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, als Devin am anderen Ende der Telefonleitung abfällig schnaubte. »Ich sage doch nur, wie es ist.«

»Das solltest du lieber nicht gegenüber Mum erwähnen, du weißt, wie sie über Drogen jeglicher Art denkt.«

»Sie hasst das Zeug. Genauso wie du, seit du trocken bist«, sagte Colin lässig und fragte sich im nächsten Augenblick, woher er die Ruhe dafür nahm.

»Wie kannst du bei der Situation noch Witze reißen?«

Colin lehnte sich seufzend auf der Couch zurück. Witze? Er machte keine Witze. »Hörst du mich lachen, Dev? Habe ich in den dreißig Minuten, die wir jetzt miteinander reden, auch nur ein Anzeichen in der Richtung gemacht?

»Scheiße«, murmelte Devin und Colin nickte.

»Ja, so kann man es auch ausdrücken.«

»Aber ...« Devin hielt inne und räusperte sich. »Versteh das nicht falsch, aber das ist Wahnsinn. Deine Schwester kann dir doch nicht einfach ihren Sohn ver... Ich weiß gar nicht, wie ich das nennen soll.«

»Mir geht’s nicht anders«, gab Colin zu und starrte auf den Wust an Papieren vor sich auf dem Couchtisch. »Aber ich habe es schwarz auf weiß und die Papiere sind echt, soweit ich das als Laie beurteilen kann. Gwens Testament, das Schreiben vom zuständigen Jugendamt in Irland, die Abtrittserklärung meiner Eltern ... Ich habe es hier vor mir liegen. Ich brauche nur zu unterschreiben, dass ich Kilian bei mir aufnehme, und schon geht die Sache ans zuständige Jugendamt in Philadelphia, die dann prüfen, ob er wirklich bei mir leben kann.«

Und das war etwas, das er eindeutig nicht begriff. Da starb eine Frau, hinterließ ein minderjähriges Kind und niemanden kümmerte das? So schien es Colin momentan zumindest, denn wie sollte er sich sonst erklären, dass Kilian offenbar ohne Begleitung hierher geflogen war. Wie war so etwas möglich? Wofür gab es eigentlich in den meisten zivilisierten Ländern so etwas wie Kinderschutz? Auch Irland hatte Jugendämter, die für solche Fälle zuständig waren. Er war nicht mal angerufen worden, dass Kilian auf dem Weg war. Dass seine Eltern ihn nicht über Gwens Tod informiert hatten, wunderte ihn nicht sonderlich, aber das sich kein Behördenmitarbeiter für Kilian zuständig gefühlt hatte, entsetzte Colin.

»Mein Gott, er ist ihr Enkel. Wie können deine Eltern ihn einfach abschieben und aus seinem bisherigen Umfeld reißen? Schlimm genug, dass seine Mutter tot ist, aber jetzt auch noch das?« Devin war unüberhörbar verärgert. »Dass sie sich einen Dreck um dich kümmern, bin ich ja schon gewöhnt, aber Kilian ist noch ein Kind. Ich hätte zumindest in dieser Hinsicht etwas Anstand von ihnen erwartet.«

»Sie wissen wahrscheinlich nicht mal, wie man dieses Wort schreibt«, meinte Colin verbittert und schüttelte den Kopf. Das gehörte nicht hierher. Der Bruch mit seinen Eltern war lange her und er würde daran nicht rütteln. Er hatte sich damals freiwillig entschieden, das Land für immer zu verlassen, aber ihn wurmte, dass sie ihren eigenen Enkel zu ihm abschoben, warum auch immer. »Lassen wir das. Ist besser so.«

Devin schwieg kurz. »Es tut mir so leid wegen Gwen.«

Colin lächelte gequält. »Mir auch. Danke, Dev.«

»Wo ist der Junge jetzt?«

Colin lauschte kurz, aber über ihm war alles ruhig. »Oben im Gästezimmer und schläft hoffentlich. Ich habe nicht ein vernünftiges Wort aus ihm rausgekriegt, aber außer einer Tasche mit Klamotten und einem Rucksack scheint er komplett abgebrannt zu sein. Ich verstehe das einfach nicht.«

»Hm«, machte Devin überlegend. »Hatte Gwen Probleme? Ich meine, warum schickt sie Kilian zu dir? Warum schreibt sie sogar ein Testament, um sicher zu stellen, dass der Junge zu dir kommt? Vielleicht ging es um Geld oder sie hatte sich mittlerweile auch mit euren Eltern überworfen.«

»Ich weiß es nicht.« Colin seufzte und schämte sich sofort dafür, aber es war nun mal nicht daran zu rütteln, dass er aus dem Leben seiner kleinen Schwester nicht gerade viel wusste. So hatte er es damals gewollt und Gwen hatte ihm deswegen nie einen Vorwurf gemacht. »Hoffentlich kann Kilian mir morgen mehr dazu sagen.«

Colin hoffte das nicht nur, er betete förmlich darum. Nicht dass er sonderlich gläubig war, aber im Moment war die ganze Geschichte so voller Löcher, dass er in ihr keinen roten Faden fand. Es musste einen Grund geben, warum Gwen ausgerechnet ihn als den Vormund für Kilian haben wollte und er musste wissen, warum seine Eltern ihren eigenen Enkel mit einem verdammten Stück Papier aus ihrem Leben verbannt hatten.

»Was ist eigentlich mit seinem Vater?«, fragte Devin nachdenklich und riss ihn damit aus seinen Grübeleien.

Colin verdrehte schnaubend die Augen. »Der wollte schon vor fünfzehn Jahren nichts von Kilian wissen. Sie mit siebzehn zu schwängern, das hatte er drauf, aber sich um sein Kind zu kümmern nicht. Bei dem Arsch bleibt Kilian bestimmt nicht.«

»Unterhalt?«, wollte Devin wissen.

»Hat er nie gezahlt und Gwen hat auch nicht darauf bestanden. Wir haben uns deswegen gestritten, aber sie meinte, lieber hätte sie drei Jobs, als auf die Almosen eines Geschäftsmannes angewiesen zu sein, der als Vater ein totaler Versager wäre.«

»Okay, das kann ich verstehen«, gab Devin zu und seufzte am anderen Ende. »Das soll man begreifen. Die Behörden schicken einen Teenager über den großen Teich, in der Hoffnung, dass du ihn zu dir nimmst? Ich meine, Hallo? Warum hat niemand Kilian zu dir begleitet? Warum hat sich kein Schwein bei dir gemeldet? Gwen wird ja kaum erst gestern gestorben sein.« Devin schnaubte. »In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn ein fünfzehnjähriger Junge mir nichts dir nichts in ein Flugzeug gesteckt wird? Wer hat ihn da hineingesetzt? Er kann sich das Ticket schlecht selbst gekauft haben.«

Genau diese Fragen hatte sich Colin schon alle gestellt, aber der einzige, der sie beantworten konnte, lag derzeit ein Stockwerk höher im Bett. »Ich lasse ihn erst mal schlafen und versuche morgen früh, ein paar Informationen aus ihm rauszukriegen.« Colin sah auf die Uhr. »Heute bringt das nichts mehr. Ich schätze, ich muss mir einen guten Anwalt suchen. Das Jugendamt wird wahrscheinlich bald vor meiner Tür stehen. Weißt du Adrians Nummer?«

»Nein, aber Dom hat sie.« Devin raschelte kurz herum. »Ich schicke ihm eine SMS. Mal sehen, wann er sich meldet.«

Colin lächelte unwillkürlich. Auf Devin war einfach immer und zu jeder Zeit Verlass. »Danke.«

»Nicht dafür.« Devin lachte leise. »Hast du dir schon überlegt, wie das ablaufen wird, wenn du ihn bei dir behältst? Ein Teenager. Das grausamste Alter überhaupt, frag meine Mum. Und wenn Kilian genauso gern in die Schule geht wie du, hast du noch einiges vor dir.«

Colin musste lachen. »So schlimm war ich gar nicht.«

»Von wegen. Du erinnerst dich nur nicht mehr daran«, hielt Devin hörbar grinsend dagegen. »Reiner Selbstschutz.«

»Pfft«, machte Colin, obwohl Devin nicht unrecht hatte. Als er in Kilians Alter gewesen war, hatte er ständig irgendwelchen Blödsinn ausgeheckt oder Entschuldigungen gefälscht, sobald er keine Lust auf die Schule gehabt hatte.

»Colin? Willst du ihn überhaupt zu dir nehmen?«

Die Frage hatte kommen müssen und für Colin gab es darauf nur eine Antwort. »Er ist mein Neffe. Denkst du ernsthaft, ich sehe tatenlos dabei zu, wie er in ein Heim gesteckt wird?«

Dieses Schicksal würde er Kilian nie im Leben aufbürden. Ihm war zwar klar, dass es auch glückliche Heimkinder gab, Devin bewies es ihm schließlich jeden Tag, aber Devins Eltern waren ohnehin etwas Besonderes. Menschen wie sie gab es nur äußerst selten und Colin hatte nicht vor, in Bezug auf Kilian das Glück herauszufordern. Er würde seinen Neffen nicht einfach abschieben, wie seine ach so wunderbaren Eltern es getan hatten. Er hatte vielleicht keine Ahnung von Kindererziehung, aber er hatte das, was seiner Meinung nach viel wichtiger war, nämlich den Willen, Kilian ein Zuhause zu geben. Colin lächelte traurig. Gwen war tot und ab sofort würde es sein Job sein, sich um ihren Jungen zu kümmern.

»Irgendwie habe ich genau diese Antwort erwartet«, meinte Devin mit einem hörbaren Lächeln in der Stimme. »Weißt du, es ist ... Warte mal kurz, hier piept was.«

Colin hörte Devin laut fluchen, dann raschelte es im Hintergrund, bevor sein Freund wieder da war. »Mein Handy ... Gut, wir reden morgen weiter. Dom hat sich gemeldet. Er hat Adrian in der Leitung, der dich gleich anrufen wird.«

»Um die Uhrzeit?«, fragte Colin verwundert, immerhin war es fast Mitternacht und morgen war ein normaler Arbeitstag.

»Isabell ist unruhig, was David und ihn wachhält, also will er wegen Kilian gleich mit dir reden. Und das heißt, wir zwei legen jetzt auf.«

Colin grinste. Ja, Babys waren etwas Tolles, wenn sie quengelig waren. Das hatte er nach Kilians Geburt selbst einmal erleben dürfen. »Ist gut. Bis morgen, Dev.«

»Und wehe, du rufst nicht an«, drohte Devin gespielt, was Colin leise lachen ließ.

»Würde ich mich nie wagen, dich nicht über alles zu informieren«, erklärte er amüsiert und legte auf, um keine fünf Sekunden später schon wieder abzunehmen, da sein Telefon erneut klingelte. »Was macht Isabell?«

»Ihre armen, übermüdeten Väter in den Wahnsinn treiben«, antwortete Adrian Quinlan trocken. »Hi, Colin. Wie geht’s deinem Neffen?«

»Hi, Adrian.« Colin zog die Beine an und machte es sich auf der Couch gemütlicher. »Schläft hoffentlich.« Adrians folgende Frage, wie es ihm selbst ging, irritierte Colin. »Mir?« Er überlegte kurz. »Keine Ahnung. Ich schätze, bei mir ist Gwens Tod noch nicht wirklich angekommen.«

»Mein Beileid.«

»Danke«, antwortete er ironisch und verdrehte die Augen darüber. Adrian hatte ihm nichts getan und es außerdem ehrlich gemeint. Manchmal benahm er sich wirklich unmöglich. »Sorry. Hat Dominic dir erzählt, was los ist?«

»Soweit er es von Devin wusste. Also. Schieß los. Was kann ich für dich tun?«

Adrian und David hatten ein Baby adoptiert, wenn also jemand wusste, was er jetzt tun musste, um Kilian ein Zuhause zu geben, dann war es dieser Anwalt. Auch wenn ihm Adrian Quinlan in gewisser Weise suspekt und manchmal auch ein wenig unheimlich war, weil dieser Mann einfach alles zu wissen schien, wusste Colin, dass er auf ihn zählen konnte, solange er ehrlich blieb. Daher erzählte er Adrian, was hier vor ein paar Stunden passiert war und was Gwen in ihrem Testament geschrieben hatte. Auch Kilians Nichtsnutz von Vater und die Stellungnahme seiner Eltern ließ er nicht aus, was Adrian zu einem Schnauben veranlasste, dennoch unterbrach der Anwalt ihn nicht, bis Colin zu Ende gesprochen hatte.

»Colin, bevor wir weiter reden, will ich zuerst von dir wissen ... Was willst du?«, fragte Adrian und die Antwort darauf war einfach, obwohl sie ihn gleichzeitig in Panik versetzte. Er hatte keine Ahnung von Kindern, trotzdem kam es für Colin auf gar keinen Fall infrage, Kilian wegzugeben. Wenn sein Neffe bei ihm bleiben wollte, würde Colin alle Hebel in Bewegung setzen, um dafür zu sorgen.

»Wenn er das will, möchte ich Kilian bei mir behalten«, sagte er und ignorierte die einsetzende Gänsehaut. Die kommenden Wochen und Monate würde ein Abenteuer der ganz besonderen Art werden, so viel stand jetzt bereits fest.

»Verstehe«, sagte Adrian und Colin konnte ihn am anderen Ende der Leitung fast nicken sehen. »Adoption?«

Adoption? Colin schauderte. Vielleicht sollte er es langsam anfangen. Eine Vormundschaft, wie Gwen es sich gewünscht hatte, und dann, mit der Zeit und wenn Kilian wollte, konnte er über eine Adoption nachdenken. Falls das überhaupt ging, immerhin war er ja sowieso Kilians leiblicher Onkel. Egal. Darüber würde er sich Gedanken machen, sobald es soweit war. Nicht jetzt, nicht heute Nacht, und auch nicht morgen. Im Moment war allein die Vorstellung, ab sofort für einen Teenager verantwortlich zu sein, erschreckend genug für Colin.

»Dieses Wort macht mir Angst«, gab er daher zu.

»Also gut ... Lass mich kurz überlegen ...« Colin hörte Adrian mit Papier rascheln. »Kommst du an ein Faxgerät?«

»Ja«, antwortete Colin und war insgeheim froh, dass Adrian das Thema Adoption nicht weiter besprechen wollte. »Wir haben eins in der Werkstatt. Das kann ich benutzen.«

»Gut, dann sieh zu, dass du mir morgen den ganzen Kram rüberschickst, den Kilian dir an Unterlagen mitgebracht hast. Ich gebe dir meine Kanzleinummer und sehe mir alles an, um eine Vormundschaft für dich zu beantragen. Sobald ich mehr weiß, melde mich bei dir, okay?«

Wenn es weiter nichts war, das bekam er hin. »Danke.«

»Kein Thema. Ich schicke dir eine Rechnung«, konterte der Anwalt lässig und Colin lachte.

»Mach das.«

»Spinner«, war Adrians Kommentar dazu. »Aber schon mal zu deiner Beruhigung. Nach dem, was du mir gerade erzählt hast, dürfte es kein Problem sein, dass der Junge erst mal bei dir bleibt. Wenn sich wer vom Jugendamt meldet, sag mir Bescheid. Lass dich ohne Termin auf nichts ein, verweise einfach an mich. Die werden nachsehen wollen, ob Kilian bei dir leben kann, das ist klar, aber ich will nicht, dass die euch beide überrennen, kapiert? Oh, und ich werde mich mit den Behörden in Irland in Verbindung setzen, dafür brauche ich eine Vollmacht von dir.«

»Wozu das?«, wollte Colin verdutzt wissen.

»Um herauszufinden, wie es möglich ist, dass ein Teenager mitten in der Nacht vor deinem Haus auftaucht. Ich will genau wissen, was sich auf dieser Insel nach dem Tod deiner Schwester abgespielt hat.«

Colin runzelte die Stirn. »Das kann ich auch Kilian fragen.«

Adrian schwieg kurz. »Nimm es nicht persönlich, aber dein Neffe könnte dich belügen. Offizielle Akten tun das im Allgemeinen nicht.«

Adrian hätte ihm genauso gut die Faust in den Magen rammen können. Andererseits, nachdem Colin kurz nachgedacht hatte, musste er dem Anwalt leider recht geben. Mit fünfzehn hatte er selbst bei jeder sich anbietenden Gelegenheit gelogen. Das bedeutete zwar nicht, dass Kilian genauso war, aber Adrian war nun mal Anwalt und konnte sich kaum auf das Wort eines Teenagers verlassen, ob der nun sein Neffe war oder nicht. Noch dazu, wo Kilian gerade seine Mutter verloren hatte.

»Offizielle Akten kann man allerdings fälschen«, wandte er ein, immerhin wusste er nur zu gut genug, wie so etwas funktionierte.

»Mag sein«, gab Adrian zu. »Allerdings kann dafür jemand seinen Job verlieren, wenn ich ihn dabei erwische und ich habe noch jeden erwischt, Colin. Und falls du damit auf deine niedliche Spielerei mit eurem Schulcomputer anspielst, als du mit sechzehn Jahren ...«

»Fuck!«, unterbrach er den Anwalt entsetzt und sprang von der Couch auf. Genau das meinte er damit, dass dieser Mann unheimlich war. »Woher, zum Teufel, weißt du davon?«, fragte er herrisch und hatte im nächsten Augenblick, als Adrian lachte, plötzlich so ein ungutes Gefühl, dass er gleich noch eins auf die Mütze bekam. »Und was weißt du noch?«, setzte er deswegen hinterher und verfluchte sich gleich darauf dafür, denn das Lachen hörte auf und der Anwalt sagte kein Wort. »Ich schätze, ich will es nicht wissen.«

»Doch, willst du. Du musst es auch, denn wenn du die Vormundschaft für Kilian willst, solltest du die regelmäßigen Besuche bei deinem Loverboy fürs Erste besser einstellen.«

Ein ganzer Kübel Eiswasser über seinem Kopf hätte nicht wirkungsvoller sein können. Colin schnappte nach Luft. Woher wusste dieser Kerl das alles über ihn? Okay, die Sache mit dem Schulcomputer war kein Geheimnis, immerhin war er dabei erwischt worden, aber über Mikael wusste niemand Bescheid. Nicht mal Devin. Kein einziger Mensch wusste, was er seit fünf Jahren regelmäßig nach Feierabend machte, weil er und sein Loverboy, wie Adrian ihn so abfällig genannt hatte, viel zu viel zu verlieren hatten, als dass sie das Risiko eingehen konnten, ihr kleines Verhältnis publik zu machen.

Colin setzte sich wieder hin, die freie Hand zur Faust geballt. »Du mieses Arschloch hast mir hinterher spioniert.«

»Informationen sind das halbe Leben, hat dir das noch nie jemand gesagt?«, konterte Adrian hörbar amüsiert, was ihn vor Wut knurren ließ.

»Das ist nicht witzig, Adrian.«

»Nein, ist es nicht«, pflichtete der Anwalt ihm gelassen bei. »Und normalerweise hätte ich darüber auch kein Wort verlauten lassen, aber du willst einen Fünfzehnjährigen bei dir aufnehmen und hast seit über fünf Jahren eine geheime Affäre mit einem verheirateten Geschäftsmann.«

Colin sprang wutentbrannt wieder auf. »Verdammte Scheiße, Adrian. Du hattest kein Recht, in meinem Leben herumzuschnüffeln.«

»Bin ich dein Anwalt, oder nicht?«

Totschlagargument.

Und das Schlimme daran war, dass Adrian das erstens ganz genau wusste und zweitens wieder einmal recht hatte. Wenn er jetzt ablehnte, würde das Thema vom Tisch sein, nur hätte er dann auch keinen Anwalt mehr. Colin war frustriert, weil er in der sprichwörtlichen Falle saß und Adrian wusste das genauso wie er selbst.

»Scheiße.«

»Wohl wahr«, meinte Adrian trocken und das war vermutlich dieser Anwaltston, von dem Devin ihm erzählt hatte. »Jetzt setz dich wieder hin und hör mir zu.«

»Woher ...? Ach, was rede ich überhaupt?« Colin verdrehte die Augen und setzte wieder hin. »Ich sitze.«

»Wie gesagt, normalerweise wäre es mir egal, mit wem du ins Bett steigst. Aber dem Jugendamt wird das nicht egal sein. Was glaubst du wohl, wie das aussieht, wenn sie davon Wind kriegen? Sie werden dich überprüfen. Dein Haus, deine Finanzen, deine Vergangenheit. Und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass diese Leute eher damit klarkommen würden, wenn du ein Ex-Knacki wärst, als mit der Tatsache, dass du mit einem Mann ins Bett steigst, der verheiratet ist. Also gewöhne dich daran, fürs Erste enthaltsam zu leben oder schaff dir eine Freundin an, McDermott.«

»Falsches Geschlecht«, murrte er angesäuert, was Adrian nicht die Bohne kümmerte.

»Das weiß ich, Colin, ich habe dich überprüft, so wie ich jeden überprüfe, der längerfristig in mein Leben tritt, wenn auch nur um drei Ecken.«

»Hast du Devin ...?«

»Nein! Das habe ich nicht und werde es auch nicht tun. Hörst du mir eigentlich zu?«, unterbrach Adrian ihn wütend. »Ich hätte nie etwas verlauten lassen, wenn es nicht notwendig gewesen wäre. Außerdem ist es nicht meine Aufgabe, darüber zu entscheiden, wer was aus deinem Leben wissen sollte. Mich erstaunt eher, dass du Devin nichts davon gesagt hast, immerhin ist er dein bester Freund.«

Das änderte nichts. Jedenfalls nicht für ihn. Colin schüttelte den Kopf, bis ihm einfiel, dass Adrian das nicht sehen konnte. »Es geht ihn nichts an. Genauso wenig wie dich.«

»Die Tatsache, dass dein Typ eine Menge zu verlieren hat, dürfte wohl zusätzlich entscheidend sein.«

»Adrian!«, zischte Colin warnend.

»Ich werde nicht weiter nachhaken«, lenkte Adrian umgehend ein. »Wie gesagt, halte dich die nächste Zeit bedeckt. Ach ja, sieh zu, dass Kilian schnellstmöglich auf einer Schule angemeldet wird. Es kommt bei den Behörden immer gut an, wenn du dich selbst um solche Dinge kümmerst.«

Colin nickte verstehend. »Ich erledige das gleich morgen.«

»In Ordnung. Jetzt nimm dir Zettel und Stift, damit ich dir die Faxnummer durchgeben kann. Wann bist du morgen in der Werkstatt? Beziehungsweise, wo willst du Kilian den Tag über lassen?«

Eine sehr gute Frage. Ihm fiel spontan nur eine Lösung ein. »Frank und Sally. Ich fahre gleich am Morgen rüber, frage sie, und dann geht’s in die Werkstatt. Im Notfall nehme ich ihn mit. Ich werde mir einige Tage freinehmen und ...« Colin brach ab, als ihm ein Gedanke kam. »Oh Mann, ich weiß ja nicht mal, wo in dieser Gegend eine gute Schule ist.«

»Such dir im Internet welche raus und seht sie euch dann gemeinsam an. Kilian ist alt genug, um mitzuentscheiden, auf welche Schule er in Zukunft gehen soll. Außerdem dürfte das Streit vermeiden, den ihr mit Sicherheit habt, wenn du ihm einfach eine Schule aufs Auge drückst.« Der Anwalt schwieg kurz. »Hat er Zeugnisse dabei? Die dürfte er brauchen.«

Colin zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«

»Frag ihn. Wenn er keine hat, melde dich. An seiner alten Schule müssen sie welche haben.«

Colin konnte nicht anders als zu grinsen. »Man merkt, dass du seit zwei Monaten Vater bist.«

Adrian lachte leise. »Frag lieber nicht, wie viele Elternratgeber ich mittlerweile gelesen habe.«

Colin erwiderte das Lachen, bevor er sich räusperte. »Also gut, wie war das? Keine Zusagen ohne dein Okay und die Vollmacht und alles andere schicke ich morgen per Fax mit zu dir rüber. Sonst noch was?« Adrian verneinte. »Dann gib mir deine Faxnummer.«

»Weißt du, worauf du dich mit der Sache einlässt?«, wollte Adrian danach wissen und die Frage wunderte Colin nicht.

Natürlich wusste er es nicht, woher auch? Die paar Treffen mit Gwen in den vergangenen Jahren, um seine Schwester und Kilian zu sehen, konnte er kaum als Erfahrung in puncto Erziehung zählen. »Nein, und ich habe eine Scheißangst deswegen.«

»Gute Antwort«, meinte Adrian daraufhin schlicht und Colin hörte im Hintergrund eine Tür klappen. »Ich komme gleich ins Bett, Trey ...« Murmeln folgte seinen Worten. »David lässt dich grüßen.«

Colin lächelte unwillkürlich. »Grüß ihn zurück.«

»Mache ich. Willst du einen Rat bezüglich Kilian?«

Ein Rat von Adrian Quinlan? Laut Dominic war man wirklich dämlich, so ein Angebot auszuschlagen. »Welchen?«, fragte Colin daher.

»Versuch nicht, der coole Onkel zu sein. Dein Neffe braucht einen Vater.«

Colin runzelte die Stirn. Wie sollte er Kilian ein Vater sein? Er hatte nur den Vergleich mit seinem eigenen Vater, der ihn im Stich gelassen hatte, und so was brauchte Kilian ganz sicher nicht. »Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, Vater zu sein.«

»Ich auch nicht«, hielt Adrian mit einem Lächeln in seiner Stimme dagegen. »Aber das wird mich nicht davon abhalten, Isabell für den Rest meines Lebens über alles zu lieben.«

 

 

2. Kapitel

 

 

 

 

»Nicht.« Colin hielt die Hand auf, die an seinem Knie Richtung Oberschenkel strich. »Ich bin nicht im Stimmung.«

Ein heiseres Lachen folgte seinen Worten. »Oh Schreck, das wäre mir nie aufgefallen«, wurde er geneckt, was ihn seufzen ließ. »Komm schon, Colin. Was ist los, dass du mich mitten in der Nacht in dieses Hotelzimmer zitierst und dann ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter ziehst? Hast du Ärger?«

»So könnte man es auch nennen«, gestand er und ließ sich tiefer in die Wanne sinken, in der sie lagen, seit er vor einer Stunde die Tür hinter Mikael geschlossen hatte.

Für Abschiedssex.

So hatte Colin es wenigstens geplant gehabt, aber seine Libido war anderer Meinung, denn er verspürte weder Lust noch irgendetwas anderes. Dazu ging ihm einfach zu viel im Kopf herum, seit er sich davon überzeugt hatte, dass Kilian schlief, und danach wie ein Dieb aus seinem eigenen Haus geschlichen war. Er, Colin McDermott, war mitten in der Nacht aus seinen vier Wänden in ein Hotelzimmer geschlichen, um Sex zu haben. Das klang nicht nur erbärmlich, das war erbärmlich. Noch dazu, wenn er bedachte, dass sein Neffe jetzt allein zu Hause war. Du liebe Zeit, was hatte ihn bloß geritten, hierherzukommen? Ein Anruf hätte es auch getan.

»Wie groß ist der Ärger? Brauchst du Hilfe?«

Hilfe? Von Mikael? Ein wirklich guter Witz. Colin verkniff sich ein böses Lachen und schnaubte stattdessen. »Von dem Kerl, den ich seit fünf Jahren ficke oder umgekehrt?«

»Nein«, hielt Mikael trocken dagegen. »Aber vielleicht von dem Kerl, der morgen früh wieder Besitzer dreier Edelrestaurants sein wird.«

»Ein verheirateter Besitzer«, vervollständigte Colin Mikaels Worte und runzelte im nächsten Moment die Stirn. Das hatte ihn vorher auch nie gestört, wieso fing er also jetzt so an?

»Seit wann stört dich das?«

Gute Frage, gestand sich Colin ein. Andererseits lag die Antwort auf der Hand, immerhin hätte er mit Mikael zusammen sein können, gäbe es dessen Frau nicht. Nicht dass er auch nur einen Funken Interesse daran hatte, eine Beziehung zu führen. Es ging ums Prinzip. Mikaels Ehefrau verdarb ihm den Sex für die kommenden Monate. Nun, eigentlich verdarb ihm Kilian den Sex. Colin stöhnte innerlich auf. Was dachte er da für einen Blödsinn? Was konnte sein Neffe dafür, wie er sein Leben führte? Gar nichts. Erbärmlich traf es nicht mal im Ansatz, wenn es darum ging, wie Colin sein Verhalten beschreiben sollte.

»Es macht die Sache komplizierter«, meinte er daher nichtssagend und dachte an Adrians Worte. »Aber um die Frage zu beantworten, nein, ich brauche kein Geld von dir.«

»Ich habe von Hilfe gesprochen, nicht von Geld«, wies Mikael ihn zurecht, was Colin mit einem gleichgültigen Schulterzucken kommentierte.

»Wir können uns die nächste Zeit nicht sehen.«

Mikael seufzte leise. »Wie lange willst du noch um den heißen Brei herumreden, McDermott?«

Colin verdrehte frustriert die Augen. So kam er nicht weiter. Aber das hatte er auch nicht anders erwartet. Nach mehr als fünf Jahren regelmäßiger Treffen in diversen Hotelzimmern kannten sie einander gut genug, um zu wissen, dass er Mikael Corvin, dem Besitzer von drei Edelrestaurants in Philadelphia, sagen konnte, was passiert war, ohne Gefahr zu laufen, dass er es an jemanden weitererzählen würde. Sie hatten beide einiges zu verlieren, falls ihr Techtelmechtel ans Licht kam. Mikael sogar viel mehr als er.

»Meine Schwester ist tot und hat mir ihren fünfzehnjährigen Sohn vererbt«, antwortete er und danach herrschte Schweigen. Das hatte scheinbar gesessen. »Schockiert?«

»Wundert dich das etwa?«, fragte Mikael im Gegenzug und nahm das sanfte Streicheln an seinem Knie wieder auf. Dieses Mal ließ Colin es zu.

»Nein. Mir ging es nicht anders.«

»Verstehe ich. Beziehungsweise, ich verstehe es nicht, aber jetzt ist mir klar, warum wir uns nicht mehr sehen können.«

Colin nickte. »Du hast zu viel zu verlieren.«

»Du auch«, konterte Mikael lässig und legte einen Arm um ihn, bevor er nach dem Schwamm griff, der auf dem Wannenrand lag. »Zumindest, wenn du deinen Neffen bei dir behalten möchtest.«

Ja, das wollte er. Gleichzeitig wurmte es ihn, dass er dafür gezwungen war, sein Leben über den Haufen zu werfen. Keine Sextreffen mit Mikael mehr, kein Ausgehen in Bars oder Clubs, kein ruhigen Abende daheim auf der Couch. Colin hatte keine Ahnung, wie er das schaffen sollte. Ob er es überhaupt konnte, geschweige denn wollte. Er hatte sich sein Leben als Single eingerichtet und stand auf einmal mit der Erziehung eines Teenagers da. Aber wie hätte er Kilian abweisen können? Colin war zwar nicht begeistert von der Situation, aber was das anging, hatten Kilian und er mit Sicherheit eine Menge gemeinsam.

»Würdest du deine Halbbrüder in so einer Situation vor der Tür stehen lassen?«, fragte er schließlich und seufzte zufrieden, als Mikael mit dem Schwamm sanft über seinen Bauch zu fahren begann.

Kurzes Schweigen. »Das kann ich nicht beantworten.«

»Zumindest bist du ehrlich«, meinte Colin und runzelte die Stirn, als ihm auffiel, dass ihm Mikaels Antwort absolut nicht gefiel. Drehte er jetzt völlig durch, oder was?

Die Stimmung war jetzt jedenfalls endgültig ruiniert, denn Mikael schnaubte und legte den Schwamm auf den Rand, um ihn danach in eine aufrechte Position zu schieben, damit er aus der Wanne steigen konnte. Colin zog die Beine an und stützte sich mit den Ellbogen auf seinen Knien ab, um Mikael zuzusehen, wie der sich abtrocknete. Irgendetwas lief gerade mächtig schief, das wusste er, konnte sich aber nicht aufraffen, sich für seinen Kommentar zu entschuldigen. Stattdessen zog er den Stöpsel aus der Wanne und richtete seinen Blick auf das ablaufende Wasser, das leise gurgelnd im Abfluss verschwand. Im nächsten Gulli, genau wie sein schönes, ruhiges Leben.

»Du bist gerade ziemlich egoistisch, ist dir das klar?«

Mikaels Stimme riss ihn aus seinem Selbstmitleid und Colin sah auf, um zusammenzuzucken, als er ihn neben sich sitzend auf dem Wannenrand entdeckte. »Was meinst du damit?«

»Ich bin Geschäftsmann und ich liebe mein Leben, so wie es ist. Mit meinem Haus, dem BMW und mit dir. Dass mein Vater nach dem Tod meiner Mutter wieder geheiratet und mir zwei Brüder beschert hat, die ich kaum sehe, ändert daran nichts. Ich habe nie über eigene Kinder nachgedacht, das gebe ich zu, aber ich würde auch nie einen unschuldigen Fünfzehnjährigen dafür verurteilen, dass er mein ach so ruhiges und perfektes Leben durcheinander bringt und genau das tust du gerade.«

»Das ist doch gar nicht wahr«, empörte sich Colin und sah Mikael wütend an. Was bildete der sich eigentlich ein?

»Und ob das wahr ist«, bekräftigte Mikael seine vorherigen Worte jedoch umgehend. »Dein Neffe hat eben erst seine Mutter verloren. Deine Schwester ist tot, Colin, und du sitzt hier und fragst dich, womit du es verdient hast, dass dieser Junge ... Wie heißt er überhaupt?«

»Kilian«, antwortete er trotzig und ärgerte sich prompt darüber.

»Dass Kilian dein Leben komplett über den Haufen wirft.« Mikael schüttelte tadelnd den Kopf. »Du bist alles, was er noch hat, wenn ich bedenke, was du mir über deine Eltern erzählt hast. Also wirst du dein Leben neu planen müssen, sofern du nicht willst, dass er im Heim landet, so einfach ist das.«

Also das schlug ja wohl dem Fass den Boden aus. Colin sah Mikael wütend an. »Warum fährst du nicht nach Hause zu deiner süßen Frau und gehst ihr auf die Nerven?«, fragte er angesäuert und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.

Mikael sah ihn kurz verblüfft an, dann grinste er und beugte sich vor, um ihm mit dem Finger gegen die Nasenspitze zu tippen, was Colin hasste, weshalb er Mikaels Hand mit einem Fluch auf den Lippen wegschlug, woraufhin der lachte und ihn dann im Nacken packte, um ihn hart zu küssen, bevor er sagte: »Du bist wirklich niedlich, wenn du sauer bist.«

»Niedlich?« Colin blickte sich nach dem Schwamm um, um ihn Mikael ins Gesicht zu schleudern, kam aber nicht dazu, da der seine Arme festhielt. »Lass mich los, du Idiot!«

»Du bist mir wichtiger als sie, das weißt du auch verdammt gut. Und jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst, bevor dein Kleiner noch mitkriegt, dass du weg bist.«

Colin zog ein finsteres Gesicht, als Mikael aufstand, hielt aber lieber den Mund, weil er weder wusste, was er sagen sollte, noch auf weiteren Streit sonderlich scharf war. Dieser ganze Abend war eine komplette Katastrophe und obwohl Colin das wurmte, hatte er den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Kilian war ab sofort wichtiger, als sein bequemes Leben, da hatte Mikael nun mal recht. Nicht dass er das ihm gegenüber freiwillig zugegeben hätte.

»Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst.«

»Bei einem Fünfzehnjährigen?«, fragte Colin spöttisch und stöhnte im nächsten Moment auf. »Vergiss es wieder. Ich habe nichts gesagt.«

Mikael sah ihn nachdenklich an. »Ich glaube nicht, dass es mir in deiner Situation anders gehen würde, deshalb sagte ich auch, dass du anrufen kannst, wenn du Hilfe brauchst.« Mikael zuckte mit den Schultern. »Oder einfach nur, wenn du mal reden willst.«

Mikael war schon lange verschwunden, da starrte Colin immer noch total verdattert die offenstehende Badezimmertür an. Reden? Mikael und er redeten im Allgemeinen nicht, sie hatten Sex. Natürlich waren vor oder nach selbigem schon mal private Dinge zur Sprache gekommen, aber so ein Angebot hatte Mikael ihm noch nie gemacht und er umgekehrt auch nicht. Colin schüttelte irritiert den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was er von der Sache halten sollte, und da er auch so schon genug andere Dinge im Kopf hatte, entschied er, während er aus der längst leeren Wanne stieg, Mikaels letzten Satz einfach zu ignorieren.

Es war besser so, ganz sicher.

 

»Du hättest mir wenigstens einen Zettel schreiben können«, wurde ihm vorgeworfen, da hatte er gerade erst das Haus betreten. Colin warf die Tür hinter sich zu und ging ins Wohnzimmer, von wo aus Kilians Stimme gekommen war. Sein Neffe saß auf der Couch und musterte ihn von oben bis unten, bevor er sich wieder dem Fernseher zuwandte, in dem eine wilde Verfolgungsjagd lief. »Mum hat immer einen Zettel geschrieben, wenn sie abends länger wegblieb.«

»Bin ich vielleicht deine Mum?«, fragte er angepisst, weil er immer noch auf Mikael sauer war. Und auf sich selbst, die Situation, einfach auf alles und jeden.

Kilians Blick blieb auf den Fernseher gerichtet. »Nein, denn dann wärst du genauso tot wie sie.«

Colin atmete tief durch und schluckte die hämische Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, wieder runter. Es fehlte nur noch ein Wort, dann würden sie sich an die Gurgel springen, das spürte er, und nur die Tatsache, dass er es mit einem Teenager zu tun hatte, der sein Neffe war, hielt Colin davon ab, die Zügel aus der Hand zu geben. Hätte ihm jetzt Dominic gegenübergestanden, so wie in Tonys Boxring letztes Jahr, wären bereits die Fäuste geflogen.

»Komm in die Küche!«, befahl Colin, als er seiner Stimme wieder traute und ging in die Küche, um zwei Tassen aus dem Schrank zu nehmen und für Kilian und sich heiße Schokolade zu machen.

Laut Sally waren eine heiße Schokolade oder Kakao immer gut, um die Nerven zu beruhigen, und da Devins Mutter zwei nicht gerade einfache Kinder großgezogen hatte, war auf ihre Tipps Verlass. Das hatte er schon des Öfteren festgestellt, was auch mit ein Grund dafür war, dass es in seinem Haus immer Süßkram zu finden gab. Colin grinste, als er sich erinnerte, wie Devin mal seinen Schokoladenvorrat geplündert hatte. Warum, wusste er nicht mehr, aber er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er die Schublade nach einem missglückten Date leer vorgefunden hatte und dann mitten in der Nacht zu Devin gefahren war, um ihn deshalb anzubrüllen. Sehr zur Belustigung der Nachbarschaft, inklusive Devins Eltern Frank und Sally.

Colin sah auf, als Kilian schließlich in die Küche geschlurft kam. Der Junge hatte lange gebraucht, aber damit hatte er gerechnet. Um ehrlich zu sein, war er sogar davon ausgegangen, dass sein Neffe überhaupt nicht auf ihn hören würde. Er selbst hätte es jedenfalls nicht getan. Colin schüttelte die Vergangenheit ab und deutete auf den freien Stuhl ihm gegenüber, während er sich hinsetzte.

»Setz dich.« Kilian sah ihn misstrauisch an. »Bitte«, bat er und schob Kilian die Tasse mit der heißen Schokolade zu. Das funktionierte, denn der Junge setzte sich. »Ich weiß, wir kennen uns nicht, obwohl du mein Neffe bist, und dass ich daran eine Mitschuld trag, ist mir mehr als bewusst.« Colin trank einen Schluck, ehe er weitersprach. »Da dir wichtig ist, dass ich eine Nachricht hinterlasse, mache ich es in Zukunft, okay?«

»Ich dachte, du wärst abgehauen«, sagte Kilian und sah ihn vorwurfsvoll an.

»Wieso sollte ich?«, fragte er verblüfft. »Das ist mein Haus. Da haue ich kaum ...« Der Groschen fiel und er fiel laut. Sehr laut sogar. Colin stöhnte innerlich auf. »Um eines klarzustellen, Kilian, wenn ich dich nicht in meinem Haus haben wollte, hätte ich dich gestern Abend auch nicht reingelassen.«

»Wieso schiebst du mich nicht ans Jugendamt ab?«, fragte Kilian trotzig und dazu fiel Colin erst mal nichts ein. Sein Neffe war wirklich der Meinung, bei ihm komplett unerwünscht zu sein. Himmel noch mal.

»Ich bin nicht deine Großeltern, klar?«, zischte er verärgert und fragte sich im selben Augenblick, warum er sich eigentlich darüber ärgerte, dass Kilian aussprach, was für ihn offensichtlich war. Woher sollte sein Neffe es auch besser wissen? »Oh Mann ... Das wird eine Menge Arbeit«, murmelte er und rieb sich die müden Augen. Er hätte fast Kilians aufmüpfigen Blick übersehen. Aber nur fast. »Diesen Blick kannst du dir sparen. Wenn du gehen willst, sag es einfach, dann wird das Jugendamt ein schönes Heim für dich finden. Aber wenn du bleiben willst, bleibst du. Ohne wenn und aber. Du bist mein Neffe, Kilian, und obwohl ich dich und deine Mum nur selten besucht habe, bedeutet das nicht, dass ihr mir egal ward. Also? Willst du bei mir bleiben? Denn wenn ja, werden wir ein paar Regeln aufstellen müssen, um klarzukommen. Vermutlich werden wir uns auch erst mal ständig in den Haaren liegen, denn ich habe keine Ahnung davon, was es heißt, mich um einen Teenager zu kümmern. Um dich. Kannst du damit leben, oder nicht?«

»Ja.«

Dass ein Kind in nur zwei Buchstaben so viel Erstaunen legen konnte, hätte Colin niemals gedacht. Er verkniff sich jeden Kommentar dazu und fragte: »Willst du hierbleiben, Kilian?« Es folgte ein weiteres »Ja.«, das ihn nicken ließ. »Gut, dann regle ich das.«

»Muss ich zur Schule?«

Colin schnaubte amüsiert. »Träum nur weiter, Kumpel.«

Kilian grinste kurz. »Man kann's ja mal versuchen.«

Frech kam bekanntlich weiter und Colin war gegen seinen Willen beeindruckt. Dennoch würde er in der Hinsicht nicht mit sich diskutieren lassen. Heutzutage war ein Schulabschluss wichtig und für ihn nicht verhandelbar. »Du wirst zur Schule gehen und das regelmäßig. Du musst nicht studieren oder Arzt werden, wenn du das nicht willst, aber Highschool ist Pflicht, klar?« Kilian nickte. »Außerdem bist du für dein Zimmer selbst verantwortlich, was aufräumen und Sauberkeit angeht. Hausarbeit wird geteilt, der Rest findet sich. Und als erstes werde ich morgen ...« Colin sah auf die Uhr. »Okay, ich werde heute ein paar Tage Urlaub nehmen, damit wir für dich eine Schule finden können, dein Zimmer einrichten und so weiter ...«

»Mein Zimmer?«, fragte Kilian zögerlich und Colin nickte.

»Das Gästezimmer. Devin schläft immer dort, wenn er bei mir übernachtet, aber ab sofort gehört es dir.«

Kilian runzelte die Stirn. »Devin ist dein Freund?«, fragte er nachdenklich. »Der Mann, der im Rollstuhl sitzt.« Colin nickte erneut. »Die Rampe vor dem Haus ist für ihn, oder?«

»Ja.« Colin nickte ein drittes Mal. »Sobald ich das Geld dafür habe, werde ich einen Treppenlift einbauen, damit er ohne Hilfe ins obere Stockwerk kommt.«

»Cool.« Kilian lächelte. Das erste Mal, seit er vor seiner Tür gestanden hatte, lächelte sein Neffe, und sah dabei aus wie seine Mutter. Der Anblick bescherte Colin eine dicke Gänsehaut. »Ist er nett?«

Nett? Devin und nett? Colin fing an zu grinsen. Devin Felcon war ein Arschloch vor dem Herrn, wenn er eines sein wollte. Andererseits war er eine Seele von Mensch und als Freund konnte man sich immer auf ihn verlassen. Mit dem Wort nett würde Colin ihn dennoch nie beschreiben. Devin manipulierte zu gerne Menschen, um sie dahin zu bekommen, wo er sie hin haben wollte, und er selbst hatte sich ebenfalls schon oft manipulieren lassen, das war ihm bewusst. Aber es störte ihn auch nicht, denn Devin war kein bösartiger Mistkerl. Er wusste sich einfach nur durchzusetzen und als Mensch im Rollstuhl musste er das auch.

»Du kannst dir nachher selbst ein Bild von ihm und seinen Eltern machen«, antwortete Colin und streckte unter dem Tisch beide Beine aus. Langsam entspannte er sich ein wenig. »Ist es okay für dich, heute bei ihnen zu bleiben, solange ich mich um meinen Urlaub und den Papierkram für Adrian kümmere?«

Kilian zuckte die Schultern. »Wo sollte ich denn sonst hin? Und wer ist Adrian?«

»Mein Anwalt. Unser Anwalt. Der Mann, der dafür sorgen wird, dass du bei mir bleiben kannst.«

Kilian blickte an ihm vorbei aus dem Fenster. »Mum hat gesagt, dass du in einer Werkstatt arbeitest.«

»Stimmt«, sagte Colin ruhig, obwohl er neugierig war, worauf Kilian jetzt hinauswollte.

»Kann ich dich da mal besuchen?«

»Stehst du auf schnelle Autos?« Colin lachte, als Kilian ihm einem Blick zuwarf, der in etwa 'Bist du blöde, oder was?' aussagte. »Wundert mich nicht. Gwen meinte immer, das hast du von mir.«

»Echt?« Damit hatte er Kilians Aufmerksamkeit und Colin zwinkerte ihm zu.

»Gefällt dir mein Mustang etwa nicht?«

Kilian seufzte genüsslich. »Den zu fahren, wäre echt cool.«

Ganz sicher. Bestimmt genauso cool wie Mikaels schwarzer BMW. Colin grinste in sich hinein und schüttelte gleichzeitig den Kopf über sich selbst. Mikael und Kilian würden sich in nächster Zeit wohl kaum kennenlernen und außerdem durfte niemand diesen BMW fahren. Da war Mikael verdammt eigen. Andererseits ging es ihm mit seinem Mustang nicht viel anders, also konnte Colin dagegen kaum etwas sagen. Obwohl es ihn schon mehrfach in den Fingern geguckt hatte, Mikael nach den Autoschlüsseln zu fragen. Aber der würde ihm vermutlich eher die Finger abhacken, als ihn ans Steuer des BMWs zu lassen, und was das betraf, teilte Colin Mikaels Meinung. Nicht nur, weil er Angst um den Mustang hatte, sondern weil Kilian vor seinem sechzehnten Geburtstag garantiert nicht Auto fahren würde. Jedenfalls nicht, wenn er es verhindern konnte.

Colins Blick wanderte unwillkürlich zum Kalender, als ihm Kilians Geburtsdatum einfiel. Vierzehnter Februar. Sein Neffe hatte am Valentinstag Geburtstag. Das war jetzt fast zwei Wochen her, und er hatte sich mit Devin noch über die Auslagen in den Geschäften der Stadt amüsiert, die kein anderes Thema gehabt hatten. Die pure Ironie, dachte er zerknirscht, aber woher hätte er bitteschön wissen sollen, dass Kilian drei Tage später seine Mutter verlieren würde? Colin konnte ein Zusammenzucken gerade so verhindern. Gwen war drei Tage nach Kilians Geburtstag gestorben. Das hatte er letzte Nacht bei der Durchsicht der Papiere zwar gelesen, aber wirklich bewusst wurde es ihm erst jetzt. Drei Tage. Für einen Moment verspürte Colin den Drang, irgendetwas Tröstendes zu sagen. Er schwieg, als er Kilians Grinsen sah. Das würde er jetzt nicht ruinieren. Um nichts in der Welt.

»Träum weiter, Kleiner«, erklärte Colin daher trocken und ballte gespielt drohend die Faust, als Kilian ihm dafür frech die Zunge herausstreckte. »Frühestens mit sechzehn, verstanden? Und auch nur mit einem gültigen Führerschein.«

Kilian kicherte losgelöst. »Den schaffe ich locker, wetten?«

»Angeber.«

»Könner.«

»Wo sind die Beweise?«, fragte Colin amüsiert und bekam dafür ein Augenverdrehen als Antwort.

»Wenn ich die Prüfung beim ersten Mal schaffe, darf ich die Karre fahren, gebongt?«

»Karre?« Colin griff sich theatralisch ächzend an die Brust. »Für den Frevel hast du eine Woche Mülldienst.«

»Geht klar«, erklärte Kilian, was ihn verdutzt blinzeln ließ, und daraufhin lachte sein Neffe. »Reingelegt.« Colin schnaubte. »Also? Darf ich ihn nächstes Jahr fahren, oder nicht?«

Colin schauderte. Sein schöner Mustang. Devin würde sich krumm und schief lachen, wenn er ihm davor erzählte. »Besteh die Führerscheinprüfung, dann reden wir weiter«, antwortete er ausweichend, was Kilian allerdings durchschaute.

»Du hast doch nur Angst um dein Auto.«

»Hallo? Das ist ein Mustang. Ein Klassiker. Den muss man hegen und pflegen und ...«

»... standesgemäß ein paar Beulen reinfahren, wie Steve McQueen in Bullitt.«

Colin blieb im ersten Moment der Mund offen stehen. »Woher kennst du denn Bullitt?«

»Hallo? Das ist ein super Film. Ein Klassiker«, antwortete Kilian im gleichen Tonfall wie er zuvor und Colin lachte los.

Es war wirklich schön, das tun zu können, gestand er sich ein. Vor allem, als Kilian in sein Lachen einfiel. Der erste Schritt in Richtung Kennenlernen war gemacht und irgendwie würden sie auch die nächsten Schritte hinbekommen, hoffte Colin und stand auf, um seine Tasse in die Spüle zu stellen. Kilian machte es ihm nach und Colin nickte zufrieden, bevor er sich gegen die Spüle lehnte. Ins Bett gehen lohnte sich kaum noch und Kilian war offenbar derselben Ansicht, denn er setzte sich wieder an den Küchentisch und sah ihn fragend an.

»Ins Bett kriege ich dich wohl nicht mehr, oder?«, fragte er und lachte erneut, als sein Neffe mit einem entrüsteten »Ich bin doch kein Baby mehr.« die Augen zur Decke verdrehte. »Das dachte ich mir. Wie wäre es mit Frühstück?«

»Ich könnte schon was vertragen«, sagte Kilian.

Colin schmunzelte vor sich hin, als er an den Kühlschrank ging. In Kilians Alter hatte er laut seiner Mutter statt eines Magens ein Fass ohne Boden gehabt, und sein Neffe schien ihm in der Hinsicht nacheifern zu wollen. Nach einem knappen Blick auf Kilians schlaksige Gestalt, nahm er deshalb Speck, Eier und Wurst aus dem Kühlschrank, und holte eine Pfanne aus dem Schrank, während Kilian sich um den Toast kümmerte. Er würde heute einkaufen gehen müssen, überlegte Colin, während er die Eier verquirlte. Für zwei Personen hatte er nicht genug Vorräte im Haus. Von den ganzen Sachen, die Kilian brauchte, gar nicht zu reden.

Colin runzelte die Stirn, als ihm abrupt klar wurde, dass er die Pläne für eine eigene Werkstatt vorerst auf Eis legen musste. Ihm selbst wäre es egal gewesen, einen Kredit auf das Haus aufzunehmen und sich in den kommenden Jahre von Nudeln oder Brot zu ernähren, aber mit Kilian im Haus kam das auf keinen Fall infrage. Der Junge brauchte vernünftige Kleidung, Essen und ein geregeltes Leben. Keinen Haufen Schulden am Arsch. Aber vor allem brauchte er einen Vater, fiel ihm Adrians Ratschlag wieder ein, und irgendwie hatte Colin das Gefühl, dass gerade dieser Punkt zwischen Kilian und ihm bald für einige Schwierigkeiten sorgen würde.

 

 

3. Kapitel

 

 

 

 

»Darüber reden wir noch!«, brüllte er Kilian hinterher, was mit einem Zuknallen von dessen Zimmertür im oberen Stockwerk beantwortet wurde, woraufhin Colin vor Wut gegen einen der Küchenstühle trat und im nächsten Moment heftig zusammenzuckte, als das Telefon zu klingeln begann. »Was ist?«, blaffte er in den Hörer und stand kurz davor, selbigen wieder auf die Gabel zu knallen, um stattdessen seinen Neffen zu erwürgen, als sich am anderen Ende jemand räusperte.

»Störe ich?«

Adrian Quinlan. Der hatte ihm zu seinem Glück heute noch gefehlt. Colin stöhnte frustriert. »Nein. Ja. Ach, keine Ahnung.« Er sah verärgert Richtung Flur. »Gilt es eigentlich als Notwehr, wenn man sich einen Bengel vom Hals schafft, der einem den letzten Nerv raubt?«

»Nein«, antwortete Adrian trocken. »Was ist denn los?«

»Was los ist?« Colin schnaubte und verschwand, ebenso mit der Tür knallend wie sein Neffe zuvor, nach draußen, um eine zu rauchen, bevor er wirklich noch etwas Dummes tat. Kilian umbringen zum Beispiel. »Er treibt mich in den Wahnsinn. Das Essen ist scheiße, die Kleidung ist Scheiße, seine neue Schule ist Scheiße und überhaupt alles ist immer nur Scheiße. Er fängt wegen jedem Mist Streit an, selbst wenn es nur die beschissene Frage nach dem Abendessen ist. Manchmal denke ich, es reicht schon, dass ich atme. Ich werde noch wahnsinnig.«

Oder besser gesagt, er war es bereits. Zwei Monate. Acht verfickte Wochen war Kilian jetzt hier und machte ihm das Leben zur Hölle. So kam es Colin jedenfalls mittlerweile vor. Von wegen, sein Neffe würde anfangen zu trauern und sich dann erst mal zurückziehen. Von wegen, die erste Zeit würde noch leicht sein, da Kilian sich in Ruhe bei ihm eingewöhnen musste. Das und noch viel mehr hatte die Psychologin vom Jugendamt ihm erzählt, als sie mit der für Kilians Fall zuständiger Betreuerin seine Wohnverhältnisse geprüft hatte.

Entweder hatte diese Frau von Tuten und Blasen keine Ahnung oder Kilian war irgendein Sonderfall. Sein Neffe trauerte weder um seine verstorbene Mutter, noch hatte er sich zurückgezogen oder gewöhnte sich ein. Ganz im Gegenteil, denn Colin hatte viel eher das Gefühl, dass Kilian ihre Streits mit Absicht anfing, um auszutesten wie weit er gehen konnte. In Gesellschaft von Devin und dessen Eltern führte er sich nämlich nie so auf, wie wenn sie allein waren.

Und das war eine Sache, die ihn mittlerweile tierisch ärgerte. Mit sämtlichen Felcons verstand sich Kilian gut, während er selbst für seinen Neffen zum bösen Wolf mutiert war. Aus welchem Grund auch immer. Dabei tat er alles für dieses undankbare Gör. Er hatte sich sogar damit arrangiert, nicht mehr ständig bei Devin zu Hause zu sein oder sich weiter mit Mikael zu treffen. Alles, damit Kilian in ihm den Ansprechpartner hatte, den das Jugendamt verlangte. Wenn das so weiterging, fing er noch an bunte Socken zu stricken, so wie diese Oma im Fernsehen gestern. Das musste man sich mal geben. Er sah sich Talkshows an. Das hatte er vorher nie gemacht. Colin widerstand dem Drang nur mühsam, seinen Kopf gegen die Hauswand zu schlagen.

Es war jetzt Ende April. Im Mai hatte Devin Geburtstag und darauf hätte Colin sich normalerweise gefreut, weil Devin und er diesen Tag immer in irgendwelchen Bars oder Clubs verbrachten und erst am frühen Morgen nach Hause kamen. Dieses Jahr würde es nicht mal eine Party geben, weil er Kilian im Haus hatte und Devin zu seinem Bruder Dominic nach Cape Elizabeth fliegen würde. Im Normalfall wäre er vielleicht sogar mitgeflogen, aber im Moment war er so genervt von der Situation, dass er sich nicht mal über Dominics Einladung für Devin freuen konnte.

»Lass ihm Zeit, McDermott«, riss ihn Adrians resolute Stimme aus seinen Gedanken. »Er ist erst acht Wochen bei dir. Ihr werdet eine Weile brauchen, um euch zusammenzuraufen.«

Weitere zwei Monate oder noch länger? Bis dahin hatte er sich von der nächsten Brücke gestürzt oder Kilian von selbiger geschubst. »Ich habe nicht darum gebeten, ein Kind zu erben.«

»Und Kilian hat nicht darum gebeten, mit fünfzehn plötzlich seine Mutter zu verlieren«, konterte Adrian scharf, was Colin zusammenzucken ließ. »Du bist ein Leben mit ihm nicht gewöhnt und Kilian kein Leben mit dir. Ihr braucht Zeit, um euch aneinander zu gewöhnen. Ein neues Zuhause schafft man sich nicht in acht Wochen. Oder willst du ihn  vielleicht doch lieber in ein Heim abschieben?«

Das wusste Colin alles selbst, aber war es denn zu viel verlangt, mal einen Abend nicht zu streiten oder sich anzubrüllen? Was hatte Kilian nur gebissen, dass er ständig wütend war? Ob er vielleicht doch darüber nachdenken sollte, den Jungen in ein Heim zu geben? Ein guter Vormund war er nämlich eindeutig nicht, sonst würde Kilian ihn kaum täglich angiften. Allerdings hätte er sich dann sein Versagen eingestehen müssen und das kam für Colin nicht infrage. Er war nicht bereit, Kilian einfach aufzugeben. Das hatte er mit Devin nach dessen schwerem Unfall damals schließlich auch nicht getan.

Colin seufzte leise. »Nein, das will ich nicht.«

»Dann zu seinem Vater«, war Adrians nächster Vorschlag, der Colin die Stirn runzeln ließ.

»Wie bitte? Der Penner hat Gwen sitzenlassen, als er erfuhr, dass sie Kilian erwartet. Er hat sich nie für seinen eigenen Sohn interessiert.«

»Bleiben noch deine Eltern.«

Wollte der Anwalt ihn verarschen? »Eher verrecke ich.«

»Das dachte ich mir«, erklärte Adrian amüsiert und da ging Colin auf, dass er eben hochkant reingelegt worden war.

»Dom hat recht. Du bist ein Arschloch.« Adrians Antwort bestand aus Gelächter, was Colin gegen seinen Willen grinsen ließ. »Klappt das eigentlich immer?«

»Meistens. Und solange es das tut, kann ich damit leben, als Arschloch betitelt zu werden. Kilian und du braucht übrigens dringend eine Pause voneinander, das ist dir bewusst, oder?«

Ja, den Gedanken hatte Colin ebenfalls schon gehabt, aber wie sollte er das bewerkstelligen? Sally und Frank hätten Kilian garantiert für ein Wochenende zu sich genommen, aber er wollte Devins Eltern nicht dafür benutzen, ungestört feiern gehen zu können. Oder eher, um sich endlich mal wieder auszuschlafen. »Das dürfte schwierig werden. Ich kann ihn kaum für ein paar Tage irgendwo anketten, damit er nichts anstellt.«

Adrian lachte leise. »Das wäre wohl ein wenig drastisch, da hast du recht. Sag mal, was hältst du von Baltimore?«

»Schöne Stadt, warum?« Adrian schwieg und da dämmerte Colin, was die Frage sollte. »Hältst du das für eine gute Idee?«

»Warum nicht?«

»Adrian, wir kennen uns nicht einmal«, wandte Colin ein, denn so sehr der Anwalt ihm in den letzten Wochen mit Anträgen und Briefen bezüglich der vorläufigen Vormundschaft für Kilian geholfen hatte, ersetzten Telefonate kaum ein vernünftiges Kennenlernen. Colin war unsicher, wie er diesen Mann einschätzen und was er von dessen Angebot halten sollte.

»Da haben wir mit Kilian etwas gemeinsam. Vielleicht hilft es ihm, ein bisschen aus sich rauszukommen.«

»Und was ist mit Isabell?«

»Sie ist noch zu jung, um Einspruch zu erheben. Colin, hör auf, nach einer Ausrede zu suchen. Ich habe Trey schon gefragt und er hat ja gesagt. Pack Kilian ein und dann kommt her. Für ein Wochenende. Ihr braucht dringend eine kleine Auszeit. Außerdem müssen wir noch ein paar Dinge wegen der Vormundschaft bereden. Der wichtigste Grund ist allerdings, dass wir euch kennenlernen wollen.«

Totschlagargument. Mal wieder.

Er konnte nicht ablehnen und würde es auch nicht, was der Anwalt natürlich wusste. Colin überlegte, aber egal wie er es drehte und wendete, Adrians Vorschlag war gut. Obwohl ihn der Gedanke, mit Kilian nach Baltimore zu fahren, echt nervös machte. Nicht nur wegen Adrian und dessen Ehemann David, sondern vor allem wegen Kilian. Andererseits konnte es kaum schlimmer werden, als es im Moment schon war.

»Du hast keine Ahnung, was du dir ins Haus holst«, murmelte er und schnaubte, als Adrian anfing zu lachen. »Das ist nicht witzig. Sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»Sieh einfach nur zu, dass du Kilian ins Auto kriegst. Wenn möglich ohne Handschellen oder sonstige Hilfsmittel. Ich schicke dir eine SMS mit unserer Adresse.«

»Du gönnst mir auch gar nichts«, meinte Colin gespielt beleidigt und grinste, als Adrian erneut lachte, bevor sie sich voneinander verabschiedeten. Kurz darauf piepte sein Handy und zeigte eine Nachricht an. Es war die versprochene Adresse. Colin nickte und ging ins Haus, wo er im Wohnzimmer von Kilian erwartet wurde, der den Fernseher ausmachte und sich ihm zuwandte, als Colin eintrat.

»Können wir reden?«

Colin war prompt auf der Hut, stimmte aber zu und setzte sich Kilian gegenüber auf einen Sessel. »Schieß los.«

»Ich möchte mich bedanken.«

»Be... Was?«, fragte er verdattert, da er mit allem Möglichen gerechnet hatte, aber garantiert nicht damit, und Kilian wurde rot. »Wofür denn?«

Sein Neffe starrte auf das Polster der Couch. »Na ja, für alles eben. Mein Zimmer, meine Klamotten und so ...« Colin verstand nur Bahnhof, kam aber nicht zum nachfragen. »Ich habe dich mit Adrian reden hören und ich dachte, dass du ...« Kilian brach kurz ab. »Na ja, ich habe Sally angerufen. Weil sie so nett ist und gesagt hat, ich kann immer anrufen, wenn was ist. Und wir haben geredet und so ...« Kilian zuckte die Schultern und sah ihn wieder an. »Sie hat zu mir gesagt, dass ich undankbar bin, weil du dich um alles kümmerst und ich das nicht zu würdigen weiß, und ich denke, jetzt ist sie sauer auf mich.«

»Wieso sollte Sally sauer auf dich sein?«, hakte Colin nach, da er nicht wusste, wie er auf Kilians Erklärung reagieren sollte. Es war offensichtlich, dass sein Neffe verlegen war. Scheinbar hatte Sally ihm wegen seines Verhaltens ordentlich die Leviten gelesen, und Colin wusste aus eigener Erfahrung wie Sally war, wenn sie auf jemanden wütend war. »Was hast du denn zu ihr gesagt?«

Kilian wurde noch röter. »Das möchte ich nicht wiederholen, wenn ich ehrlich bin.«

Colin verkniff sich ein Grinsen. »So schlimm?« Kilian nickte nur. »Willst du einen Rat?«, fragte er und bekam ein weiteres Nicken als Antwort. »Sie liebt Blumen. Wir besorgen morgen früh welche und die bringst du ihr. Wollen wir wetten, dass sie ihren Ärger auf dich sofort vergisst?«

Kilian sah ihn unentschlossen an. »Meinst du?«

»Ja, meine ich.«

»Okay.« Kilian sprang von der Couch auf und rannte zur Tür, um noch mal innezuhalten und ihn anzusehen. »Danke.«

Weg war er und Colin sah verblüfft auf die Stelle, wo Kilian gestanden hatte, als im oberen Stockwerk die Tür zu dessen Zimmer zuschlug. »Danke, Sally«, murmelte er und fing an zu grinsen. Vielleicht sollte er Kilian doch nicht erwürgen. Colin zog sein Handy aus der Hosentasche und suchte die Nummer der Felcons raus. Sie ging nach dem ersten Klingeln ran. »Was immer du zu ihm gesagt hast, ich liebe dich dafür.«

Nach einem Moment überraschten Schweigens lachte Sally. »Du bist mir ja einer, aber ich liebe dich auch. Wie geht’s dem süßen Engel?«

»Engel? Reden wir von demselben Jungen?« Sally lachte erneut und Colin machte es sich lächelnd auf dem Sessel gemütlich. Er hatte Devins Mum wirklich gern.

»Er ist ein Engel, Colin, und das wirst du schon noch merken.« Sally stockte kurz. »Aber er ist auch ein sehr unglücklicher Junge, der dich noch nicht einschätzen kann.«

Oh ja, wem sagte sie das. Colin nickte. »Deswegen muss er aber nicht ständig mit mir streiten.«

»Das wurmt dich sehr, nicht wahr?«, fragte sie wissend und Colin seufzte nur. »Ich verstehe dich. Und ich habe Kilian auch gesagt, dass er sich dir gegenüber sehr unfair benimmt. So einen Vorwurf hört ein Teenager natürlich gar nicht gern.«

»War es schlimm, was er dir gesagt hat?«, wollte Colin beunruhigt wissen.

»Nein, nein«, wiegelte Sally ab. »Mach dir deswegen keinen Kopf. Dominic, Devin und du, ihr habt uns früher nichts anderes an den Kopf geworfen, sobald ihr eure Dickschädel durchsetzen wolltet. Nur dass du damals keine fünfzehn mehr warst. Aber so wie du, wird auch Kilian irgendwann begreifen, dass wir ihn lieben und nur auf ihn aufpassen, besonders du. Wobei ich ohnehin der Meinung bin, dass er längst weiß, was du für ihn empfindest, er hat nur Angst, es zuzulassen.«

Oha. Colin bekam eine Gänsehaut. »Ich ... Äh ...«

Sally lachte wieder. »Da seid ihr starken Kerle wirklich alle gleich, und das ist nicht böse gemeint. Keine Sorge, ich werde das böse Wort mit L nicht aussprechen, um dich nicht verlegen zu machen.«

»Sally«, murmelte Colin und war jetzt natürlich erst richtig verlegen, was Devins Mutter auch verdammt gut wusste. »Ich kann dich im Moment überhaupt nicht leiden.«

»Damit kann ich leben«, konterte Sally amüsiert. »Hast du nicht Lust, am Wochenende mit Kilian zum Mittagessen vorbeizukommen?«

Jetzt klang sie schon wie Adrian. Du liebe Zeit. Colin verkniff sich ein Lachen und schüttelte dabei den Kopf. »Danke, aber Adrian hat uns übers Wochenende nach Baltimore eingeladen, bevor es in meinem Haus Tote zu beklagen gibt.« Sally lachte. »Lach nicht, die Lage an der Front ist ernst.«

»Du bist genauso schlimm wie Devin«, warf sie ihm belustigt vor, was nun wiederum Colin lachen ließ, denn da hatte sie recht. »Dann wünsche ich euch viel Spaß und grüß Kilian. Ich bin nicht böse auf ihn, sag ihm das.«

»Das kannst du ihm selbst sagen, wir kommen vorbei, bevor wir fahren«, sagte Colin und überlegte, ob er sich noch eine heiße Schokolade machen sollte, bevor er ins Bett ging.

»Aha?«, hakte Sally neugierig nach und Colin grinste. Jetzt hatte er etwas, womit er sie ärgern konnte.

»Ich habe der Rotznase vorgeschlagen, dir als Entschuldigung Blumen zu schenken, weil ich ja weiß, wie sehr du Grünzeug magst.«

»Grünzeug? Du böser Frevler.« Sally schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Ich werde dafür sorgen, dass Kilian Blumen später zu schätzen weiß.«

Colin seufzte gespielt theatralisch. »Na Gott sei Dank, dann muss ich diesen Teil der Erziehung nicht auf mich nehmen.«

»Colin McDermott, du bist wahrlich schlimm.«

»Genau deshalb hast du mich auch so gern.«

»Leider hast du da recht«, erklärte Sally mit Grabesstimme und dann lachten sie beide.

 

»Sie hat geweint, ich hab's genau gesehen«, warf Kilian ihm vor, während er sich abschnallte.

»Ich habe dir doch gesagt, dass sie Blumen liebt«, hielt Colin dagegen und grinste in sich hinein. Es war ihm ein Rätsel, wie man sich zwei Stunden über Frauentränen ereifern konnte, aber Kilian tat nichts anderes mehr, seit sie losgefahren waren, und es wäre eine Lüge gewesen, wenn er behauptet hätte, dass die Empörung seines Neffen nicht lustig war. Colin hatte sich in den vergangenen zwei Stunden jedenfalls mehr amüsiert, als in den vergangenen acht Wochen.

»Aber muss sie deshalb gleich weinen?«, fragte Kilian zum zehnten Mal, oder eher mehr, und rümpfte die Nase.

»Das machen Frauen nun mal gern, wenn man ihnen etwas schenkt, das ihnen gefällt«, erklärte Colin, ebenfalls zum x-ten Mal, und öffnete die Tür.

»Pfft«, machte sein Neffe kopfschüttelnd und stieg aus. »Ich schaffe mir keine Freundin an, wenn die jedes Mal heult. Und ich schenke Sally auch keine Blumen mehr.«

Colin biss sich auf die Zunge, um nicht zu lachen. Das würde er garantiert nicht kommentieren, entschied er, während er ebenfalls ausstieg und einen anerkennenden Blick auf das riesige Haus warf, vor dem sie geparkt hatten. Zweistöckig. Roter Backstein. Es musste ziemlich alt sein und bot trotz der unzähligen Bäume um sie herum sehr viel Platz. Und es war unübersehbar bewohnt, das bewies ihm das Kinderspielzeug im Vorgarten und ein Kinderwagen auf der Veranda. Dazu kam ein Haufen wild bepflanzter Blumentöpfe vor und auf der Veranda, und überall verteilt im Vorgarten. Es war ein schönes Haus, das stand außer Frage, aber ihm bescherte schon die Vorstellung, in so einer spießigen Vorstadtidylle wohnen zu müssen, eine dicke Gänsehaut. Nichts gegen Adrian oder David, aber hier würde er nicht leben wollen. Dazu war er viel zu gerne in der Stadt, obwohl die Ecke garantiert um einiges sicherer war als seine eigene Wohngegend.

»Coole Hütte«, murmelte Kilian und sah sich neugierig um. »Wohnen hier echt nur zwei Kerle?«

»Und Isabell«, antwortete Colin und überlegte, ob sie zuerst ihre Taschen aus dem Kofferraum holen oder klingeln sollten.

»Ein Baby und zwei Männer. Irre«, meinte Kilian dazu und runzelte die Stirn, als das Garagentor aufging und diskutierende Stimmen zu ihnen schallten. »Sind sie das?«, fragte Kilian, aber Colin konnte nur mit den Schultern zucken, denn noch hatte er niemanden erkannt.

»Irgendwann bringst du dich noch mal um, Adrian.«

Das war wohl David. Colin winkte Kilian zu sich, woraufhin sie sich langsam Richtung Garage in Bewegung setzten.

»Das war ein Unfall«, konterte Adrian und klang dabei, als stünde er kurz vor einem Lachanfall, was Colin stutzen ließ.

»Pah. Von wegen Unfall. Du hast zwei linke Hände, akzeptier das doch endlich.«

Oha. David war wütend, was Kilian wiederum grinsen ließ. Colin verdrehte die Augen. Was fand sein Neffe an Streitereien nur immer derart lustig? Wobei ... So wie Adrian gerade lachte, schien keine Lebensgefahr zu bestehen. Es sei denn, David zog dem Anwalt gleich eins ...

»Aua! Trey! Das tut weh.«

»Sei lieber froh, dass ich nur meine Hand benutzt habe, um dir eins überzuziehen und kein Hilfsmittel. Den Hammer zum Beispiel.«

Colin fing ebenfalls an zu grinsen. Offenbar fand David das Ganze nicht so lustig wie Adrian.

»Du bist so brutal manchmal«, schmollte der Anwalt und Colin wäre fast in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Adrian Quinlan schmollte. Es war einfach unglaublich. Sogar Kilian sah ihn verblüfft an, weil er es nicht glauben wollte, aber die Tonlage in Adrians Stimme war unmissverständlich. Das Wochenende hatte noch nicht mal richtig angefangen, aber allein Kilians Empörung wegen Sally und Adrians Schmollerei waren die Fahrt hierher schon wert gewesen.

»Ich hätte es hingekriegt«, erklärte Adrian, als Kilian und er die beiden in einer Garage entdeckten, die mehr einem Hobbyraum glich als einer normalen Garage. Abgesehen davon, dass sie groß war und mehrere Autos beherbergte. Einen SUV zum Beispiel, den er nur zu gerne mal gefahren hätte. Der schwarze BMW entlockte Colin allerdings ein Schmunzeln, denn Mikael fuhr auch so einen.

»Und dabei garantiert einen Finger verloren«, murrte David und kramte in einem Erste-Hilfe-Kasten herum, der neben Adrian auf der Werkbank stand.

Adrian begutachtete seinen Finger und auf die Entfernung erkannte Colin zwar jede Menge Blut, aber der Finger war wenigstens noch dran. Er sparte sich daher die Frage, ob er den Notruf wählen sollte.

»Es blutet doch nur ein bisschen.«

»Nur ein bisschen?« David schnaubte. »Adrian, wenn Colin und Kilian nicht schon auf dem Weg zu uns wären, dann würde ich dich ...«

Weiter kam David nicht, denn Adrian hatte sie entdeckt. »Oh. Hi.«

Colin sah zu Kilian, der sah ihn an, dann lachten sie schallend los, was bei dem Paar zu amüsiertem Grinsen und lässigem Schulterzucken führte, bevor David sich wieder Adrians lädiertem Finger zuwandte und Kilian gleich das Eis brach, indem er mit einem »Wow, eine coole Karre.« die Garage enterte, um sich den BMW genauer anzusehen.

»Ein Auto für echte Männer, findest du nicht?«, fragte Adrian in Kilians Richtung und keine fünf Minuten später, nachdem Adrians Finger ein großes Pflaster zierte, waren die zwei in eine Debatte über schnelle Autos verstrickt und er stand mit David alleine da.

»Tja, scheint so, als wären wir abgeschrieben«, erklärte David amüsiert, zwinkerte ihm zu und streckte ihm die Hand hin. »David Quinlan, freut mich.«

»Colin McDermott, ebenso.«

»Kaffee?«

»Heiße Schokolade?«

David verdrehte theatralisch die Augen zur Decke. »Noch so einer. Los komm, gehen wir die Küche plündern und überlassen die beiden Genies ihrem Wahnsinn.«

Colin lachte und folgte David ins Haus, wo er sich umsah und was er dabei entdeckte, gefiel ihm. Im Gegensatz zu seinem eigenen Haus, passten die Möbel hier sowohl farblich als auch vom Material her zusammen, und dennoch sah es nicht abgehoben oder überteuert aus, was Colin insgeheim erwartet hatte. Immerhin war Adrian Quinlan stinkreich und auch David als Künstler nicht gerade arm. Colin hatte sich ein bisschen über die beiden auf den ersten Blick so ungleichen Männer informiert, musste jetzt aber einsehen, dass das Bild, das Zeitungen und Internet von ihnen gezeichnet hatten, nicht stimmte. Wie so oft, wenn Menschen nur an der Oberfläche herumkratzten. Er würde sich sein eigenes Bild machen, entschied er und lächelte, als er das leise Jammern aus dem Babyfon hörte, das auf dem großen Küchentisch stand.

»Soll ich übernehmen?«, fragte er und deutete auf die Tassen, die David gerade füllen wollte. »Dann kannst du nach eurer Kleinen sehen.«

David winkte lächelnd ab. »Noch nicht. Sie hat nur Langeweile und will beschäftigt werden. Ich hole sie runter, sobald die Kinder in der Garage genug haben, dann hat sie was zum gucken. Zwei neue Gesichter, neue Stimmen ...« David grinste. »Isa findet im Moment alles, was irgendwie neu ist, furchtbar faszinierend.«

»Fremdelt sie schon?«

David sah ihn neugierig an. »Du kennst dich aus, oder?«

Colin zuckte die Schultern. »Nur ein bisschen durch Kilian und Babys von Arbeitskollegen. Aber bevor du fragst, ja, ich mag Kinder ganz gerne.«

David lachte, kam aber nicht zu einem Kommentar, denn auf einmal knallte die Haustür zu, gefolgt von Gebell und Kilians Lachen, und das Jammern im Babyfon wurde im nächsten Augenblick zu einem sehr empörten Heulen.

»Ich geh schon«, rief Adrian vom Flur aus und kurz darauf stand Kilian bei ihnen in der Küche, an der Seite einen hochgewachsenen Golden Retriever, der begeistert hechelte.

»Heiße Schokolade? Lecker. Onkel Colin, sie haben einen Hund. Der ist toll, oder?«

 

Der Hund war wirklich toll.

Genauso wie das Haus, David, Adrian und ganz besonders die kleine Isabell, an der Kilian vom ersten Augenblick an einen Narren gefressen hatte.

So wunderte es Colin auch nicht, dass sie am frühen Abend allesamt in die Stadt aufbrachen, um fürs Wochenende einzukaufen und danach ein bisschen spazieren zu gehen. Wobei Kilian es sich nicht nehmen ließ, Minero die ganze Zeit an der Leine zu führen, was der Hund sich sogar gefallen ließ. Gute Erziehung, vermutete Colin, obwohl er gleichzeitig ahnte, dass der Hund bald zu einem Streit zwischen ihnen führen würde, denn ihm waren Kilians leuchtende Augen nicht entgangen, mit denen er den Golden Retriever ständig musterte.

»Er wird einen eigenen haben wollen«, sagte Adrian in seine Gedanken hinein, nachdem er den SUV abgeschlossen hatte, mit dem sie in die Stadt gefahren waren.

Colin sparte sich eine Antwort auf diesen Kommentar, denn das war ihm klar, und sah stattdessen lieber David zu, wie der die neugierig dreinschauende Isabell in den Kinderwagen legte und zum Park vorausging. Kilian blickte unschlüssig zwischen David und ihm umher und sah danach überlegend auf Minero, der neben ihm saß. Colin ahnte, was gleich kam.

»Könnten wir ...«

»Nein«, unterbrach er seinen Neffen sofort und unwirscher, als er es eigentlich geplant gehabt hatte.

»Pfft«, murrte Kilian und machte kehrt, um sich David und Isabell anzuschließen.

Mist. Colin atmete tief durch. Das hatte er ja wieder einmal super hingekriegt. Eine grandiose Glanzleistung an Dummheit. Erst nachdenken, dann reden. Wie oft hatte Devin ihm das in den letzten Jahren gesagt? Und nicht nur der. Aber bei Kilian bekam Colin es einfach nicht auf die Reihe. Das musste er unbedingt ändern, sondern würden sie es auf Dauer nie schaffen, vernünftig miteinander umzugehen. Adrians Hand auf seinem Unterarm ließ ihn zu dem sehen.

»Das war wohl nichts«, erklärte der Anwalt leise und klang dabei derart amüsiert, dass Colin ihn empört ansah. »Du weißt selbst, dass du auf seine Frage anders hättest reagieren müssen, denn dass sie kommt, stand fest, seit Minero sich nachmittags auf ihn gestürzt hat.« Adrian lachte kopfschüttelnd, als er schnaubte. »Ihr macht auf mich den Eindruck zweier Kater, die mit ausgefahrenen Krallen nur darauf warten, aufeinander losgehen zu können. Und du lieferst ihm auch ständig die nötige Munition dafür.«

»Ich?«, fragte Colin entgeistert. »Er fängt doch immer wieder mit der Streiterei an ... Na ja, außer eben.«

Adrian grinste. »Dein Neffe ist ziemlich clever, McDermott, und er spürt, dass es dir gegen den Strich geht, wenn er dich ärgert. Genau deshalb macht er es. Und anstatt ihm zu sagen, dass es für einen Hund noch zu früh ist, kriegt er von dir bloß ein rabiates Nein um die Ohren gehauen. Was glaubst du wohl, wie das bei ihm ankommt?«

»Ich weiß, dass das bescheuert war.« Colin seufzte tief. »Ich werde mich dafür entschuldigen.«

»Das reicht nicht«, erklärte Adrian daraufhin ruhig und Colin sah den Anwalt verdutzt an. »Kilian wartet ständig darauf, dass du ihn rauswirfst.« Adrian hob die Hand, bevor er widersprechen konnte. »Dazu kommt noch, dass du ihn mit deiner Übervorsorge einengst.«

Moment mal. Stopp. Das ging ihm gerade ein bisschen zu schnell. »Wovon, zum Teufel, redest du?«

»Wie oft war er allein, seit er bei dir ist?«

»Hallo? Er ist erst fünfzehn«, empörte sich Colin, aber Adrian schüttelte den Kopf.

»Kilian ist ein Teenager, der erwachsener ist, als die meisten in seinem Alter, glaube ich. Er raucht nicht, er trinkt nicht, er hat nicht ständig mit irgendjemandem Sex und er treibt sich auch nicht herum. Was hast du mit fünfzehn gemacht, Colin?«

Volltreffer. Colin verzog ertappt das Gesicht. »All das und noch viel mehr.«

Adrian nickte. »Siehst du. Du solltest langsam damit anfangen, ihm zu vertrauen. Er ist alt genug, mal einen Abend allein zu sein, ein Wochenende bei seinen Schulfreunden zu verbringen, oder was auch immer. Lass ihm Freiraum. Und was einen eigenen Hund für ihn angeht ... Stört dich der Gedanke?«

»Nein«, antwortete er ehrlich. »Ich mag Hunde. Nur eben nicht jetzt. Wir müssen uns erst mal vernünftig zusammenraufen. Da schaffe ich keinen Hund an, der am Ende im schlimmsten Fall zwischen die Fronten gerät.«

Adrian nickte. »Dann sag ihm das auch so. Kilian wird dich verstehen.«

Colin nickte und runzelte hinterher die Stirn. »Wie kommst du eigentlich darauf, dass er glaubt, ich würde ihn rauswerfen? Ich habe ihm von Anfang an gesagt, dass ich das nicht tue.«

»Mag sein, aber er kennt dich nicht. Du warst fünfzehn Jahre ein Fremder für ihn.« Adrian sah ihn ernst an. »Seine Mutter ist tot, und die Menschen, die seine Familie hätten sein sollen, haben ihn weggeschoben wie Abfall. Und wo landet er? Bei dir. Einem Kerl, den er nicht kennt, dem er nicht vertraut, und der ihn früher oder später wahrscheinlich genauso entsorgen wird, wie seine Großeltern es getan haben. Oder hast du Kilian bisher irgendetwas gesagt, das ihm das Gegenteil beweist?«

»Scheiße«, stöhnte Colin, als ihm bewusst wurde, wie sehr Adrian damit ins Schwarze getroffen hatte. »Ich bin nicht sonderlich gut in so was.«

»Das war ich auch nicht, aber du wirst es lernen«, hielt der Anwalt schmunzelnd dagegen. »Sag ihm, dass du ihn liebst. Er ist ein Kind und er braucht diese Bestätigung. Seine Großeltern haben ihn auf eine Weise enttäuscht ...« Adrian schüttelte den Kopf. »Was soll man dazu noch sagen? Sie haben ihm wehgetan. Mehr, als es nach außen hin den Anschein hat, und obwohl du jetzt schon seit zwei Monaten alles für ihn tust, ihn einkleidest, ihm zu essen und ein sicheres Dach über dem Kopf gibst, ist das nicht genug.«

»Er braucht einen Vater, keinen Onkel«, erinnerte sich Colin und fuhr sich frustriert durch die Haare. »Fuck.«

Adrian nickte. »So könnte man es auch ausdrücken.«

Bevor Colin darauf reagieren konnte, entdeckte er auf der anderen Straßenseite plötzlich einen blonden Lockenkopf, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er sah etwas genauer hin und erstarrte förmlich. Mikael. Das Handy am Ohr und eine volle Einkaufstüte in der Hand, stand er  in der Tür eines verdammt teuren Herrenausstatters und sah ihn verblüfft an. Was machte Mikael in Baltimore? Colin runzelte die Stirn, als hinter ihm ein Mann auftauchte. Braune Haare, dunkle Augen und verdammt jung. Colin wandte sich abrupt ab.

»Lass uns gehen.«

»Colin ...«

»Ich will nichts dazu hören«, unterbrach er Adrian wütend. »Wir sehen uns schließlich nicht mehr, er kann also tun und lassen, was immer er will.«

 

 

4. Kapitel

 

 

 

 

Obwohl Colin ahnte, dass das Thema Mikael für Adrian damit noch längst nicht abgeschlossen war, schwieg der Anwalt, bis sie im Park zu den anderen aufgeschlossen hatten.

Kilian und Minero lieferten sich auf einer Rasenfläche gerade ein Wettrennen, beobachtet von einem lachenden David, der Isabell auf seinem Schoß hatte, die das Ganze mit Brabbeln und begeistertem Quietschen kommentierte. Das Mädchen war wirklich goldig und Colin vergaß seinen Ärger auf Mikael, als ihm Isabells Mimik auffiel.

»Seit wann lacht sie denn?«, fragte er und sah zu Adrian, dessen glückliches Lächeln ihm ein sonderbares Gefühl in der Magengegend bescherte, das er ignorierte.

»Seit ein paar Wochen«, antwortete Adrian und lachte leise, weil Isabell die Arme nach ihm ausstreckte, als sie ihn entdeckte. »Und ich glaube, sie will zu Daddy.«

»Pah«, machte David amüsiert, der Adrians Worte natürlich gehört hatte. »Was soll die Maus denn bei dir wollen, wenn sie mich haben kann?«

Adrian sah ihn frech an. »Wie war das mit Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt?«, wiederholte er dann seine Worte, was Colin zum Lachen brachte, bis er Kilians fragenden und zugleich beleidigten Gesichtsausdruck entdeckte. »Ich schätze, du hast noch etwas zu erledigen, McDermott. Ich gehe derweil meinen Mann und meine Tochter küssen.«

»Tu das.« Colin gesellte sich zu Kilian und Minero auf die Wiese. Der Rüde sprang begeistert an ihm hoch und ließ sich danach ausgiebig streicheln, was er zum Anlass nahm, sich zu dem Hund auf die Wiese zu setzen. Kilian schwieg ihn stur an und Colin schmunzelte innerlich, weil Gwen genauso reagiert hatte, wenn sie auf ihn wütend gewesen war. »Ich mag Hunde, Kilian.« Sein Neffe schnaubte, was auch eine Antwort war. »Ich habe mich vorhin dumm ausgedrückt und das tut mir leid.«

»Warum willst du dann keinen?«, fragte Kilian, nachdem er ihn für eine Weile nachdenklich angesehen hatte.

»Das meinte ich mit dumm ausgedrückt, denn ich will jetzt keinen Hund, nicht für immer«, korrigierte er seine vorherige Aussage und hob die Hand, bevor Kilian etwas sagen konnte. »Wegen uns und nicht, weil ich Hunde nicht leiden kann oder dir keinen schenken will.«

Kilian seufzte. »Weil wir zu viel streiten?«

Colin nickte. »Wir sollten erst mal lernen vernünftig miteinander klarzukommen, ehe wir uns einen Hund ins Haus holen. Oder meinetwegen auch eine Katze.«

»Ich mag Hunde lieber«, murmelte Kilian enttäuscht und seufzte im Anschluss daran erneut. »Aber es ist okay, ich kann warten.«

»Danke«, sagte Colin erleichtert und Kilian biss sich auf die Unterlippe. »Sag es ruhig«, forderte er seinen Neffen auf und grinste ihn an, als Kilian unsicher zu ihm sah. »Ich verspreche, dich erst umzulegen, wenn wir keine Zeugen haben.«

Kilian prustete los. »Du bist wie Mum.«

Zack. Das saß. Nur vier Worte und die losgelöste Stimmung war von einer Sekunde auf die andere vollkommen im Eimer. Aber vielleicht war der Zeitpunkt dafür gar nicht so verkehrt, dachte Colin. »Sie fehlt mir«, murmelte er, in der Hoffnung, dass Kilian darauf eingehen würde.

»Komm, Minero.«

Kilian griff sich den Ast, mit dem er zuvor mit Minero gespielt hatte, und sprang auf. Kurz darauf rannten beide tobend über die Wiese und Colin stützte sich nach hinten auf die Hände ab. Das war definitiv ein Fehlschlag gewesen und langsam beschlich ihn das Gefühl, dass Kilian ihm im Bezug auf Gwen früher oder später einen harten Kampf liefern würde. Er verstand nicht, warum sein Neffe so heftig abblockte, sobald das Thema auf seine Mutter kam, was bislang ohnehin nur zufällig der Fall gewesen war. Gesund war das nicht, aber Colin wusste auch nicht, ob es eine gute Idee war, Kilian direkt darauf anzusprechen. Er konnte den Jungen doch nicht zwingen, über den Tod seiner Mutter zu reden.

»Alles okay?«, fragte Adrian leise hinter ihm.

Colin schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich frage mich langsam, ob er nicht ...«

Colin brach ab, als er das Quietschen von Reifen hörte, und dann geschah irgendwie alles gleichzeitig. Er sah wie Kilian, mit seinem Ast in der Hand und Minero an der Seite, am anderen Ende des Parks zwischen den geparkten Autos auf die Straße zurannte, während zur selben Zeit ein aufgemotzter Pick-up um die Ecke geschossen kam, direkt auf seinen Neffen und den Golden Retriever zu.

»Kilian! Minero!«, schrie Adrian, aber da war Colin schon aufgesprungen und rannte in Richtung Straße, um Kilian in Sicherheit zu bringen.

Als er wieder klar denken konnte, bog der Pick-up eben um die nächste Ecke und er lag mit Kilian über sich auf dem Boden, dessen Augen in Panik weit aufgerissen waren. »Hast du sie noch alle?«, brüllte er Kilian an und ergriff ihn an den Oberarmen. »Der hätte dich überfahren, du Idiot! Du kannst doch nicht einfach so auf die Straße rennen, verflucht noch mal!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739310350
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Liebesroman Drama schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Thriller, Romanzen und Fantasy. Weitere Informationen zu meinen Büchern und aktuelle News zu Veröffentlichungen findet ihr auf meiner Autorenseite.
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Titel: Philadelphia Blues