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Nebel der Erinnerung

von Mathilda Grace (Autor:in)
430 Seiten
Reihe: Die Ostküsten-Reihe, Band 10

Zusammenfassung

Ein Jahr auf der Flucht. Vor der Vergangenheit, dem Leben – sich selbst. Geholfen hat es nicht, und so kehrt Noah Kendall nach Hause zurück. Ohne einen Plan, was er mit seiner Zukunft anfangen soll. Aus einem spontanen Entschluss heraus entscheidet sich Noah für einen Neuanfang in New York City, wo er am Tag seiner Ankunft auf zwei Männer trifft, die sein Leben völlig verändern werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

 

 

 

 

Aus den Tagebüchern von Noah Kendall

 

 

09. September 2034

 

Keine Ahnung, wie viele Untersuchungen sie an mir durchgeführt haben, seit ich wach bin, aber mittlerweile sind sie sich einig, dass ich verdammtes Glück hatte, als die Kugel meine Schädelplatte durchschlug, mich aber nicht umbrachte.

Ich wünschte, sie hätte es getan.

Das wäre einfacher.

 

PS: Sie haben mir gleich am Tag meines Erwachens erzählt, wer ich bin. Ich kenne meinen Namen und weiß nun, dass ich ein Adoptivkind bin, zwei Väter und einen Bruder habe.

 

PPS: Ich kann mich nicht an sie erinnern.

 

 

14. September 2034

 

Sie haben mir jetzt ganz offiziell gesagt, ich soll keine Wunder erwarten, was meine Erinnerungen angeht.

Keine Wunder? Die sind lustig.

Ich weiß nichts mehr. Gar nichts.

Ich habe kein Leben mehr, nur noch ein Nichts in meinem Kopf.

Ich wünschte, ich könnte weinen, so wie die Männer, die angeblich meine Väter sind.

So wie der Mann, der oft an meinem Bett sitzt. Mein Zwillingsbruder, den ich auch nicht kenne, obwohl wir uns gleichen wie ein Ei dem anderen.

Vielleicht kann ich es irgendwann.

Weinen, meine ich.

Aber nicht jetzt. Ich will es nicht.

Ich will nur, dass dieser Albtraum aufhört.

Ich schätze, ich stehe unter Schock.

 

PS: Wer, zum Teufel, ist dieser Mann, der mir jeden Tag im Spiegel entgegen starrt?

 

PPS: Gott sei Dank weiß ich noch, wie man schreibt. Ich wäre durchgedreht, hätte ich nicht einmal mehr das gekonnt.

 

 

15. September 2034

 

Mein Bruder Liam ist gestern ausgeflippt, haben sie mir erzählt. Ich sollte vermutlich Mitgefühl zeigen, aber eigentlich will ich viel lieber mit ihm tauschen. Ich kann nicht ausflippen, obwohl ich es gerne würde.

 

PS: Ich will aus diesem verdammten Bett raus.

 

 

19. September 2034

 

So viele Gesichter, so viele Namen.

Ich habe eine riesige Familie und ich erkenne keinen einzigen von ihnen. Hätten sie mir nicht erzählt, wer sie sind und wie sie zu mir stehen, ich würde in der Stadt an ihnen vorbeigehen, als wären sie Fremde.

Nick und Tristan haben mir Videos gezeigt und viele Fotoalben. Sie bemühen sich um Normalität, wie meine Ärzte sie gebeten haben, aber es hilft nicht. Ich schätze, sie sind genauso fertig mit den Nerven wie ich.

 

 

01. Oktober 2034

 

Ich werde verlegt.

Rehabilitation.

Endlich raus aus dem Bett und diesem Zimmer.

Endlich weg von diesen ganzen Menschen.

 

 

05. Oktober 2034

 

Liam hat mich gefragt, ob ich nach der Reha wieder mit ihm zusammenwohnen werde.

Ich habe nein gesagt.

Ich glaube, das war ein Fehler. Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Er benimmt sich ganz merkwürdig. Ist in sich gekehrt und dann wieder total launisch.

Ich weiß nicht, wie ich mit ihm umgehen soll, wenn er so ist.

Vielleicht sollte ich Nick und Tristan Bescheid sagen.

 

 

11. Dezember 2034

 

Liam nimmt Drogen.

Tristan hat es mir heute am Telefon gesagt.

Er hat versucht, es vor mir zu verbergen, aber ich weiß, dass er geweint hat.

Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun soll.

Kann ich das überhaupt?

Etwas tun, meine ich.

Scheiße!

 

PS: Ich hasse mein zweites Leben, das nichts Halbes und nichts Ganzes ist.

 

 

20. Mai 2035

 

Endlich raus aus der Reha.

Ich bin offiziell entlassen und bereit neu anzufangen. Keine Ahnung, wie dieser Neuanfang aussehen soll. Ich weiß nur, dass ich ihn nicht in Baltimore starten will.

Meine Entscheidung steht fest. Ich werde weggehen und mir die Welt ansehen. Für ein Jahr oder so, und falls das nicht reicht, suche ich mir irgendwo einen Job und hänge noch ein paar Monate dran.

Das restliche Geld auf dem Sparbuch reicht für einen Anfang. Wenn ich haushalte, vielleicht sogar fürs ganze Jahr. Mal sehen, was dann ist.

Jetzt stellt sich nur noch die Frage, wie ich das Nick und Tristan beibringen soll.

 

PS: Aber nicht sofort. Für eine Weile werde ich noch bleiben, um an Liams Seite zu sein.

 

PPS: Liam geht es besser. Dieser Jake Porter scheint ganz okay zu sein. Ich weiß noch nicht, ob ich ihn mag, aber er ist in Ordnung.

 

 

14. Juni 2035

 

Ich war mit Liam spazieren.

Gezwungenermaßen, damit Jake Tristan und Nick die Leviten lesen kann. Eigentlich wollte ich ihnen heute erzählen, dass ich weggehe, aber damit warte ich jetzt wohl besser ein paar Wochen.

Ich will nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen.

Feige, ich weiß, aber ich kann nicht anders.

Irgendwie drehen momentan alle durch. Zumindest kommt es mir so vor.

 

PS: Der Spaziergang mit Liam … Er hat gelächelt … Ich kann mich nicht erinnern, ihn je lächeln gesehen zu haben. So langsam fange ich an zu glauben, was alle sagen. Nämlich, dass wir wie Pech und Schwefel waren.

 

PPS: Ich wünschte, ich könnte mich erinnern.

 

 

09. August 2035

 

Ich mache einen Fehler, irgendwie weiß ich das, aber ich will es wenigstens versuchen. Dieser Vorschlag von Adrian, mit der Wohngemeinschaft, könnte tatsächlich funktionieren.

Zudem scheint Magnus, mein neuer Mitbewohner, in Ordnung zu sein. Ruhig und zurückhaltend, aber nett.

Ist es falsch, es wenigstens auszuprobieren?

 

 

02. Januar 2036

 

Das Ganze war ein Fehler, aber ich habe es versucht.

Magnus hat es schon gewusst, als ich ihm sagte, dass ich ausziehe bzw. meine Sachen packe und Baltimore verlasse. Wohin ich will, hat er gefragt, aber ich konnte nur mit den Schultern zucken.

Noch habe ich kein Ziel.

Mir war es wichtiger, das Gespräch mit Tristan und Nick zu überleben. Wir haben uns angeschrien, wie ich befürchtet hatte. Nick kommt nicht damit klar, dass ich ihn nicht länger als meinen Vater sehe. Er versteht auch nicht, dass ich weggehen muss.

Er wollte es mir sogar verbieten und hat versucht, die 'Du bist mein Sohn'-Karte einzusetzen. Es hat nicht geholfen. Der Trumpf zieht nicht mehr, das ist vorbei.

Kein Mensch bestimmt über mich, nicht einmal mein Vater. Ich kenne ihn doch gar nicht.

Vielleicht hätte ich nicht einfach so gehen sollen. Das absichtliche Zuknallen der Haustür war ziemlich kindisch, ich weiß.

Aber ich hatte keine Lust mehr mit ihm zu reden.

 

 

10. Januar 2036

 

Ich habe Tristan eine SMS geschickt.

Ehrlich geschrieben, dass es mir nicht leidtut. Dass es so nicht weitergehen kann. Dass ich weggehen muss, bevor ich ihn und Nick am Ende hasse, weil sie mich nicht loslassen können.

Er hat noch nicht geantwortet.

Hoffentlich versteht er, dass ich mir irgendwie ein neues Leben suchen muss.

 

 

11. Januar 2036

 

Tristan hat sich gemeldet.

Es geht ihm nicht gut. Nick auch nicht. Aber sie lassen mich ziehen, bitten mich nur, mich ab und an zu melden, ob es mir gut geht.

Ich denke, das kann ich tun.

 

 

29. Januar 2036

 

Liam ist glücklich mit Jake. Sie haben mich gestern zum Flughafen gebracht.

Es war richtig schön, sie zu umarmen und mit ihnen zu lachen. Sie tun sich gut und ich bin froh, dass Jake Liam von den Drogen weggebracht hat.

Magnus wird das Apartment hüten, solange ich weg bin. Er ist immer noch okay und er liebt seine zwei Jobs in der Bäckerei und in Jakes Haus.

Keine Ahnung, ob wir eines Tages Freunde werden, aber zumindest habe ich ein Dach über dem Kopf, falls ich zurückkomme.

 

Erstes Ziel meiner Selbstfindungsreise: London.

 

 

1. Kapitel

 

 

 

 

Manchmal war die Welt nicht groß genug.

Diese Feststellung hatte Noah Kendall im letzten Jahr wieder und wieder gemacht. Er hatte gesucht. Eine neue Heimat, ein neues Leben, aber vor allem sich selbst. Von Europa, über Asien, bis hoch nach Alaska. Er war überall und nirgendwo gewesen. Immer unruhig und getrieben. Auf einer Suche, die unendlich schien.

Er war nicht fündig geworden. Europa war zu schrill, Asien zu voll, Alaska zu still. Noah hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, aber nach einem langen Jahr auf Achse waren ihm die Privatunterkünfte, Hostels und Hotelzimmer, das Reisen allgemein, so leid, dass er die kleine Ortschaft St. Michael in Alaska in einer spontanen Nacht- und Nebelaktion hinter sich gelassen hatte und am nächsten Morgen von Fairbanks aus nach Baltimore geflogen war.

Nach der Landung hatte Noah eine Weile überlegt, ob er seine Väter oder seinen Zwilling anrufen sollte, doch am Ende war er ins nächste Taxi gestiegen, um sich eines der so verhassten Hotelzimmer zu nehmen und dort sein Tagebuch auf den neuesten Stand zu bringen. Seit er das erledigt hatte, starrte er grübelnd die Wand an.

Die Idee, auf seiner Reise weiter Tagebuch zu führen, wie er es im Krankenhaus und auch in der Reha getan hatte, um nicht durchzudrehen, war von Daniel Hanson gekommen. Seinem Onkel, der in Cumberland wohnte, und als junger Mann selbst auf der Flucht gewesen war. Noah hatte den Vorschlag anfangs abgelehnt, bis ihm in einem kleinen Pariser Schreibwarenladen ein Notizbuch mit echtem Ledereinband aufgefallen war.

Mittlerweile trug Noah mehrere Notizbücher mit sich herum. Voller Gedanken und Erinnerungen aus der Zeit im Krankenhaus und den Tagen danach.

Vor drei Monaten hatte er Daniel mit einem knappen Brief 'Danke' gesagt. Noah wusste nicht, was ihn dazu getrieben hatte, es war ihm einfach richtig erschienen. Die Antwort war per Handy gekommen. Mit den beiden schlichten Worten 'Gern geschehen' hatte Daniel Noah erneut vor Augen geführt, dass er nicht allein war. Dass es Menschen gab, denen er etwas bedeutete, auch wenn er diese Gefühle nicht mehr in derselben Art und Weise zurückgeben konnte.

Noah seufzte. Er war ein Jahr fort gewesen, um einen Neuanfang zu machen, den er leider immer noch suchte, da er sich auf keinem Kontinent der Erde wohlgefühlt hatte. Noah wollte ein Zuhause. Mit einer Wohnung und einem Job. Irgendetwas, das ihm gehörte. Er war es leid, vom Geld seiner Väter zu leben, seit seines alle war und sie darauf bestanden hatten, ab sofort seine Rechnungen zu bezahlen.

Was zu Beginn praktisch gewesen war, weil er sich so komplett auf sich selbst hatte konzentrieren können und nicht gezwungen gewesen war, auf dem Bau oder sonst wo zu arbeiten, um Geld zu verdienen, wurde für ihn mehr und mehr zu einem Bumerang, denn er kam sich wie ein Schmarotzer vor.

Nur was sollte er machen? Wie sollte er ausreichend Geld verdienen, damit es für ein sicheres Leben reichte? Außer seinem abgeschlossenen Kunststudium, an das er sich nicht mehr erinnerte, hatte er nichts vorzuweisen, und die Vorstellung Tag für Tag am Fließband zu stehen oder in einem Büro eingesperrt zu sein, ließ ihn frösteln. Er brauchte Luft zum Atmen und einen Job, bei dem er sich bewegen konnte.

Kreativ sein, das wollte er. Bloß wie?

Sein Handy piepte und Noah schaute es lustlos an. Es war wahrscheinlich Nick. Außer der Familie hatte niemand seine Nummer und abgesehen von Nick ließ man ihn in Ruhe. Sein Vater gehörte allerdings zu einem anderen Kaliber. Ihr früheres Verhältnis war der Grund dafür. Noah erinnerte sich nicht daran, aber man hatte ihm erzählt, dass Nick und er in seiner Kindheit und Jugendzeit unzertrennlich gewesen waren, während sein Zwilling mehr zu ihrem zweiten Vater, Tristan, tendiert hatte.

Es piepte erneut und Noah seufzte. Nick würde nicht aufgeben, also konnte er sich genauso gut zurückmelden. Er nahm das Handy, rief die Nachricht auf und verdrehte die Augen, bevor er entschied, sofort Tristan anzurufen. Als wäre Nick nicht schlimm genug, nervte ihn jetzt auch noch dieser sture Anwalt für alle Fälle. Langsam ging das echt zu weit.

»Kannst du ihm bitte sagen, dass er das lassen soll?«, nörgelte Noah, nachdem abgenommen worden war. »Ich bin doch kein Knacki mit einer Fußfessel.«

»Ich habe zwar keine Ahnung, wovon du redest, mein Sohn, aber könnte vielleicht Adrian der Grund für deinen Anruf sein?«, antwortete Tristan und klang amüsiert.

Noah schnaubte. »Er hat mir schon wieder hinterher spioniert und gerade eine Nachricht geschickt, dass ich ...« Noah brach ab, als ihm einfiel, dass seine Väter noch gar nicht wussten, dass er in der Stadt war.

Mist.

»Dass du was?«, hakte Tristan ehrlich interessiert nach und Noah seufzte erneut.

»Ich bin vor ein paar Stunden gelandet.« Noah verzog beschämt das Gesicht, als Tristan auf diese Neuigkeit hin kein Wort sagte. Auf einmal kam er sich dumm vor, weil er ein Hotelzimmer gemietet hatte, anstatt zu seinen Vätern zu fahren. »Ich bin in einem Hotel abgestiegen.«

»Warum?«, fragte Tristan ruhig.

Noah dankte seinem Vater im Stillen dafür, denn er wusste, dass Nick nicht so locker geblieben wäre. »Keine Ahnung. Ich wollte nicht ohne Ankündigung bei Magnus reinplatzen. Vielleicht hat er ja Besuch oder so was.«

»Komm nach Hause, Noah.«

»Ich habe kein ...« Noah brach entsetzt ab. Wie konnte er nur? »Tut mir leid ... Das war nicht so gemeint.«

»Komm einfach nach Hause«, wiederholte Tristan und ging nicht auf seine Worte ein. Wie schaffte dieser Mann es nur, immer so geduldig zu sein? Noah wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.

»Wie machst du das eigentlich?«

»Du meinst, ruhig bleiben? Keine Vorwürfe machen? Dich nicht anschreien?«

Noah zuckte zusammen. »Ja.«

»Eines Tages werde ich dir mal genauer erzählen, wie lange es dauerte, bis dein Vater Nick und ich uns damals gefunden haben. Dann wirst du verstehen, woher ich die Geduld habe, um die mich sogar unser Superanwalt beneidet. Also? Kommst du nach Hause? Wenigstens für ein paar Tage.«

Noah ließ seinen Blick durch das Hotelzimmer schweifen und verzog angewidert das Gesicht. Er konnte die alten, ausgeblichenen Tapeten und durchgetretenen Teppichböden wirklich nicht mehr sehen. Einige Tage in seinem alten Kinderzimmer waren vielleicht genau das, was er jetzt brauchte.

»Ich nehme mir ein Taxi.«

»Hast du Hunger?«

»Ich könnte schon was vertragen«, gab er zu, denn an Essen hatte er in der letzten Zeit nur sehr selten einen Gedanken verschwendet. Deshalb hing ihm seine Jeans im Augenblick verdammt tief auf den Hüften. »Essen war in den vergangenen Monaten ziemlich nebensächlich«, erklärte Noah leise, in der Hoffnung, dass Tristan ihn verstehen würde und nicht in Ohnmacht fiel, wenn er nachher aus dem Auto stieg.

»Wie viel hast du abgenommen?«

»Tristan ...«

»Muss ich dich damit erpressen, Nick anzurufen? Er ist in der Kanzlei. Irgendein wichtiger Fall.«

Das fehlte ihm gerade noch. Noah zog eine Grimasse. »Zwei Kleidergrößen«, flüsterte er, was Tristan scharf die Luft einziehen ließ. »Bitte sag nichts«, bat Noah, da er wusste, dass er dafür noch einen Anschiss bekommen würde. Wenn nicht von Tristan, dann aber mit Sicherheit von Nick.

»Wie wär's mit Milchreis?«

Milchreis? Noah leckte sich unwillkürlich die Lippen. Wann hatte er das letzte Mal selbst gekochten Milchreis gegessen? Es war eine gefühlte Ewigkeit her. Er hatte anfangs nicht einmal gewusst, dass er verrückt nach dem Zeug war, bis Tristan ihm eine Portion ins Krankenhaus geschmuggelt hatte.

»Mit Apfelmus?«

»Ich muss nachsehen, ob wir eine Packung da haben«, antwortete Tristan und Noah hörte ihn herumkramen. »Nein. Kannst du auf dem Weg schnell noch einkaufen? Der Zucker ist auch fast leer.«

Für Milchreis würde Noah alles tun. »Mache ich.«

Tristan lachte leise. »In Ordnung, dann gibt es heute Abend Milchreis. Wann bist du hier?«

»Gib mir eine Stunde.«

»Ich freue mich. Bis nachher, Noah.«

»Bye.«

 

Tristan schwieg, als Noah aus dem Taxi stieg. Dafür verriet ihm der besorgte Blick seines Vaters eine Menge, der langsam über ihn wanderte, während er zum Haus ging, wo Tristan an der offenen Tür stehend auf ihn wartete. Noah schulterte seine Reisetasche und brachte ein schiefes Grinsen zustande, das sein Vater mit einem resignierten Seufzen kommentierte, bevor er tadelnd den Kopf schüttelte.

»Kriege ich Ärger?«

»Nicht, wenn du in nächster Zeit vernünftig isst. Du bist zu dünn«, antwortete Tristan und nahm ihm die Reisetasche ab. »Komm rein.«

»Ist er schon da?«

»Falls du Nick meinst, nein. Aber er ist auf dem Weg und dürfte bald eintrudeln. Was übrigens auch für David und Adrian gelten würde, wenn ich es ihnen nicht ausgeredet hätte.« Tristan schob die Tür hinter ihm ins Schloss. »Ich dachte, es reicht aus, wenn du erst mal von Nick angemeckert wirst, weil du so sehr abgenommen hast.«

Noah verdrehte die Augen. »Ist ja schon gut, ich hab´s verstanden.«

Tristan nickte und deutete in Richtung Küche, aus der ihm schon ein verführerischer Duft in die Nase stieg. Der Milchreis war offenbar bereits fertig. Noah nahm seinen Rucksack ab, in dem er alle Tagebücher und persönliche Kleinigkeiten aufbewahrte, und legte ihn auf die Tasche, welche sein Vater auf die unterste Stufe der Treppe ins Obergeschoss gestellt hatte.

Sein Magen knurrte verräterisch und Tristan lachte, bevor er ihn zur Küche schob. »Das spart mir die Frage, ob du gleich essen willst.«

»Und Nick?«

Tristan winkte ab, während er Teller und zwei Gläser aus dem Küchenschrank nahm. »Er kommt ja bald, dann kann er sich zu uns setzen. Holst du das Besteck?«

Noah sah auf die Küchenzeile. Es gab drei Schubladen und sie hatten ihm auch gesagt, wo alles war, aber zwölf Monate waren lang. Er wusste es einfach nicht mehr und genierte sich trotzdem zu fragen.

»Zweite Schublade links«, sagte Tristan, der mit dem Rücken zu ihm am Herd stand und den großen Topf von der Platte zog. »Frag ruhig, Noah. Du warst ein Jahr fort. Selbst ich hätte es nach der Zeit vermutlich vergessen.«

»Tut mir leid.«

Tristan warf ihm über die Schulter ein Lächeln zu. »Es ist okay, hörst du? Wir freuen uns, dass du wieder da bist und vielleicht sogar ein bisschen bleibst.«

Die Vorstellung war schön, gestand sich Noah ein. Es war nur fraglich, ob er sie umsetzen konnte. Er hatte den letzten Streit mit Nick nicht vergessen und seither waren zwischen ihnen nur belanglose Nachrichten und Floskeln getauscht worden. Ernsthaft und vernünftig miteinander gesprochen hatten sie schon sehr lange nicht mehr. Noah seufzte innerlich auf. Ein Jahr war eine verdammt lange Zeit. Hoffentlich nicht zu lang.

»Tristan? Ich bin zu Hause«, rief Nick auf einmal und unterbrach damit die eingetretene Stille zwischen ihnen.

»Wir sind in der Küche«, rief Tristan zurück.

»Wir?« Nick schwieg kurz. »Ist Noah schon da?«

»Ja«, antwortete Noah automatisch und ließ fast die Cola fallen, die er aus dem Kühlschrank genommen hatte, als Nick in der Tür erschien. »Hey.«

Sein zweiter Vater schien gestresst und müde zu sein, aber er lächelte, bevor er seine Aktentasche auf einen der Stühle stellte und zu ihm trat. Normalerweise hätte Nick ihn jetzt umarmt, das wusste Noah aus Erzählungen von früher, doch sein Vater tat es nicht. Was allein an seiner Körpersprache lag, das war ihm ebenfalls klar, denn er hielt die Cola wie einen Schutzschild vor sich und trat anschließend sogar noch einen Schritt zurück. Er wollte es eigentlich nicht, aber Nick schüchterte ihn ein. Noah reagierte instinktiv und wusste sofort, dass es ein Fehler gewesen war, als sich Nicks dunkelblaue Augen sichtlich verärgert zusammenzogen.

»Darf ich dich jetzt nicht mal mehr begrüßen? So weit sind wir also schon gekommen, ja?«

»Nick!« Tristan drehte sich zu ihnen um. »Wir fangen jetzt nicht da an, wo wir im letzten Jahr aufgehört haben. Noah ist hier, um mit uns zu Abend zu essen.«

»Lass gut sein, Tristan«, murmelte Noah und drängte sich an Nick vorbei, um die Cola auf den Tisch zu stellen. »Ich denke, ich sollte lieber zu Magnus fahren.«

»Noah ...«, fing Tristan an, kam aber nicht weit.

»Bleibst du wenigstens eine Weile in der Stadt oder ist dein nächster Flug nach Europa schon gebucht?«, fragte Nick angesäuert und sah ihn von Kopf bis Fuß an. »Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas gegessen? Du bist viel zu dünn. Können die in Europa nicht kochen?«

»Ich komme aus Alaska, was dir offenbar entfallen ist. Und obwohl es dich überhaupt nichts angeht, die Leute können kochen. Sogar sehr gut.« Noah ballte die Hände zu Fäusten und warf Nick einen stinksauren Blick zu. »Aber wenn du es genau wissen willst ... Eigentlich hatte ich nur vor, bei euch meine dreckige Wäsche zu waschen und bei Sonnenaufgang wieder zu verschwinden. Vielleicht mache ich es ja wie Liam und beklaue Tristan vorher, damit es sich wenigstens lohnt.«

»Schluss damit!«, fluchte Tristan erbost und schlug mit der Faust so heftig auf die Arbeitsplatte, dass Nick und Noah zusammenzuckten. »Ich habe genug von euch. Was soll der Blödsinn eigentlich? Ihr seid Vater und Sohn, verflucht noch mal!«

»Tris, ich ...«

»Halt den Mund, Nicholas, ich bin noch nicht fertig. Und was dich angeht ...« Tristan blickte zu Noah, der den Kopf einzog, weil er wusste, was jetzt kam. »Wag es nicht noch mal deinen Bruder zu benutzen, um Nick damit zu verletzen, hast du verstanden? Das ist unterhalb jeder Gürtellinie und ich verbiete es dir. Ich weiß, dass die Situation nicht leicht ist, weder für dich noch für deinen Vater, Noah, aber eure anhaltenden Streitereien machen alles nur noch schlimmer.«

Noah schnaubte unwillkürlich. »Wir müssten uns gar nicht streiten, wenn er sich nicht immer ...«

»Einmischen und dich in eine Ecke drängen würde, ja, ich weiß«, unterbrach Tristan ihn, jetzt wieder bedeutend ruhiger, und Noah zog ein beleidigtes Gesicht. »Noah, wir hätten dich vor zwei Jahren fast verloren. Das ist keine Entschuldigung, das ist mir klar.« Tristan fuhr sich durchs Haar und sah auffordernd zu Nick. »Ich will mit unserem Sohn sprechen. Allein.«

Nick wollte nicht gehen, Noah sah es ihm deutlich an, aber sein Vater schluckte den Widerspruch hinunter, der ihm auf der Zunge lag, und verließ mit langen Schritten die Küche. Wenig später fiel im ersten Stock eine Tür zu und Tristan seufzte leise, ehe er sich an den Tisch setzte und den Stuhl neben sich zurückzog. Noah atmete tief durch, bevor er sich zu seinem Vater setzte.

»Versuch ihn zu verstehen, bitte … Du und Nick, ihr wart lange Zeit wie Pech und Schwefel. Dein Vater kann nicht damit umgehen, dass du ihn nicht mehr erkennst und ihn behandelst, als wäre er ein Fremder. Daran hat sich im vergangenen Jahr nichts geändert und das wird wahrscheinlich es auch nie. Ganz gleich, ob du wieder in der Stadt lebst oder weiterhin durch die Welt ziehst.«

»Ich mache das doch nicht mit Absicht.«

»Ich weiß.« Tristan nahm seine Hand und drückte sie liebevoll. »Hab Geduld. Mit Nick und auch mit dir selbst. Du darfst nichts erzwingen, was dein Leben betrifft. Dein Herumreisen, es hat nicht geholfen, oder?«

»Nein«, gab Noah zu.

»Das hatte ich schon vermutet. Ich habe nichts gesagt, weil ich wollte, dass du es selbst begreifst. Wir können nicht an früher anknüpfen, weil es diese Zeit nicht mehr gibt. Auch wenn dein Vater sich nichts sehnlicher wünscht. Und ich denke tief in dir drin hoffst selbst du, dass alles wieder so wird, wie es war. Ich tue es auch. Das ist normal, hilft uns aber leider nicht.«

Noah senkte den Blick auf die Tischplatte. »Es würde alles so einfach machen.«

»Das stimmt.« Tristan strich ihm über den Kopf. »Aber das ist schlicht unmöglich. Du, dein Vater und ich … wir alle müssen es akzeptieren. Irgendwie. Ansonsten werden wir nie einen Neuanfang finden.«

Das war sehr viel leichter gesagt als getan. Noah hob hilflos die Schultern. »Ich weiß einfach nicht, wie ich das tun soll. Was ich mit meinem Leben anfangen soll.«

Tristan schüttelte den Kopf. »Keine Ausflüchte, Noah, ich kenne dich. Du hast dir schon längst den einen oder anderen Gedanken in dieser Hinsicht gemacht.«

»Ich will nicht länger von eurem Geld leben.«

Sein Vater nickte verstehend. »Du brauchst also einen Job. Und weiter?«

»Eine eigene Wohnung. Keine Hotelzimmer mehr für die nächsten tausend Jahre.« Noah stockte kurz. »Und … na ja … um ehrlich zu sein ...«

»Keine Wohngemeinschaft mehr«, führte Tristan den Satz zu Ende und Noah sah überrascht zu ihm. Sein Vater lächelte verständnisvoll. »Magnus ist ein netter Kerl, aber ich kann gut nachvollziehen, dass du im Moment keine Gesellschaft willst. Und? Wo möchtest du wohnen? Hier oder woanders?«

Noah wich Tristans Blick aus. »Ich würde gern … äh …«

»Woanders«, zog sein Vater erneut die richtigen Schlüsse und Noah verzog verlegen das Gesicht. »Ich bin dir deswegen nicht böse. Im Gegenteil, ich verstehe dich, obwohl es mir als dein Vater natürlich viel lieber wäre, wenn du bei uns in Baltimore bleibst. Aber das ist deine Entscheidung, nicht meine.«

»Nick wird abkotzen.«

»Noah«, tadelte Tristan sanft und Noah zuckte hilflos mit den Schultern, als er seinen Vater ansah. »Du hast recht, aber das kläre ich mit ihm, sobald wir unter uns sind. Ich denke, es wäre das Beste, wenn du heute Nacht auswärts übernachtest.«

Noah war verblüfft. »Du wirfst mich raus?«

Sein Vater grinste schief. »Ja, das tue ich. Aber nicht auf die Straße oder ins nächste Hotel, sondern zu Adrian und David. Ich muss in Ruhe mit Nick reden und ich will nicht, dass du das hörst.«

»Du meinst, weil ihr euch anschreien werdet?«

»Ja, wahrscheinlich«, gab Tristan zu und Noah stützte sich frustriert stöhnend mit den Ellbogen auf dem Tisch ab.

»Das ist doch Scheiße.«

»Mag sein, aber es ist die beste Lösung, und das weißt du. Ich gebe zu, ich hatte gehofft, dass dein Herumreisen helfen würde, aber es hat Nick noch unruhiger gemacht, obwohl er immer wusste, wo du warst.«

»Wieso kann er nicht ...?«

»Er hat Angst«, unterbrach sein Vater ihn ernst. »Um dich, eure Beziehung, um unsere Familie. Wir haben erst dich fast verloren, danach Liam und jetzt bist du zurück, aber gleichzeitig bist du es nicht, verstehst du?«

»Ich wünschte, ich könnte mich wieder erinnern.«

»Ich weiß.« Tristan streichelte ihm über die Wange. »Aber das ist ein Wunschtraum, deswegen müssen wir das Beste aus dem machen, was uns bleibt. Noah? Wo möchtest du in Zukunft leben?«

Noah dachte sehr lange über die Frage nach, wog Vor- und Nachteile von einigen Städten ab, die ihm einfielen, und erinnerte sich schließlich an ein Telefonat mit Niko, der ihm dabei gesagt hatte, dass es nie falsch war auf sein Herz zu hören. Das hatte Noah getan, bevor er Alaska hinter sich gelassen hatte, und er würde es jetzt tun, denn er mochte Niko. Es war mit Sicherheit keine schlechte Idee, jemanden in der Nähe zu haben, der ihm im letzten Jahr des Öfteren zugehört hatte. Egal, welchen Unsinn er dabei von sich gegeben hatte.

»New York.« Noah blickte auf und zuckte bei Tristans interessiertem Blick die Schultern, um danach schief zu grinsen. »Ich mag Niko.«

Sein Vater fing an zu lächeln. »Ich würde mich freuen, wenn ihr wieder Freunde werdet.«

»Ich auch«, murmelte Noah kaum hörbar, weil er die Vorstellung, einen richtigen Freund zu haben, wirklich schön fand. Vielleicht gelang es ihm auf diese Weise, langsam wieder einen Weg zurück zu seiner Familie zu finden. Schritt für Schritt. So hatte es der Psychologe in der Reha damals zu ihm gesagt und einen Versuch war es allemal wert.

 

 

2. Kapitel

 

 

 

 

New York City war eine vollkommen andere Stadt als Baltimore. Laut, dreckig, verrückt. Aber gleichzeitig auch wunderschön, dachte Noah, als er Ende Februar seine prall gefüllte Reisetasche aus dem Kofferraum des Taxis nahm und sie schulterte, bevor er nach dem Koffer griff, um sich dem Haus zuzuwenden, in welchem seine neue Bleibe lag. Ein Haus mit mehreren Parteien und in einer davon lebten Niko und sein Freund Tyler, der mürrische Cop, gemeinsam mit dessen Halbschwester Grace. Nicht zu vergessen, ihr Kater Bounty.

Johnson, Maguire & Corvin

Das musste die Wohngemeinschaft des Trios sein. Er klingelte und sah auf die Uhr. Noch knapp zwei Stunden bis zum Vorstellungsgespräch. Das würde knapp werden, denn Noah wollte duschen, sich umziehen und noch eine Mappe für seine Bewerbungsunterlagen besorgen. Das hatte er in Baltimore vergessen. Er würde sich erneut ein Taxi nehmen müssen, um schnell einzukaufen und dann hoffentlich pünktlich vor dem Velvet einzutreffen. Sonst war der mögliche Job gleich wieder Geschichte und das konnte er sich nicht leisten.

Besser gesagt, das wollte Noah sich nicht leisten. Er brauchte Geld für die Unabhängigkeit von seinen Vätern und er würde sich einen guten Job nicht damit versauen, dass er durch seine eigene Schludrigkeit zu spät kam.

»Ja?«, fragte eine Stimme, die er als Nikos erkannte.

»Hey, hier ist Noah.«

»Hi, komm rauf. Fünfter Stock.«

»Gott sei Dank habt ihr einen Fahrstuhl.«

Noah grinste, als Niko lachend den Summer drückte und ihn ins Haus ließ. Wenig später trat er oben aus dem Fahrstuhl und erkannte Niko sofort von den unzähligen Fotos wieder, die ihm gezeigt worden waren. Der einzige Unterschied zu den Bildern war, dass Niko in natura fröhlicher und ausgeglichener schien. Nicht so verbittert und in sich gekehrt. Was Tylers Verdienst war, erinnerte sich Noah an die Geschichte des Paares, das sich lieben gelernt hatte, während er im Koma lag.

»Na? Bist du gut hergekommen?«, fragte Niko und zog ihm seinen Koffer aus der Hand. »Meine Güte, hast du in dem Ding Steine drin? Willst du dich erst mal kurz hinsetzen oder dir lieber gleich dein Reich ansehen?«

»Letzteres, um ehrlich zu sein«, antwortete Noah, weil er seine Sachen loswerden wollte. »Der Flug hierher war langweilig und die Taxifahrt … äh, schweigen wir drüber. Mich wundert jedenfalls nicht mehr, warum es heißt, die New Yorker Taxifahrer wären alle nicht ganz dicht.«

Niko lachte und Noah grinste, froh darüber, dass es ihm gelang, seine Mimik unter Kontrolle zu halten. Von wegen ein langweiliger Flug. Aber das musste Niko nicht wissen. Er würde diesen unheimlichen Kerl, der ihm auf der Herrentoilette im Flughafengebäude an die Wäsche gegangen war, ohnehin nicht wiedersehen, wozu also die Pferde scheu machen. Niko würde es bloß Tyler erzählen und der garantiert auf eine Anzeige gegen Unbekannt bestehen, immerhin war der Mann ein Polizist. Das war Noah zu viel Stress für den ersten Tag in seinem neuen Leben. Darauf hatte er keine Lust.

»Wie seid ihr eigentlich so schnell an die Wohnung gekommen?«, fragte er interessiert.

»Das war Zufall. Der Vormieter ist vor zwei Monaten gestorben. Herzinfarkt. Wir wollten zuerst selbst einziehen, um mehr Freiraum als Paar zu haben.« Niko schloss auf und winkte ihn in einen schmalen Flur. »Aber irgendwie konnten wir uns nicht einigen. Ich mag Grace und habe sie wirklich gerne um mich. Tyler geht es genauso und ihr sowieso.« Niko zuckte mit den Schultern. »Daher bleiben wir bis auf Weiteres eine Wohngemeinschaft und die Bude gehört ab sofort dir. Im Großen und Ganzen ist die Wohnung ähnlich wie unsere. Du hast zwar einen Raum weniger und dein Bad hat kein Fenster, aber dafür gibt es einen Balkon. Ach ja, und eine kleine Kammer, in die du vom Schlafzimmer aus kommst. Du kannst sie als Ankleidezimmer benutzen.«

»Ankleidezimmer?« Noah schaute Niko an, der blickte zurück, dann lachten beide.

»Na gut, kein Ankleidezimmer«, gluckste Niko, als sie sich beruhigt hatten, und schob die Tür rechts von ihnen auf. »Hier ist das Bad.«

Noah folgte Niko, während der ihn kurz herumführte. Abgesehen vom Bad, gab es geradezu ein Wohnzimmer mit Essecke und auf der linken Seite das Schlafzimmer, wo Noah sich in der Ecke einen Schreibtisch hinstellen konnte. Wohn- und Schlafzimmer führten auf den Balkon, der zwar nicht groß war, ihm aber einen freien Blick in den vom Schnee bedeckten Innenhof gewährte. Es gab sogar einen Platz mit Sitzgelegenheiten und einen derzeit trockengelegten Springbrunnen.

»Dürfen wir den Garten nutzen?«, fragte Noah, als sie nebeneinander an der Balkonbrüstung lehnten und nach unten schauten.

»Ja«, antwortete Niko. »Den hat der Besitzer erst im letzten Jahr eingerichtet. Er ist für alle Hausparteien … und wir halten ihn gemeinsam sauber. Im Frühjahr wird er wieder bepflanzt. Eine Oase der Großstadt, hat Grace es genannt. Mir gefällt es jedenfalls … Also?« Niko blickte ihn fragend an. »Nimmst du die Wohnung?«

Noah schmunzelte. »Unter einer Bedingung.«

»Die da lautet?«

»Du verrätst mir, wer die ganzen Möbel bezahlt hat.« Niko stöhnte und Noah lachte leise. »Hast du etwa geglaubt, es fällt mir nicht auf, dass sie neu sind? Du hast sie ausgesucht, oder?«

Niko stützte sich mit den Ellenbogen auf die Brüstung und zuckte mit den Schultern. »Ich habe deiner Familie von Anfang an gesagt, dass du es bemerken würdest. Aber er hat sich nicht davon abbringen lassen. Guck besser nicht in deinen Kleiderschrank.«

»Er?« Noah verdrehte die Augen gen Himmel. »Eines Tages erwürge ich Nick dafür.«

»Das Zeug kommt nicht von deinem Vater.«

»Was?«, fragte Noah überrascht. Er war sich so sicher gewesen. »Vom wem dann?«

»Wer wohnt sonst noch in Baltimore und hängt ständig bei euch herum?«

Noah runzelte die Stirn. »Wen mein…? Oh Mann, das war Adrian?«, fiel der Groschen und Niko nickte.

»Sieh es als Einweihungsgeschenk, soll ich dir sagen.« Niko grinste und sah auf die Uhr. »Äh … musst du nicht bald los? Es ist gleich drei.«

»Oh Scheiße, ich komme zu spät«, fluchte Noah und machte kehrt, um seinen Anzug aus dem Koffer zu holen. Hoffentlich war er faltenfrei geblieben. »Mist, ich muss noch einkaufen. Das schaffe ich nie.«

»Einkaufen?«, fragte Niko verwundert.

»Eine Mappe für meine Bewerbungsunterlagen. Ich habe in Baltimore nicht daran gedacht und ...«

»Ich leihe dir eine von uns.« Niko ging zur Tür. »Tyler hat Unmengen von den Dingern. Er klaut die immer von der Arbeit. Geh duschen und mach dich fertig. Ich hol dir eine und bring dir etwas zu essen mit. Ich wette, du hattest heute noch nichts.«

Noah hatte bislang tatsächlich nichts gegessen. Dafür war er viel zu nervös gewesen. Zuerst der Abschied von seiner Familie, danach der Flug nach New York City und überhaupt der ganze Stress der letzten Woche, nachdem er im Internet über das Angebot von Thomas und Eric Burrows gestolpert war, die für ihren Club Velvet einen Künstler für die neue Wandgestaltung suchten. Jemand, der sich mit Spraydosen auskannte, das war genau seine Richtung.

Laut seinen Vätern war Noahs Liebe zu Spraydosen einige Male der Grund für heftige Streitereien im Hause Kendall gewesen, vom Ärger mit der Polizei gar nicht zu reden. Daran erinnerte sich Noah zwar nicht, aber sein Interesse für Kunst und zu den besagten Spraydosen war geblieben. Aus diesem Grund wollte er den Job im Club. Ein Einstieg in die Berufswelt, der für ihn ein Neuanfang sein würde.

Als er aus der Dusche kam, hatte Niko ihm den Anzug fürs Vorstellungsgespräch von innen an die Tür gehängt. Noah war zwar unsicher, ob er damit nicht overdressed war, immerhin bewarb er sich als Künstler und nicht als Banker, aber in seinen Jeans wollte er auch nicht gehen. Die meisten waren ihm derzeit eh viel zu groß, weil er so dünn geworden war. Deswegen hatte er mit Tristan einen Anzug gekauft. Es war das einzige Kleidungsstück, was Noah momentan wirklich passte.

»Sieht gut aus«, erklärte Niko schmunzelnd, als Noah ins Wohnzimmer trat und mit seiner Krawatte kämpfte. »Setz dich und iss. Dein Taxi ist in zehn Minuten hier.«

»Danke.« Noah fluchte brüsk, als er den Knoten nicht hinbekam.

Niko lachte und stand vom Küchentresen auf, um auf ihn zuzutreten und ihm ein Sandwich zu reichen. »Hier. Die Krawatte übernehme ich. Wo bewirbst du dich eigentlich?«, hakte Niko nach und band ihm dabei den Schlips. »Das ist letzte Woche total untergegangen.«

»Das Velvet sucht einen Künstler … Na ja, eher einen Sprayer für die Wandgestaltung. Ich bin mit den beiden Besitzern verabredet. Eric und Thomas Burrows. Kennst du ihren Club?« Noah runzelte die Stirn, als Niko ihn auf einmal ganz seltsam ansah. »Ist was?«, fragte er und biss in das Sandwich.

Niko schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht. Ich war im ersten Moment nur überrascht. So, so, ein Club, also? … Gib zu, du willst dir jemanden aufreißen.«

»Niko!«

Niko lachte und trat einen Schritt zurück. »Fertig. Und jetzt ab mit dir, sonst kommst du wirklich noch zu spät.«

 

Eine halbe Stunde später runzelte Noah grübelnd die Stirn. Wollte er in diesem Laden tatsächlich arbeiten? Sehr einladend sah der Club mit den tiefschwarzen Türen und einigen potthässlichen Graffiti auf der Außenwand nicht gerade aus. Und vor allem entsprach er überhaupt nicht dem Bild, das er auf der spärlichen Internetseite vom Velvet gesehen hatte. Aber es war derselbe Club, er erkannte ihn an der Fassade. Merkwürdig. Andererseits, die zwei Eigentümer des Clubs suchten einen Künstler, der ihnen den Laden verschönerte. Möglicherweise war die Außenansicht damit ebenfalls gemeint.

Schaden würde es nicht, dachte Noah, während er die Außenfassade näher in Augenschein nahm. Er würde ein Gerüst brauchen. Für eine Leiter war der Laden zu hoch. Außerdem gab es im Obergeschoss ein paar Fenster, die darauf hindeuteten, dass dort jemand wohnte. Ob der so begeistert davon war, wenn ihm in der kommenden Zeit jemand andauernd vor der Nase herumlief? Falls der Club im Inneren ebenso trostlos aussah, wie hier draußen, kam er mit seiner bislang grob geplanten Arbeitszeit von zwei bis drei Wochen auf keinen Fall hin. Es würde wenigstens einen Monat dauern, wohl eher das Doppelte, je nachdem, was die Besitzer an ihren Wänden haben wollten. Und das war bitte nicht in der gleichen Art, wie diese abstrakten Gesichter und tanzenden Figuren, die jetzt an der Fassade zu sehen waren.

»Hast du dich verlaufen, Kleiner?«

Noah fuhr abrupt herum. »Was?«

Stahlblaue Augen blitzten vergnügt auf als der Mann, der ihn eben angesprochen hatte, auf ihn zukam. »Ob du dich verlaufen hast?«, wiederholte der die Frage und musterte ihn einmal von Kopf bis Fuß. »Das 'Kleiner' nehme ich allerdings zurück, du bist älter als du aussiehst. Der Club öffnet aber erst in ein paar Stunden.«

»Ja, ich weiß.«

Noah steckte den Zettel ein, auf dem er sich die Adresse notiert hatte, um sie nicht zu vergessen. Seit er niedergeschossen worden war, passierte es manchmal, dass er sich Ziffern, Namen, Bezeichnungen und Orte nicht merken konnte. Oder sie fielen ihm einfach nicht ein. Eine Spätfolge seiner Kopfverletzung, mit der er würde leben müssen, hatte sein Arzt erklärt.

»Ich habe einen Termin mit den Besitzern. Wer sind Sie eigentlich?«

Der Fremde lachte und streckte dabei seine Hand aus. »Besitzer Nummer eins, Thomas Burrows. Du bist Noah Kendall, oder? Freut mich. Und du bist zu früh.«

»Soll ich wieder gehen?« Noah ergriff die angebotene Hand mit einem Grinsen, als sein möglicher zukünftiger Chef lachte. »Freut mich ebenfalls.«

»Komm mit rein. Eric besorgt noch schnell ein spätes Mittagessen. Ach ja, nenn mich Tom. Das machen alle.«

Noah nickte. »Gern. Sag einfach Noah.«

Er folgte Tom in den Club, der von innen tatsächlich nicht besser aussah als von außen. Kopfschüttelnd betrachtete Noah die hässlichen Wandbilder und fragte sich, wie der Laden in den letzten Jahren so erfolgreich hatte sein können?

»Furchtbar, oder?«

Noah antwortete nicht. War das jetzt eine Fangfrage? Tom schien ihm seine Gedanken anzusehen.

»Sag´s ruhig. Ich fand die Bilder von Anfang an völlig daneben, aber die Leute standen drauf, als wir den Club übernahmen.«

»Warum sucht ihr dann einen Künstler?«

»Weil es Zeit für eine Veränderung ist. Willst du etwas trinken? Setz dich.«

»Wasser, danke.«

Noah nahm auf einem Barhocker Platz und Tom trat hinter die lange Theke, reichte ihm wenig später eine Flasche Wasser, bevor er wieder nach vorn kam und den Barhocker neben ihm in Beschlag nahm. Noah schraubte die Flasche auf und hielt inne, als er plötzlich überlegen musste, wie die Teile hießen, in die man das Wasser kippte, um daraus zu trinken. Ihm gegenüber standen gleich mehrere Reihen davon, aber der Begriff für sie wollte Noah partout nicht mehr einfallen. Er runzelte verärgert die Stirn.

»Ist alles okay?«, fragte Tom neben ihm und Noah sah zu ihm, resigniert und frustriert zugleich.

»Nein, ich … Hast du meinen Lebenslauf gelesen?«

»Ja.«

»Dann weißt du auch von der Schießerei.« Noah deutete zu den aufgereihten Gruppen durchsichtiger Gegenstände auf der Bar gegenüber. »Ich vergesse ab und zu Begriffe von Dingen. So wie die da.«

Tom folgte seinem Fingerzeig. »Du meinst die Gläser?«

»Ja, genau.« Noah lächelte verlegen. »Tut mir leid. Ich hätte gerne eines. Für das Wasser.«

»Kein Problem.« Tom streckte sich und langte über den Tresen und dabei nach unten. Wenig später stand ein sauberes Glas vor Noah. »Bitte.«

»Danke.«

»Ist das dauerhaft?«, fragte Tom und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Entschuldige, ich will nicht neugierig sein. Du musst nicht antworten.«

Noah zuckte mit den Schultern. »Meine Ärzte wissen nicht, ob und was für Spätfolgen noch auftreten. Manchmal vergesse ich Sachen. Manchmal steige ich an einer falschen Adresse aus dem Taxi und bin mir sicher, richtig zu sein. Ich verdrehe Zahlen oder kann mich auf einmal nicht mehr an einen Namen erinnern. Es ist völlig willkürlich, daher habe ich damit angefangen, wichtige Sachen sicherheitshalber zu notieren. Auch wenn das im Notfall kaum helfen wird, aber ich fühle mich dadurch sicherer.« Noah trank einen Schluck Wasser. »Lass uns lieber über die, ich nenne es mal Kunst, an euren Wänden reden.«

Tom lachte, öffnete die Cola, die er sich mit dem Glas für Noah geholt hatte, und prostete ihm zu. »Du bist sehr höflich, aber ich weiß, dass die Dinger hässlich sind. Und weder Eric noch mir ist entgangen, dass unsere jüngeren Besucher mittlerweile die Nase darüber rümpfen. Daher wollten wir den Club für einen Monat dichtmachen, sobald wir einen guten Künstler gefunden haben, der uns etwas Besseres an die Wände sprayt. Könntest du dir vorstellen dieser Künstler zu sein?«

»Nein.«

Tom sah ihn verblüfft an. »Warum nicht?«

»Weil ich nicht zaubern kann«, antwortete Noah und deutete auf die Wände. »Das alles in einem Monat neu zu machen, ist unmöglich. Vor allem dann nicht, wenn die Außenwand mit inbegriffen ist, was ich hoffe. Normale Leute brauchen ab und zu auch mal Schlaf.«

»Du hoffst, dass wir …?« Tom brach ab und fing an zu grinsen. »Du bist ganz schön frech, das gefällt mir. Also gut, nehmen wir mal an, Eric und ich stimmen dir in allem zu, wie viele Wochen würdest du denn brauchen?«

»Gesetzt den Fall, die Wände werden vorher gesäubert und ich habe alles zum Arbeiten da, was nötig ist?«

Tom nickte. »Bekommst du.«

»Das ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall länger als den von euch angesetzten Monat und ihr werdet euren Club kaum für unbestimmte Zeit dichtmachen wollen, oder?« Noah sah Tom fragend an, der wie erwartet den Kopf schüttelte. »Das bedeutet, ich muss in Etappen arbeiten. Während geschlossen ist, bei Ruhezeiten, wenn geputzt wird und so weiter. Und es kommt natürlich darauf an, was ihr für Bilder an den Wänden wollt. Schlicht oder detailliert? Farbig oder schwarz-weiß? Das kann ich dir erst genauer sagen, sobald ich mehr weiß. Wenn ihr alle Wände neu gemacht haben wollt, würde ich mindestens das Doppelte an Zeit dafür einplanen.«

Tom trank einen Schluck Cola. »Gehen wir davon aus, du kriegst den Job … Ob es nun einen Monat oder drei dauert, sei dahingestellt … Wer sagt uns, dass du dein Geld überhaupt wert bist? Dein Lebenslauf hat eine ziemliche Lücke.«

»Ich war das gesamte letzte Jahr überall auf der Welt unterwegs. Glaubst du ernsthaft, ich hätte in der Zeit nie eine Spraydose oder einen Pinsel in der Hand gehabt?«

Tom gluckste. »Gute Antwort.«

»Ich bin nur ehrlich.«

»Was dich sehr sympathisch macht«, meinte Tom und lehnte sich gegen den Tresen. »Allerdings kaufe ich nicht die Katze im Sack. Wie sieht es mit Entwürfen aus?«

»Eure Webseite gab nichts her, was gutes Bildmaterial aus dem Inneren des Clubs angeht, aber ich habe ein paar Skizzen dabei.« Noah holte seinen Zeichenblock aus der Mappe, die Niko ihm geliehen hatte, und reichte ihn an Tom, der nickte und ihn auf den Tresen legte.

»Ich sehe sie mir später mit Eric an. Du schlägst also mindestens zwei Monate vor ... Das dürfte machbar sein. Kommen wir zum wichtigsten Punkt. Was verlangst du?«

»Kommt drauf an, ob ihr pro Stunde bezahlt oder mit Festpreis arbeiten wollt.«

»Du bekommst bezahlt, was du arbeitest. Pro Stunde.« Tom ließ seinen Blick einmal durch den Club schweifen. »Nichts gegen Festpreise, aber wir wollen gute Qualität und wir sind bereit, dafür zu bezahlen. Also? Welcher Stundenlohn?«

Über die Frage hatte Noah bereits tagelang gegrübelt, ohne eine Antwort zu finden. Er hatte keinerlei Erfahrung. Nur sein Studium, an das er sich nicht erinnerte, und die unzähligen Ideen in seinem Kopf, die er umsetzen wollte. Aber er brauchte Geld, um seine Miete zahlen zu können, also würde Noah irgendeine Zahl nennen und sehen, was passierte.

»Hundert.«

Tom verschluckte sich an seiner Cola und fing heftig an zu husten. Noah klopfte ihm auf den Rücken, bis Tom sich beruhigt hatte und ihn kopfschüttelnd ansah.

»Zu hoch?«, fragte Noah verunsichert, was ihm einen verdutzten Blick einbrachte. »Zu niedrig?«

Tom lachte. »Viel zu niedrig für das, was Eric und mir vorschwebt. Hör zu, du hast ein Studium und ich denke in deinem Block werden gute Ideen sein. Du hast durch deinen Erinnerungsverlust keine Erfahrung mehr, aber du hättest dich kaum bei uns beworben, wenn du diesen Job nicht wolltest.«

»Ich muss Rechnungen bezahlen, deswegen habe ich mich beworben«, gab Noah zu und seufzte, als Tom ihn abwartend ansah. »Natürlich will ich den Job. Aber ich habe in den letzten Monate vom Geld meiner Väter gelebt … Ich denke, das solltest du wissen.«

»Wie gesagt, du bist ehrlich, das gefällt mir, und wenn du für uns arbeitest, bekommst du dreihundert Dollar pro Stunde. Außerdem sind Getränke und Essen im Club für dich frei. Und wir haben ein Gästezimmer, sofern du noch auf Wohnungssuche bist und ein Bett brauchst.«

Noah starrte Tom mit offenem Mund an und schloss ihn eilig wieder, als ihm aufging, wie dämlich er im Moment aussehen musste. »Dreihundert Dollar? Bist du noch ganz dicht?«

Tom schüttelte lachend den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste, aber danke. Einen Haken hat die Sache jedoch, denn wenn du die Bilder versaust, machst du sie umsonst ein zweites Mal.«

»Einverstanden.«

»In Ordnung, dann ...« Tom brach ab, als sein Handy piepte. »Moment.« Er las die Nachricht und nickte. »Eric ist da. Ich stelle euch vor, dann werfe ich dich raus.« Tom lächelte ihm entschuldigend zu. »Mein Schreibtisch quillt über vor Papierkram und in einer Stunde kommt unsere Putztruppe.«

Hinter ihnen klappte die Tür und Noah schaute über seine Schulter. Als er erkannte, wer gerade den Club betreten hatte, weiteten sich seine Augen. Das war derselbe Kerl, der ihn auf der Herrentoilette vom Flughafen in die Ecke gedrängt hatte. Noah ließ sich vom Barhocker gleiten.

»Ich denke, ich werde jetzt gehen«, sagte er und stellte das Glas auf den Tresen. »Suchen Sie sich einen anderen Künstler.«

»Noah?« Tom legte eine Hand über seine und hielt ihn zurück. »Deswegen wollte ich, dass du bleibst. Eric hat es mir erzählt. Ich will, dass du dafür eine Entschuldigung bekommst.«

»Gib du sie ihm. Von mir bekommt er sie nicht.« Eric Burrows lief mit einem düsteren Gesichtsausdruck und zwei Tüten, aus denen es verführerisch nach asiatischem Essen roch, an ihnen vorbei auf einen Fahrstuhl zu, der in die Wand eingebaut war.

Noah wusste nicht, ob er wütend sein oder besser aus dem Club flüchten sollte. Dieser Kerl war noch genauso gruselig wie in der Herrentoilette. Und er war offenbar mehr als sauer auf ihn, was ihn zu einem Mann machte, dem Noah auf keinen Fall im Dunkeln begegnen wollte. Er hatte schon am Flughafen Angst vor diesem Mistkerl gehabt, der ihm, ohne ein Wort zu sagen, an die Wäsche gegangen war. Noah hatte zuerst an eine Verwechslung geglaubt, bis er kräftige Finger gespürt hatte, die sich in seine Arme gebohrt hatten.

Er verdankte es nur einem anderen Fluggast, der auf einmal in der Toilette aufgetaucht war, dass er sich von Burrows hatte lösen und flüchten können. Was hatte der Mann eigentlich für ein Problem mit ihm? Noah kannte ihn nicht, da war er sich sicher, und er verspürte keinen Wunsch danach, das zu ändern. Dazu war ihm der Mann zu riesig, zu einschüchternd und viel zu gewaltbereit. Er würde jetzt einfach gehen und sich nach einem anderen, ungefährlicheren Job umsehen. Es war das Beste so.

Noah warf Tom einen auffordernden Blick zu, dessen Hand immer noch auf seiner lag, doch das Schmunzeln in Toms Gesicht ließ ihn stutzen. Was war daran bitteschön amüsant?

»Ich denke, Noah ist geeignet für den Job. Ich werde ihm fünfhundert die Stunde zahlen.«

Fünfhundert? Noah starrte Tom überrascht an. »Aber wir hatten doch ...«

»Plus zehntausend als Entschädigung für dein absolut unmögliches Verhalten am Flughafen.«

Tom zwinkerte ihm zu und Noah sah zurück zu Eric, der gerade sichtbar die Schultern straffte, bevor er in den ankommenden Fahrstuhl stieg, ohne sich dabei zu ihnen umzudrehen. »Tu das. Aber wenn er die Bilder versaut, ersetzt er sie. Und zwar umsonst.«

Tom prustete los, als sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten, und Noah fragte sich einen Moment ernsthaft, ob der Mann vor nicht allzu langer Zeit einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Was war das denn für ein hinterlistiges Spiel gewesen? Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

»Du wusstest von Anfang an, wer ich bin, oder?«

Tom nickte. »Du hast dich bei uns mit einem Bild von dir beworben, schon vergessen? Er hat dich erkannt und weil Eric wütend auf dich war, hat er dich in der Toilette abgefangen.«

»Wütend? Auf mich? Ich kenne ihn nicht mal.«

»Eigentlich ist er wütend auf mich, weil du mir gefällst.«

Dazu fiel Noah nichts ein, bis Toms Worte vollständig zu ihm durchgedrungen waren. »Oh.«

»Ja, oh.« Tom prostete ihm mit der Cola zu.

»Bist du schwul?«

»Du nicht?«

»Ähm ...« Noah blinzelte irritiert. »Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht mehr.«

Toms Grinsen verblasste. »Wegen der Schusswunde?«

»Ja.«

»Du verschweigst deine Verletzung nicht, was mich ziemlich beeindruckt hat, als ich deinen Lebenslauf las, das gebe ich zu.« Tom schwieg kurz. »Du weißt wirklich kaum noch etwas aus deinem früheren Leben, oder?«

»Ich weiß nur das, was meine Familie mir erzählt hat. Als ich aus dem Koma aufwachte, kannte ich nicht mal mehr meinen Namen.«

»Mein Gott«, murmelte Tom mitfühlend und meinte es so, seine Augen verrieten es Noah. »Hör mal, sei nicht böse wegen dem, was gerade passiert ist. Ich kann mir vorstellen, wie das für dich geklungen haben muss, aber Eric wird sich nicht bei dir entschuldigen. Er ist da ein bisschen komisch, und es tut mir wirklich leid, was er getan hat.« Tom ließ ihn los und fuhr sich seufzend durch seine braunen Locken. »Ich war froh, als ich dich vorhin vor dem Club sah und merkte, dass es dir gut geht. Eric kann verdammt einschüchternd sein, ich weiß das … und was die fünfhundert Dollar pro Stunde angeht, nimm sie bitte an.«

»Als Schmerzensgeld für das bekloppte Gespräch hier?«

Tom gluckste. »Gute Idee.«

Noah verdrehte kopfschüttelnd die Augen. Eigentlich wollte er es nicht. Wirklich nicht. Aber er mochte diesen Mann und er wollte ihn näher kennenlernen. Tom schien auf seiner Wellenlänge zu sein und möglicherweise fand er in ihm einen weiteren Freund. Auf Eric konnte er zwar verzichten, aber wenn er den Job gutmachte, sprach sich das bestimmt herum und bescherte ihm Folgeaufträge.

»Okay, halt mir einfach Eric vom Leib und ich mache es. Wann soll ich anfangen?«

»Super«, freute sich Tom und deutete dabei auf den Block. »Komm Montagabend vorbei, da ist es meist ruhiger und wir können in Ruhe über deine Ideen reden und uns auf Motive einigen. Ich schicke dir per Mail deinen Vertrag, dann kannst du ihn dir in Ruhe ansehen. Wenn du Fragen hast«, Tom zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie ihm, »ruf an.«

 

 

3. Kapitel

 

 

 

 

Ich habe den Job.

Was einerseits gut, andererseits schlecht ist, wenn ich an Mister Eric Arschloch Burrows denke. Ich hätte nie gedacht, den Typen vom Flughafen wiederzusehen, aber offenbar ist der Spruch, dass man sich immer zweimal im Leben trifft, wahrer als mir lieb sein kann.

Es ist schon eine Weile her, dass ich zuletzt Tagebuch schrieb. Die vergangenen Wochen waren merkwürdig. So sehr ich mich auf New York gefreut habe, so sehr fehlt mir im Moment Tristan. Nicht Nick, der kann mir gestohlen bleiben, auch wenn das ein unfairer Gedanke ist. Würde Tristan jedenfalls sagen und ein bisschen hat er ja auch recht, ich weiß das.

Ich habe keine Ahnung, warum ich schon wieder von der Sache anfange. Langsam sollte ich mich doch daran gewöhnt haben, dass Nick und ich einfach nicht mehr miteinander reden können. Wenigstens hatten Tristan und ich vor meinem Abflug noch ein paar schöne Stunden. Mit Milchreis. Ich liebe das Zeug wirklich und muss lernen, wie man ihn kocht.

Vielleicht weiß es Grace. Sie scheint nett zu sein. Gut, ich habe sie erst vorhin kennengelernt, als Niko spontan mit Tyler und ihr vor meiner Tür stand. Nachbarliches Abendessen, hat er es genannt, und später mit mir den Inhalt meines Kleiderschranks durchforstet. Mein lieber Onkel hat einen verdammt teuren Geschmack, aber ich werde mich nicht darüber beschweren, denn die Sachen passen. Ich will gar nicht wissen, woher er meine derzeitige Größe weiß.

Die bei Nikos Bullen übrigens zu einem Stirnrunzeln führte. Ich muss mehr essen, hat Tyler gemeint und sich dafür von Grace umgehend einen saftigen Schlag auf den Hinterkopf geholt, bevor ich ihm an den Kopf werfen konnte, dass ihn das ja wohl nichts angeht. Ja, ich weiß, bei dem Thema bin ich ein wenig empfindlich, aber ich kenne Tyler Johnson kaum.

Außerdem ist mein Gewicht immer noch meine Sache.

Irgendwie weiß ich gar nicht mehr, was ich mit dem Eintrag sagen wollte. Mein Kopf ist so voll, dass ich mit meinen Gedanken hin und her schwanke. Scheinbar hat mir das Schreiben mehr gefehlt als ich dachte. Es passt zu dem was Liam mal gesagt hat, dass ich mit Worten wohl recht gut umgehen konnte. Früher zumindest. Ob das immer noch so ist, weiß ich natürlich nicht.

Ich muss meinen Bruder wieder anrufen. Er ist in Ordnung und mit ihm kann ich immer frei von der Leber weg reden. Jake ist genauso locker drauf. Wenn es mit Nick doch auch so leicht wäre.

Es ist merkwürdig. Die letzten Wochen in Baltimore konnte ich es kaum erwarten wegzukommen, doch jetzt würde ich am liebsten meine Tasche packen und zurückfliegen. Als ich das gesamte letzte Jahr in der Weltgeschichte herumflog hatte ich kein Heimweh, doch jetzt auf einmal fange ich damit an? Das ist kindisch.

Vermutlich habe ich nur Schiss vor meinem neuen Leben.

Ist ja auch kein Wunder, oder?

Aber lassen wir das. Ich muss mir überlegen, was ich mit dem kommenden Wochenende mache. Morgen ist Freitag und dank Adrian fällt das Einrichten der Wohnung flach. Ich könnte ins Velvet gehen. Einfach nur so.

Vielleicht tanzt Tom ja mit mir …

Okay, jetzt wird es wirklich lächerlich. Der Mann ist mein Boss und nicht mein Freund. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn mir überhaupt als Freund vorstellen …

Schluss damit! Nur weil er zugegeben hat, dass ich ihm gefalle, heißt das nichts. So wie er aussieht, hat er garantiert keine Probleme, jemanden für Sex zu finden. Wobei ich mich frage, wie er überhaupt dazu kommt mir ins Gesicht zu sagen, dass ich ihm gefalle.

Eric und Tom tragen denselben Nachnamen und sie sind garantiert keine Brüder, denn dann hätten sie sich anders verhalten. Keine Ahnung, woher ich das weiß, aber ich bin mir sicher. Ich schätze, sie sind verheiratet. Doch wenn sie verheiratet sind, wieso hat Tom dann … Moment mal, wollte er mich im Club anbaggern und ich habe das gar nicht kapiert?

Nein, das kann nicht sein. Nicht vor Erics Augen. Es würde nur leider zu gut erklären, weshalb der sauer auf mich war. Scheiße. Ich hoffe, ich irre mich. Wirklich. So schätze ich Tom nämlich nicht ein, aber das muss ich genauer wissen. Ich werde morgen Abend in den Club gehen und sollte er mich tatsächlich angraben, kann er was erleben. Eric mag ein Arsch sein, aber nicht mal er verdient, direkt vor seiner Nase betrogen zu werden.

 

Noah schreckte auf, als sein Handy klingelte. Wer war das denn um diese Uhrzeit noch? Er klappte das Tagebuch zu und angelte nach dem Telefon auf seinem Nachttisch, um zu seufzen, als er den Namen auf dem Display sah.

»Muss ich mit dir reden?«, fragte er und konnte sich ein breites Grinsen nur mühsam verkneifen, als Adrian Quinlan am anderen Ende wie erwartet lachte. »Wieso schläfst du um die Uhrzeit nicht?«

»Dasselbe könnte ich dich jetzt fragen«, konterte sein Onkel hörbar amüsiert. »Es ist fast Mitternacht.«

»Ich liege zumindest schon im Bett.«

»Gefällt dir die Wohnung?«

»Ja.« Noah legte sich hin und machte es sich bequem. »Die Anzüge, Hemden, Hosen und anderen Klamotten, die du bezahlt hast, gefallen mir übrigens auch.«

»Gut.«

»Adrian ...«

»Lass mir doch die Freude«, sagte der nur und Noah seufzte, da das ein Totschlagargument war, von dem er wusste, dass Adrian Quinlan es regelmäßig benutzte, um seinen Willen zu bekommen. »Wie geht’s dir?«

»Gut.«

»Aha?«

Noah verdrehte die Augen. Adrian wollte ihn wieder aushorchen und ging dabei nicht sehr subtil vor. Das musste er sowieso nicht, denn falls er nicht freiwillig mit diesem Anwalt sprach, Niko würde es garantiert tun.

»Frag das nächste Mal doch gleich Niko, der erzählt es dir«, murrte er und runzelte die Stirn, weil Adrian wiederholt lachte. »Dich kann man auch nicht ärgern, oder?«

»Kann man schon, aber nicht mit einem Trotzkopf, so wie du ihn gerade hast«, antwortete Adrian belustigt und Noah schnaubte. »Nick hat nach dir gefragt.«

»Na und wenn schon«, zischte Noah unbeherrscht und verfluchte sich sofort dafür, da er sich damit verraten hatte. »Sag ihm, ich ziehe nach Australien, um dort nach Gold zu graben.«

»Noah ...«

»Nein, warte. Ich werde Schlangenjäger.«

»Ich kann dich verstehen«, sagte Adrian ruhig. »Euch beide. Das ist alles nicht einfach. Weder für dich noch für deinen Vater. Ich frage mich aber so langsam, wo es euch am Ende hinführen wird.«

»Nirgendwohin, wenn er sich immer aufführt, wie die Axt im Walde. Ich kann mit ihm kein Gespräch führen, ohne dass wir uns ankeifen. Was kann ich dafür, dass ich ihn nicht mehr kenne?«

»Das denkst du?«, fragte Adrian verblüfft. »Dass er dir das zum Vorwurf macht?«

»Ja. Nein. Ach, keine Ahnung. Er gibt mir zumindest das Gefühl, mit seinem bescheuerten Verhalten.«

Daraufhin schwieg sein Patenonkel eine Weile, ehe er sich räusperte. »Ich rede mit ihm darüber. Das geht so nicht. Und bevor Tristan es dir erzählt … Nick wollte dich in einigen Wochen besuchen kommen, aber ich habe ihm davon abgeraten.«

Oha, dachte er und verzog gequält das Gesicht. Er konnte sich lebhaft vorstellen, auf wie viel oder eher wenig Gegenliebe das bei Nick gestoßen war. »Wie hat er reagiert?«

»Sagen wir mal so, ihr zwei seid nicht die einzigen, die in puncto Ankeifen einige Erfahrung haben«, antwortete Adrian, was Noah seufzen ließ. »Er hat sich mittlerweile entschuldigt. Aber lass uns von etwas Erfreulichem reden. Wie war das Vorstellungsgespräch?«

»Ist gut gelaufen«, antwortete Noah lächelnd. »Es fehlt nur noch das Okay vom zweiten Boss des Ladens, aber ich denke, ich habe den Job. Montag sprechen wir über die restlichen Details und Tom schickt mir den Vertrag vorab per Mail zu.«

»Soll ich ihn durchsehen?«, bot Adrian an und Noah nickte gedankenverloren. Das war eine gute Idee. Er glaubte zwar nicht, dass Tom irgendwelche Fallen für ihn einbauen würde, aber es konnte kaum schaden, dass sich jemand die Papiere ansah, der Ahnung davon hatte.

»Ich schicke ihn an dich weiter, sobald ich ihn habe.«

»Gut. Dann melde ich mich am Wochenende wieder, wenn ich ihn angeschaut habe.«

»Okay«, stimmte Noah zu und ging nebenbei im Kopf seine neue Kleidung durch. Er wollte auf gar keinen Fall mit Anzug im Velvet aufschlagen.

»Du klingst, als hättest du etwas vor.«

»Ich denke darüber nach, morgen tanzen zu gehen.«

»Ein Club?«, fragte Adrian interessiert, was Noah mit einem »Hm.« bejahte. »Nimm doch Niko mit. Der Junge arbeitet viel zu viel.«

Noah begann zu grinsen. »Hältst du mich für doof?«

Adrian gluckste. »Kein Hintergedanke, ich schwöre. Aber alleine Tanzen zu gehen ist langweilig. Und Tyler arbeitet auch ständig. Geht doch zu viert. Grace ist ...«

»Absolut nicht mein Typ«, fiel er seinem Patenonkel ins Wort, was den empört mit der Zunge schnalzen ließ. »Ich wiederhole mich, hältst du mich für doof?«

»Nein, nur für einsam. Du brauchst Freunde.«

Noah atmete tief durch. »Ich lege jetzt auf, wir gehen schlafen und reden ein andermal weiter, bevor ich dich durch die Leitung ziehe und erwürge. Gute Nacht.«

Noah legte auf, bevor Adrian die Chance hatte, darauf zu reagieren, und um auch wirklich seine Ruhe zu haben, schaltete er sein Handy aus, bevor er sich erhob, um eine Dusche zu nehmen. Eine lange, heiße Dusche, die ihn hoffentlich davon abhielt, eine Dummheit zu begehen. David anrufen und sich bei ihm über Adrian beschweren, zum Beispiel.

Diese Familie brachte ihn eines Tages noch mal ins Grab mit ihrer Überfürsorge.

 

Weil er nicht einschlafen konnte, wechselte Noah eine Stunde später ins Wohnzimmer, fuhr den Laptop hoch und checkte seine E-Mails. Die von Adrian ignorierte er. Doch die von Tom brachte ihn dazu, irritiert seine Stirn zu runzeln, weil er immer noch darüber grübelte, ob der ihn heute nun angemacht hatte oder nicht. Am Ende siegte seine Neugier und Noah öffnete Toms Mail, die tatsächlich einen Arbeitsvertrag und außerdem einen längeren Text enthielt. Neugierig geworden, fing er an zu lesen.

 

Hey Noah,

wie versprochen, hängt der Arbeitsvertrag dran.

Sieh ihn dir an und sag mir Bescheid, ob du damit einverstanden bist oder Änderungen möchtest.

Wir haben uns mittlerweile deine Zeichnungen genauer angesehen und einige davon gefallen uns recht gut. Du hast gute Ideen, die zum Velvet passen werden, das denkt sogar Eric. Aber das besprechen wir alles in Ruhe am Montag. Der Club hat übrigens ein Büro, wir werden uns also nicht an der Bar oder auf der großen Tanzfläche anschreien müssen. ;-)

Apropos, gehst du privat gern tanzen? Ich bin immer auf der Suche nach neuen Partnern, da Eric mir jedes Mal einen Vogel zeigt, wenn ich ihn frage. Er ist unmöglich in der Beziehung und ich tanze nun mal gern. Wenn du es mir erlaubst, möchte ich dich einladen, einen Abend bei uns im Club zu verbringen. Als Entschädigung für … du weißt schon.

Aber jetzt habe ich erst mal genug genervt. Es ist beinahe Mitternacht und wir haben volles Haus.

Schlaf gut, Noah.

Bis Montag.

Tom

 

PS: Was mir gerade einfällt, warum hast du auf dem einen Bild drei tanzende Männer gezeichnet? Eine Frau und zwei Männer hätte ich ja noch verstanden, weil es erotisch wäre und im Club definitiv die Leute anziehen würde, aber drei Männer? Eher ungewöhnlich, findest du nicht?

PPS: Wegen unseres möglichen Tanzabends … Stört es dich eigentlich, mit deinem Boss auszugehen?

 

Noah starrte sprachlos auf Toms letzte Frage. Das war eindeutig eine Anmache. So eine Frechheit. Was dachte Tom sich bloß dabei? Noah holte dessen Visitenkarte aus seiner Tasche, schaltete sein Handy ein und wählte mit finsterem Blick Toms Privatnummer.

»Hör auf mit dem Mist!«, verlangte er umgehend, als abgenommen wurde.

»Noah? Wovon sprichst du?«

»Dieser Flirterei. Was soll der Scheiß? Oder ist das für dich normal? Kein Wunder, dass Eric mir an den Kragen will. Wobei ich, an seiner Stelle, dir was erzählen würde, wenn du mit anderen Kerlen rummachst.«

»Moment mal ...«

»Nichts Moment mal«, bügelte Noah Tom wütend ab. »Ihr seid verheiratet, oder? Falls ja, und das für dich eine perfide Art von Nervenkitzel ist, lass mich gefälligst aus dieser Sache raus! Du weißt, dass ich den Job brauche. Aber ich lasse mich deshalb nicht von dir verarschen!«

»Wow, wow, wow, Noah, warte«, bat Tom eindringlich und atmete anschließend hörbar durch. »Zuerst einmal, ja, Eric und ich sind verheiratet, das ist richtig. Nein, du bist kein Nervenkitzel für mich. Im Gegenteil, ich mag dich … Und ich habe nicht vor, dich persönlich oder die Tatsache, dass du für uns arbeiten sollst, auszunutzen.«

»Dann hör mit dem Flirten auf.«

»Willst du das wirklich?«

Noah schnappte empört nach Luft. »Ob ich das will? Hallo? Du bist verheiratet! Da stellt sich die Frage, was ich will oder nicht, doch gar nicht.«

»In unserem Fall tut sie das sehr wohl«, konterte Tom ruhig und das irritierte Noah dermaßen, dass er schwieg. »Ich denke, ich sollte dir etwas erklären, sofern du bereit bist zuzuhören.«

Noah war sich nicht sicher, ob er diese Erklärung jetzt hören wollte. Andererseits war er neugierig genug, um es sich zumindest anzuhören. Er musste ja hinterher nichts dazu sagen. Das war bei gewissen Dingen meistens die beste Entscheidung, hatte er im vergangenen Jahr festgestellt. Wer lud sich schon gerne den Ärger von Fremden auf den Hals? Und genau das waren Tom und Eric für ihn, da konnte Tom ihn anbaggern und mit ihm flirten so viel er wollte.

»In Ordnung. Ich höre zu«, sagte Noah schließlich und zog ein Bein auf die Couch, um es sich etwas bequemer zu machen.

»Ich flirte mit Männern, ich tanze mit ihnen, ich habe Sex mit ihnen, sofern es für uns alle passt. Eric weiß das und akzeptiert es.«

Noah blieb im ersten Moment der Mund offen stehen. »Das ist ein Witz, oder?«, fragte er verblüfft, nachdem die anfängliche Überraschung ein wenig abgeklungen war.

Tom lachte leise. »Nein. Eric sieht gern zu, sofern dir das in Bezug auf Sex etwas sagt.«

»Äh … Ihr habt Dreier?«

»Nein. Wie gesagt, ich schlafe mit anderen Männern, Eric sieht uns nur zu. Schon seit vielen Jahren.«

»Aber ihr seid verheiratet«, merkte Noah an und schüttelte dabei fassungslos den Kopf. »Ich meine, das ist ja … das kann … das geht doch nicht.«

»Wieso nicht? Wenn alle einverstanden sind, ist im privaten Schlafzimmer nichts verboten.«

Das konnte und wollte Noah nicht einmal abstreiten, trotzdem kam es ihm verkehrt vor. »Wenn ihr meint ...«

»Du findest es falsch«, zog Tom die richtigen Schlüsse und Noah beschloss, aufrichtig zu sein.

»Ehrlich gesagt, ja. Es fühlt sich für mich jedenfalls so an, aber was geht mich das an? Es ist eure Ehe. Ihr könnt machen, was ihr wollt.«

»Noah, ich möchte immer noch mit dir tanzen gehen.«

»Und mehr, schätze ich.«

»Das ist deine Entscheidung.«

Noah rieb sich die Augen. »Ich hätte nichts gegen ein bisschen Spaß, das gebe ich zu, aber ich habe keine Lust, mich deswegen mit Eric anzulegen. Wie nennt ihr beiden das eigentlich, was ihr da macht? Offene Ehe?«

»Ja, ich glaube, so kann man es nennen. Eric muss mit dem Mann einverstanden sein, wenn ich jemanden für Sex im Auge habe. Ist er das, darf ich flirten. Ist er es nicht, gibt es weder einen Flirt noch Sex.«

»Und weshalb flirtest du dann mit mir?«, fragte Noah irritiert. »Es war unschwer zu übersehen, dass Eric mich auf den Tod nicht ausstehen kann.«

»Er hat ein Problem mit dir, das stimmt, und ich habe mich darüber weggesetzt, als er dich ablehnte. Und bevor du fragst, ja, das werden wir klären, denn wie ich schon sagte, ich mag dich und ich werde weiter mit dir flirten, solange du mir nicht deutlich zu verstehen gibst, dass du das nicht willst.«

Na super. Da war er einen Tag in der Stadt, traf gleich einen netten Kerl und geriet durch den in einen Ehestreit oder eher Sexstreit, wie auch immer man das nennen sollte. Es wäre das Klügste gewesen, diesen Job sausen zu lassen, aber das brachte Noah nicht über sich. Nicht nur, weil er ihn brauchte, sondern vor allem, weil er ihn wollte. Wer wurde schon so gut fürs Zeichnen und Sprayen bezahlt? Und um der Wahrheit die ganze Ehre zu geben, Tom war ihm nicht egal.

Was das betraf, hatte Adrian nicht unrecht gehabt. Er war einsam und ein paar Freunde außerhalb der Familie zu haben, konnte wohl kaum schaden. Selbst wenn er dadurch gezwungen wurde, sich mit einem eifersüchtigen, ruppigen Ehemann herumzuärgern.

»Wieso hat Eric eigentlich ein Problem mit mir?«

»Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber ich vermute, dass du ihm gefällst. Normalerweise nickt er die Männer einfach ab, mit denen ich Zeit verbringe. Es war zuvor nie einer dabei, der ihn selbst ansprach. Ich schätze, bei dir ist das anders und das gefällt ihm offenbar gar nicht.«

»Ich werde mich auf keinen Fall in eure Beziehung drängen«, sagte Noah ernst, denn das war das letzte, was er wollte. Keine Freundschaft war das wert.

»Das kannst du nicht. Dafür sind wir zu lange zusammen«, konterte Tom ruhig. »Du kannst ein Teil von uns werden, aber wenn du keinen privaten Kontakt willst, akzeptiere ich das. Ich hatte im Club allerdings den Eindruck, dass du nicht völlig abgeneigt wärst.«

»Hm«, machte Noah nichtssagend, da er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, ohne sich in die Nesseln zu setzen.

»Das ist zumindest keine Abfuhr«, erklärte Tom und schien erleichtert zu sein. Noah bekam eine Gänsehaut, die er sich nicht erklären konnte. »Also? Wie entscheidest du dich? Gehst du mit mir tanzen?«

»Ich wollte morgen ohnehin in den Club kommen, um dir auf den Zahn zu fühlen, ob du Eric betrügst. Und wenn ja, dir eine reinhauen«, gab Noah mürrisch zu.

»Du wolltest Erics Ehre verteidigen?«

»Niemand verdient es, vom eigenen Partner schamlos betrogen zu werden. Nicht mal Eric.«

»Ich mag dich wirklich sehr«, erklärte Tom mit einem hörbaren Lächeln in seiner Stimme. »Dann sehen wir uns morgen Abend? Wie wäre es so gegen zehn Uhr? Ich bin natürlich ein Gentleman und hole dich ab.«

»Ein Date?«, hakte Noah überrascht nach, denn damit hatte er nun wahrlich nicht gerechnet.

»Ja.«

Noah schluckte schwer. »Na gut«, sagte er spontan zu und gab Tom seine Adresse, ehe er aus dem Fenster sah. Es schneite schon wieder. »Dann, ähm … bis morgen?«

Tom lachte leise. »Ich freue mich darauf. Schlaf gut, Noah.«

»Du auch«, murmelte er und legte schnell auf, bevor Tom noch etwas sagen konnte. »Scheiße«, stöhnte Noah im nächsten Moment, als ihm klar wurde, was er da eben zugestimmt hatte. Ein richtiges Date mit einem verheirateten Mann. Seine Väter würden ihn umbringen, sollten sie jemals davon erfahren.

 

 

4. Kapitel

 

 

 

 

Der Tanzabend war eine dämliche Idee, obwohl ich schon lange nicht mehr so viel Spaß hatte, ich gebe es zu.

Tom ist ein richtig netter Kerl und ich denke, die Arbeit im Club wird mir Spaß machen. Sofern Eric nicht die erstbeste Gelegenheit nutzt und mich umlegt. Mann, der Kerl kann Blicke verteilen, da hat man das Gefühl, von einem Blitz getroffen zu werden. Was mich allerdings trotzdem nicht davon abhielt den ganzen Abend immer wieder mit Tom zu tanzen, was er echt gut kann.

Vielleicht spiele ich ja gerne mit dem Feuer. Ich muss mal Liam fragen, ob ich früher auch so war. Jedenfalls hat Eric uns beide bei jedem Tanz genau beobachtet und je später der Abend wurde, umso finsterer wurden seine Blicke. Aber er hat kein Wort gesagt. Auch nicht, als wir uns auf der Herrentoilette über den Weg liefen. Nichts. Nur diese Blicke, die mir eine Gänsehaut bescherten und mich gleichzeitig herausforderten.

Wenn die zwei eine offene Ehe haben, muss er eben damit leben, dass ich Tom mag, mich gerne und oft mit ihm unterhalte und natürlich mit ihm tanze. Mal sehen, wie es in den nächsten Tagen und Wochen weitergeht. Erst mal werde ich mich jetzt auf meinen neuen Job konzentrieren, denn Eric und Tom haben sich heute für verschiedene meiner Zeichnungen entschieden und ihre Vorstellung, was wie und in welchen Farben an welche Wand soll, stimmt mit meinen Ideen ziemlich überein.

Sie wollen sich jetzt offenbar auch noch komplett neu einrichten. Tom meinte, darüber diskutieren sie derzeit, aber das werde ich schon erfahren, wenn es spruchreif wird. Ab morgen fange ich an, dann sehen wir weiter. Eine Sorge weniger, Gott sei Dank. Mit dem Job im Club kann ich meine Miete locker zahlen und mir sogar noch einiges für die nächsten Monate zur Seite legen.

Und, was mit das Beste ist, ich bekomme tatsächlich die fünfhundert Dollar pro Stunde bezahlt. Dazu habe ich zwei ganze Monate Zeit, plus ein Zeitfenster von weiteren vier Wochen, wenn es wider Erwarten länger dauern sollte.

Was ich mit den zehntausend Dollar machen soll, die Tom mir heute mittels Scheck in die Hand gedrückt hat, weiß ich allerdings noch nicht. Ich brauche dringend ein Bankkonto, darum kümmere ich mich morgen früh.

Ansonsten gibt es nicht viel Neues. Ich habe heute auch Ben und Kenan, die beiden fest angestellten Barkeeper vom Velvet, kennengelernt. Ben ist ein dünner, blonder Kerl, Marke: richtig nett und total normal, während Kenan die Ausmaße eines Schranks und ein sichtbares Faible für Tattoos und Piercings hat, und zudem mit Begeisterung Leder trägt.

Die zwei sind so offensichtlich ineinander verknallt, dass ich mir das Grinsen nicht verkneifen konnte. Tom flüsterte mir in einer ruhigen Minute zu, dass er seit Monaten versucht, sie zu verkuppeln, aber sie würden sich nicht trauen. Schade, finde ich. Die beiden würden ein Paar abgeben, das garantiert Blicke auf sich zieht. Sie sind jedenfalls sehr sympathisch, was für meine Arbeit mit Sicherheit von Vorteil ist.

Irgendwie schreibe ich heute über alles andere, nur nicht über mich selbst, aber ich weiß einfach nicht, was ich schreiben soll. Es ist gut, dass es vorwärts geht, und ich freue mich darauf wieder zu arbeiten und vielleicht in Ben und Kenan weitere Freunde zu finden.

Was Tom und mich angeht … Tja, das wird sich erst noch rausstellen müssen.

Und Eric … schweigen wir lieber drüber.

Ich habe darüber nachgedacht, Nick anzurufen. Nur so. Einfach Hallo sagen. Ich hatte das Handy schon in der Hand. Am Ende habe ich es allerdings doch nicht gemacht. Scheiß Feigheit. Wahrscheinlich würden wir sowieso nur wieder streiten. Das ist mir zu blöd.

Ich könnte ja Tristan anrufen und ihn fragen, wie es Nick geht. Gute Idee. Mit ihm redet es sich leichter. Das mache ich gleich morgen, heute ist es zu spät dafür.

Aber erst mal zur Bank und ein Konto anlegen.

 

»Du bist zu spät.«

Noah verkniff sich den bissigen Kommentar, der ihm auf den Lippen lag, als Eric ihm die Tür öffnete. »Ich war bei der Bank. Dir auch einen Guten Morgen. Und es sind nur drei Minuten. Ich arbeite sie umgehend nach, nicht, dass ich noch ins Minus gerate.«

»Mittlerweile sind es dreieinhalb Minuten.«

»Und es werden gleich vier sein, wenn du noch länger die Tür blockierst«, fauchte Noah unbeherrscht und sah Eric sauer an. »Noch keinen Kaffee gehabt, oder was?«

»Du kleiner ...«

»Eric, wenn Noah für uns arbeiten soll, musst du ihn schon in den Club lassen«, unterbrach Toms Stimme Eric in dessen Beleidigung, die der ihm sonst unter Garantie an den Kopf geworfen hätte.

Noah grinste triumphierend und drängte sich danach einfach an Eric vorbei. Tom stand amüsiert an der Theke und hielt ihm eine Wasserflasche und ein Glas entgegen. Er lachte, als Noah nickte, und schenkte ihm etwas ein, während Noah sich aus seinem Mantel schälte und die Hände aneinander rieb, um sie wieder aufzuwärmen. Es war eiskalt draußen und er hatte vergessen, Handschuhe anzuziehen.

»Wie viel Grad sind es? Minus zehn?«, fragte Tom besorgt und schob ihm das Wasser zu, nachdem sich Noah an die Bar gesetzt hatte. »Guten Morgen erst mal.«

»Guten Morgen. Gefühlt sind es Minus fünfzig, wenn nicht mehr. Ich habe meine Handschuhe vergessen und dann hatte die Bahn Verspätung.«

»Erstaunlich, dass sie bei dem Schneefall überhaupt fährt«, meinte Tom und nahm sich eine Cola. »Ich würde ja normalerweise empfehlen, schaff dir ein Auto an, aber das ist bei diesem Wetter genauso witzlos.«

Noah trank einen Schluck von seinem Wasser und nickte danach. »Macht ihr ein paar Tage dicht?«

»Wahrscheinlich«, antwortete Tom grüblerisch. »Es ist Unsinn bei dem Wetter offenzulassen und zu riskieren, dass unsere Gäste nicht mehr heimkommen. Außerdem wäre es praktisch. So kannst du in Ruhe arbeiten.«

»Der Wetterbericht sieht für den Rest der Woche kein bisschen besser aus«, merkte Noah an, da vorhin in den Morgennachrichten von Dauerschneefall und arktischen Temperaturen die Rede gewesen war.

»Ich weiß«, sagte Tom mit einem Nicken. »Kenan und Ben habe ich letzte Nacht schon Bescheid gesagt, dass sie zu Hause bleiben sollen. Eric holt jetzt dein Zeug ab, das du für die Wände brauchst und dann entscheiden wir, was wir machen.« Tom setzte sich auf einen Barhocker neben ihn. »Ich fahre dich heute Abend nach Hause. Und nein, darüber diskutiere ich genauso wenig wie über die Tatsache, dass wir fürs Erste von Tag zu Tag neu entscheiden werden, ob du arbeitest oder nicht. Falls ja, wirst du von Eric oder mir abgeholt und abends auch wieder nach Hause gefahren.«

»Ich kann die Bahn nehmen«, wehrte Noah ab, weil er nicht wollte, dass Tom seinetwegen Umstände machte. Noch weniger wollte er jedoch mit Eric in einem Auto sitzen.

»Solange sie fährt«, konterte Tom und grinste anschließend. »Was hatte ich übrigens eben über Tatsachen und etwaige Debatten gesagt?«

»Dickschädel.«

»Ich bin der Boss, schon vergessen?«

»Arroganter Dickschädel.«

Tom lachte. »Dann sind wir uns ja einig.«

»Was ist?«, fragte Noah, als Tom die Stirn runzelte.

»Ich überlege, ob ich uns später etwas zum Mittagessen kochen soll.«

»Du kochst?«

»Ja. Sogar gerne. Ich komme nur selten dazu, weil im Club eigentlich immer etwas zu tun ist.«

Noah grinste. »Mag Eric Milchreis?«

»Nein, warum?« Noahs Grinsen wurde breiter und Tom begann zu lachen, als er verstand. »Ihr zwei ... Das wird noch was werden«, murmelte er und zog sein Handy aus der Tasche, um eine Nachricht zu tippen. »Gut, dann gibt es Milchreis auf deinen Wunsch hin.«

»Du legst es ernsthaft darauf an, dass dein Mann mich um die Ecke bringt, kann das sein?«, stichelte Noah und flüchtete lachend vom Barhocker und außer Reichweite, als Tom mit einem Knurren nach ihm griff. »Daneben.«

»Du bist ganz schön frech für so ein junges Küken.«

»Soweit ich weiß, liegt das bei mir in der Familie.«

»Ja?«, fragte Tom, stützte sich auf der Theke ab und sah ihn neugierig an. »Wie ist sie so?«

»Meistens ziemlich nervig«, antwortete Noah belustigt und setzte sich wieder an die Bar. »Und groß. Es müssten so an die dreißig Leute sein. Vielleicht auch mehr, ich bin nicht auf dem Laufenden.«

Als Tom ihn überrascht anblickte, stützte er sich mit beiden Ellbogen auf dem Tresen ab und kramte in seinen spärlichen Erinnerungen, um Tom einen Einblick in die ganzen Familienteile zu geben. Dessen Neugierde und seine offene Verblüffung brachten ihn zum Lächeln, während er Namen, Orte und Daten preisgab, soweit er sie gerade wusste.

»Sogar an der Westküste?«, fragte Tom staunend nach und Noah nickte. »Wow.«

»Was ist mit deiner Familie?«

Tom winkte ab. »Ich bin Einzelkind und meine Eltern sind tot, genau wie Erics.«

Noah hakte nicht nach, weil er spürte, dass Tom nicht darüber reden wollte. Stattdessen drehte er sich auf dem Barhocker herum und betrachtete die einzelnen Wände, die er verschönern sollte. Sobald Eric zurückkam und ihm seine Arbeitsmaterialien brachte, konnte er loslegen. Noah war insgeheim immer noch erstaunt, dass sie ihn den Kauf von Farben und allem, was er brauchte, nicht selbst erledigen ließen. Aber vermutlich wollte Eric auf diese Weise die Kontrolle behalten. Dieser Mann schien nichts aus der Hand geben zu können. Nicht einmal den Kauf harmloser Zeichenutensilien.

»Woran denkst du?«, wollte Tom neben ihm wissen.

»An Farben«, antwortete Noah nicht ganz ehrlich, weil er Eric nicht schon wieder zur Sprache bringen wollte.

»Und sonst?«

Noah schmunzelte. »Deinen Ehemann.«

»Es ist schwer, nicht an ihn zu denken.«

»Er ist ein unhöflicher Arsch.«

»Ja, manchmal ist er das wirklich«, gab Tom seufzend zu und strich ihm mit den Fingern über das kurze Haar in seinem Nacken, was Noah zusammenzucken ließ. »Ihr beide gebt euch da nicht viel, scheint mir.«

Ein versteckter Tadel, den Noah durchaus verstand. »Tut mir leid wegen vorhin. Aber jedes Mal, wenn ich ihn sehe, will ich ihm an die Gurgel springen.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit.« Tom fuhr mit den Fingerspitzen zu seinem rechten Ohr hoch. Noah bekam eine Gänsehaut und drehte den Kopf ein bisschen zur Seite, um den neckenden, warmen Fingern einen besseren Zugang zu ermöglichen, was Tom auch sofort ausnutzte. »Bist du überall so empfindlich?«

»Weiß ich nicht.«

»Ich würde es gerne herausfinden.«

»Noch ein Date mit Tanzabend?«, fragte Noah und sog hart die Luft ein, als auf einmal Zähne wenig vorsichtig an seinem Ohrläppchen knabberten. Es war eine Mischung aus Erregung und Schmerz, was sich zwar gut anfühlte, ihm im Augenblick aber zu weit ging. »Hör auf.« Tom ließ von ihm ab und Noah atmete erleichtert ein. »Wie war das mit einem zweiten Tanzabend?«, fragte er, um zu zeigen, dass er nicht gänzlich abgeneigt war.

»Ich hatte eher an ein Date mit Bett gedacht.«

Das war direkt und damit offensichtlich typisch Tom, denn so wie Noah ihn kennengelernt hatte, hielt er nicht viel davon, um den heißen Brei herumzureden. Womit er ihm entgegenkam, soviel stand fest, es half ihm nur nicht bei seiner Entscheidung. Noah schaute weiter die Wand an.

»Erst gehen wir etwas essen, danach kommt das Bett. Aber nur vielleicht.«

»Okay«, stimmte Tom ihm zu und Noah stöhnte auf, als er im nächsten Moment eine feuchte Zunge auf seiner Haut hinter dem Ohr spürte. »Du musst ohnehin mehr essen. Das Bett ist nicht so wichtig.«

Mehr Versprechen, dass es Tom nicht nur um den Sex ging, brauchte Noah nicht. »Du könntest ja kochen. Das erspart uns den Umweg in ein Restaurant, bei dem wir wahrscheinlich im Schnee steckenbleiben würden.«

»Gute Idee«, murmelte Tom dicht an seinem Hals. »Morgen Abend bei dir? Wir kaufen nach der Arbeit ein, ich koche und du räumst dafür die Küche auf.«

Noah lachte. »Einverstanden. Wann?«

»Sieben Uhr, sonst wird es mir zu spät. Ich kann wegen des Clubs nicht über Nacht bleiben.«

»Ich lasse um Punkt sechs die Spraydosen und Pinsel fallen, und mache Feierabend.«

»Einverstanden«, nuschelte Tom hörbar amüsiert.

Noah verzog gequält das Gesicht. »Tom? Könntest du bitte damit aufhören, so hingebungsvoll an meinem Hals zu saugen und mich stattdessen küssen?«

»Ich dachte schon du fragst nie«, antwortete Tom mit einem Stöhnen und Noah keuchte überrascht auf, als ein Paar heißer Lippen auf seine eigenen gepresst wurde.

Ehe er sich Gedanken darüber machen konnte, dass er sich nicht mehr daran erinnerte, wie man küsste, vom Sex ganz zu schweigen, flog die Eingangstür auf und Tom löste sich abrupt von ihm. Beide sahen zur Tür, durch die Eric ins Innere trat, sie einen Moment musterte und im Anschluss mit finsterem Blick nach draußen deutete.

»Ich trage deinen Scheiß nicht allein rein. Fass gefälligst mit an, Kendall. Knutschen könnt ihr auch nach der Arbeit.«

Die Tür fiel hinter Eric zu, nachdem er kehrtgemacht hatte, und Noah schnaubte. »Wie hältst du das bloß mit ihm aus?«

Tom zwinkerte ihm lächelnd zu, als Noah ihn fragend anschaute. »Ich liebe ihn. Und jetzt helfen wir ihm beim Tragen, damit du anfangen kannst.«

 

Aus ihrem Essen wurde dank eines Wasserrohrbruchs in der Damentoilette vom Club leider nichts. Noahs erste Enttäuschung legte sich allerdings rasch, denn es würde andere Gelegenheiten geben. Nachdem Tom ihn früh am Morgen angerufen und Bescheid gesagt hatte, dass er zu Hause bleiben sollte, schob er sich mittags eine Pizza in den Backofen und setzte sich vor den Fernseher. Er fand einen alten Film und ließ ihn laufen, während er aß und nebenbei überlegte, ob er die überraschend freie Zeit nicht nutzen und ein bisschen mit Tristan telefonieren sollte. Vorgehabt hatte er es ja ohnehin.

Noah wischte sich die fettigen Finger an der Hose ab und kramte nach dem Handy. Die Nummer war rasch gewählt und er lauschte dem Freizeichen, mit Blick auf den Fernseher.

»Hey, Noah.«

Noah verschluckte sich prompt an seinem Stück Pizza und fing heftig an zu husten.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Nick am anderen Ende besorgt und Noah keuchte eine Zustimmung hervor, um seinen Vater zu beruhigen.

»Nur verschluckt … sorry ...«, erklärte er, hustete noch ein paar Mal und wischte sich danach die Tränen aus den Augen. »Blöde Pizza.«

Nick lachte leise. »Hat sie wenigstens geschmeckt?«

»Bis jetzt schon. Der Rest landet im Müll. Versuchte Mordanschläge auf mich lasse ich auch dem Essen nicht durchgehen«, witzelte er und verzog gleich darauf das Gesicht, als ihm einfiel, dass er mit Nick solche Scherze lieber sein ließ. »Wie geht’s euch denn? Warum bist du um diese Zeit überhaupt zu Hause? Ist Tristan auch da? «

»Ich habe mir freigenommen. Dein Vater steht unter der Dusche. Wir waren einkaufen und er hat beim Reintragen der Tüten irgendwie ein wenig Schnee in den Kragen bekommen.«

»Irgendwie?«, hakte Noah nach.

»Ich verweigere die Aussage«, antwortete Nick und Noah lachte. Dass seine Väter sich gern mal wie frisch verliebte Teenager aufführten, hatte Liam ihm erzählt und eine Schneeballschlacht vor dem Haus passte dazu wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. »Er hat gewonnen, sollte ich der Fairness halber erwähnen. Willst du auf ihn warten?«

Noah ließ sich mit einem Seufzen gegen die weichen Polster der Couch sinken. »Ist es so offensichtlich?«

»Na ja, du und ich … das ist nicht leicht. Wir streiten immer, das weißt du doch.«

»Ich will das gar nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Und jetzt?«, fragte er hilflos und daraufhin war es Nick, der seufzte.

»Wenn ich das bloß wüsste.«

»Ich könnte dir von meinem neuen Job erzählen«, bot Noah an, da er nicht wollte, dass sich zwischen ihnen ein Schweigen breitmachte.

»Du hast ihn? Super.« Sein Vater freute sich hörbar. »Adrian erzählte, die Chancen stünden gut, aber du wärst dir noch nicht ganz sicher gewesen.«

»Ja, ich habe die Zusage bekommen. Gestern hat Eric, einer der zwei Besitzer vom Club, die Farbe besorgt und die Bilder für die Wände stehen jetzt ebenfalls fest. Ach ja, und sein Ehemann Tom hat auf meinen Wunsch hin Milchreis gekocht, obwohl Eric das Zeug hasst.«

»Erzähl das lieber nicht Tristan, sonst wird er eifersüchtig, dass dich jemand anderes bekocht.«

Noah gluckste und nahm sich ein neues Stück Pizza. »Ich glaube, der Job hier wird mir gefallen. Heute habe ich frei. Allerdings unfreiwillig. Im Club ist ein Wasserrohr geplatzt.«

»Ich hoffe, sie kriegen das schnell repariert. Scheinbar will der Winter bei euch neue Rekorde aufstellen«, sagte Nick und räusperte sich. »Gefällt dir die Wohnung?«

Noah grinste. Dieser Themenwechsel war für einen erfahrenen Anwalt nicht gerade subtil. »Ich habe Adrian dafür schon die Leviten gelesen. Aber ja, sie ist toll. Und Niko ist ebenfalls in Ordnung, obwohl ich ihn in den vergangenen Tagen fast gar nicht gesehen habe.«

»Er arbeitet ständig.«

»Sagt Adrian auch.«

»Tristan kommt. Ich reiche dich weiter. Noah? Ich … rufst du mich ab und zu mal an? Nur so. Oder schick mir eine Nachricht, E-Mail … was auch immer.«

»Ich könnte dir Fotos vom Club schicken, wenn ich die ersten Wände fertig habe«, schlug Noah eilig vor, weil ihm auf die Schnelle nichts Besseres einfiel.

»Gerne. Ich würde mich freuen. Bis bald, mein Sohn.«

»Bye.«

 

 

5. Kapitel

 

 

 

 

Es taut endlich. Gott sei Dank.

Wir haben Ende März und ich kann den verfluchten Schnee nicht mehr sehen. Das Wetter hat Tom und Eric im Club ganz schön zugesetzt. Sie mussten am Ende zwei Wochen dichtmachen, weil die Reparaturen an der Wasserleitung sich durch die Kälte hinzogen. Die ganze Stadt hat unter dem harten Winter gestöhnt und ich schätze, ich bin einer von mehreren Millionen New Yorkern, die sich freuen, dass der Frühling in Sicht ist.

Ein Gutes hatte der eisige Winter allerdings, denn so konnte ich in aller Ruhe meinen Job machen. Ich habe drei Bilder komplett fertig, weitere drei stehen noch auf dem Plan, und wenn die beendet sind, müsste es warm genug sein, dass ich mich draußen um die Außenfassade kümmern kann.

Derzeit bin ich mit meinem geheimen Lieblingsmotiv beschäftigt, dem tanzenden Männerpaar. Eric und Tom haben sich zwar gegen den dritten Mann entschieden, der im Hintergrund sein sollte, aber ich denke, es wird auch so Blicke anziehen.

Ich habe mich gut eingelebt. In meiner Straße gibt es einen tollen Chinesen, einen Park, in den ich gern gehe, wenn ich allein sein will, und ein paar Clubs habe ich in den letzten Wochen auch ausgemacht. Eigentlich hätte mir das Velvet gereicht, aber durch die Schließung und die Reparaturen war Tom beschäftigt und wir hatten kaum Zeit füreinander. Verständlich, schließlich gehört der Club Eric und ihm.

Apropos Eric, der sieht mich immer noch bei jeder Gelegenheit böse an oder ignoriert mich komplett, aber langsam fange ich an zu glauben, dass der Großteil von seinem Verhalten nur Schauspielerei ist. Er ist darin verdammt gut, gar keine Frage, aber irgendwas ist da an ihm – ich kann es nicht greifen. Noch nicht.

Eric hat angefangen mich zu interessieren. Wie und wann das geschehen ist, weiß ich nicht, doch ich möchte ihn näher kennenlernen. Ihn. Den Menschen. Und nicht diese kalte Fassade, die er Tag für Tag aufrechterhält. Ich kann einfach nicht glauben, dass er wirklich so ist, wie er sich gibt. Tom ist viel zu freundlich. Mit einem so gefühllosen Ehemann, wie Eric ihn gibt, wäre er längst kaputtgegangen.

Was immer Eric Burrows an sich hat, ich werde es herausfinden, das habe ich mir fest vorgenommen. Und um das zu erreichen, werde ich, Tom betreffend, einen Zahn zulegen müssen. Ich will ihn. Einerseits macht mir die Vorstellung Angst. Andererseits, wer wäre besser dafür geeignet, wieder sexuell aktiv zu werden, als ein Partner wie er, der genau hinschaut und sich darum kümmert, dass es mir gut geht.

Das tut er schließlich schon, seit ich für Eric und ihn arbeite. Im letzten Monat hat er mehrfach nach meinen Wünschen gefragt und danach für mich gekocht. Und ich gestehe, sein Milchreis ist genauso lecker, wie der von Tristan. Eric hat jedes Mal die Augen verdreht, wenn er mitbekam, wie Tom mir eine Schüssel brachte, hielt sich aber mit Kommentaren zurück. Vermutlich Tom zuliebe oder weil der ihn darum gebeten hat.

Was auch immer der Grund dafür ist, solange Eric oder Tom mir nicht klipp und klar zu verstehen geben, dass ich meine Finger bei mir behalten soll, ist die Jagd eröffnet.

 

»Tom? Dir ist klar, dass ich kein Steak bin?«

Noah sah sich die geschwungene Linie an, die er eben gesprayt und gleich nachgezeichnet hatte und grinste, als es hinter ihm polterte. Soviel zum Thema Jagd. Er hatte zwar keine Erfahrung, aber Noah besaß Fantasie und das nicht zu knapp. Es würde seinem Plan, über Tom mit der Zeit auch an Eric heranzukommen, mit Sicherheit zugute kommen. Was er vorhatte war verrückt und vermutlich entsprach es kaum dem Standard, der für Beziehungen galt. Doch Noah scherte sich keinen Deut darum, was für andere Menschen normal war. Er hatte eine Kugel im Kopf überlebt. Was kümmerten ihn irgendwelche Prinzipien in Bezug auf Normalität?

»Was? Äh, sicher weiß ich das. Wieso?«

»Dann hör auf mich anzusehen, als wolltest du mich aufessen«, sagte Noah und grinste in sich hinein, als Tom hinter ihm hörbar einatmete.

»Woher …?«

»Du guckst mich schon seit Wochen so an. Außerdem habe ich Augen im Hinterkopf.«

»Quatsch. Dazu ist dein Haar viel zu voll.«

»Und mein Hintern zu knackig?«

»Das hast du jetzt gesagt.«

»Also ist er nicht knackig?«

»Das habe ich nicht behauptet.«

Noah stellte die Spraydose auf den Tisch und trat ein paar Schritte zurück, um das Bild im Ganzen genauer zu betrachten. Das Pärchen war ihm richtig gut gelungen, nur der helle Hintergrund störte Noah. Auf den Vorlagen hatte es gut ausgesehen, aber hier, in groß und direkt vor Augen, passte es nicht. Er musste an das anfängliche Bild denken. Sein Original.

»Tom?«, fragte er leise.

»Also gut, mach es«, antwortete Tom mit rauer Stimme und machte damit klar, dass er genau wusste, was Noah hatte wissen wollen.

Noah nickte stumm, griff nach dem schwarzen Spray und einem dickeren Pinsel und zeichnete an der linken, oberen Seite des tanzenden Paares die grobe Form eines dritten Mannes dazu, der die beiden Liebenden aus dem Dunkel heraus beobachtete. Genau so, wie er es ursprünglich in seinem Block skizziert hatte.

»Das ist verdammt gewagt«, murmelte Tom und Noah wartete ab, denn er ahnte, dass da noch mehr kam. »Ich hätte nicht erwartet, dass es so gut aussehen würde. Dein dritter Mann.« Tom schwieg eine Weile, um sich schlussendlich zu räuspern. »Noah? Wer ist er?«

»Eine Fantasie.«

»Deine?«

»Nein.« Noah stellte die Dose ab, legte den Pinsel ins Wasser und drehte sich zu Tom um. »Es ist unsere.«

Tom schob die Papiere zur Seite, an denen er bis eben gearbeitet hatte. »Woher willst du das wissen?«

»Du bist mit Eric verheiratet und trotzdem scharf auf mich. Und ich frage mich jeden Tag erneut, wie lange ich noch meine Finger von dir lassen kann. Es stellt sich nur eine weitere Frage ... Umarmst du mich in der Fantasie oder bin ich der Mann im Dunkeln?«

Noah hatte keine Ahnung, wohin dieses Gespräch sie beide führen würde, aber er hatte das Spiel angefangen und nicht vor einen Rückzieher zu machen. Dazu waren Toms Blicke zu sehnsüchtig und sein eigenes Verlangen mittlerweile zu groß. Er wollte diesen Mann. Ganz gleich, was es ihn, Eric betreffend, kostete. Und das Schlimmste daran war, er wollte es genau deshalb unbedingt tun. Um Eric zu ärgern. Ihn herauszufordern. Ihm eine Reaktion zu entlocken, die Noah hoffentlich einen genaueren Blick hinter dessen kühle Fassade erlaubte.

»Komm her, Thomas!«, befahl Noah und bekam eine Gänsehaut, als der umgehend tat, was er wollte. War es Triumph, den er neben seiner Gänsehaut fühlte? Sicher war sich Noah nicht, aber er mochte eindeutig, dass Tom auf ihn hörte.

Er musste aufsehen, als Tom vor ihm stehenblieb und ihn fragend ansah. Noah gefiel, dass Tom größer und älter war als er. Elf Jahre, wusste Noah mittlerweile und es kümmerte ihn nicht. Ob älter oder jünger, er konnte sich ohnehin nicht erinnern, was ihm in seinem früheren Leben gefallen hatte. Scheinbar hatte er mit Männern kein Problem gehabt, sonst würde er kaum darüber nachdenken, mit einem ins Bett zu gehen.

»Ich will, dass du mich küsst. Keine Störungen mehr. Keine Blicke in meinem Rücken. Kein harmloses Flirten. Schluss mit dem Vorspiel. Ich will mehr und ich will es von dir.«

Toms Blick blieb unverändert. Fragend. Abwartend.

»Allerdings würde ich das gerne überleben.«

Jetzt grinste Tom und schob eine Hand in die Tasche seiner Hose und zog sein Handy hervor. Er suchte eine Nummer aus dem Speicher und rief sie an. Hielt sich das Handy ans Ohr und starrte ihn dabei die ganze Zeit an.

»Ich bin´s. Wo bist du gerade? … Gut, dann sieh weiter zu.«

Tom legte auf, steckte das Handy wieder ein und warf ihm einen herausfordernden Blick zu, der Noah wissend lächeln ließ. Eric war also oben im Büro und beobachtete sie durch die gespiegelten Scheiben. Man konnte durch die riesige Fensterfront den gesamten Clubraum im Auge behalten. Deswegen hatten die beiden dort oben ein Büro, während sie im hinteren Teil vom Haus ein Loft besaßen. Wohnen und arbeiten im selben Haus, das hatte was.

Noah schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf Tom, der den ersten Schritt offenbar ihm überließ. Vorher wollte er aber noch etwas wissen und es gab nur eine Person, die ihm das verraten konnte.

»Wenn Eric der Mann im Schatten ist und wir zwei im Licht stehen … Wird er sich uns irgendwann anschließen? Oder bleiben wir allein?«

Toms Blick verdüsterte sich für einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Das ist seine Entscheidung.«

»Er sieht also gerne zu?«, wiederholte Noah das, was er von Tom bereits wusste, und der nickte. »Für dich oder weil er es selbst will?«

»Noah ...«

»Antworte!«

»Beides. Mehr ersteres.«

Genau die Antwort hatte Noah insgeheim erwartet und ein bisschen auch befürchtet. Irgendetwas stimmte nicht mit Eric, das war ihm seit ihrer Begegnung auf dem Flughafen klar, und jetzt hatte er eine Bestätigung dafür. Noah ließ das Thema fallen – vorerst.

»Ich habe keine Ahnung, wie man küsst.«

Tom fing an zu lächeln. »Das ist wie Fahrradfahren … Einmal getan, vergisst man es nie wieder.«

»Na dann ...«, murmelte Noah und packte Tom an der Krawatte, um ihn enger an sich zu ziehen. Rau und weich zugleich, war sein erster Gedanke, als ihre Lippen dann endlich aufeinandertrafen. Wahnsinnig heiß, der zweite.

Und plötzlich verselbstständigte sich das Ganze. Auf einmal saß er auf dem Tisch, neben welchem sie bis eben gestanden hatten, und hörte seine Spraydosen über den Boden rollen, während er die Beine um Toms Hüfte legte und ihn mit seinen Unterschenkeln an sich drängte. Tom zerrte an dem Gürtel seiner Jeans und fluchte an seinem Mund, als Noah mit Toms Hemd kurzen Prozess machte, da er keine Lust hatte, sich mit den einzelnen Knöpfen herumzuärgern.

Warme Haut, feste Muskeln, ein leichter Flaum Haare auf der Brust. Noah löste sich von Toms Lippen, weil er diese Haare unbedingt an seinem Mund fühlen wollte. Er grinste, denn Tom stöhnte, als er die Lippen auf dessen harte Brust presste und ihn nebenbei weiter auszog.

Doch bereits wenig später war es an Noah zu stöhnen. Tom stand seinem eigenen Begehren und seiner Lust in nichts nach, und er hatte den Kampf gegen seinen Gürtel gewonnen. Noah drängte sich den neugierigen, tastenden Fingern entgegen, die sich in seine Jeans schoben, unter den Bund seines Slips glitten und seine Erektion fest umfassten. Er war so hart und begierig nach mehr. Noah keuchte und biss Tom ungewollt in die Brust, als dessen Finger über seine feuchte Spitze glitten und dann einen schnellen Rhythmus aufnahmen. Das würde er nicht lange durchhalten. Er hatte schon eine Ewigkeit keinen Sex mehr gehabt. Nicht mal Selbstbefriedigung. Nichts. Die letzten beiden Jahre seines Lebens waren zu verrückt gewesen. Noah hatte auf Sex einfach keine Lust gehabt.

Was für eine Verschwendung, dachte er und legte den Kopf in den Nacken, weil er Tom nicht noch mal beißen wollte. Stattdessen biss Noah sich selbst auf die Lippen, um ein erneutes Stöhnen zu unterdrücken. Seine Augen schlossen sich genießerisch und Noah überließ seinem Körper die Kontrolle. Etwas anderes wäre sowieso nicht möglich gewesen. Auf einmal war Toms Hand weg und noch ehe Noah wusste, wie ihm geschah, hatte sich Tom von ihm gelöst und ihn auf den Tisch gedrängt.

»Noah, ich ...«

»Oh Gott, hör nicht auf. Egal, was du vorhast, hör ja nicht damit auf.«

Tom lachte leise und Noah runzelte die Stirn, um im nächsten Moment erschrocken seine Augen aufzureißen und haltlos zu stöhnen, als sein Blick auf Tom fiel. Heiße Lippen lagen um seinen pochenden Schwanz und Noah wusste nicht, ob er in Toms Mund stoßen sollte, der ihn von unten herauf begehrlich ansah, oder zurückweichen, weil es ihm zu viel war.

»Tom ...«, flüsterte er hilflos und der verstand seine unausgesprochene Bitte, ihm die Entscheidung über das, was jetzt als nächstes kam, abzunehmen.

Noah krallte seine Hände um den Tischrand, als Tom begann sich zu bewegen. Auf und ab. Feucht und warm. Mehr. Er wollte mehr. Immer mehr … Und dann war da diese leckende und vorwitzige Zunge. Noah stöhnte auf, seine Arme fingen vor Anstrengung, sich weiter aufrecht auf dem Tisch zu halten, an zu zittern. Aber er konnte nicht wegsehen. Er wollte nicht wegsehen. Der Anblick, wie Tom ihn immer wieder aus seinem Mund entließ und ihn danach jedes Mal noch tiefer aufnahm ... Noah fand keine Worte dafür. Er wusste nur, dass er sterben würde, wenn Tom jetzt aufhörte.

Tom hörte nicht auf. Im Gegenteil. Er wurde schneller und saugte heftiger. Tiefer. Noah spürte einen leichten Schmerz, als Tom die Hände in seine Seiten krallte, um ihn ruhig zu halten, bevor er das Tempo erneut anzog.

»Tom … ich ...«

Noah kam, noch ehe er seine Warnung aussprechen konnte. Zuckend, in mehreren Schüben, entlud er sich in Toms Mund, der schluckte. Alles nahm, was sein Körper ihm gab, und ihn anschließend sauberleckte. Der Anblick war so erotisch, dass Noah sich mit dem Rücken auf den Tisch zurücksinken ließ, wo er heftig nach Luft rang und sich gleichzeitig fragte, ob er geträumt hatte. Bis er Toms Mund spürte, der Küsse auf seinen Bauch hauchte, und danach zärtliche Hände, die ihn anzogen. Gefolgt von einem wunderschönen Gesicht mit tiefblauen Augen, das sich mit geröteten Wangen über ihn beugte.

Nein, definitiv kein Traum. »Wow«, murmelte er und strich durch Toms lockiges, braunes Haar.

Der schmunzelte. »Ist das deine Umschreibung dafür, dass es dir gefallen hat?«

»Ja«, antwortete Noah und grinste. »Und du? … Wenn du nicht zufällig einen Knüppel in der Hose hast ...«

Weiter kam Noah nicht, da Tom ihm einen Finger auf die Lippen legte und den Kopf schüttelte. »Das war allein für dich. Ich kann warten.«

Noah gab mit einem verlegenen Lächeln nach, weil er nicht diskutieren wollte und sich außerdem nicht sicher war, ob er Tom schon dasselbe zurückgeben konnte. Es war nicht so, dass er es nicht wollte, aber etwas zu wollen und dann wirklich zu tun, das waren zwei verschiedene Paar Schuhe. Noah war unsicher und Tom schien es ihm anzusehen, denn er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Hör auf, deswegen zu grübeln. Wenn es passt, passt es. Wir haben Zeit«, sagte er leise und küsste ihn sanft. »Uns läuft nichts weg.«

Noah nickte, nachdem Tom sich von ihm gelöst hatte. Dabei fiel ihm etwas ein. »Wir haben nicht … Mist.«

»Ist schon gut.« Tom schien zu wissen, was er meinte. »Ich mag es lieber pur. Und ich bin nicht krank.« Tom stupste ihm neckend gegen die Nasenspitze. »Eric und ich lassen uns regelmäßig testen. Ich kann dir meinen aktuellen Test zeigen, bevor wir das nächste Mal auf einem Tisch übereinander herfallen.«

Noah schnaubte und grinste gleichzeitig. »Blödmann. Ich könnte sonst was für Viren haben. Du kannst doch nicht so leichtsinnig sein.«

»Hast du denn irgendwelche Krankheiten, von denen ich wissen sollte?«

»Nein, aber ...«

»Na also«, unterbrach Tom ihn zufrieden und richtete sich auf, zog ihn dabei mit in eine sitzende Position. »Wie wär's mit einem frühen Mittagessen?« Tom grinste. »Und ich meine damit richtiges Essen, kein Eiweiß.«

Noah prustete los.

 

»Hattest du Spaß?«

Noah zuckte erschrocken zusammen und sah auf, durch den Spiegel über dem Waschbecken direkt in Erics Gesicht, der an der offenen Tür zur Herrentoilette stand und ihn finster ansah. Noah trocknete sich die Hände ab, bevor er sich zu Eric umdrehte und ihn musterte.

»Ja, den hatte ich. Was du weißt, immerhin hast du zugesehen.« Er hatte nicht vor, sich von Eric aus der Ruhe bringen zu lassen, geschweige denn, dass er zuließ, wieder in die Ecke gedrängt zu werden, wie auf dem Flughafen. »Was willst du?«

Eric schwieg, schaute ihn nur an, und irgendwie schien es Noah, als würde der selbst nicht wissen, weshalb er hier war. Worüber er sich scheinbar gewaltig ärgerte. Dieser Mann war ein Buch mit sieben Siegeln, aber Tom liebte ihn. Noah sah es an jedem Blick, an jeder Geste – obwohl er nicht verstand, wie Tom es fertigbrachte, jemanden zu lieben, der dermaßen kalt und abweisend war. Aber was wusste er schon über Eric Burrows? Nichts. Und es war an der Zeit, das zu ändern.

Noah stieß sich vom Waschbecken ab und ging ohne zu zögern zur Tür, die Eric jedoch nicht freigab, sodass er vor ihm stoppen musste. Eric war noch etwas größer als Tom. Knappe zwei Meter, schätzte Noah, während er zu ihm aufsah und die blaugrünen Augen musterte, die ihn in einer Mischung aus blanker Wut und etwas anderem anstarrten, das er nicht definieren konnte.

»Ich habe keine Ahnung, was in deinem Kopf vorgeht, Eric, aber früher oder später werde ich es rausfinden«, sagte Noah ruhig und trat einen weiteren Schritt auf Eric zu. »Ich will Tom und ich habe genossen, was er mit mir angestellt hat. Und ich werde es wieder genießen. Er will mich nämlich genauso. Ich werde nur aufhören, wenn Tom oder du das von mir verlangt. Und anstatt Gift und Galle zu spucken, könntest du dich uns einfach anschließen.«

Eric ließ sich nicht anmerken was er davon hielt von ihm soeben in eine Affäre zu dritt eingeladen worden zu sein. Sein Gesicht war eine eisige, gefühllose Maske, als er sich vorbeugte, bis sich ihre Nasen fast berührten. »Du bist nicht hart genug, um mit mir klarzukommen.«

Am Flughafen war Noah zurückgewichen, aber heute würde er das nicht tun. Damit war endgültig Schluss. Er hatte genug von Erics Drohgebärden, darum erwiderte er dessen Blick stoisch. »Ich bin mit einer Kugel in meinem Kopf klargekommen, Burrows. Wenn du glaubst, dass du härter bist als sie es damals war, nur zu. Aber denk ja nicht, dass ich es dir leicht mache, was Tom angeht.«

»Was soll das heißen?«

»Das weißt du ganz genau«, antwortete Noah schlicht und bog den Kopf ein Stück nach hinten. Nicht mal eine Handbreit trennte ihre Münder jetzt voneinander.

»Du willst gegen mich antreten? Eine Konkurrenz für meine Ehe mit Tom sein?«

»Nein«, wehrte Noah ab, denn wenn er das versuchte, verlor er Tom. »Niemand kann eine Konkurrenz für dich sein, Eric. Aber ich kann ihm geben, was er braucht, und zu was du offenbar nicht in der Lage bist, sonst würde er es sich nicht von anderen Männern holen.«

»Treib es nicht zu weit, Kendall!«

»Ich will ihn, also nehme ich ihn mir, solange er damit einverstanden ist. Du wirst mich nicht von seiner Seite vertreiben. Du nicht.«

Eric sagte kein Wort, aber es arbeitete in ihm, das sah Noah ihm deutlich an. Deswegen wartete er ab. Es war alles gesagt, zumindest von seiner Seite aus. Und wohl erst mal auch von Erics, da der im nächsten Moment von der Tür zurücktrat und schweigend den Weg zurück in den Club freigab, wo Tom auf ihn wartete, um mit ihm essen zu gehen.

 

»Muss ich mich für Eric entschuldigen?«

Noah schüttelte schmunzelnd den Kopf und schwieg, bis der Kellner die georderten Wasser abgestellt hatte und wieder gegangen war.

»Nein. Ich denke, ich habe deutlich gemacht, dass ich nicht vorhabe, meine Finger von dir zu lassen.«

»Ach so? Wie hat er reagiert?«, fragte Tom interessiert und trank einen Schluck.

Noah grinste. »Was denkst du denn?«

»Dass er dir gedroht hat.«

»Hat er«, bestätigte er Toms Verdacht und winkte sofort ab, als der ihn besorgt ansah. »Allerdings erst, nachdem ich ihn zu uns ins Bett eingeladen habe.« Tom verschluckte sich prompt und fing an zu husten. Noah wartete ab, bis er sich wieder beruhigt hatte. »Eric meinte dazu, ich wäre nicht hart genug, um es mit ihm aufzunehmen. Als ich seinen Sturkopf danach mit der Kugel in meinem Kopf verglich, was meine Härte angeht, gingen ihm auf einmal die Worte aus.« Noah grinste, weil Tom ihn mittlerweile mit offenem Mund anstarrte. »Wie gesagt, wir haben uns nett unterhalten.«

»Nett? Reden wir vom selben Eric?«, fragte Tom und klang so verwundert, dass Noah lachen musste. »Du bist der Erste, der sich das gewagt hat.«

Noah warf Tom einen forschenden Blick zu, doch weil der Kellner gerade das Essen brachte, wartete er mit der Antwort ab, bis sie wieder unter sich waren. »Gab es in den vergangenen Jahren nicht einen Mann, bei dem du dir gewünscht hast, dass er Eric die Stirn bietet?«

»Nein«, murmelte Tom und sah ihn direkt an. »Aber ich wünsche es mir von dir.«

»Du wirst mich nicht los«, erklärte er fest und hielt Blickkontakt zu Tom. »Ich will dich, so wie du mich. Und ich ziehe mich nur von dir zurück, wenn du das von mir verlangst. Und genau das habe ich Eric gesagt.«

»Das wird ihm kaum gefallen haben.«

»Damit wird dein Mann leben müssen. Für mich zählt vor allem deine Meinung. Nicht seine. Noch nicht.«

»Noch nicht?«

Noah schüttelte den Kopf. »Nicht solange er sich wie ein Arschloch aufführt. Jetzt lass uns essen, ehe es kalt wird. Und heute Abend will ich mit dir tanzen. Ein neues Date.«

Tom verstand die unausgesprochenen Worte, denn er atmete tief durch. »Du willst im Club tanzen. So wie beim letzten Mal. Direkt vor Erics Augen, oder?«

»Ja«, antwortete Noah und ignorierte die Gänsehaut, die im Anschluss über seinen Körper rieselte. »Und bevor du fragst, ich möchte so weit gehen, wie es für uns beide richtig ist. Allerdings wird er uns nicht zusehen, falls wir beschließen, diesen Abend in einem Bett zu beenden.«

Tom schluckte sichtlich. »Du spielst mit dem Feuer.«

»Ich weiß.« Noah griff nach seiner Gabel. »Und das ist es, was ich will. Für uns drei, sofern er Manns genug ist, die Flamme lodern zu lassen.«

»Was ist, wenn ich das nicht will?«

»Dann wird es kein Spiel mit dem Feuer geben«, konterte Noah und spießte eine Nudel auf. »Ich mag dich … sogar sehr. Aber wenn du nein sagst, werde ich mich daran halten.«

Tom ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Während Noah anfing zu essen, ließ Tom die eigene Gabel zwischen den Fingern wandern und seinen Blick überlegend durch das kleine, italienische Restaurant schweifen, in das er Noah eingeladen hatte. Schlussendlich nickte er und begann zu essen. Noah wartete zwei Gabeln ab, ehe er eine Hand auf Toms Oberschenkel legte, der leicht zitterte.

»Ich weiß nicht, ob es das Richtige ist, Tom. Ich will Eric nicht verletzen, darum geht es mir nicht, auch wenn er ständig meine Nerven strapaziert.« Noah schmunzelte, als Tom kurz grinste. »Du bedeutest mir zu viel, als dass ich nicht versuchen möchte aus uns ein Trio zu machen. Ich will ihn kennenlernen. Ihn. Nicht diese Show, die er ständig vor mir abzieht. Ich weiß, dass er das nicht ist. Das da mehr ist. Eric gehört zu dir und wird das immer tun. Es gibt dich eben nur im Paket, Tom, und ich wäre nicht der richtige Mann an deiner und vielleicht auch an seiner Seite, wenn ich das nicht akzeptieren würde.«

Tom holte stockend Luft und lächelte anschließend. »Gut. Lass uns spielen.«

 

 

6. Kapitel

 

 

 

 

In einer Stunde kommt Tom und holt mich ab.

Unser zweites Date und ich bin so nervös, wie niemals zuvor. Jedenfalls, soweit ich mich erinnere.

Ich wünschte, ich könnte mit irgendjemandem reden und mir ein Okay holen, dass das, was ich vorhabe, kein totaler Irrsinn ist. Aber das kann ich nicht. Meine Väter dürfen davon nichts erfahren und Liam will ich es nicht erzählen. Noch nicht. Dasselbe gilt für Niko, Grace, Adrian oder Daniel. Ich kann niemanden anrufen, auf gar keinen Fall. Nicht, solange ich nicht weiß, wohin mich der Abend führt. Wahrscheinlich ins große Durcheinander, aber ich werde keinen Rückzieher mehr machen. Ich will es auch nicht.

Also sollte ich wohl langsam das Tagebuch zur Seite legen, duschen gehen und mir etwas zum Anziehen aus dem Schrank nehmen, oder?

Ich kann mich nur nicht dazu aufraffen. Was, wenn es ein Fehler ist? Was, wenn wir damit alles zerstören? Eric völlig von uns wegtreiben? Vielleicht zerstreitet er sich mit Tom?

Damit wäre das Chaos perfekt.

Himmel, noch eins, ich muss aufhören, mich irre zu machen.

Es steht doch gar nicht fest, ob und was heute Abend passieren wird. Vielleicht passt es für uns beide nicht und wir blasen alles ab. Niemand verlangt etwas von uns. Wir können genauso gut einen schönen Abend miteinander verbringen, tanzen, etwas trinken und uns gut unterhalten. Das haben wir schließlich schon mal gemacht und es auch überlebt.

Schluss mit den Zweifeln. Was kommt, das kommt.

 

Seit Adrian für ihn eingekauft hatte, besaß er zu viele Klamotten. Noah zog sich seufzend das blaue Hemd über den Kopf und ließ es einfach neben sich zu Boden fallen. Dort lagen schon drei Hemden, zwei Shirts und ein paar Pullover. Er hatte sich für eine edlere schwarze Stoffhose entschieden, weil er in der, laut Niko, einen heißen Arsch hatte. Noah fand zwar, dass er momentan in nichts einen sexy Hintern hatte, aber zumindest saßen seine Sachen nicht mehr ganz so locker, wie bei seinem Einzug. Toms Kochkunst trug eindeutig Früchte.

Noah zog ein rotes Hemd aus dem Schrank, starrte es an, schnaubte und hing es zurück. Das war bescheuert. Er benahm sich wie ein verliebter Teenager, dabei war er fast Dreißig. Es konnte doch nicht so schwer sein, sich in ein paar Kleider zu werfen und auszugehen. Wütend auf sich selbst, griff er wahllos in den Schrank und hatte im nächsten Augenblick einen weißen Pullover in der Hand.

Stutzend nahm er ihn näher in Augenschein, denn er konnte sich nicht daran erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben. Vor allem, da der Pullover durch seine Farbe nicht zu den übrigen Sachen passte, die Adrian für ihn ausgesucht hatte. Laut seinen Vätern hatte er früher dunkle Farbtöne bevorzugt, aber der weiße Pullover gefiel ihm. Er sah in den Kragen und runzelte die Stirn. Kein Schild oder Hinweis, wo er her war.

Noah nahm den Pullover mit nach nebenan und griff sich sein Handy. »Hast du mir diesen weißen Pullover in meinen Schrank gelegt?«, fragte er, als Niko seinen Anruf entgegennahm.

Niko lachte. »Hast du ihn endlich gefunden? Ja, habe ich. Er ist aber nicht von mir, sondern von Daniel.«

»Und warum schickt er ihn mir nicht einfach selbst?«, fragte Noah verwundert.

»Weiß ich nicht«, antwortete Niko. »Das wollte er mir nicht verraten. Er meinte, der Pullover wäre ein Zeichen. Ein Geschenk für dein zweites Leben und du würdest es dann schon verstehen, hat er gesagt.«

Noah überfiel eine dicke Gänsehaut, als ihm plötzlich die Erkenntnis kam. Das hatte sein Onkel damit gemeint, ihm eines Tages mehr darüber zu erzählen, wie er in die USA gekommen war, und dass ein weißer Pullover dabei eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Weiß, die Farbe der Unschuld, und damit ein perfektes Geschenk, um ein neues Leben zu beginnen.

»Noah? Du hast es verstanden, oder?«

»Ja«, antwortete er und drückte den Pullover an sich. »Danke. Ich muss jetzt aufhören. Ich bin verabredet.«

»Du hast ein Date? Kenne ich sie oder ihn?«

»Nein.« Noah grinste. »Aber vielleicht wird sich das in der nächsten Zeit ändern.«

»Okay«, sagte Niko amüsiert. »Ich wünsche dir viel Spaß und ruf mich später auf jeden Fall an. Ich will alles wissen.«

»Vergiss es.«

»Noah ...«, bettelte Niko. »Du kannst mich nicht unwissend sterben lassen.«

Noah lachte und legte auf. Er zog den Pullover an und trat vor den Spiegel. Sein Anblick war zufriedenstellend, fand er, und griff nach dem langen Mantel, der zur Hose passte. Ein Jackett fand er übertrieben, aber ohne Jacke konnte er nicht gehen. Dazu war es noch zu kalt.

Er hatte sich gerade die Schuhe zugebunden, als Tom klingelte. Der Mann war pünktlich auf die Minute. Noah öffnete die Tür. »Hi. Sag mal, bist du immer so pünktlich oder kann ich mir was darauf einbilden?«, fragte er und Tom lachte, bevor er ihm in den Mantel half. »Danke.«

»Gern geschehen. Und ja, ich gehöre zu den Männern, die gern pünktlich sind.« Tom trat einen Schritt zurück, dass Noah seine Wohnung verlassen und abschließen konnte. »Wie denkst du über einen Begrüßungskuss?«

Noah steckte seinen Schlüssel ein und drehte sich um. »An sich habe ich nichts dagegen, aber ich ahne, dass ein gewisser Nachbar, der zufällig zu meiner Familie gehört, sich genau in dieser Sekunde seine Nase am Türspion platt drückt, weil er weiß, dass ich ein Date habe. Wir sollten den Kuss daher lieber auf später verschieben, bevor er sich entschließt, seine Tür aufzureißen und uns für die nächsten Stunden aufzuhalten, weil er dich näher kennenlernen will.«

Tom prustete los, nickte dabei und nahm seine Hand, um ihn zum Fahrstuhl zu führen. Sie hielten es aus, bis sich die Türen der Kabine geschlossen hatten, doch dann war es mit ihrer Beherrschung vorbei und Noah stöhnte, als er geküsst wurde als gäbe es kein Morgen.

»Du siehst umwerfend aus«, murmelte Tom an seinen Lippen. »Dieser Pullover … trägst du da etwas drunter?«

»Dasselbe könnte ich dich wegen deines dunkelblauen und engen Hemds fragen, das ich dir am liebsten sofort vom Körper reißen würde.«

»Ich trage keinen Fetzen drunter.« Tom schmunzelte an seinen Lippen. »Wie sieht es mit dir aus?«

»Nichts.«

»Unterwäsche?«

»Ja.«

»Ich auch.«

»Beim nächsten Mal lassen wir sie weg«, meinte Noah trocken und Tom gluckste.

»Okay.«

Beim 'Pling' vom Fahrstuhl ließen sie voneinander ab und hielten bis zum Eintreffen im Velvet einen gewissen Abstand zueinander. Für die frühe Uhrzeit war es bereits ziemlich voll und die Musik laut. Es dauerte, bis sie ihre Jacken losgeworden waren und sich zusammen zur Bar durchgeschoben hatten, wo Tom für sich ein Bier und für Noah, auf dessen Wunsch hin, eine Cola orderte.

Kenan grinste ihn an, als er das Gewünschte brachte. Noah streckte dem Barkeeper frech die Zunge raus, was den lachen ließ, bevor er zu einem anderen Gast gerufen wurde.

Tom beugte sich zu seinem Ohr. »Kann es sein, dass er uns verkuppeln will?«

Noah lachte. »Es scheint ihn nicht zu stören, dass wir miteinander ausgehen. Gibt´s bei ihm und Ben was Neues?« Tom sah ihn an und verdrehte die Augen. »Oh je, was ist los?«, hakte er nach.

»Offenbar hat Ben seit Neuestem einen Freund.«

»Mist.«

»Wem sagst du das«, stimmte Tom zu. »Sprich Kenan besser nicht darauf an. Er hat eine Mordslaune und mich gebeten, ihn vorerst nicht mehr mit Ben Dienst schieben zu lassen.«

»Darum ist der nicht hier«, begriff Noah und seufzte leise. Es wäre zu schön gewesen, die zwei so ungleichen Männer zu verkuppeln. Er trank einen Schluck und warf dabei einen Blick auf die Tanzfläche. »Trink aus. Ich will mit dir tanzen.«

Tom lachte und nickte. »Sehr wohl, mein König.«

 

»Er hat uns gesehen«, rief Tom ihm einige Zeit später ins Ohr, was durch die laute Musik kaum zu verstehen war. Noah beschränkte seine Antwort daher auf ein Nicken, er wusste sowieso, von wem Tom sprach. »Willst du noch was trinken? Ich könnte eine Pause vertragen.«

»Diesmal bezahle ich aber.« Noah löste sich von Tom, um den hinter sich her an die Bar zu ziehen. So hatte er zum Protestieren keine Gelegenheit und Noah grinste, als Tom ihn von hinten umarmte und ihm ins Ohr biss, anstatt etwas zu sagen. »Brutaler Kerl.«

»Macho.«

»Ich dachte, das wäre Erics Job«, stichelte Noah frech und Tom lachte. »Was macht er?«

Er bekam nicht sofort eine Antwort, wahrscheinlich musste Tom seinen Mann erst mal im Getümmel suchen. »Er steht am Fahrstuhl und tötet dich mit Blicken.«

»Das Übliche also.«

»Achtung, er kommt her.«

»Was treibt ihr beiden eigentlich für ein Spiel?«, fragte Eric kurz darauf und seine Tonlage war eisig genug, um Kenan besorgt über die Schulter sehen zu lassen, der gerade einen Drink mixte. Noah nickte ihm bloß zu und trank einen Schluck von dem Wasser, das der Barkeeper ihm zuvor gereicht hatte.

»Tom und ich haben ein Date«, antwortete er trocken und prostete Eric mit seinem Glas zu, der sich daraufhin mit einem auffordernden Blick Tom zuwandte.

»Wir tanzen und haben Spaß dabei«, sagte der jedoch und rückte dabei noch ein Stück an ihn heran, was Noah veranlasste, Toms Hand zu nehmen und aufmunternd zu drücken. »Du gehst ja nicht mit mir tanzen.«

»Aus gutem Grund!«, zischte Eric und packte im nächsten Augenblick Noahs Arm. Es war der, mit dessen Hand er Toms festhielt. »Treib es nicht zu weit.«

Noah stellte das Glas auf den Tresen und schaute zu Eric. »Nimm deine Hand weg, Burrows, und zwar sofort!«

Eric schnaubte, ließ aber sofort von ihm ab, um als nächstes Tom warnend anzuschauen, bevor er seine Lippen zu einem Strich zusammenpresste und sie wieder alleinließ. Noah warf Tom einen fragenden Blick zu, der mit gerunzelter Stirn seinem Mann nachsah.

»Sollen wir es sein lassen?«

Tom schüttelte den Kopf, sah ihn aber nicht. »Es ist einerseits faszinierend, anderseits macht es mir Angst. Du bist der erste Mann, bei dem er so reagiert. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Eric auf dich eifersüchtig ist.«

»Wie kann er eifersüchtig sein?«, fragte Noah irritiert. »Ich meine, du nimmst seit Jahren Männer mit ins Bett.«

»Ich weiß.« Toms Blick fand seinen. »Und ich wünschte, ich wüsste es. Irgendetwas ist an dir, was ihn heftig auf die Palme bringt. Aber er blockt jedes Mal ab, wenn ich mit ihm darüber reden will.«

Noah grinste frech. »Dann sollten wir ihm am besten einen Grund geben, die Palme noch ein Stückchen weiter nach oben zu klettern, nicht wahr?«

Mit einem amüsierten Lächeln trat Tom einen Schritt zurück und streckte eine Hand aus. »Darf ich bitten?«

»Aber gerne doch«, antwortete Noah belustigt, stellte das Wasser ab und folgte Tom zurück auf die Tanzfläche.

 

»Und was jetzt?«, fragte Noah, als Tom eine Stunde später die Tür zu seinem und Erics Loft hinter ihm schloss, und zuckte schief grinsend mit den Schultern, als der ihm ein Lächeln schenkte. »Hey, du bist derjenige von uns mit der Erfahrung. Ich habe keine Ahnung davon.«

Tom lachte leise und winkte ihn hinter sich her in die Küche, wo er zwei Wasserflaschen aus dem Kühlschrank nahm und ihm eine reichte. Noah hatte zuerst vorgehabt, Tom mit zu sich zu nehmen, aber als der ihn einlud, ihn ins Loft zu begleiten, war seine Neugier zu groß gewesen. Nicht, dass er bisher viel von Toms und Erics Zuhause gesehen hatte, dazu war Ersterer einfach zu ablenkend.

Außerdem schwitzten sie vom Tanzen und das ließ sämtliche Kleidung unangenehm kleben. Ein Königreich für eine Dusche, dachte Noah und sah Tom interessiert dabei zu, wie der mit seinen langen, schlanken Fingern den Deckel von der Flasche schraubte und diese danach ansetzte. Sein Adamsapfel bewegte sich unter der Haut und Noah musste sich zusammenreißen, um nicht mit der Zunge über die Stelle zu gleiten. Er schaute auf seine eigene Flasche und bemerkte erst dadurch, wie durstig er mittlerweile war. Noah öffnete die Wasserflasche und tat es Tom nach.

Sie tranken schweigend, beobachteten sich dabei, und als Tom auf ihn zutrat und begann, mit der freien Hand über sein Gesicht zu streicheln, schraubte er den Deckel auf die Flasche und stellte sie neben sich auf die Arbeitsfläche.

Auf einmal hatte Noah das Gefühl, im Auge eines gewaltigen Sturms zu stehen. Irgendetwas würde gleich passieren. Er wusste nur nicht was. Würde Tom über ihn herfallen? Ihn wild erobern oder zärtlich und liebevoll verführen? Wollte Tom, dass er selbst der Eroberer und Verführer war? Es war Noah gleichgültig, er konnte sich beide Seiten vorstellen. Ihm war nur wichtig, dass Tom ihm half und ihm zeigte, worauf es ankam, da ihm klar war, dass die schmuddeligen Filmchen, die er sich über das Thema Männersex angesehen hatte, mit der Realität nicht viel gemeinsam hatten.

Grundsätzlich wusste er natürlich worum es ging, und dass Gleitgel und Kondome zur festen Grundausstattung gehörten. Es zumindest sollten. Wenn sie später darauf verzichteten, war das ihre Sache. Aber Noah wollte nicht noch einmal so kopflos sein wie unten im Clubraum, als Tom ihn völlig überrumpelt hatte. Ja, er war gesund und glaubte Tom, dass der es ebenfalls war, dennoch wollte er es richtig machen.

»Hast du Kondome und Gleitgel?«

»Ja.« Tom lächelte und stellte seine Flasche ebenfalls ab. »Und mein aktuelles Testergebnis, wenn du es sehen willst.«

»Später«, wehrte er ab und ließ seinen Blick über das dunkelblaue, enge Hemd wandern, das Tom trug. Es klebte an dessen Körper und ließ viel Platz für Fantasien. »Ist eure Dusche groß genug für zwei?«, murmelte Noah und blieb mit den Augen am obersten Knopf hängen, der sich mit jedem von Toms Atemzügen bewegte und ihm leider den Ausblick auf dessen Brust verwehrte. Auf die weichen Haare, die es dort gab und durch die er nur zu gern mit den Fingern gestrichen wäre. »Ich will wissen, wie du nackt und nass aussiehst.«

»Ist das eine Fantasie von dir?«

»Hm«, machte Noah zustimmend.

»Hast du noch mehr?«

»Tausende.«

»Erzähl mir eine, die du unbedingt tun willst.«

Noah schluckte, während er sich an das Bild in einem dieser Pornos erinnerte, die er angesehen hatte, wo der eine Kerl den anderen geritten hatte. Ihm war das laute, unechte Stöhnen beider Darsteller so sehr auf die Nerven gegangen, dass er den Ton ausgestellt hatte, doch ab dem Moment war es ihm nicht mehr möglich gewesen, den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Er war innerhalb weniger Minuten gekommen. Einfach so in seine Shorts.

Er schaute Tom ins Gesicht, als er bemerkte, dass ihm seine Hose allein von der Vorstellung, wie sie beide das taten, was er in diesem Film gesehen hatte, langsam aber sicher zu eng wurde. »Ich will dich über mir. Reite mich.«

Toms Antwort war ein umwerfendes Lächeln, gefolgt von einem Nicken, bevor er seine Hand ergriff und ihre Finger miteinander verschränkte. Noah ließ sich von ihm mitziehen und staunte nicht schlecht, als Tom ihn durch eine unscheinbare Tür in einen Raum führte, der sich als Badezimmer entpuppte und auf den ersten Blick so groß war wie sein Wohnzimmer. Ein Klick hinter ihm und das Licht ging an.

»Wow«, machte Noah beeindruckt und starrte auf die riesige Eckbadewanne, in der garantiert drei oder mehr Leute Platz hatten. Die Dusche war ebenso gewaltig und noch dazu erdeben, mit drei einzelnen Duschköpfen. Der ganze Raum war mit grauschwarzen Fliesen ausgelegt, die die weißen Möbel perfekt zur Geltung brachten. »Du hast das eingerichtet, oder?«, fragte er und sah über seine Schulter. Tom nickte lächelnd. »Das ganze Loft, das ist alles deine Handschrift, nicht wahr?«

»Ja.« Tom trat hinter ihn. »Eric hat mehr einen Blick für das Praktische.«

»Euer Büro?«, fragte Noah.

Tom nickte und legte die Arme um ihn. »Eric hat alles hier oben völlig mir überlassen und nach meinen Wünschen eingerichtet. Selbst als ich die Marmorfliesen wollte, die wir uns eigentlich nicht leisten konnten, hat er einen Kredit aufgenommen und sie bezahlt. Du kannst dir alles genau ansehen, wenn du willst.«

»Später«, wehrte Noah ab, denn er verstand, was Tom ihm damit sagen wollte. »Eric liebt dich über alles.«

»Genauso wie ich ihn«, stimmte Tom zu, was auf ihn wirkte, wie ein Guss eiskaltes Wasser. Noah verspannte sich merklich. »Tu das nicht«, bat Tom leise und drehte ihn zu sich um. »Du ziehst falsche Schlüsse.«

Noah seufzte. »Ich kann mit ihm nie mithalten. Das Ganze war eine dumme Idee. Ich gehöre nicht zwischen euch.«

Tom schüttelte den Kopf. »Du bist doch schon längst zwischen uns und du weißt das auch. Ich hätte ablehnen können, Noah. Ich hätte dich zurückhalten können. Aber ich habe es nicht getan und werde es auch jetzt nicht tun. Ich will dich zwischen uns. Ich will das, was da ist. Noah, du bedeutest mir etwas und ich will das nicht aufgeben. Du gehörst zu mir … zu uns …« Tom atmete tief durch. »Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie wir Eric davon überzeugen sollen, dass du mehr, als nur ein kleines Abenteuer, für mich bist.«

»Vielleicht sollten wir es bei einem One-Night-Stand belassen«, schlug Noah vor, weil er das Gefühl hatte, Eric gegenüber anständig sein zu müssen, obwohl er es nicht wollte.

Tom trat abrupt von ihm zurück. »Nein! Wenn du das wirklich willst, dann geh. Schnellen Sex bekomme ich an jeder Straßenecke, dafür brauche ich dich nicht.«

Noah schluckte die Beleidigung hinunter, die ihm auf den Lippen lag, denn Toms Ärger auf ihn hatte er selbst provoziert. »An jeder Straßenecke? Wenn das so ist, was zahlst du denn?« Tom schnappte verärgert nach Luft und sein wütender Blick nagelte ihn förmlich an die Fliesen. Noah grinste. »Wie wär's mit fünfhundert die Stunde?«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Tom dahinterkam, dass Noah ihn veralberte, doch dann lachte er leise und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Fünfhundert? Das ist ziemlich teuer. Da musst du mir erst mal beweisen, dass du dein Geld auch wert bist.«

»Okay«, stimmte Noah belustigt zu, überbrückte dabei den Abstand zu Tom und riss dann dessen Hemd an der Knopfleiste auf, sodass selbige über den Boden hüpften. Toms verblüffter Blick war unbezahlbar. »Das wollte ich schon ewig mal machen«, erklärte er und wich ein Stück zurück. »Weißt du, was ich noch tun will?«

»Sag´s mir.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739310381
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Drama Ostküsten Reihe schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Thriller, Romanzen und Fantasy. Weitere Informationen zu meinen Büchern und aktuelle News zu Veröffentlichungen findet ihr auf meiner Autorenseite.
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Titel: Nebel der Erinnerung