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Nachtschwärmer

von Mathilda Grace (Autor:in)
320 Seiten
Reihe: Nacht - Trilogie, Band 2

Zusammenfassung

Jasper Baker ist Arzt aus Leidenschaft und hat seine Stelle im Krankenhaus an den Nagel gehängt, um eine eigene Praxis zu eröffnen. Alles wäre perfekt, gäbe es nicht seinen neuen Nachbarn Greg Rivers, mit dem Jasper eine wahre Hassliebe verbindet. Er kann dem ehemaligen Schauspielagenten nicht verzeihen, was er getan hat, und fühlt sich gleichzeitig unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Dass Greg seine Liebe zu Schmetterlingen teilt, macht es Jasper nicht leichter, sich von dem Mann fernzuhalten, der keinen Hehl daraus macht, dass er ihn in seinem Bett haben will.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

Prolog

- Greg -

 

 

 

 

»Ich verstehe dich einfach nicht, Gregory. Du hattest alle Möglichkeiten, die einem Boudreaux auf seinem Lebensweg zur Verfügung stehen, und du wirfst sie gedankenlos weg, um brotlose Schauspieler zu unterstützen.«

»Mein letzter brotloser Schauspieler hat vor Kurzem einen Oscar gewonnen, Mutter.«

»Das ändert nichts an der Tatsache, dass dies kein Beruf für einen echten Boudreaux ist«, wischte die Frau, die ihn geboren und vor fünfundzwanzig Jahren aus dem Haus geworfen hatte, Trents Erfolg zur Seite, als wäre er ein sie störendes Insekt. »Du gehörst zur Familie, Gregory.«

»Schon lange nicht mehr, das habt du und Vater mir vor vielen Jahren sehr deutlich mitgeteilt.«

»Sei nicht theatralisch«, widersprach seine Mutter mit einer Kälte in der Stimme, die ihn frösteln ließ. »Ein Boudreaux ist und bleibt ein Boudreaux.«

Wie oft hatte sie ihm diesen Satz eigentlich vorgebetet, ehe sie an seinem zwanzigsten Geburtstag entschied, dass er für die Familie untragbar geworden war? Wie oft hatten sein Bruder und er sich anhören müssen, was ein Boudreaux zu tun und zu lassen hatte? Wie oft hatte er sich, still und heimlich in seinem Bett weinend, gewünscht, wenigstens einmal von ihr in die Arme genommen zu werden, wie all die anderen Mütter es immer taten, wenn sie seine Klassenkameraden von der Schule abholten? Wie oft hatte er sich gewünscht, nur um seiner selbst willen geliebt zu werden? Wie oft war er diesbezüglich von ihr enttäuscht worden?

»Und jetzt ziehst du auch noch nach Maine?«, fragte seine Mutter mit einem abschätzigen Tonfall. »Dort leben doch nur Versager und Menschen zweiter Klasse. Wie kannst du mir das antun? Unser Ruf, Gregory.«

Warme Feuchtigkeit breitete sich in Gregs Handfläche aus. Sie war ebenso willkommen wie der Schmerz, denn nur durch ihn würde es ihm gelingen ruhig zu bleiben. Nur der Schmerz würde verhindern, dass sich das bekannte Herzrasen einstellte, das mittlerweile jeden ihrer Anrufe begleitete, weil er sich von Mal zu Mal mehr dafür schämte, unfähig zu sein, ihr die Stirn zu bieten. Er, ein gestandener Mann von 45 Jahren, war nicht in der Lage, sich gegen seine eigene Mutter zu behaupten. Es war so erbärmlich. Er war erbärmlich. Greg holte tief Luft.

»Dieses Gespräch ist ebenso sinnlos, wie die anderen zuvor, und wir würden es nicht führen, hätte Konstantin sich nicht im vergangenen Monat dazu entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, Mutter. Du solltest dich lieber fragen, warum er das getan hat, statt deinen zweiten Sohn mit Anrufen zu belästigen, obwohl er dir vollkommen egal ist.«

»Wie kannst du es wagen, Konstantins Erbe in den Schmutz zu ziehen? Es war ein schrecklicher Unfall.«

»Auf einer trockenen Fahrbahn, bei völlig freier Sicht und einem Alkoholspiegel von über zwei Promille«, konterte Greg und für einen sehr langen Moment genoss er das schockierte Einatmen am anderen Ende der Leitung. »Er hat getan, wozu ich nie den Mut hatte.«

»Du bist ein grausamer Sohn.«

Greg verbiss sich das in seiner Kehle aufsteigende zynische Lachen. »Das weiß ich, aber ich bin auch der Einzige, der euch geblieben ist und den ihr nicht so einfach enterben könnt, nicht wahr?«

»Gregory! Wie kannst du das denken?«, kreischte seine Mutter hörbar entsetzt, doch auf diese schäbige Tour fiel er nicht mehr herein, seit er als Teenager ein Gespräch belauscht hatte, indem es darum ging, ihn in ein Internat zu schicken, um ihm seine sexuellen Unzüchtigkeiten, wie seine Mutter es genannt hatte, nachdem er mit einem Lehrer in dessen Büro erwischt worden war, notfalls mit Prügel wieder auszutreiben.

»Die Wahrheit zu hören oder zu sagen, war noch nie deine Stärke«, antwortete Greg trocken und bohrte seine Fingernägel stärker in die kleinen Wunden in seiner Handfläche. Er spürte das Blut zwischen seinen Fingern entlanglaufen.

»Wie kannst du es wagen!«

»Ich wünsche dir einen Guten Tag, Mutter.« Greg legte auf und hängte den Hörer betont vorsichtig auf die Gabel zurück, bevor er seine leere Kaffeetasse nahm, die neben ihm auf dem Esstisch stand, und sie schweigend an die Wand warf.

 

 

 

Kapitel 1

- Jasper -

 

 

 

 

Eines Tages würde er Rick dafür umbringen, dass er ihm ausgerechnet diesen Mistkerl als Nachbarn zugewiesen hatte. Oh ja, er würde Rick Malloy in den verschneiten und dunklen Wald hinaus locken, ihm mit einem dicken Ast eins überbraten und dann …

Jasper seufzte leise und hob einen neuen Holzscheit auf den Klotz, als ihm wieder einfiel, dass Rick ihr Rudel führte, ihm sowieso haushoch überlegen war und ihm, falls er es wirklich wagen sollte ihn herauszufordern, mit einem eiskalten Lächeln den Hintern versohlen würde. Keine sonderlich erhebende Vorstellung, vor allem, da er wusste wie es sich anfühlte, von dem Bären eine Abreibung zu bekommen.

Und nicht nur von ihm, denn Sebastian und Trent würden sich freudig lächelnd direkt hinter Rick anstellen, um ihm den verlorenen Verstand wieder einzubläuen, den er, wenn es nach den erbosten Worten seiner Mutter ging, mit dem Einzug von Greg Rivers Anfang März, offensichtlich in seinem eigenen Klo heruntergespült hatte.

Seit drei Wochen lebte diese Kakerlake neben ihm und mit jedem weiteren Tag verschlechterte sich Jaspers Laune. Dabei hatte Rivers bisher nichts getan, um seinen Zorn zu verdienen. Im Gegenteil. Er war höflich, grüßte jedes Mal, sobald sie sich über den Weg liefen, und hatte ihm erst gestern seinen Einkauf gerettet, als ihm eine übervolle Tüte aus der Hand zu rutschen drohte und Trents Freund zur Stelle gewesen war, um die vier Packungen Eier zu retten, die er für seine Mutter besorgt hatte.

Zum Kuchen backen für die Hochzeit von Adam und Paul nächstes Wochenende. Jasper grinste bei der Erinnerung daran, wie verdattert der Panther die Frauen im Ort angesehen hatte, die die Partyplanung in die Hand genommen hatten, nachdem Adam gepetzt hatte, dass sie keine Feier wollten, sondern nur im kleinsten Kreise heiraten würden. Der Plan war definitiv vom Tisch und nicht nur Jasper verdächtigte Adam, das Ganze absichtlich ausgeplaudert zu haben, um eine anständige Hochzeitsfeier zu bekommen. Was diese Hochzeit betraf, geriet das Paar nämlich immer noch in unschöner Regelmäßigkeit aneinander, und das alles nur, weil Paul nicht aus seinem Machofell herauswachsen konnte. Das hatte er gestern auf Adams Junggesellenabschied wieder einmal deutlich bewiesen, als sein Verlobter so lange dicht mit Eduardo getanzt hatte, bis Paul ihn am Schlafittchen gepackt und aus der Bar gezerrt hatte.

Grinsend legte sich Jasper den nächsten Holzscheit zurecht. Diese beiden waren ein verrücktes Paar, das sich unübersehbar liebte, ständige Streitereien hin oder her. Ein schöner Anblick, der ihn ein kleines bisschen wehmütig machte, denn da nun auch Sebastian vom Markt war, gingen ihm langsam die Optionen aus, was ungebundene Wandler betraf. Der Großteil der Männer in der Stadt war entweder vergeben oder hetero. Oder beides.

Bill hatte zwar nie etwas gegen ein nettes Schäferstündchen einzuwenden, aber Jasper war schon beim letzten Mal bewusst geworden, dass ihm das nicht länger genügte. Er wollte mehr, doch dafür war Bill leider nicht der Richtige. Und Eduardo war so hetero, dass Jasper sich falsche Brüste in Größe Doppel D hätte aufkleben müssen, um überhaupt von dem Wolf bemerkt zu werden. Der verbliebene Männerbestand war indes viel zu jung für Jasper und daher unter 'Finger weg, sonst wütende Väter oder ältere Brüder am Arsch' abgeheftet worden.

Um der schnöden und nicht sehr willkommenen Wahrheit die Ehre zu geben, es wohnte im Moment nur ein einziger Kerl in Sanoro, der frei und kein Tabu war, doch den würde Jasper nicht mal mit der Kneifzange anfassen. Greg Rivers, diese fiese, hinterhältige Made von einem Agenten, der Trent lieber seine Drogen besorgt hatte, statt ihm zu helfen, und das Schlimmste daran war, dass ihm das niemand übel nahm. Abgesehen von Jasper selbst, was ihm völlig unverständlich war.

Na gut, Trent konnte er es nachsehen, bei eigenen Freunden wurde man gerne mal blind, aber selbst Sebastian verteidigte Rivers jedes Mal, wenn dieses Thema auf den Tisch kam. Sogar seine eigene Familie tat es und warf ihm dabei vor, nicht über den Tellerrand schauen zu wollen. Unglaublich.

»Na? Schmollen wir mal wieder?«

Jasper zuckte erschrocken zusammen und seine Axt landete mit einem garstigen Fluch über herumschleichende Bären und nervende Alphamännchen im Holzklotz. Nicht, dass Rick sein Gefluche sonderlich beeindruckt hätte, denn sein Rudelführer lachte nur und trat neben ihn, um den Holzscheit aufzuheben, den er eben zu Boden gestoßen hatte, und ihn wieder auf den Klotz zu stellen. Dabei trafen sich ihre Blicke und Jasper senkte sofort den Kopf, als er die unverhohlene Wut in Ricks Augen erkannte.

»Ich habe nichts gemacht.«

»Ach nein?«

»Nein«, antwortete Jasper, obwohl er garantiert irgendwas angestellt hatte, sonst wäre Rick nicht hergekommen.

»Wie man so hört, hast du dich geweigert, Greg bei seinem Umzug zu helfen.«

Aha. Eduardo hatte ihn also verpetzt. Jasper schnaubte und holte mit der Axt aus. Die Wucht des Schlages zog bis in seine Schultern hoch, nachdem er den dicken Scheit gespalten hatte und nach einem weiteren griff. Bloß nicht kommentieren, war sein Motto, denn dann würde Rick erst so richtig unangenehm werden. Man ärgerte als unterwürfiger Wandler keinen Alpha, der ohnehin schon sauer auf einen war.

»Man hört ebenfalls, dass deine liebevolle, immer höfliche Mutter seit Tagen deinen Verstand in der Kloschüssel sucht.«

»Pfft«, platzte aus Jasper heraus, bevor er sich zurückhalten konnte, und bei dem folgenden Knurren zog er den Kopf noch ein Stück tiefer zwischen die Schultern.

»Des Weiteren wirst du mich gefälligst ansehen, wenn ich mit dir rede, und zwar sofort, Jasper!«

Oha. Jasper ließ nervös schluckend die Axt sinken und hob langsam den Kopf. Es fiel ihm mehr als schwer Ricks Blick standzuhalten, weil er viel zu devot war, um sich gegen einen so dominanten Wandler wie ihren Boss durchzusetzen. Nur in seinem Arztmodus, wie die Jungs es immer mit einem Lächeln nannten, sobald jemand verletzt wurde, fiel diese unterwürfige Art komplett von ihm ab. Aber im Augenblick war er hier der Einzige, der Gefahr lief, verletzt zu werden, falls Rick zu dem Schluss kam, dass er umgehend eine Tracht Prügel nötig hatte, um ihm den Kopf geradezurücken.

»Dass du wütend auf ihn bist, verstehe ich, Jasper, und ich war auch bereit, dein lächerliches Verhalten Greg gegenüber bis zu einem gewissen Punkt zu tolerieren. Den hast du allerdings gestern überschritten.«

»Gestern?«, echote Jasper empört. »Ich habe den Blödmann auf Adams Junggesellenabschied nicht mal gesehen.«

»Das konntest du auch nicht, weil er damit beschäftigt war, Trent davon abzuhalten dir die Augen auszukratzen, nachdem du beschlossen hast, deinen Frust beim Tanzen mit Sebastian abzuladen. Und hätte ich es ihm nicht verboten, wäre er längst bei dir aufgetaucht, um dir eine reinzuhauen, in der Hoffnung, dass du dadurch endlich wieder zu Verstand kommst.«

Wie bitte? Also das war ja wohl die Höhe. Jasper tippte sich vielsagend gegen die Stirn. »Ich habe Bast gestern Abend kaum angefasst. Wir haben ein einziges Mal miteinander getanzt, das war alles.«

»Du hast ihn benutzt, Jasper«, konterte Rick betont ruhig, doch seine Stimme wurde mit jedem Wort einen Tick eisiger. »Du hast deinen besten Freund ausgenutzt, um deine Wut auf Greg Rivers loszuwerden, und es war dir völlig gleichgültig, wie das bei Trent ankommt.« Rick nahm ihm die Axt ab und schleuderte sie zur Seite, ehe er dicht auf ihn zutrat. »Herrgott, Jasper, wach' endlich auf! Du warst so heiß, dass jeder Wandler in der Bar dich riechen konnte. Sogar Trent ist es aufgefallen. Jeder von uns hat es bemerkt, nur du nicht!«

Jasper starrte Rick sprachlos an und schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht ...«

Er verstummte hastig, als Rick warnend brummte, bevor er ihren Blickkontakt unterbrach, weil er ihn nicht mehr aushielt, was eine Beleidigung ohne gleichen war. Dem Rudelführer sah man in die Augen, wenn der einem den Kopf zurechtrückte. So war es schon immer gewesen, ohne Ausnahme, doch Jasper fühlte sich auf einmal so unwohl in Ricks Gegenwart, dass er am liebsten vor ihm geflüchtet wäre.

»Jasper, du kassierst gleich Prügel.«

»Ich will nichts von Bast«, murmelte er in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Unglaube, während er gegen die in ihm aufsteigende Übelkeit ankämpfte. »Ich weiß, dass er Trent liebt. Ich würde nie ...«

»Das habe ich auch nicht behauptet«, fuhr Rick ihm etwas versöhnlicher ins Wort. »Ich rede davon, dass du heiß bist und das nicht mal begreifst. Stattdessen schießt du dich völlig auf Greg ein, der dafür nicht das Geringste kann. Und jetzt will ich von dir wissen, wann du das letzte Mal Sex hattest.«

Wo war das Schwarze Loch, wenn man es brauchte. Jasper stöhnte zu Tode verlegen auf. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ich werde das nicht beantworten.«

»Soll ich Bill anrufen?«

»Nein, du sollst gar ...«

Jasper verstummte abrupt und erstarrte förmlich zu Stein. Woher wusste Rick von seinen Nächten mit Bill? Davon wusste nicht mal Sebastian, denn sowohl Bill als auch Jasper hatten es seit jeher vorgezogen, ihre Techtelmechtel für sich zu behalten. Bill ging ohnehin nicht mit seinen Eroberungen hausieren. Er hatte zwar unzählige, aber er behandelte seine Partnerinnen und Partner immer mit dem nötigen Respekt. Nur darum hatte Jasper sich überhaupt mit dem Wolf eingelassen.

»Ich werde vergessen, dass ich davon weiß. Allerdings gilt mein Angebot nur, wenn du mir hier und jetzt sagst, wie lange du dich nicht mehr ausgetobt hast.«

Jasper zog eine Grimasse. »Zu lange.«

»Ich nehme an, Bill kommt für dich nicht länger infrage?«, hakte Rick nach und Jasper beließ es bei einem Kopfschütteln. »Gut, dann wirst du dir freinehmen. Zur Hochzeit von Adam und Paul erwarte ich dich zurück.«

»Zurück?« Jasper suchte verblüfft Ricks Blick. »Was meinst du damit?«

»Ich schaffe dich aus der Schusslinie. Trent, Sebastian und deine Familie sind stinksauer auf dich, da sie nicht wissen, was los ist. Das werde ich ändern und du wirst dafür sorgen, dass es sich nicht wiederholt. Fahr' in die Stadt. Rüber nach Bangor, Lewiston oder Portland. Meinetwegen miete dir einen Callboy, wenn du in den Clubs niemand Passenden findest, das ist mir völlig egal. Aber kümmere dich darum. Und zwar noch heute.«

»Ich kann doch jetzt nicht weg«, wehrte Jasper ab. »In zwei Tagen kommen die restlichen Gerätschaften für die Praxis. Ich muss alles aufbauen, anschließen und ...«

»Das kann auch noch bis nächste Woche warten. Ich werde das Zeug entgegennehmen und in die Praxis stellen lassen. Du hast Urlaub und das ist ein Befehl, wenn es einer sein muss, ist das klar?« Rick legte eine Hand an seine Wange und Jasper senkte betreten den Kopf, als er merkte, wie sein Körper schon auf diese kleine Berührung reagierte. Großer Gott. »Du hast es wirklich nicht bemerkt, oder?«

»Nein«, gab Jasper zu und verfluchte sich umgehend dafür. Wozu war er eigentlich Arzt, wenn er selbst das Offensichtliche nicht rechtzeitig erkannte? Du liebe Güte.

»Mach' dir nichts draus. Das passiert gelegentlich sogar den Erfahrensten von uns«, konterte Rick trocken und nahm seine Hand runter, ehe er einen Schritt zurücktrat und es Jasper damit spürbar angenehmer machte. »Ich gebe dir eine Stunde, bevor ich dich an Bast verpetze und du weißt, was er mit dir machen wird, wenn du dann noch hier bist.«

»Mich höchstpersönlich ins nächste Freudenhaus schleifen und sich dann selbst dort mit Trent vergnügen, wetten?«

Rick lachte und wandte sich ab, um die Axt zu holen. »Du warst schon als Kind ein frecher Rotzlöffel. Nun hau' endlich ab. Wenn du zurückkommst, hat jeder in Sanoro den Kopf mit der Hochzeit voll und das Ganze längst vergessen.«

»Danke, Boss.«

»Ich kümmere mich um mein Rudel, Kleiner«, sagte Rick und deutete mit finsterem Blick zum Haus. »Jetzt zieh' endlich Leine. Dein Geruch hängt an dir, wie eines von diesen billigen, aufdringlichen Duftwässerchen. Furchtbar.«

»Du bist ja nur neidisch, weil ich so gut rieche. Hey!«

Der Schneeball traf ihn an der Schulter und Jasper flüchtete lachend ins Haus, bevor Rick einen weiteren nach ihm werfen konnte. Als er eine halbe Stunde später mit vollem Rucksack aus dem Haus trat, stieg Greg Rivers gerade aus seinem Auto. Ein kurzer Blick auf den Mann reichte aus, um Jasper innerlich stöhnen zu lassen. Jetzt reagierte er schon auf einen Menschen, der überhaupt nicht sein Typ war.

Es war wirklich an der Zeit, dass er sich jemanden für ein paar heiße Nummern suchte und er wusste auch schon genau, wo er diesen Jemand finden würde.

 

»Eines meiner Mädchen ist weg.«

Das Aufglimmen von Jonahs Feuerzeugs, während er sich eine Zigarette anzündete, beleuchtete dessen kantiges Gesicht neben ihm für einen Moment, als Jasper ihn fragend ansah und sich, als keine Erklärung kam, auf die Seite drehte. Er kannte den rothaarigen Bordell- und Clubbesitzer lange genug, um zu wissen, dass nachzufragen nichts bringen würde.

Jonah Kad war genauso wild und aufbrausend wie das Tier in ihm und er redete nur, wenn er reden wollte. Zudem war er ebenso diskret, was seine wechselnden Liebschaften anging, wie Jasper selbst. Darum kamen sie auch seit mehreren Jahren gut miteinander aus und aus diesem Grund lag er heute zum wiederholten Male in Jonahs Bett. Ein überaus befriedigendes Arrangement für beide Seiten, obwohl Jonah nicht alle Saiten an ihm zum Klingen brachte, aber das hatte ohnehin noch nie jemand geschafft. Jasper hatte gelernt damit zu leben.

Allerdings sorgte er besser dafür, dass Sebastian niemals Wind davon bekam, dass er mit diesem Waffenverkäufer und Schmuggler ins Bett ging, sonst drohte ihm weit mehr als eine verdiente Tracht Prügel, die er sich in speziellen Clubs ab und zu ganz gerne verpassen ließ.

»Sie war nicht die Erste. Die Jungs und Mädels gehen jagen und kommen nicht zurück. Manchmal finden wir ihre Körper ohne Kopf, in den meisten Fällen finden wir gar nichts.«

Ein Unbekannter, der möglicherweise Gestaltwandler tötete und ihre Leichen beiseiteschaffte? Es wäre nicht das erste Mal. Jasper schauderte unwillkürlich. »Wieso erzählst du mir das?«, fragte er schließlich, als das erneute Schweigen zwischen ihnen drückend wurde.

Jonah drehte den Kopf zu ihm. »Keeley wollte nach Sanoro, in eure Wälder, um zu laufen. Sie ist ein Reh. Harmlos und für niemanden eine Gefahr. Das ist zwei Tage her und ich erzähle dir das, weil ich weiß, dass Rick Malloy mit ihrem alten Herrn befreundet ist.« Jasper klappte schockiert die Kinnlade runter, als der Groschen fiel, von wem Jonah gerade sprach, was den Wandlerlöwen an seiner Seite nicken ließ. »Ich sehe schon, wir verstehen uns.«

»Keeley Oswald ist eines deiner Mädchen?«

Jonah grinste überheblich. »Nicht so. Sie arbeitet an der Bar. Zumindest hat sie das getan.« Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, drückte sie aus und setzte sich auf. »Rede mit deinem Boss. Noch weiß ihr Vater nichts davon, aber das wird sich bald ändern. Irgendwas ist im Busch, seit Monaten wie es aussieht, vielleicht schon seit Jahren, und es spielt sich offenbar in euren Wäldern ab. Oder zumindest in deren Nähe.«

»Moment mal«, fuhr Jasper auf und verließ das Bett. »Willst du etwa behaupten, dass wir damit zu tun haben?«

»Ich behaupte gar nichts. Ich habe dir nur Fakten genannt, Jasper. Seit Jahren verschwinden Wandler überall auf der Welt, das weißt du ebenso gut wie ich. Aber diese Fälle konnte man bislang problemlos unter den Teppich kehren. Bei der Tochter eines Senators sieht die Sache anders aus, und ich werde nicht zulassen, dass mein Club in diese Sache reingezogen wird. Sie hat unter falschem Namen für mich gearbeitet, also wird sie in drei Tagen offiziell wegen Fehlens entlassen und durch einen neuen Mitarbeiter ersetzt.« Jonah griff nach seiner Shorts und zog sie über, ehe er aufstand und ihn über das zerwühlte Bett hinweg ansah. »Ich mag dich, Jasper, deshalb wirst du meinen Club noch heute Nacht verlassen. Du wirst nicht zurückblicken und nie wieder herkommen. Falls du es doch tust, wirst du für immer von der Bildfläche verschwinden.«

Das war deutlich und es war eine ernst gemeinte Drohung, die er besser nicht ignorierte. Jonah kannte in dieser Hinsicht keinerlei Skrupel und er hatte zu viel zu verlieren, um Mitleid mit einem Gestaltwandler zu zeigen, der ihm im Weg war oder seine Sicherheit und seine Geschäfte bedrohte. Jasper nickte und begann sich anzuziehen.

»Als du das letzte Mal hier warst, hast du geträumt«, sagte Jonah nach kurzem Schweigen, während Jasper in seine Hose stieg. »Es war ein guter Traum, dem Lächeln in deinem Gesicht nach zu urteilen. Du hast im Schlaf einen Namen genannt und für einen Moment habe ich mir damals gewünscht, du würdest mich nur ein einziges Mal mit dem gleichen Lächeln bedenken wie Sebastian Monroe.«

Jasper erstarrte und hob langsam den Kopf. Jonahs Augen hatten einen zu ernsten Ausdruck, um jetzt mit einem seichten Witz zu reagieren, wie er es zu gern getan hätte, um sich selbst davon abzulenken, dass er in letzter Zeit offensichtlich jedes Fettnäpfchen mit Anlauf nahm, ohne es zu merken. Erst sein irrationales Verhalten Greg Rivers gegenüber, dann sein Tanz mit Sebastian und jetzt Jonah, der ihn soeben und für immer aus seinem Bett geworfen hatte. Tja, wenigstens kannte er jetzt den wahren Grund dafür.

»Jonah, Bast und ich …« Jasper überlegte, wie er es nennen sollte, aber ihm fiel nichts Beschönigendes ein, weshalb er sich für die unverblümte Wahrheit entschied. »Das war nur Sex.«

»Du meinst, wie es bei dir und mir nur Sex war?«

»Er liebt jemand anderen«, antwortete Jasper, weil er nicht wagte, auf Jonahs Frage zu antworten, denn irgendwie sah der Wandler plötzlich schwer danach aus, als stünde er kurz davor ihm den Hals umzudrehen.

»Ich tue es nicht.«

Ach du Scheiße. Jonah war nicht nur ein bisschen verknallt in ihn, er liebte ihn. Du lieber Gott, auch das noch. Und wieder hatte er nichts bemerkt. Was war er eigentlich für ein unfähiger Gefühlstrampel? Jasper fehlten die Worte. »Jonah ...«

»Geh! Du hast fünf Minuten.«

 

»Du hast dich mit Jonah Kad eingelassen? Bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen? Der Mann hat in mehr illegalen Geschäften seine Finger drin, als ich zählen kann.«

Es war allein Rick zu verdanken, dass Sebastian ihm nicht vor den Augen aller das nicht vorhandene Fell über die Ohren zog, nachdem Jasper am Abend darauf seinen Bericht über die verschwundenen Wandler beendet hatte und dabei leider nicht daran vorbeigekommen war, preiszugeben, woher er seine Informationen hatte.

»Jaspers private Beziehungen stehen hier nicht zur Debatte und das werden sie auch nicht, sobald ihr unter euch seid, hast du mich verstanden?«

»Was? Aber ...«

»Keine Diskussion!«, wies Rick Sebastian eisig zurecht. »Er ist ungebunden und kann tun und lassen was er will, mit wem und wo er das will. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Rick ließ seinen Blick langsam durch den Raum wandern, damit auch jeder der im Augenblick hier anwesenden Wächter begriff, dass das Thema damit vom Tisch war. Das würde ihm allerdings nicht lange helfen, denn der Einzige in dieser Stadt, der Sebastian wirklich zurückhalten konnte, war Trent und der gehörte nicht zu den Wächtern des Rudels, war also bei dieser Versammlung in Ricks Haus nicht anwesend.

»Mich würde eher interessieren, woher du diesen Mann so gut kennst, mein Junge«, mischte sich Norman Monroe ein und sorgte damit für einige Belustigung, als Sebastian seinen Vater wütend ansah, es allerdings vorzog zu schweigen. »Ich denke, darüber reden wir später.«

»Darüber reden wir gar nicht. Kad ist kein Unbekannter, da kannst du jeden von hier bis New York City fragen.«

»Unter anderem deine ehemaligen russischen Bosse, nehme ich an«, konterte Norman trocken und daraufhin war es nicht nur Rick, der sich merklich anspannte.

Allerdings besaß Sebastian eine wirklich erstaunliche Selbstbeherrschung, fand Jasper, denn während er selbst wohl spätestens jetzt die Krallen ausgefahren und losgebrüllt hätte, wurde Sebastian zwar sichtlich blasser, blieb aber ruhig auf der Couch sitzen. Sein Blick sprach dafür ganze Bände. Das würde für Sebastians Vater noch ein Nachspiel haben und dessen war sich auch Norman Monroe bewusst, denn er seufzte.

»Herrgott, Bastian, mach' bitte die Augen auf. Der Kerl liebt ihn und Jasper hat es nicht bemerkt, bis er gestern vor die Tür gesetzt wurde. Was er garantiert nicht braucht, ist ein Vortrag von dir darüber, dass dieser Verbrecher kaum einen passablen Gefährten für ihn abgegeben hätte, der das offenbar selbst am besten weiß, darum hat er Jasper schließlich rausgeworfen.«

Sebastian schnaubte. »Der Mistkerl hat ihn bedroht!«

»Was hätte er sonst machen sollen? Ihn ans Bett fesseln und darauf hoffen, dass Jasper seine Gefühle vielleicht irgendwann erwidert?«, erwiderte Norman ruhig. »Dieser Wandler mag ein Gangster sein, aber seine Entscheidung verdient Respekt und Anerkennung. Er hat Jasper gehenlassen, anstatt weiter an dem Mann festzuhalten, den er liebt, der ihm aber niemals gehören wird. Dafür braucht es eine Menge Mut. Gerade du müsstest das verstehen.«

Damit war das Thema endgültig vom Tisch und Sebastians verletzter Gesichtsausdruck brachte Jasper dazu, aufzustehen und sich dann ungeniert auf seinem Schoß niederzulassen. Er zwinkerte Norman zu, als Sebastian mürrisch knurrte, ihn aber gleichzeitig fest umarmte, und damit alle übrigen Wandler im Raum zum Lachen brachte.

Rick räusperte sich. »Okay, zurück zu dem Grund unseres Treffens. Wenn wir davon ausgehen, dass Jonah Kad recht hat, und das tue ich, denn er ist nicht der Erste, der von seltsamen Vorfällen in den Wäldern berichtet, steht uns neuer Ärger ins Haus. Aus diesem Grund habe ich noch jemanden hergebeten, aber offenbar hält er nichts von Pünktlichkeit und ...«

Ein lautes Klopfen an der Tür unterbrach ihn und da sich die Frauen für letzte Hochzeitsvorbereitungen in Wilsons Bar verabredet hatten, konnte das ja eigentlich nur Ricks erwarteter Gast sein. Jasper sah ihrem Boss nach und runzelte die Stirn, als sich plötzlich jeder im Wohnzimmer spürbar verkrampfte.

»Was ist denn?«, fragte er leise und suchte Sebastians Blick, der jedoch zur Tür sah, die Stirn in tiefe Falten gelegt.

»Rate mal, wer zum Essen kommt«, murmelte Eduardo mit einem Schnauben und verschränkte die Arme vor der Brust, als Norman missbilligend schnalzte.

»Du hast zu oft Star Trek gesehen«, murmelte Adam und zeigte Eduardo den Stinkefinger, nachdem der ihn prompt als Depp betitelt hatte. »Stehst wohl auf große Kerle, was?«

»Arschloch.«

»Lasst den Quatsch«, zischte Sebastian verärgert und schob Jasper auf den Platz neben sich, ehe er sich erhob und halb vor ihm postierte. Paul und Adam machten es ihm nach, schützten damit den wichtigsten Menschen im Raum, das wusste Jasper, denn als Arzt war er wertvoller als die Wächter, weil er Leben retten konnte. Es gefiel ihm trotzdem nicht, so abgeschirmt zu werden, denn im Notfall würde das auch nichts nützen.

Jedenfalls nicht gegen jenen Gestaltwandler, der gerade vor Rick das Zimmer betrat, ihren Boss dabei aber keine Sekunde aus den Augen ließ. Wie Stellan Archer das schaffte, war Jasper ein Rätsel, doch da dieser Tiger selbst ein einziges Rätsel war, fiel das kaum mehr auf.

»Außer Norman kennst du ja alle. Stellan Archer, Norman Monroe, mein neuer Stellvertreter. Er weiß bereits, wer du bist und akzeptiert deine Eigenarten ebenso wie ich.«

Der dunkelhaarige Riese erinnerte ihn mit seinem sperrigen Gesicht ein wenig an Gerard Butler, allerdings war er noch um einiges größer und breiter als der Schauspieler, den er sich nur zu gern oben ohne ansah. Jasper hüstelte, als Adam ihm einen belustigten Blick zuwarf, und erhob sich, um den Tiger besser ansehen zu können. Der gönnte Sebastians Vater immerhin ein Nicken als Begrüßung und lehnte sich danach direkt neben der Tür gegen die Wand.

»Was willst du von mir wissen?«, fragte Archer mürrisch an Rick gewandt und verschränkte die Arme vor der Brust, um im nächsten Moment die Zähne zu fletschen, da Bill ihm offenbar zu dicht auf die Pelle rückte.

»Meine Güte, ich wollte nur in die Küche«, beschwerte sich Bill und sah Archer trotzig an.

Rick, dem natürlich nicht entging, dass die Stimmung von einem Moment auf den anderen zu kippen drohte, wischte den Einwand mit einer lässigen Handbewegung einfach zur Seite. »Geh' später und halt' Abstand. Du weißt genau, dass ich keine Provokationen dulde!«

Jasper bekam eine Gänsehaut, die leider nichts mit einer zu niedrigen Zimmertemperatur zu tun hatte, denn anstatt es jetzt sein zu lassen, ließ Bill ein abfälliges: »Pfft.« hören und dachte offenbar nicht im Traum daran, auf Ricks Befehl zu hören. Für Jasper keine Überraschung, denn es war nicht das erste Mal, dass einer der Wächter heftig auf Stellan Archer reagierte.

Dieser Tiger war eine Bedrohung für jedermann, so wie alle Einzelgänger, die zu lange auf sich allein gestellt und in ihrer Tiergestalt durch die Gegend zogen. Jasper verstand bis heute nicht, was Rick dazu bewogen hatte, einem Sibirischen Tiger in den Wäldern um Sanoro Unterschlupf zu gewähren, obwohl in ihrer kleinen Stadt unzählige Kinder und Teenager lebten, aber scheinbar sah ihr Boss irgendetwas in dem Einsiedler, was den restlichen Mitgliedern ihres Rudels, einschließlich seiner selbst, entging.

»William! Es reicht jetzt!«

Rick trat zwischen die Männer und nach einem drohenden Blick zu dem Wolf, zog sich Bill endlich mit gesenktem Blick zurück und nahm einen Sessel beim Fenster in Beschlag, weit weg von dem Tiger und von Rick.

Rick sah zurück zu Archer. »Sag' uns, was du mir neulich am Telefon erzählt hast. Und wenn möglich, bitte mit ein paar mehr Worten, als deinem überaus höflichen: 'Schaff' diese Jäger aus meinem Revier, sonst fresse ich sie.'«

»Fünf Männer. Zwei Jäger, drei dumme Schläger. Sie waren etwa eine halbe Stunde nördlich von meinem Unterschlupf im Wald unterwegs. Westlich von Monroes Revier. Gewehre und Messer, zwei Geländewagen. Sie schossen mit Schalldämpfern, erlegten einen Bären, der nicht zu deinem Rudel gehörte, und zogen wieder ab. Kümmert euch um die Jäger.«

»Was ist mit diesen Schlägern?«, fragte Rick und bekam ein Schulterzucken zur Antwort. »Stellan!«

»Komplette Idioten. Werden gut bezahlt, schätze ich. Keine Bedrohung.«

»Für dich oder uns?«

Statt einer Antwort grinste Archer überheblich und wurde dafür aus mehreren Kehlen angeknurrt, was sein Grinsen noch einen Tick in die Breite wachsen ließ. Dieser arrogante Tiger wusste genau, dass man ihm nur im Rudel gefährlich werden konnte. Einzeln hätte nicht einmal Rick eine Chance gegen den Mann, sollte der je auf die Idee kommen, ihren Boss herauszufordern, was hoffentlich niemals passierte. Für Jasper war Rick Malloy der perfekte Rudelführer und daran würde sich, wenn es nach ihm ging, in den nächsten Jahren auch nichts ändern.

Rick hob eine Hand und augenblicklich kehrte wieder Ruhe ein. »Der Bär. War er ein Wandler?«

Archer nickte.

»Die Eindringlinge?«

»Menschen.«

»Sicher?«

Archer schnaubte abfällig, was Rick Antwort genug war, da er sich ihm zuwandte. »Jasper, hat Kad noch etwas über andere Verschwundene gesagt? War ein Bär dabei?«

»Weiß ich nicht.« Jasper umarmte Sebastian von hinten, der sich daraufhin merklich entspannte. »Er hat nur von Oswalds Tochter erzählt, meinte aber auch, dass seit Jahren Wandler auf der ganzen Welt verschwinden, was wir bereits wissen. Und er sagte, dass Keeley Oswald nicht die Einzige war, die in letzter Zeit jagen oder laufen ging und nie wieder aufgetaucht ist.«

Sein Boss nickte und sah zurück zu Archer. »Wie oft hast du diese Jäger in unseren Wäldern gesehen?« Der Tiger hob einen Finger, doch damit gab sich Rick nicht zufrieden. »Einmal nur? Das kaufe ich dir nicht ab. Okay, ich frage anders … Waren sie schon früher da? Konntest du sie riechen? Gab es Spuren, auch außerhalb deiner Reviergrenzen?«

»Ja.«

»Du blöder Scheißkerl!«, fuhr Bill aus der Haut und sprang auf. »Wann hattest du vor, uns davon zu erzählen? Wenn sie in Sanoro einfallen und unsere Familien abschlachten?«

»Dieser Bastard ist ein verdammtes Sicherheitsrisiko!«

»Wir sollten ihn aus der Stadt jagen!«

»Du hättest ihm nie erlauben dürfen zu bleiben!«

»Genug!«, übertönte Rick die folgenden Beleidigungen und Flüche in Archers Richtung, und Jasper atmete erleichtert aus, da er es mit seiner energischen Stimme tatsächlich schaffte, die Wächter zu beruhigen und ein Blutbad zu verhindern. »Stellan hat meine Erlaubnis zu bleiben. Das wisst ihr und daran halte ich auch jetzt fest. Wer etwas dazu sagen will, kann mich nach dieser Versammlung ansprechen. Privat. Kapiert?« Ricks Blick suchte den von Archer. »Du bist hiermit zum Essen eingeladen. Ich will alles wissen, was du mir über diese Jäger und ihre drei Handlanger sagen kannst. Wirklich alles, Stellan.«

»Essen? In diesem Haus? Heute?«

»Nein, morgen. Sieben Uhr abends. Sei pünktlich.«

Archers verdatterter Blick reizte Jasper ungewollt zu einem heiteren Kichern, das er versteckte, indem er das Gesicht hastig in Sebastians Nacken vergrub. Irgendjemand stach ihm neckend mit dem Finger in die Seite und Jasper schlug blind zu. Adams folgendes Glucksen verriet ihn und Jasper holte erneut aus. Ein empörtes Schnauben später fand er sich auf der Couch wieder, in die Sebastian ihn geschubst hatte und jetzt tadelnd zwischen ihm und Adam umhersah.

»Manchmal frage ich mich ernsthaft, wie alt ihr beide seid.«

»Zwölf, höchstens«, grollte Paul und zog Adam eifersüchtig zu sich, was Jasper mit einer herausgestreckten Zunge in seine Richtung kommentierte. »Dir gehört der Arsch versohlt.«

»Seit wann stehst du denn auf Spanking, mein Schatz?«

Paul fletschte die Zähne. »Nenn' mich nicht Schatz!«

»Herrje, nehmt euch ein Zimmer.« Bill wich lachend aus, als Paul nach ihm trat und legte grinsend einen Arm um Eduardo. »Na, Schatz, stehst du auch auf Spanking?«

»Bin ich denn nur von Perverslingen umgeben?« Eduardos gespielt resignierte Worte wurden von einem Grinsen begleitet, das allerdings gleich darauf von einem verlegenen Blick ersetzt wurde. »Äh … Ja, Boss?«

Jasper zuckte ertappt zusammen und sah zur Tür, wo Rick und Norman kopfschüttelnd nebeneinander standen und sie mit einer Mischung aus Belustigung und Resignation ansahen. Von Archer war nichts mehr zu sehen, was mit Sicherheit auch das Beste war. Jasper wollte gar nicht wissen, was dieser Tiger von ihnen allen hielt, aber nachdem sie sich gerade dermaßen zum Affen gemacht hatten, war es wohl kaum etwas Gutes.

Rick seufzte gespielt und sah zu Norman. »Und? Fragst du dich immer noch, wieso ich einen Stellvertreter wollte?«

»Nein, seit eben nicht mehr.«

»Gut«, erklärte Rick trocken und machte kehrt. »Kümmere du dich um den Kindergarten. Ich rufe Oswald an und bringe ihn auf den neuesten Stand. Bast?«

»Ja?«

»Bring Jasper nach Hause.«

Oh nein, bloß nicht. Jasper sprang von der Couch auf. »Ich bin sehr wohl alt genug, um ...«

»Mache ich«, fuhr Sebastian ihm ins Wort und bevor Jasper seinen Widerspruch beenden konnte, hatte sein bester Freund ihn schon in den Flur gezerrt und hielt ihm ganz gentlemanlike seine Winterjacke hin, in die er dann mit einem nachgebenden Stöhnen schlüpfte. Er konnte einem bittend dreinschauenden Sebastian Monroe einfach nichts abschlagen.

»Also?«, fragte er, als sie kurz darauf die Hauptstraße von Sanoro entlang stapften. »Willst du mir jetzt die Leviten wegen Jonah lesen?«

Sebastian grinste schief. »Nein. Ich will mich entschuldigen, weil Rick mir sonst eine verpasst … Und ich schätze, du auch. Es tut mir leid, Jas. Ich übertreibe manchmal, ich weiß.«

Jasper musste ungewollt grinsen, denn Rick hatte gar keine Zeit gehabt, Sebastian Schläge anzudrohen. »Trent hat dich zur Minna gemacht, oder?«

»So ungefähr«, gab Sebastian zu und legte dann einen Arm um seine Schultern. »Mein sturer Verlobter ist der Meinung, du brauchst keinen großen Bruder, der dir auf die Nerven geht, sondern deinen besten Freund. Ich soll also aufhören, um dich herumzuschwirren, wie ich es bei ihm nach der Entführung gemacht habe, bevor du und er ernsthaft sauer werdet.«

»Ich werde ihm dafür danken.«

»Pfft. Verbrüdern gilt nicht. Ich bin eben gerne ein nerviger Bruder«, nörgelte Sebastian wie erwartet und Jasper boxte ihm dafür lachend in die Seite. »Du bist ein brutaler Kerl. Aber ich mag dich trotzdem.«

»Dein Glück.«

»War er gut zu dir?«

»Bast ...«, murmelte Jasper warnend und erntete ein leichtes Schulterzucken dafür. »Lass es sein, okay?«

»Ich frage doch nur.«

»Ja, er war gut zu mir. Nein, ich werde keine weitere Frage über ihn beantworten. Und bevor du dir was Neues überlegst, erinnere ich dich besser daran, dass ich Trents Handynummer auf Kurzwahl im Speicher habe.«

»Willst du heute zu uns zum Abendessen kommen?«

Jasper grinste über den plumpen Ablenkungsversuch, gab aber nickend nach. So blieb er zumindest mit seinem neuen Nachbarn verschont und bestimmt hatte Trent wieder ein paar amüsante Anekdoten von ehemaligen Dreharbeiten auf Lager. Jasper hakte sich grinsend bei Sebastian unter und ließ seinen Blick gemütlich durch ihre kleine Stadt streifen.

Es schneite schon wieder und daran würde sich so schnell auch nichts ändern. Laut dem Wetterbericht von heute Morgen nahm der Winter gerade erst richtig Fahrt auf, dabei hatten sie bereits Ende März. Dass sie Ostern im tiefsten Schnee feierten, war in Sanoro allerdings nichts Besonderes, was man von der Winterhochzeit ihres momentanen Traumpaares natürlich nicht behaupten konnte.

Apropos Traumpaar …

»Habt ihr euch schon einen Termin überlegt?«

»Termin?«

»Für eure Hochzeit«, sagte Jasper und Sebastian schüttelte den Kopf, bevor er seine freie Hand in die Jackentasche schob.

»Trent will Adam und Paul nicht die Show stehlen, es hat schließlich lange genug gedauert, die zwei vor den Altar zu kriegen. Außerdem sucht er derzeit sich selbst oder eher nach etwas, was er in Zukunft tun kann. Beruflich gesehen, meine ich. Mir ist es ohnehin egal, er ist mein Gefährte und das bleibt er. So oder so.«

Was das betraf, konnte er kaum widersprechen, immerhin waren Rick und Annie das beste Beispiel dafür, dass man auch ohne Trauschein zusammenleben konnte. »Hat er denn schon eine ungefähre Vorstellung, was er machen will?«

»Nein, und das ärgert ihn unheimlich.« Sebastian verdrehte die Augen gen Himmel. »Erst letzte Woche hat er mir erklärt, dass ich mir einen Idioten zum Partner gesucht habe, weil er ja, abgesehen vom oscarreifen Lügen vor laufenden Kameras, nichts kann.«

Jasper stöhnte frustriert. »Ich hoffe, du hast ihm ordentlich die Meinung gesagt.«

»Habe ich und durfte dafür auf der Couch übernachten.«

»Oha«, machte Jasper, doch Sebastian gluckste.

»Keine Sorge, er hat sich am nächsten Morgen ausführlich bei mir dafür entschuldigt.«

»Bitte keine Details. Obwohl … Leihst du mir Trent mal für eine Nacht aus?«, fragte Jasper frech und begann zu lachen, als Sebastian ihn prompt anfauchte. »Reingefallen.«

 

 

 

Kapitel 2

- Greg -

 

 

 

 

Greg grinste unwillkürlich, als er durch das Ladenfenster sehen konnte, wie Sebastian seinen launischen Nachbarn laut lachend über eine Schulter hob und Jasper danach kurzerhand in eine tiefe Schneewehe am Straßenrand warf. Der Rudelarzt fluchte und lachte zugleich, drohte Sebastian mit der Faust und bekam dafür umgehend eine große Ladung Schnee in die Jacke gestopft. Der darauffolgende entrüstete Schrei von Jasper war sogar durch die geschlossene Ladentür zu hören und brachte den Besitzer des Geschäfts, der sich ihm als Caruso vorgestellt hatte, zum Lachen.

»Die zwei benehmen sich manchmal kindischer als meine Jungs.« Caruso zog schmunzelnd seine Nudelpackungen über den Scanner und legte sie danach in eine der beiden Tüten, die neben ihm auf dem Tresen standen. »Hast du eigene Kinder, Greg, oder willst du mal welche?«

»Nein und Ja.«

»Guter Mann.« Greg sah den Wandler verwundert an, der daraufhin anfing zu grinsen. »Nicht falsch verstehen, ich liebe meine drei Miesmuscheln, aber nicht jeder ist dafür geschaffen und ich mag es, wenn ein Mann genau weiß, was er will oder eben nicht ... Also? Hat unser Boss dich schon zum Arbeiten verdonnert?«

»Nein«, antwortete Greg und bekam fast einen Schlag auf die Finger, als er Caruso beim Einpacken des Toastbrots helfen wollte. Er zuckte bei dessen tadelndem Blick amüsiert mit den Schultern und ließ den Mann dann allein weiter einpacken. »Ich habe noch Schonfrist, um mich zu Ende einzurichten, sagt Rick. Derzeit bin ich ohnehin damit beschäftigt Trents Karriere abzuwickeln. Papierkram dauert seine Zeit.«

»Aber du kommst zur Hochzeit am Wochenende?«

»Als wenn ich mir die entgehen lassen würde«, antwortete Greg belustigt und Caruso lachte.

»Wo ich dich gerade so dezent aushorche … Frau, Freundin oder Freund? Jemanden zum Mitbringen?«

Typischer Kleinstädter. Trent hatte ihn schon vor mehreren Wochen gewarnt, dass man ihm auf den Zahn fühlen würde, sobald er sein Haus bezogen hatte, aber entweder hatte Malloy ein Machtwort gesprochen oder das eisige Winterwetter hielt die Einwohner von neugierigen Fragen und Besuchen ab, denn bis auf Caruso hatte man ihn bislang in Ruhe gelassen.

Nicht, dass die Bewohner von Sanoro unhöflich oder zurückhaltend wären, im Gegenteil. Bei seinem Einzug war das Haus voller Gestaltwandler gewesen, die beim Tragen seiner Möbel geholfen und ihm die als Dankeschön gesponserten Bierkästen und Pizzen innerhalb von wenigen Minuten förmlich aus den Händen gerissen hatten. Doch das war bereits drei Wochen her und seither genoss er es in vollen Zügen, jeden Morgen ohne Wecker aufzustehen und in aller Ruhe ein Zimmer nach dem anderen wohnlich zu machen.

»Nichts davon«, sagte er schließlich und kramte nach seiner Geldbörse. Im nächsten Moment fiel ihm etwas ein. »Nehmt ihr Kreditkarten?«

Caruso schlug lachend eine Hand auf den Tresen. »Typisch Großstädter. Ja, du Snob, wir nehmen sogar Kreditkarten, auch wenn die meisten lieber mit Bargeld zahlen. Aber nachdem Trent mal zwei Packungen Reis mit seiner goldenen Irgendwas bezahlen wollte, sehr erheiternd übrigens, hat meine Frau mir befohlen, moderner zu werden.«

»Gott sei Dank«, murmelte Greg und wurde dafür prompt ausgelacht.

»Ja, ja«, feixte Caruso und zwinkerte ihm zu. »Was ist nun? Keine Beziehung in Sicht?«

»Wieso? Willst du mir deine Tochter überlassen?«

»Selbst wenn ich eine hätte, würde ich dich eher erschießen, als sie in dein Bett zu lassen. Und jetzt raus damit. Bist du nun Single oder nicht?«

Greg seufzte leise. »Hilft es, wenn ich dich böse ansehe und dir erkläre, dass dich das nichts angeht?«

»Nein.«

»Das hatte ich befürchtet. Ich tue es trotzdem«, sagte Greg mit einem Schmunzeln, wofür er ein weiteres Mal ausgelacht wurde, während seine übrigen Einkäufe nach und nach in den Papiertüten landeten. Als Caruso fertig war und ihn abkassiert hatte, stieß er einen lauten Pfiff aus und Greg, der ahnte, wem jener gegolten hatte, sah aus dem Fenster, direkt in Sebastians fragendes Gesicht.

»Kommt her, ihr Spinner. Greg braucht Hilfe beim Tragen.«

Sebastian nickte und sagte etwas zu Jasper. Das folgende Mienenspiel in dessen Gesicht war eindeutig und brachte nicht nur Greg zum Seufzen.

»Lass ihn damit nicht zu lange durchkommen«, murmelte Caruso im nächsten Moment und tippte sich vielsagend gegen die Stirn, als Greg sich unschuldig gab. »Das zieht nicht, Greg Rivers. Sanoro ist ein kleiner Ort und jeder weiß, was er mit dir abzieht. Als ich den Grund erfuhr, habe ich ihn für eine Weile sogar verstanden. Aber er muss lernen über seine Nasenspitze hinauszusehen. Es gibt nicht immer nur schwarz oder weiß.«

»Mit seiner Vorbelastung wird das schwer werden.«

Caruso nickte. »Ich weiß, aber genau deswegen muss unser Doc verstehen, dass du damals alles für Trent getan hast, was zu jenem Zeitpunkt möglich war. Wie gesagt, es gibt nicht nur eine Sichtweise.«

Die Klingel über der Ladentür bimmelte, als Sebastian und Jasper eintraten, letzterer verdrehte gleich die Augen, nachdem er einen Blick auf seine Einkäufe geworden hatte. »Wegen zwei läppischen Tüten störst du uns?«

»Jasper, treib' es nicht zu weit«, antwortete Caruso in einem Tonfall, der schwer zu beschreiben war, aber seine Wirkung tat, denn Jasper wurde augenblicklich rot und griff sich murrend eine der Tüten, während Sebastian mit einem Schulterzucken, das seine Hilflosigkeit deutlich zeigte, die andere nahm.

Der Weg zu seinem Haus war kurz und schweigsam, aber Greg störte sich nicht daran, denn so bekam er die Gelegenheit, Jasper das erste Mal genauer betrachten zu können, der einige Schritte vor Sebastian und ihm lief und dabei so steif wirkte, als hätte er ein Brett im Kreuz. Es war amüsant anzusehen, doch Caruso hatte recht. Er musste Jasper aus dem Schneckenhaus locken, damit sie das Ganze vom Tisch bekamen und neu anfangen konnten, und genau das würde er gleich tun.

»Schuhe aus«, verlangte Greg, nachdem er aufgeschlossen hatte, und trat in seine geräumige Diele, von der vier Türen in die übrigen Räume vom Erdgeschoss abgingen, während links von ihm eine Treppe nach oben zu einer offenen Galerie führte.

Auch im oberen Stockwerk hatte er vier Zimmer, wovon er eines als Bibliothek einrichten wollte. Dazu kamen ein großes Bad, ein Arbeitszimmer, das er momentan kaum benutzte, und sein Schlafzimmer. Das Erdgeschoss war ihm allerdings lieber. Er liebte seine offene Küche und die Mischung von Ess- und Wohnzimmer in einem. Außerdem gab es ein kleines WC und einen Hauswirtschaftsraum, ähnlich jenem von Sebastian. Im Sommer würde ihm seine ausgebaute Terrasse mit Sicherheit gute Dienste leisten, aber noch ließ der anhaltende Schneefall es nicht zu, überhaupt einen Blick auf seinen Garten zu werfen. Er sah bislang nur, dass er Bäume hatte, doch irgendwo unter dem Schnee sollte es angeblich Blumenbeete geben.

»Wieso soll ich meine Schuhe ausziehen? Ich habe nicht vor, deine Hütte zu besichtigen oder zum Kaffeetrinken zu bleiben, also nimm dein Zeug und ...«

Jasper verstummte abrupt, als Greg sich zu ihm umdrehte. Er hatte genug von diesem verzogenen Kerl, Arzt hin oder her. Es reichte, und zwar endgültig. »Du wirst keinen Schnee ins Haus schleppen. Zieh die Schuhe aus!«

»Ist ja schon gut ... Meine Fresse«, fauchte Jasper und stellte die Tüte mit den Einkäufen auf den Boden, während Sebastian neben ihm bereits seine Stiefel auszog und dabei unübersehbar gegen ein Grinsen ankämpfte. Kein Wunder, denn selbst Greg fand es mehr als lustig, dass Jasper offenbar gar nicht auf die Idee kam, die Tüte einfach stehenzulassen und kehrtzumachen. Äußerst interessant.

»Langsam sieht es richtig gemütlich aus.« Sebastian begann sich umzusehen. »Die Wände sind noch ziemlich kahl. Wann kommen deine Bilder an?«

»Laut Lieferdienst morgen oder übermorgen. Allerdings ist das vom Wetter abhängig, also gibt es keine Garantie.«

Sebastian lachte. »Wie jeden Winter. Ich setze Kaffee auf.«

Greg nahm die von Jasper abgestellte Tüte und folgte ihm in die Küche, ohne sich noch einmal nach Jasper umzusehen. Sollte der ruhig noch eine Weile schmollen, damit hatte er ja dank Trent genug Erfahrung. Er schüttelte den Kopf, als Sebastian die Kaffeedose nahm, die immer griffbereit neben der Kaffeemaschine stand, was ihm einen irritierten Blick einbrachte.

»Erfinde eine Ausrede und lass uns allein«, bat er leise und stellte seine Einkäufe auf die Arbeitsplatte neben dem Herd.

Sebastian begriff sofort. »Wird auch langsam Zeit«, erklärte er ebenso leise und kramte in seiner Hosentasche. Es folgte ein übertrieben lautes Stöhnen, dann meinte Sebastian in normaler Lautstärke. »Mist, das habe ich total vergessen. Ich muss los.«

»Wohin?«, fragte Jasper verdutzt, der eben zu ihnen in die Küche kam und die zweite Tüte zu der ersten stellte.

»Nach Hause.« Sebastian stellte die Kaffeedose beiseite und schob sich an Jasper vorbei, wobei er dem auf die Schulter klopfte. »Ich hatte Trent doch versprochen, dass wir heute den neuen Kratzbaum für Chelsea aufbauen. Er hat mich gerade angeschrieben, ob ich mich drücken will. Verschieben wir das Abendessen auf morgen, ja? Tut mir leid, Jas. Mach's gut, Greg. Und seid lieb zueinander.«

Jasper war zu überrascht, um rechtzeitig zu reagieren, und erst als die Haustür hinter Sebastian zufiel, schnaubte er. »Lieb sein, ich fasse es nicht. Wovon träumt der Kerl nachts?«

»Ich schätze, das wollen wir gar nicht wissen.«

»Sprich nur von dir, Rivers.«

»Kaffee?«, fragte Greg schlicht und begann die Einkäufe in die entsprechenden Schränke zu räumen, weil Jasper ihn auf die Frage hin nur abfällig ansah. »Falls du dich entschließt, das Angebot anzunehmen, Milch ist im Kühlschrank, die Dose mit dem Kaffee ist nicht zu übersehen und Tassen stehen neben der Spüle im Oberschrank.«

»Ich soll ihn kochen?«

»Es sei denn, du willst lieber die Einkäufe wegräumen.«

»Gar nichts will ich. Vor allem nicht von dir, du blöder ...« Jasper unterbrach sich im letzten Moment, spielte Greg damit allerdings perfekt in die Hände, der von den Tüten abließ und sich umdrehte. Jasper stand immer noch an der Tür, er selbst war keine Armlänge von ihm entfernt, was dem Arzt ebenfalls gerade auffiel, denn er trat einen Schritt zurück in den Flur, wo er die Hände zu Fäusten ballte.

»Also gut, reden wir endlich Klartext. Raus damit, Jasper.« Greg verschränkte die Arme vor der Brust, als ihn ein ratloser Blick traf. »Wir können natürlich gerne weiter so tun, als wäre zwischen uns beiden alles in bester Ordnung, aber für solchen Kinderkram bin ich eindeutig zu alt.«

»Wovon redest du überhaupt?«

»Ich rede von der unübersehbaren Tatsache, dass du mir seit unserem ersten Treffen am liebsten die Augen auskratzen würdest, wegen dem, was ich Trent deiner Meinung nach alles angetan habe.« Jasper versteifte sich. »Na los«, forderte Greg erneut. »Du hast hier und jetzt die perfekte Gelegenheit. Sprich dich aus. Frei von der Leber weg.« Jasper wandte sich ab, aber Greg hatte nicht vor, ihn noch mal davonlaufen zu lassen. »Du kannst natürlich wieder den Schwanz einziehen, genau wie der kleine Feigling, für den ich dich halte.«

»Du dreckiges Arschloch!« Jasper fuhr zu ihm herum. »Wie konntest du ihm Drogen besorgen? Trent war dein Freund und du hast ihn benutzt wie Dealer ihre Junkies. Freunde helfen einander. Sie hintergehen sich nicht, aber vor allem liefern sie einem Süchtigen keinen Stoff. Was bist du eigentlich für ein Schwein? Und dann kommst du hierher, kaufst dir ein Haus und tust, als wäre alles in Butter. Weißt du, was du verdienst? Eine verdammte Tracht Prügel! Er hätte sterben können, aber du bist offenbar auch noch stolz auf das, was du Trent angetan hast.« Jasper schnaubte abfällig. »Und komm' mir nicht mit der Ausrede, dass es dir lieber war, zu wissen, was er nimmt, und es ihm deswegen besorgt hast. Das macht es keinen Deut besser. Du solltest im Gefängnis sitzen, da gehörst du hin! Nicht nach Sanoro. Nicht zu uns. Du bist keiner von uns und wirst es auch niemals sein!«

»Du hast recht«, stimmte Greg Jasper gelassen zu, während der nach Luft rang. »Ich bin keiner von euch. Ich werde mich nie in ein Tier verwandeln, nicht nachts durch Wälder streifen oder im Dunkeln etwas sehen. Ich bin ein Mensch. Ein völlig normaler Sterblicher mit Fehlern. Ich bin weder ein Moralapostel noch der liebe Gott, aber das erwartet auch niemand von mir. Außer dir. Ich habe Trent geholfen. Auf die einzige Art, die er mir zu jenem Zeitpunkt zugestanden hat. Ich habe alles für ihn getan, um dafür zu sorgen, dass er keinen Dreck kauft, nicht an einer Überdosis verreckt oder vom Dach springt.

Ich war sein Freund, Jasper. Es war keine perfekte Lösung, aber ich war da. Ich habe für ihn getan, was deine Freunde für dich taten. Was Sebastian für dich tat, als du gute Freunde am dringendsten in deinem Leben brauchtest. Und falls du es nur noch ein einziges Mal wagst, das herabzusetzen, um damit von deinen eigenen Schwächen und Ängsten abzulenken, wirst du mich kennenlernen, Jasper Baker. Denn eines hast du in deiner Wut, die ich übrigens sehr gut nachvollziehen kann, offenbar vergessen … Wir beide haben weitaus mehr gemeinsam, als du wahrhaben willst, denn du bist auch nur ein Mensch. Und jetzt raus hier!«

Greg zog eine gequälte Grimasse und rieb sich die Augen, nachdem die Haustür hinter einem mehr als bleichen Jasper zugeschlagen war, ehe er zum Telefon griff. Er wusste, dass er dem Arzt gerade auf brutalste Weise den Spiegel vorgehalten hatte und Greg wollte nicht, dass der junge Mann damit heute Abend allein blieb. Sebastian nahm seinen Anruf entgegen.

»Sieh nach Jasper«, bat er und seufzte, als Sebastian nichts sagte. »Frag' nicht. Noch nicht. Es hätte nicht schlechter laufen können, also sieh bitte nach ihm.«

»In Ordnung. Brauchst du was?«

»Nein.«

»Lügner«, fauchte Sebastian verärgert und legte auf.

Keine zehn Minuten später, die Kaffeemaschine war gerade durchgelaufen und Greg hatte sich mit einer Tasse am Tisch im Essbereich niedergelassen, klopfte es erneut an seiner Tür und brachte ihn zum Stöhnen, weil er genau wusste, wer das war.

»Es ist offen.«

Trent kam zu ihm ins Wohnzimmer, betrachtete ihn einen Moment und setzte sich dann leise seufzend an den Tisch. »Ich schätze, du warst brutal ehrlich?«

»Erinnerst du dich noch daran, wie ich dir den verdienten Arschtritt wegen deiner Sucht gegeben habe?«

»Scheiße«, murmelte Trent und vergrub das Gesicht in den Händen. »Greg, ich weiß deine Hilfe heute sehr zu schätzen, wirklich, aber Jasper ist ...«

»Unschuldig, süß und total naiv in seiner Weltansicht.«

»Das weiß ich, aber ...«

»Es ist nicht immer alles schwarz und weiß«, wiederholte Greg Carusos Worte aus dem Laden. »Der Mann ist 29 Jahre alt und sollte das längst wissen. Er hat eine Menge durchgemacht, das weiß ich, aber das hast du auch und du bist trotzdem noch am Leben. Er wird damit klarkommen.«

»Mit der Wahrheit oder dir?«

Greg lachte, stand auf und trug seine Tasse zur Spüle, wo er sie auskippte und ausspülte, um sich dann mit dem Rücken gegen die Arbeitsfläche zu lehnen. Trent folgte ihm und blieb im offenen Durchgang zum Essbereich stehen. Sein fragender Blick fiel Greg nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen auf, doch bislang war Trent entweder nicht bereit gewesen, mit ihm darüber zu reden, oder er war schlicht zu höflich, um danach zu fragen. Vielleicht sollte er eine Ausnahme machen und, statt abzuwarten, selbst den ersten Schritt tun.

»Mit beidem. Ja, ich war zu grob, das weiß ich, aber ich bin keiner von euch. Mir fehlt das Fingerspitzengefühl in diesen heiklen Wandlerfragen, die vor allem euch Schläfer betreffen, das ist mir bewusst, aber ehrlich gesagt ...«

»Es ist dir scheißegal, schon klar.«

Greg zuckte die Schultern. »Warum soll ich um den heißen Brei herumreden? Du weißt, dass ich das nicht tue. Das habe ich nicht mal bei dir getan, obwohl du ein gefährdeter Junkie warst. Du wusstest von Anfang an, woran du bei mir bist und du bist damit klargekommen.«

»Jas ist nicht wie ich«, hielt Trent ihm vor und Greg nickte, denn das war ihm sehr wohl bewusst.

»Das behauptet auch niemand. Er ist allerdings kein kleiner Junge, der in Watte gepackt werden muss, weil ihm kein Fell wächst.«

Trent sah ihn verblüfft an. »Das tut doch keiner.«

»Bewusst nicht, nein.«

»Du denkst, dass seine Familie … dass wir …?«

Greg schüttelte den Kopf. »Ich kenne seine Familie nicht und ich bezweifle, dass du oder Sebastian das mit Absicht tut. Aber Jasper erweckt bei mir den Eindruck und ich lasse mir nicht von einem Kerl, der sich wie ein trotziges, bockiges Kind aufführt, vorwerfen, dein Leben ruiniert zu haben.«

»Du hast es gerettet, nicht ruiniert.«

»Das habe ich ihm auch gesagt.«

»Ich frage mich ja langsam, ob ...« Trent brach ab und wich seinem Blick aus.

Na sieh mal einer an, dachte Greg, es war also nicht völlig unbemerkt geblieben. Er grinste. »Ja. Es ist nicht zu übersehen. Jedenfalls nicht für mich.«

Trent stöhnte. »Und warum sagt er dir das nicht einfach?«

»Tja, das musst du schon deinen kleinen Doc fragen. Ich bin nicht dafür zuständig, ihn darüber aufzuklären, dass er mir an die Klamotten will.«

»Greg!«

Greg lachte und winkte ab. »Wir haben noch nicht darüber gesprochen«, sagte er dann und beobachtete Trent, der wie erwartet die Schultern hochzog. Er wusste es also, war sich aber nicht sicher, ob er fragen sollte oder eher durfte. »Hast du eine Frage dazu?«

»Nein.«

Greg schmunzelte. »Seit wann bist du prüde?«

Trent schnaubte. »Seit wann stehst du auf Männer?«

»Ah, die wohl wichtigste Frage überhaupt.« Greg trat an den Kühlschrank. »Cola?« Auf Trents Nicken hin nahm er zwei Flaschen heraus und deutete zurück an den Esstisch. Erst, als sie beide saßen und jeder etwas getrunken hatten, räusperte er sich und suchte Trents Blick. »Ich stehe nicht nur auf Männer, ich mag auch Frauen. Und deine nächste Frage, die du gerade nicht stellen willst, ist leicht zu beantworten, denn ich habe dir nichts davon erzählt, weil es nie ein Thema zwischen uns war. Wir hatten keine Zeit beste Freunde zu werden, dazu kam dein Erfolg zu heftig und zu schnell, und du weißt selbst am besten, was wir am Ende waren.«

»Arbeitskollegen?«

»Ja, so kann man es wohl auch nennen«, stimmte Greg zu. »Außerdem bin ich nie damit hausieren gegangen, dass meine sexuellen Vorlieben nicht gerade der Norm entsprechen. Das ging niemanden etwas an, nicht einmal dich.«

Trent begann mit der Colaflasche zu spielen. »Ich kann dich verstehen, obwohl es irgendwie schon seltsam ist. Ich meine, wir beide kennen uns so lange und doch habe ich erst jetzt, seit das alles mit Sebastian anfing, das Gefühl, dass wir anfangen Freunde zu werden. Klingt verrückt, oder?«

»Besser spät als nie«, antwortete Greg und grinste, als Trent ihn überrascht ansah. »Es ist, wie es ist, Trent. Lass uns einfach das Beste daraus machen.«

»Und Jasper?«

Greg wiegte überlegend den Kopf. »Wie ich ihn einschätze, wird er die Nacht über schmollen und spätestens morgen früh einen neuen Grund finden, mir an die Kehle zu gehen.«

Trent machte ein ungläubiges Geräusch. »Das gibt’s ja wohl nicht … Du genießt das richtig, kann das sein?«

Greg lachte leise. »Du hast keine Ahnung wie sehr.«

»Greg!«

»Was?«, gab er sich unschuldig. »Es ist ewig her, dass ich so einen süßen Kerl im Bett hatte und früher oder später wird der liebe Jasper genau da landen, wetten?«

»Greg!« Trent verschränkte die Arme vor der Brust und hob tadelnd eine Braue. »Muss ich dir jetzt mit dem üblichen, wenn du ihm wehtust, setzt es was, kommen?«

»Keine Sorge«, antwortete Greg milde lächelnd. »Ich werde ihm nicht wehtun, es sei denn, er will es. Und ich werde Jasper erst in mein Bett zerren, wenn er mich darum bittet.«

»Eher kratzt er dir die Augen aus«, erklärte Trent eisig und brachte Greg damit zum Grinsen. Es war zu lustig anzusehen, wie Trent, der sich noch vor einem Jahr einen Scheißdreck um andere gekümmert hatte, Jasper auf einmal zu seinem kleinen Bruder ernannt hatte und auf ihn aufpassen wollte.

»Ja, das kam vorhin ebenfalls zur Sprache, aber du kennst mich, ich liebe Herausforderungen. Du warst immerhin auch mal eine.«

»Mich wolltest du aber nicht ins Bett kriegen.«

Statt Trent zu antworten, beließ es Greg bei einem äußerst süffisanten Grinsen, das mit einem abfälligen Schnauben, aber zugleich heftigem Erröten kommentiert wurde, ehe Trent ihm gegen den Arm boxte und ihn einen Idioten nannte.

 

Der nächste Morgen kam eindeutig zu früh, aber Greg hatte einfach keine Chance, die anhaltenden Geräusche aus Jaspers Garten zu ignorieren, die schon vor einer Stunde angefangen hatten, und da war es gerade erst sieben Uhr gewesen. Er setzte sich mit einem Stöhnen im Bett auf, betrachtete sich kurz im gegenüberliegenden Schrankspiegel und entschied, dass er für sein Alter eindeutig zu viele Haare eingebüßt hatte. Aber er würde den Teufel tun und sich irgendwelches Zeugs in selbige oder auf den Schädel zu schmieren, oder schlimmer noch, sich deswegen unters Messer legen.

Es gab genügend Männer mit Geheimratsecken oder einer Glatze, die es trotzdem weit gebracht hatten. Bruce Willis und Hugo Weaving zum Beispiel. Über seinen kleinen Bauchansatz könnte man streiten, aber Greg kannte sich selbst gut genug, um es zu lassen, wie es war, denn Sport hatte er noch nie etwas abgewinnen können, sofern er nicht auf einer Matratze oder an anderen Orten stattfand.

»Verfluchte Scheiße!«

Die Vorstellung von abgehackten Gliedmaßen schoss Greg bei dem lauten Fluch durch den Kopf und er war so schnell aus dem Bett gesprungen und ans Fenster getreten, dass ihm erst ein paar Sekunden später einfiel, dass er nackt war. Da hatte er allerdings schon Jasper entdeckt und abgesehen von der Axt in der Hand und einem im Schnee liegenden Holzscheit, der mit finsterem Blick gemustert wurde, schien es ihm gut zu gehen. Offenbar hatte der Doc danebengehauen.

Greg genoss seinen Anflug von Schadenfreude und grinste, als auch der nächste heftige Schlag danebenging. Jasper musste wirklich stinksauer sein und wenn er ihn hier weiter ungeniert anstarrte, würde er bald bemerkt werden, und dann gab es mit Sicherheit richtig Ärger. Greg wusste das und trotzdem konnte er seine Beine einfach nicht dazu bewegen, ihren Platz am Fenster aufzugeben. Dabei hatte er heute eigentlich genug zu tun, denn seine gefühlten eine Million Bücher, die in sieben oder acht, da war er sich nicht sicher, großen Umzugskisten in der Bibliothek auf ihn warteten, wollten endlich in die Regale eingeräumt werden.

Aber wann bekam man am frühen Morgen schon mal einen so netten Anblick geboten? Obwohl Jasper ihm gegenüber Gift und Galle spuckte, war der Mann wirklich gut aussehend und Greg hätte sein Vermögen gewettet, dass er das auch wusste. Niemand stellte sich im tiefsten Winter bei zweistelligen Minusgraden freiwillig oben ohne in den Garten und hackte Holz. Jedenfalls niemand, der bei Verstand war. Und doch tat Baker gerade genau das.

Sein Handy begann zu klingeln und Greg nahm es ohne hinzuschauen vom Nachttisch. »Ja?«

»Wenn du Jas weiter so intensiv anstarrst, merkt er es bald und springt dir an die Gurgel. Nachdem er dir wertvolle Teile abgehackt hat, die du jedermann im Augenblick so freundlich präsentierst.«

Greg lachte leise. »Guten Morgen, Mister Monroe. Hat dir dein Verlobter etwa immer noch nicht beigebracht, dass man nicht über die Zäune seiner Nachbarn spannt?«

Sebastian schnaubte. »Adam hat in der Gegend Dienst und hat dich gesehen. Sehr ansehnlich, soll ich dir ausrichten, und nein, Paul war nicht dabei, sonst hätte Adam umgehend einen Tritt in den Hintern bekommen. Er hat mir allerdings auch von Jas' unsäglicher Laune erzählt, an der du ausnahmsweise mal nicht schuld bist. Das wollte ich dir sagen, daher rufe ich an.«

»Was hat er überhaupt?«, fragte Greg. »Er schlägt langsam den Hackklotz zu Brei, so wütend ist er.«

Sebastian seufzte hörbar genervt. »Er ist natürlich immer noch sauer, weil ihr Nachbarn seid und Rick sich weigert, ihm das andere freie Haus zu verkaufen, das weit weg von dir liegt. Dass du ihm gestern die Leviten gelesen hast und ich dir sogar zustimme, was sein Verhalten angeht, hat es leider nicht besser gemacht. Ganz zu schweigen davon, dass Annie ihn auf der Hochzeit übermorgen neben dich an den Tisch gesetzt hat. Das hat er übrigens vor knapp einer Stunde von ihr erfahren, als sie Jasper auf dem Weg zur Arbeit aus dem Bett warf, um ihm zu sagen, dass er aufhören soll, sich wie ein kindischer Trottel zu benehmen. Muss ich noch mehr sagen?«

Greg verdrehte die Augen. »Das ist doch albern. Und bitte hört auf, euch da einzumischen. Ich kläre das allein mit ihm.«

»Ach, und wann? Bisher warst du nicht gerade erfolgreich und Rick kann es nicht ausstehen, wenn in seinem Rudel dicke Luft herrscht. Außerdem weiß Jasper ganz genau, dass er sich unmöglich aufführt. Jeder hat es ihm gesagt. Mehrmals.«

»Und?«, fragte Greg nach, denn Sebastians Worte machten ihn auf einmal stutzig. Im nächsten Moment fiel der Groschen. »Ah, verstehe ... Ich schätze, du spielst auf die unübersehbare Tatsache an, dass er und noch ein paar andere Wandler aus der Stadt scharf auf mich sind.« Sebastian schwieg überrascht und brachte Greg damit zum Schmunzeln. »Ich bin vielleicht keiner von euch, aber ich habe sehr wohl Augen im Kopf.«

»Und scheinbar weißt du genau, was du willst.«

»Wundert dich das?«

»Ehrlich gesagt, ja.«

Greg lachte leise. »Trent ist nicht der Einzige, der sich mit Schauspielerei auskennt, und ihr Wandler vergesst ganz gerne, dass es, neben euren guten Nasen, auch andere Möglichkeiten gibt, um herauszufinden, ob jemand Interesse hat oder nicht.«

»Verstehe. Was wirst du deswegen tun?«

»Nichts.«

»Wie, nichts?«, fragte Sebastian überrascht und nach kurzer Überlegung entschied sich Greg ehrlich zu sein. Der Wandler war in den letzten Monaten zu einem guten Freund geworden und da Greg vorhatte, in Zukunft in Sanoro zu leben und sich ab und zu einen Liebhaber oder eine Liebhaberin zu nehmen, würde früher oder später sowieso herauskommen, dass er ein paar Vorlieben hatte, die nicht dem Standard entsprachen, was zwischen Erwachsenen im Bett allgemein üblich war.

»Jasper ist 16 Jahre jünger als ich und ich bezweifle, dass er Interesse an meinen Vorlieben hat. Das heißt allerdings nicht, dass ich kein Auge auf ihn geworfen hätte. Wenn er mich will und mir das offen zeigt, werde ich zugreifen. Und da du dich als sein großer Bruder fühlst, frage ich dich hier und jetzt, wirst du damit klarkommen?«

»Äh ...« Sebastian zögerte kurz. »Ich bin mir nicht sicher.«

»Dann denk' in Ruhe darüber nach und sag' mir später, wie du dich entschieden hast«, konterte Greg und hob grüßend die Hand, als sein Blick Jaspers traf, der fassungslos zu ihm hoch schaute, die Axt verkrampft in seiner Hand haltend. »Und ich werde mir jetzt besser etwas überziehen und meine Haustür verriegeln und verrammeln, bevor er auf die Idee kommt, über den Zaun zu springen, meine Terrassentür einzutreten und die Axt an mir auszuprobieren.«

»Hat er dich entdeckt?«

»Oh ja, das hat er. Sein Blick ist unbezahlbar.«

Sebastian begann zu lachen.

 

»Hast du es so nötig?«, fauchte Jasper keine zehn Minuten später, da hatte Greg es gerade geschafft sich anzuziehen und die Kaffeemaschine in Gang zu setzen, vor der er jetzt stand, während sein Nachbar hinter ihm wütend auf und ab stapfte. »Und dann auch noch nackt, ich glaub's nicht. Wahrscheinlich hat die gesamte Nachtschicht dich gesehen, du liebe Zeit. Ach, was rede ich, das kann mir doch egal sein, wenn du der halben Stadt deinen Schwanz zeigst. Aber das ist immer noch mein Garten und ich erwarte dort Privatsphäre.«

»Wenn du die willst, musst du dir eine Trennwand in den Garten bauen, die mindestens haushoch ist«, konterte Greg trocken und sah über die Schulter, als sein Telefon zu klingeln begann. »Entschuldige mich.« Er nahm ab, ohne vorher einen Blick auf das Display zu werfen.

»Gregory!«

Greg erstarrte. »Hallo, Mutter.«

»Du hast es also tatsächlich getan. Dein Vater ist schockiert. Was denkst du eigentlich, was du da tust?«

»Ich habe nichts gedacht, wie üblich, Mutter«, antwortete er tonlos und nicht zum ersten Mal, da es ohnehin egal war, was er zu ihr sagte. Vorwürfe waren das einzige, was diese Frau für ihn übrighatte.

»Willst du unseren Ruf denn völlig ruinieren? Du musst die Stadt sofort wieder verlassen. Denk' doch bitte an die Familie und revidiere deine Entscheidung. Komm' zu uns nach Hause. Wir kümmern uns um alles.«

Greg wurde eiskalt. Das Angebot war neu und daher umso erschreckender, denn er würde sich niemals wieder freiwillig in eine Abhängigkeit ihr gegenüber begeben. Er hatte all seine Kraft gebraucht, um seine Kindheit zu überleben, ohne von ihr völlig unterjocht und zerstört zu werden. Wie kam sie nur auf die vollkommen irrsinnige Idee, dass er sich das ein weiteres Mal antun ließ?

»Ich habe und werde meine Meinung, den Umzug hierher betreffend, nicht ändern. Darum ist es natürlich meine Schuld, dass euer guter Ruf darunter leidet. Ich bin eine große Schande für die Familie, das ist mir bewusst. Auf Wiedersehen, Mutter.«

Seine Hand zitterte nicht, als er auflegte, und er schaffte es sogar sich zu Jasper umzudrehen, ohne zu straucheln. Was er aber offenbar nicht schaffte, war, seine Mimik unter Kontrolle zu halten, denn Jasper wich sofort mehrere Schritte zurück und sah ihn beunruhigt an.

»Greg ...«

»Wir werden uns ein andermal weiter unterhalten«, wehrte er so kalt ab, dass Jasper sichtlich schauderte, ehe er nickte und sein Haus ohne ein weiteres Wort verließ.

 

 

 

Kapitel 3

- Rick Malloy -

 

 

 

 

Annie hatte sich für einen unkomplizierten Nudelauflauf entschieden, den sie notfalls warm stellen konnte, was nun seit mehr als einer Stunde der Fall war, da ihr Gast zwar eingetroffen war, aber seit besagter Stunde um das Haus herumlief, ohne an ihre Tür zu klopfen. Rick hätte seine Gefährtin für ihre typisch vorausschauende weibliche Entscheidung am liebsten geküsst, allerdings war sie dafür momentan nicht in der Stimmung. Sie machte sich Sorgen und daraus keinen Hehl.

»Glaubst du wirklich, er ist dafür schon bereit?«, fragte sie, den Blick in ihren Garten gerichtet, wo Stellan Archer gerade zum sechsten Mal über den Zaun sprang, um danach zwischen dick verschneiten Bäumen im Wald zu verschwinden. »Rick, er hat jetzt zum sechsten Mal kurz vor der Tür kehrtgemacht.«

»Ich weiß, und ich gestatte es ihm noch maximal zweimal, dann hole ich ihn rein.«

»Er ist nicht bereit für ein Rudel.«

»Annie, er wird es nie sein, wenn wir ihn nicht endlich ins kalte Wasser werfen.«

»Hast du Sienna deshalb über Nacht zu ihren Freundinnen geschickt?« Rick verdrehte die Augen und brachte Annie damit zum Lachen. »Wusste ich's doch.«

»Du kennst mich zu gut.«

»Oh ja, das tue ich, daher ist mir klar, dass dir ihr aktuelles Faible für große, starke Kerle mit finsterer Vergangenheit, wie William einer ist, zu denken gibt.«

»Bill?«, fragte Rick überrascht und sah vom Fenster weg zu Annie, denn davon hörte er heute zum ersten Mal. Doch bevor er den Mund öffnen konnte, um sich darüber zu beschweren, traf ihn ein tadelnder Blick.

»Du wirst dich nicht einmischen, sie sind beide alt genug. Sag' mir lieber, warum dir plötzlich so viel an Stellan liegt. Du hast ihm seinen Freiraum gelassen, seit er bei dir um Erlaubnis bat, bleiben zu dürfen. Was hat sich geändert, dass du ihn auf einmal zu einem Essen in unser Haus einlädst?«

Rick zog eine Grimasse, denn diese Frage hatte früher oder später kommen müssen. Allgemein mischte sich Annie zwar nicht in seine Rudelentscheidungen ein, aber es kam durchaus vor, dass sie sie offen hinterfragte und mehr über seine Gründe wissen wollte. Und Stellan Archer hatte von Anfang an das nötige Potenzial gehabt, zu einem Streitfall zu werden, denn als Tiger war er jedem in seinem Rudel überlegen und wusste das. Ebenso wie seine Wächter und die übrigen Bewohner in seiner Stadt das wussten und jedes Mal recht heftig reagierten, sobald Stellan auf einem seiner seltenen Ausflüge in den Geschäften auftauchte, um sich Vorräte oder Dinge des täglichen Bedarfs zu besorgen.

»Er erinnert mich an mich selbst«, sagte Rick schließlich und lächelte, als Annie hinter ihn trat und die Arme um ihn legte. »Du weißt, wie dicht ich damals an der Grenze war. Wie wenig Zeit mir geblieben wäre, ehe ich mich in meinem Bären verloren hätte.«

»Rick ...«

»Wir reden nicht mehr darüber, ich weiß.« Rick nahm ihre Hände in seine und drückte sie liebevoll. »Aber ich werde dir trotzdem nie vergessen, was du für mich getan hast. Wovor du mich mit deiner Liebe bewahrt hast. Stellan hat nicht mehr viel Zeit. Ich kann es ihm ansehen, weil ich die Vorzeichen kenne. Sein Tiger übernimmt mehr und mehr die Kontrolle, und wenn es uns nicht gelingt, ihn in unser Rudel zu integrieren, wird der Mensch in ihm bald nicht mehr da sein. Annie, er braucht uns und er braucht eine Gefährtin oder einen Gefährten. Ohne Partner, ohne Rudel, wird mir nichts anderes übrig bleiben, als Stellan zur Jagd freizugeben und du weißt, wie das endet. Sein Tiger wird dieses Rudel zerstören, wenn ich ihn nicht zu einem Teil davon mache.«

Annie seufzte leise und löste sich von ihm, um stattdessen vor ihn zu treten und zu ihm aufzusehen. »Gibt es jemanden? Mann oder Frau? Irgendjemand, der ihm gewachsen wäre und der vor allem Interesse hat?«

»In Sanoro? Nein.«

»Hm.« Sie schwieg einen Moment. »Wirst du Rivers darauf ansprechen, dass er Erkundigungen über uns einzieht?«

»Nein. Aber ich werde Norman morgen oder übermorgen erwürgen, weil er dir davon erzählt hat«, grollte Rick unernst und Annie lachte. »Was Greg betrifft ... Wenn ihm nicht gefällt, was er herausfindet, wird er mir das sagen. Falls er nichts sagt, ist es auch nicht von Belang.«

Rick schaute über Annies Kopf hinweg nach draußen und entdeckte Archer hinter einem Baum stehend. Er beobachtete sie und schien nicht zu wissen, was er von dem Anblick halten sollte. Seine erste Idee, Annie zu küssen, schob Rick zur Seite, als der Tiger den Mund verzog. Es lag keine richtige Abscheu in Archers Augen, aber Nähe, so unschuldig sie auch war, machte den Wandler offensichtlich sehr nervös. Dafür konnte es viele Gründe geben, Rick kannte unzählige aus den Leben der Wandler, die er nach und nach in dieser Stadt um sich gescharrt hatte. Das Problem war nur, dass von all diesen Gründen keiner ein guter war.

Er hob eine Hand und deutete zur Tür. »Jetzt, Stellan. Sonst wird das Essen endgültig kalt.«

Ein leises Knurren war durch das auf Kipp gestellte Fenster zu hören, doch nach einem garstigen Blick kam Archer hinter dem Baum hervor und sprang zum siebten Mal über den Zaun, der ihr Grundstück vom Wald trennte.

Kurz darauf klopfte es an der Hintertür.

 

 

 

Kapitel 4

- Jasper -

 

 

 

 

Jasper hatte die letzte Nacht kaum geschlafen, als er Trent und Sebastian am Vormittag der Hochzeit die Tür öffnete. Sie hatten schon vor Wochen besprochen, in seinen Kühlschränken im Praxisraum die Getränke und Häppchen zu lagern, bevor er seine Klinik nächsten Monat offiziell eröffnen wollte. Da war es nur logisch, sich auch bei ihm umzuziehen und dann mit ein oder zwei Wagen, je nachdem, wie viel Platz sie für das ganze Zeug brauchten, zu Adams und Pauls Haus zu fahren, das nur wenige Autominuten die Straße runter lag.

Auf diese Weise würde hoffentlich alles und jeder unfallfrei auf der Feier ankommen, denn der Winter bot seit dem letzten Abend alles auf, was er an Schnee zu bieten hatte. Wenigstens stürmte es nicht, sonst hätten sie Platzprobleme bekommen, da die Tanzfläche im Garten aufgebaut worden war. Unter einem großen Zelt, das zwar regelmäßig vom Schnee befreit werden musste, aber laut Trent ein echter Hingucker war. Die Frauen im Ort hatten perfekte Arbeit geleistet und für das so ungleiche Paar eine Traumhochzeit in Weiß und Schwarz organisiert, den Lieblingsfarben der beiden.

»Mann, siehst du Scheiße aus. Zu viel von Greg geträumt?«, fragte Sebastian.

Jasper streckte ihm wortlos die Zunge raus und Sebastian, der zwei Kleidersäcke über dem Arm trug, schob sich lachend an ihm vorbei in den Flur.

»Ignorier' ihn, er hat gute Laune«, riet ihm Trent, der einen dritten Sack in der Hand hielt. »Das ist dein Anzug. Und nein, darüber diskutiere ich nicht mit dir. Du ziehst ihn an, basta.«

»Aber ...«

»Du hast wirklich von Greg geträumt, oder?«

Jasper verbot sich einen lästerlichen Fluch, als er plötzlich von zwei Seiten sehr interessiert angesehen wurde. Stattdessen griff er sich den Anzug und rauschte hoch erhobenen Hauptes an Sebastian vorbei die Treppe hoch in sein Schlafzimmer. Das zweifache Gelächter ignorierte er dabei so gut es ihm möglich war, und nachdem er den Reißverschluss des Kleidersacks sehr vorsichtig aufgezogen hatte, war das Paar im Erdgeschoss erst mal vergessen.

Der Anzug war anthrazitfarben und er kam von Hugo Boss. Keine Leihgabe. Großer Gott, Trent hatte ihm das Teil gekauft. Inklusive eines hellgrünen Hemds, durchzogen mit silbernen Nadelstreifen und einer dunkelgrünen Krawatte. Jasper fehlten die Worte. Er liebte edle Kleidung, auch wenn er nur selten das nötige Kleingeld dafür besaß, und dieser Anzug hatte Trent mit Sicherheit mehrere tausend Dollar gekostet.

»Die Schuhe holt Bast gerade rein.«

Jasper zuckte zusammen. »Das kannst du nicht machen.«

»Doch, kann ich.«

»Aber ...«

»Nein«, unterbrach Trent ihn sofort und trat zu ihm vor das Bett. »Ich habe deine Blicke gesehen, als wir meinen Schrank in L.A. ausgeräumt haben. Mir war das ganze Zeug immer egal, aber dir bedeutet es etwas. Du magst es, gut auszusehen, dich schick anzuziehen und in teurer Kleidung wohlzufühlen. Ich hätte den Großteil meiner Anzüge entsorgt, aber Greg kannte einen Schneider.«

»Er ist also nicht neu?« Jaspers Erleichterung kannte keine Grenzen, da nahm er es sogar hin, dass Trent lachte und ihn in eine kurze Umarmung zog.

»Nein, auch wenn ich mir gerade wünschte, ich hätte einen Anzug aus der aktuellen Kollektion gekauft.« Trent zwinkerte ihm zu. »Ich habe ihn umnähen lassen. Bast hat mir geholfen, dir ein paar Sachen zu klauen, um an deine Maße zu kommen. Und wenn du jetzt duschen gehen würdest, könnte ich leise und heimlich noch die anderen zehn Anzüge, Hemden, Hosen und Krawatten in deinen Schrank einräumen. Du wirst sie erst finden, wenn die Party vorbei ist und dich dann angemessen darüber freuen, verstanden?«

Jasper gab sich geschlagen. »Jawohl, Boss.«

»Brav.«

Jasper grinste und deutete auf den Anzug auf seinem Bett. »Warum ein hellgrünes Hemd?«

Trent zuckte mit den Schultern. »Guck in den Spiegel. Bast meint, die Farbe passt wunderbar zu deinen Augen, und er hat recht. Er wollte im Übrigen eine braune Krawatte nehmen, weil Greg braune Augen hat ...«

»Ich kann dich nicht hören, ich muss ganz dringend unter die Dusche«, fuhr Jasper Trent singend ins Wort und flüchtete ins Badezimmer.

»Vergiss das Ohrenwaschen nicht, dann hörst du in Zukunft wieder besser«, rief Trent durch die geschlossene Tür.

Jasper stöhnte nur und verdrehte die Augen, als Trent wie erwartet anfing zu lachen und dann die Treppe runterging, um die übrigen Anzüge zu holen. Er würde den Teufel tun, sich zu Greg Rivers noch einmal zu äußern. Jedenfalls nicht heute. Das war Pauls und Adams großer Tag und den sollte nichts stören. Allerdings half ihm das auch nicht dabei, die gestern bei Greg ungewollt gehörten Gesprächsfetzen zu vergessen.

Was hatte dieser Mann für eine gefühlskalte Mutter, dass er auf diese Weise mit ihr sprach? Und sie vor allem mit ihm? So etwas kannte er von seiner eigenen Familie überhaupt nicht. In der stritt man sich zwar mindestens einmal in der Woche, bei drei dickköpfigen Kindern war das in seinen Augen auch kein Wunder, aber seine Eltern hatten und würden ihm nie einen Anlass geben, auf diese Weise mit ihnen zu reden. Sie liebten einander ebenso heftig, wie sie ihre Kinder liebten.

Sie hatten alles für ihn getan. Selbst in seinen schlimmsten Zeiten, als er kurz davor gestanden hatte, seinem jämmerlichen Leben als Schläfer, zumindest hatte er das damals lange Zeit so empfunden, ein Ende zu setzen, hatten seine Eltern und seine Schwestern um ihn gekämpft wie vier Löwen. Nicht für einen Tag, nicht mal für eine Stunde, waren sie dazu bereit gewesen ihn aufzugeben. Und am Ende hatten sie gewonnen. Mit Hilfe von Sebastian, Rick, Paul, Adam, der ganzen Stadt. Sie hatten ihn aus dem Loch gezogen, ihn trocken bekommen und dafür gesorgt, dass er sich nützlich fühlte. Dass er sich beschäftigte und schließlich etwas fand, das er tun wollte. Menschen retten. Wandlern helfen. Ein Arzt sein. Und vielleicht irgendwann den Mann seiner Träume finden.

Den Traummann hatte er mittlerweile zur Seite geschoben, aber ein Arzt war er geworden und Jasper freute sich darauf, endlich in seinem eigenen Haus zu praktizieren. Vorläufig nur in einem Raum mit extra Badezimmer und eigenem Zugang, aber irgendwann, sobald er das Geld dafür hatte, würde er sich an eine richtige Praxis wagen. Mit gut ausgestattetem OP-Saal und all den dafür notwendigen Geräten. Damit er die kleinen Wehwehchen und die, wenn auch eher selten vorkommenden, größeren Verletzungen nicht mehr in heimischen Wohn- oder Schlafzimmern behandeln musste.

»Brauchst du noch lange? Dann gehe ich unten duschen.«

Sebastians Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen, ob er sich nicht bei Gelegenheit ein Ultraschallgerät besorgen sollte. Derzeit waren zwei Wandlerinnen in Sanoro schwanger. Wenn er die Vorsorgeuntersuchungen übernahm, konnten sie sich die beschwerlichen Wege in die nächste Stadt sparen.

»Bin gleich soweit«, rief er und schlang sich ein Handtuch um die Hüften. Mit einem zweiten für die Haare öffnete er die Tür und ließ Sebastian vorbei, ehe er wieder ins Schlafzimmer trat, wo Trent ihre Anzüge ausgepackt und ordentlich über die beiden Sessel drapiert hatte, mit denen er sich im vorderen Teil des Raums eine gemütliche Leseecke eingerichtet hatte, da sein Schlafzimmer in L-Form angelegt war. Er hatte sogar Platz für einen eigenen Ankleidebereich gefunden, aus dem Trent ihm jetzt entgegenkam.

»Alles erledigt. Wir müssen nur noch ...«

Trent stockte mitten im Schritt, seine Augen weiteten sich, und Jasper brauchte etwas, bis ihm dämmerte, was los war. Er grinste schief und zuckte mit den Schultern. Sebastian hatte es seinem Verlobten eindeutig nicht erzählt und er war noch nicht bereit, das zu tun.

»Was müssen wir noch?«, fragte er, um Trents Blick von den Narben loszureißen, und als das nicht half, zog er leise seufzend das Handtuch weg und drehte sich einmal um seine eigene Achse. »Genug gesehen?«

Trent wurde rot und senkte den Blick. »Entschuldige.«

»Vielleicht erzähle ich dir irgendwann davon, aber das wird nicht heute sein. Also? Was müssen wir noch machen?«

»Greg abholen.«

Jasper verdrehte schnaubend die Augen und trat an seinen Schrank, um sich Unterwäsche und Socken zu holen. »Warum muss er mit uns fahren? Er hat doch jetzt so viele neue Freunde in der Stadt. Soll er mit denen fahren.«

Trent lachte hinter ihm leise. »Er findet das lustig.«

»Klar. Was soll man auch sonst machen, wenn man vor der halben Stadt seine Kronjuwelen in der Luft baumeln lässt? Er kann froh sein, dass Adam kein Foto von ihm gemacht hat und es auf ein Poster hat drucken lassen.«

»Hätte er mit Sicherheit getan, wenn sein baldiger Ehegatte ihn dafür nicht umbringen würde«, meinte Trent belustigt und Jasper schüttelte angesäuert den Kopf.

»Die ganze Stadt weiß mittlerweile darüber Bescheid. Selbst Caruso hat mich heute beim Joggen angehalten und gefragt, ob Rivers nackt genauso souverän daherkommt wie angezogen.«

»Und? Was hast du gesagt?«

»Gar nichts, du Blödmann«, schimpfte Jasper und sah Trent entrüstet an, als der zu lachen begann. »Was ist daran bitte so lustig? Er zeigt der halben Stadt seinen Schwanz und stört sich nicht im Geringsten daran, dass man ihn deshalb auslacht. Ist das zu fassen?«

»Du störst dich dafür umso mehr daran, wie mir scheint«, sagte Trent und sein Tonfall klang auf einmal seltsam lauernd. Jasper war sofort auf der Hut.

»Wie meinst du das?«

»Genau so, wie ich es sagte«, antwortete Trent, während er aus seinen legeren Sachen schlüpfte und anfing sich in einen dunkelblauen Anzug zu hüllen.

Jasper kam nicht umhin zu bemerken, dass die körperbetont geschnittene Hose Trent richtig gut stand. Nicht so gut wie Sebastian sein schwarzer Anzug stehen würde, aber an seinen besten Freund kam ohnehin niemand heran. Abgesehen von einem gewissen Mistkerl, der offenbar komplett schamlos war.

Und augenscheinlich eine furchtbare Familie hatte. Jasper runzelte überlegend die Stirn. »Trent? Was weißt du über Gregs Familie?«

»Nichts. Er ist ein Waisenkind.«

Jasper stutzte irritiert. Waisenkind? Unsinn, wieso hatte er diese Frau am Telefon dann Mutter genannt?

»Warum fragst du?« Trent sah ihn interessiert an und Jasper zuckte schnell mit den Schultern.

»Nur so.«

»Nur so?«

»Neugierde.«

»Aha?«

Mist. Er musste Trent vom Thema abbringen, sonst würde er gar keine Ruhe mehr geben. »Nichts aha«, erklärte er daher und griff nach dem hellgrünen Hemd. »Es hätte ja sein können, dass er tausend Brüder oder Schwestern hat. In Sanoro haben fast alle eine Familie mit jeder Menge Anhang. Da fällt es auf, wenn jemand wochenlang hier lebt, aber nie Besuch bekommt. Doch als Waise dürfte ein Familienbesuch schwierig werden.«

Sebastian kam fertig angezogen ins Schlafzimmer. »Ihr seid ja immer noch nicht fertig. Beeilung, sonst kommen wir zu spät und dann bringt Adam uns um. Ach, und Jas, wenn du denkst, dass Greg ein bisschen Gesellschaft braucht, könntest du ihn ja zu einem netten Date ausführen oder auf der Hochzeit nachher mit ihm tanzen.«

Jasper tippte sich vielsagend gegen die Stirn. »Von wegen, Date. Träum' nur weiter, Blödmann. Eher schnappe ich mir den heißen Kerl hier neben mir für eine wilde Nummer.«

Sebastian knurrte eifersüchtig und Jasper flüchtete sich mit einem sehr breiten Grinsen hinter Trent, der ihm lachend mit der Faust drohte, ehe er Sebastian belustigt ansah. »Verhau' ihn später. Du wirst weder Knitterfalten noch Blutflecken in diesen umwerfenden schwarzen Anzug machen, verstanden?«

»Du gönnst mir auch gar nichts«, grollte Sebastian unernst und stemmte die Hände in die Seite, um ihn gleich darauf mit einem herausfordernden Blick zu bedenken. »Sag' mal, Jas, was hat es eigentlich mit dem Wolf auf sich, mit dem Corinne seit einer Weile ausgeht?«

Jasper blinzelte verblüfft. »Welchem Wolf?«

»Ach sieh an. Der große Bruder hat nichts mitgekriegt?«

»Von wem redest du bitte?«

»Jacques.«

»Eduardos Bruder? Der Casanova?«, fragte Jasper und sah böse zu Trent, der betont unschuldig einen nicht vorhandenen Fussel von seinem Jackett herunterfegte. »Wie lange weißt du schon davon?«

»Wovon?«

»Trent!«

»Drei Wochen. Bast hat sie im Wald in …« Trent räusperte sich. »Sie waren beschäftigt.«

Jasper schüttelte ungläubig den Kopf. »Das habe ich nicht gehört. Corinne hat keinen Sex. Sie ist erst neunzehn.«

»Alt genug«, warf Trent ein und lachte, als Jasper ihm einen tosenden Blick zuwarf. »Was? Das ist alt genug.«

»Jacques ist ein Jahr jünger als ich.«

Trent zuckte mit den Schultern. »Und? Solange sie es will.«

»Meine kleine Schwester hat keinen Sex. Sie weiß nicht mal, was das ist, kapiert?« Sebastian und Trent sahen ihn überrascht an und brachen in schallendes Gelächter aus. »Was?«, fauchte Jasper mürrisch und griff nach seiner Hose, um sich endlich fertig anzuziehen.

»Sie gehen zusammen auf die Hochzeit«, sagte Trent und Jasper schüttelte den Kopf, bevor er entschlossen erklärte: »Tun sie nicht.«

»Oh doch, tun sie«, konterte Sebastian feixend. »Und zwar mit der Erlaubnis deines Vaters, falls du auf die Idee kommen solltest, Adam und Paul ihre Hochzeit mit einem Blutbad zu versauen.«

»Dad hat das erlaubt?« Jasper war entsetzt, denn er kannte Jacques. Nicht, dass der ein schlechter Mann wäre, aber er war erstens zu alt für Corinne und zweitens sprang er mit allem ins Bett, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Und was sich auf selbige flüchtete, wurde gerne heruntergeschüttelt. »Das kann er ihr unmöglich erlaubt haben«, murmelte Jasper schließlich fassungslos und griff kopfschüttelnd nach seiner Krawatte. Er musste dringend mit seinem Vater reden.

 

»Hör' auf, die beiden weiter so anzustarren. Du kennst den Trotzkopf deiner Schwester. Sie wird sich sagen, jetzt erst recht und das ist beim letzten Mal nicht gut ausgegangen.«

»Mama ...«

»Nein, Jasper«, fuhr seine Mutter ihm streng aber zugleich auch liebevoll ins Wort und grinste, ehe sie ihn auf die Wange küsste und sich dabei von ihm über die Tanzfläche führen ließ.

»Er wird sie unglücklich machen.«

»Dasselbe haben wir geglaubt, als Adam damals Paul über den Fuß fuhr und sich Hals über Kopf in diesen mürrischen Panther verliebte. Und nun sieh dir die beiden an.«

Sie deutete nach rechts und Jasper folgte ihrem Blick. Das Hochzeitspaar stand am Rand der Tanzfläche, Paul hatte Adam mit dem Rücken an seine Brust gezogen und umarmte ihn. An ihren Händen glitzerten ihre Ringe und beide waren glücklich, unübersehbar und wohl auch für jedermann zu riechen, wenn er die schmutzigen Blicke einiger Wandler in der Nähe richtig deutete.

Jasper seufzte leise, was seine Mutter lachen ließ. Er wusste leider nicht immer, was das Beste für sich selbst war, aber er wusste, wann er nachgeben musste, und nachdem ihn schon sein Vater ausgelacht und ihm dann einen Vortrag über gutes Benehmen gehalten hatte, ehe er zu Rick und Norman gegangen war, um mit ihnen auf das Hochzeitspaar anzustoßen, stand er in Bezug auf Corinne eindeutig auf verlorenem Posten.

In Bezug auf Greg Rivers allerdings auch, dem er schon aus dem Weg ging, seit sein toller Nachbar in einem tiefschwarzen Anzug, inklusive einem gleichfarbigem Hemd, Krawatte und natürlich dazu passenden Schuhen aus seinem Haus getreten war. Der verdammte Mistkerl sah umwerfend aus in schwarz und Jasper hätte den Anzug an seinem eigenen Körper darauf verwettet, dass Rivers das wusste und vor allem damit spielte. Anders war kaum zu erklären, dass Männer und Frauen sich darum rissen, mit ihm zu tanzen. Es war ihm sogar gelungen, Paul auf die Tanzfläche zu zerren, und dabei hatte selbst Adam Schwierigkeiten, denn Paul war absolut kein Tänzer.

Von Greg hatte er sich hingegen führen lassen und das erst bemerkt, als das Lied vorbei gewesen war. Pauls Reaktion war ein verblüffter Blick, gefolgt von einem Fauchen gewesen, ehe er sich Adam gegriffen hatte und ins Haus gestürmt war. Sie waren erst eine halbe Stunde später wieder erschienen und auch ohne Wandlersupernase hatte Jasper gewusst, was die zwei drinnen so lange gemacht hatten.

»Er bedeutet dir etwas.«

»Hm?«, fragte er ratlos, während sein Blick über die Paare auf der Tanzfläche schweifte, doch Greg war nicht zu sehen.

»Er ist drinnen. Dein Vater fühlt ihm auf den Zahn.«

»Er … Was?« Jasper sah verblüfft zu seiner Mutter, die ihn angrinste. »Wieso sollte Dad …? Ach, du Scheiße.«

Ihr heiteres Lachen verfolgte ihn bis ins Haus, wo er leider ein paar Minuten suchen musste, bis er seinen Vater und Greg in der Küche entdeckte, beide ein Weinglas in der Hand und in eine Diskussion vertieft. Er musste näher herangehen, um zu hören, worüber sie sich unterhielten, und blieb irritiert stehen, als er begriff, dass sie über Schmetterlinge sprachen.

»Du solltest dir seine Sammlung zeigen lassen. Nicht, dass ich in der Lage wäre, einen Zitronenfalter von einem Kardinal zu unterscheiden, aber Jasper ist ein wandelndes Lexikon, was Falter angeht. Er hat sämtliche Tiere, die dieser Verrückte, Jack Wilbert, mit in den Wald geschleppt hat, sicher in zoologischen Gärten untergebracht. Eine Zeit lang dachte ich, er würde eines Tages Zoologe oder etwas ähnliches werden, aber am Ende hat er sich für die Medizin entschieden.«

»Du bist stolz auf ihn.«

»Natürlich. Ich bin stolz auf alle meine Kinder.«

»Und du willst nicht, dass ich ihm das Herz breche.«

Jasper klappte die Kinnlade runter. Wie bitte?

»Ah, du bist ein sehr direkter Mann, das gefällt mir«, sagte sein Vater sichtlich belustigt. »Und ja, du hast recht. Ich werde mir also die übliche Drohung, dass ich dich umbringe, wenn du ihm wehtust, sparen, denn du weißt ja schon Bescheid.«

»Danke sehr. Allerdings fürchte ich, dass du hier gleich der Tote sein wirst. Hallo, Jasper.«

Jasper brachte nur ein Knurren zustande und Greg konnte von Glück reden, dass er außer Reichweite war, als er grinste, sonst hätte Jasper ihm ohne schlechtes Gewissen den Wein ins Gesicht geschüttet, der sich in seinem Glas befand.

»Ich lasse euch wohl besser allein«, sagte Greg dann ruhig und nickte ihm kurz zu, bevor er sein Weinglas abstellte und die Küche verließ.

Jasper zog die Tür zu, sodass sie ungestört waren, und trat auf seinen Vater zu. Alle meinten immer, dass er ein Ebenbild von Alan Baker war, abgesehen von den Augen und der Größe, die hatte er leider von seiner Mutter. Sein Vater hingegen war zwar schlaksig, kratzte größentechnisch allerdings an der zwei Meter Grenze, und das hätte Jasper jetzt auch gerne getan. Am besten mit der Statur eines gewissen Tigers, doch das war ihm leider nicht vergönnt.

Er sah verärgert zu seinem Vater hoch. »Wie konntest du nur?«

»Was meinst du?«

»Mich anpreisen wie ein … ein … gutes Steak.«

Sein Vater warf ihm einen verblüfften Blick zu und begann kurz darauf zu grinsen. »Jasper, du solltest besser die Augen aufmachen oder dir eine Brille zulegen. Der Mann weiß bereits seit einiger Zeit, dass du ein sehr edles Steak bist, um mal bei deiner Umschreibung zu bleiben.«

»Dad!«

»Du willst ihn, er ist ebenfalls interessiert. Wo liegt also das Problem?«

Also das schlug ja wohl dem Fass den Boden aus. »Ich will ihn überhaupt nicht«, empörte sich Jasper lautstark und vergaß dabei, dass das Haus voller Wandler war, die sie mit Sicherheit hören würden. »Selbst wenn er der letzte Mensch auf der Erde wäre, ich würde ihn nicht mal mit einer Kneifzange anfassen. Wie kommst du bloß auf die schwachsinnige Idee, ich würde etwas von ihm wollen?«

»Erinnerst du dich noch an dein erstes Treffen mit Bast?«, fragte sein Vater nachsichtig und Jasper nickte nur, weil er sich auf einmal wie ein kleiner Junge vorkam, der getadelt wurde. »Du hättest ihm damals fast die Augen ausgekratzt.«

»Ja, weil er sich wie ein Vollidiot aufgeführt hat.«

»Und was passierte danach?«, wurde er weiter gefragt und Jasper wollte seinem Ärger erneut Luft machen, als ihm einfiel, was nur ein paar Tage nach seinem ersten Streit mit Sebastian gefolgt war. Er wurde knallrot, was seinen Vater nicken ließ. »Mit Greg wird dasselbe passieren.«

»Nein, das wird es ganz sicher nicht!«, zischte Jasper eisig, nachdem er sich von dem ersten Schock erholt hatte, dass die Parallelen zwischen seiner Beziehung zu Sebastian und seinem Verhalten gegenüber Greg offensichtlich waren. »Und damit ist dieses Thema beendet, klar?«

»Wie du meinst.«

»Was soll denn das jetzt wieder heißen?«, fragte er grantig und seufzte nachgebend, als sein Vater ihm liebevoll mit einer Hand über die Wange strich. »Dad ...«

»Ich kenne dich verdammt gut, mein Junge, schließlich bist du mein Ältester und ich liebe dich. Aber im Moment belügst du dich selbst, auch wenn ich noch nicht verstehe warum. Greg wäre eine ziemlich gute Partie und ich setze auf ihn. Wie man so hört, weiß er ein gutes Steak durchaus zu schätzen.«

Jasper war so sauer, dass er seinen Abgang aus der Küche erst bemerkte, als er schon halb zu Hause war. Dabei fiel ihm dann auch auf, dass Schnee und teure Lederhalbschuhe nicht sehr gut zusammenpassten. Ganz davon zu schweigen, dass er nicht daran gedacht hatte, seinen Mantel mitzunehmen, in dem der Schlüssel zu seinem Haus lag. Er würde also entweder zur Party zurückgehen müssen, was nicht infrage kam, oder aber hier draußen jämmerlich erfrieren, was ihm eine Menge Leute mehr als übel nehmen würden.

Wobei ihm die, allen voran sein Vater, erst mal kreuzweise konnten. Er war kein Steak. Weder ein blutiges noch ein teures. Er war ein lebendes, fühlendes Wesen, das verdammt noch mal nicht verkuppelt werden wollte. Schon gar nicht über seinen Kopf hinweg an diesen … diesen ...

»Rutscht mir doch den Buckel runter!«, brüllte er quer über die leere Straße und trat gegen einen zusammengefegten Berg Schnee, um seiner Wut irgendwie Luft zu machen. »Als wäre ich eine nervige Tochter, die verheiratet werden muss, nicht zu fassen«, grollte er und starrte den Schnee finster an. »Schön, es mag ja sein, dass ich dem Mistkerl gegenüber nicht immer nett war, ich gebe es zu, aber deswegen muss ich ihn ja nicht gleich heiraten. Oder mit ihm ins Bett steigen. Eher lasse ich mich von einem Tiger fressen.«

Ein Knurren zu seiner Linken ließ ihn aufsehen und Jasper sog erschrocken die Luft ein, als er Stellan Archer in seiner Tiergestalt mitten auf der Straße sitzend entdeckte.

»Ach, du Scheiße. Das war doch bloß ein Witz«, flüsterte er und trat einen Schritt zurück.

Der Tiger knurrte erneut, drohender diesmal. Jasper blieb stocksteif stehen, worauf sich der mächtige Schädel des Tieres leicht hin und her bewegte, so als würde er überlegen, wo er ihn zuerst beißen sollte. Jasper wurde übel. Stellan war nicht sein Feind, auch nicht der des Rudels, aber dennoch war er ein gefährliches Raubtier und würde es bleiben. Und vielleicht war er für die verschwundenen Wandler mitverantwortlich. Nicht für ihren Tod, das wollte Jasper ihm nicht unterstellen und er glaubte auch nicht daran, aber laut Jonah gab es nicht immer Leichen und möglicherweise …

Archer öffnete sein Maul und Jasper zog unwillkürlich den Kopf ein, auf das Brüllen wartend, das nicht kam. Er war hier draußen völlig schutzlos. Wenn dieser Tiger jetzt entschied, ihn zu töten, würde jede Hilfe zu spät kommen.

»Verschwinde!«

Jasper zuckte heftig zusammen und fuhr herum, um direkt in Gregs Gesicht zu sehen, der etwa zwei Armlängen von ihm entfernt war und näherkam. Er hielt allerdings nicht bei ihm an und Jasper wurde erst klar, was Greg vorhatte, als es bereits zu spät war, ihn am Arm zu packen und aufzuhalten.

»Bist du irre? Komm zurück!«

Greg reagierte überhaupt nicht auf ihn, sondern ging ohne Zögern weiter auf Stellan zu, und der Tiger saß einfach da und ließ ihn kommen. Großer Gott. Vorstellungen von einem total zerfetzten Greg erschienen in seinem Kopf, doch Jasper konnte sich nicht von der Stelle rühren, um Hilfe zu holen. Zu entsetzt und zugleich fasziniert war er von dem Anblick, den Greg bot, während er scheinbar vollkommen furchtlos die letzten Meter überwand, die ihn von Stellan Archer trennten.

»Du bist wunderschön«, sagte Greg leise und blieb endlich stehen, eine Prankenlänge von dem Tier entfernt. »Aber du bist auch gefährlich, mitunter sogar tödlich. Für jeden von uns, das weißt du ebenso gut wie ich.«

Der Tiger legte den Kopf schräg, sonst tat er nichts. Dafür verlor Greg jetzt endgültig den Verstand, ebenso wie Jasper, als er zusehen musste, wie dieser Blödmann direkt vor Archer in die Hocke ging und sich dem Tier faktisch als Leckerbissen für zwischendurch anbot.

»Du kannst ihn nicht haben, Stellan. Such' dir ein anderes Abendessen.«

Archer fletschte drohend die Zähne und Jasper fühlte sich in einen Albtraum versetzt, denn statt zurückzuweichen, was jeder Wandler mit Verstand längst getan hätte, schüttelte Greg entschieden den Kopf.

»Wenn du ihn willst, musst du an mir vorbei. Du musst mich töten, Stellan, anders bekommst du ihn nicht.«

Der Tiger nahm sich Zeit für seine Entscheidung. Zeit, die Jasper damit zubrachte vor Kälte zitternd auf dem Gehweg zu stehen und sich dabei zu fragen, ob er auf einer unsichtbaren Eisfläche ausgerutscht war und sich beim Sturz mächtig den Kopf angeschlagen hatte. Er musste träumen. Das konnte nicht die Realität sein. Kein Mensch war so verrückt, dass er sich mit einem Sibirischen Tiger auf einer verschneiten Dorfstraße um dessen Abendessen stritt.

Was immer am Ende den Ausschlag gab, dass sie hier nicht als leckerer Snack endeten, Jasper bedankte sich bei all seinen Schutzengeln, Göttern und dem Schicksal im Allgemeinen, als Stellan Archer sich erhob und ein paar Sekunden arrogant auf Greg hinunterblickte, ehe er kehrtmachte und zwischen zwei Grundstücken verschwand.

»Hast du sie noch alle?«, brüllte Jasper unbeherrscht los, als er wieder fähig war sich zu bewegen, zu atmen und nicht mehr vor Angst zu sterben. »Der hätte dich umbringen können!«

»Hat er aber nicht.«

»Hat er aber nicht«, äffte er Greg abfällig nach, der langsam in seine Richtung kam, und ballte die Hände zu Fäusten, weil er plötzlich das unbändige Bedürfnis hatte, diesen bekloppten Kerl zu schlagen, bis er lachte. Und dann würde er ihn weiter schlagen, weil er lachte. Sich einem Tiger in den Weg zu stellen wie ein … Ihm fiel gar kein Wort dafür ein. Greg Rivers hatte eindeutig nicht mehr alle Latten am Zaun. »Du bist ja wohl von allen guten Geistern verlassen! Das ist ein gottverdammter Sibirischer Tiger. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, welche Kraft die allein mit ihrem Gebiss entwickeln, wenn sie zubeißen?«

»Nein, aber ich schätze, du sagst es mir gleich.«

»Gar nichts sage ich!« Jasper verlor endgültig die Nerven und holte aus. »Außer, dass du ein Arschloch bist und ...«

Seine Hand wurde abgefangen, ebenso wie seine gebrüllten Worte, weil ein Paar kalter Lippen plötzlich auf seinen lag und ihn küsste, als gäbe es kein Morgen. Eine Zunge drängte sich ungebeten in seinen Mund und Jasper hörte sich aufstöhnen, während er spürte, gefangen zwischen aufwallender Erregung und Entsetzen, wie er sich den beiden energischen Händen, die auf einmal überall auf ihm waren, entgegen schob. Er bot sich an und hasste sich dafür, konnte aber nichts dagegen tun, dass sein Schwanz anschwoll und er nach Luft schnappte, als Finger kräftig zupackten.

Er würde in seine Hose kommen, und zwar in weniger als einer Minute, wenn er es nicht schaffte, sich von diesen rauen Lippen und dieser feuchten Zunge loszureißen, die gerade mit einer neckischen Geste gegen seine stupste.

Jasper stöhnte auf und schlang seine Arme um Greg, küsste zurück und stieß gegen die Hand in seinem Schritt, die dazu übergegangen war ihn sanft, fast schon zärtlich zu streicheln. Doch das wollte er nicht und begehrte auf, worauf die Finger umgehend energischer wurden, und plötzlich waren sie unter dem Stoff und in seinem Slip.

Zwei feste Striche, einmal die gesamte Länge entlang, dann war es vorbei. Jasper kam mit einem Schrei und Gregs Namen auf seinen Lippen.

»Oh Gott«, flüsterte er schockiert, als er seine Sinne wieder beisammen hatten, und riss sich von Greg los, der ihn, jetzt die Ruhe in Person, wartend ansah. Dass er sich dabei genüsslich die Finger ableckte, störte das Bild ein wenig, und es erregte Jasper sofort aufs Neue. »Lass das!«

»Was?«

»Na das!«

Gregs Antwort war ein träges Lächeln, dem gleich darauf der nächste Zungenschlag folgte, und Jasper wurde wieder hart, weil sein verräterischer Körper sich zu fragen begann, wie es wohl sein würde, wenn diese Zunge nicht über lange Finger leckte, sondern über seinen steinharten Schwanz. Oh nein. Er musste vernünftig sein. Jasper schluckte.

»Es wird sich nicht wiederholen.«

»Nein?«

Jasper schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Weil ...« Er verlor den Faden, als Gregs Zunge verschwand und von Lippen ersetzt wurde, die mit einem schmatzenden Geräusch an Gregs Daumen saugten. »Weil ...«, probierte er es erneut und suchte im nächsten Moment sein Heil in der Flucht, als der Daumen noch tiefer zwischen den anbetungswürdigen Lippen verschwand und Jasper an nichts anderes mehr denken konnte, als diesen Mund, der sich um ihn schloss und es ihm besorgte, bis er Sterne sah.

 

 

 

Kapitel 5

- Greg -

 

 

 

 

Sie gingen zur Tagesordnung über, als wäre zwischen ihnen nichts gewesen. Zumindest Jasper tat das und Greg amüsierte sich genug darüber, um es ihm durchgehen zu lassen. Für eine Weile zumindest, denn dessen Reaktion auf der Straße war für ihn eindeutig gewesen. Genauso wie die Tatsache, dass Jasper sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, sich von ihm angezogen zu fühlen. Aber das würde sich ändern, denn wenn Greg eines hatte, war es Geduld. Und genug Zeit, die er dafür aufwenden würde, Jasper in sein Bett zu locken. Er hatte zwar gesagt, dass er auf eine Einladung warten würde, aber das hieß noch lange nicht, dass er den widerspenstigen Rudelarzt nicht ein wenig in die richtige Richtung schubsen konnte.

Mit Hilfe eines Kusses zum Beispiel, obwohl Greg den an jenem Abend vor vier Tagen mehr gebraucht hatte, als Jasper je erfahren würde. Sich gegen Stellan Archer zu stellen, war mehr als verrückt gewesen, aber in dem Augenblick, als er den Tiger auf der Straße hatte sitzen sehen, nur wenige Meter von Jasper entfernt, hatte er reagiert, ohne darüber nachzudenken. Sein Verstand war erst einige Stunden später zurückgekommen und hatte ihm eine Nacht mit Albträumen beschert, in denen Jasper vor seine Augen getötet wurde.

Mittlerweile ging es ihm wieder ganz gut und seine Nächte waren keine persönlichen Horrorvorstellungen mehr, was mit Sicherheit auch daran lag, dass seine privaten Schätze endlich geliefert worden waren. Greg wickelte gerade ein weiteres Bild aus, das er an die Treppe lehnte, als es an seiner Tür klopfte. Das konnte doch nur einer sein, dachte er belustigt und zog die Tür auf, um direkt in Jasper Bakers empörtes Gesicht zu sehen. Greg verkniff sich ein Grinsen.

»Was ist? Ich bin vollständig bekleidet, war die ganze Zeit hier unten und habe harmlose Bilder aufgehängt.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739368795
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Drama Thriller Fantasy Gestaltwandler Romance Erotik Liebesroman Liebe Krimi Spannung

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Autorin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Romanzen und Fantasy. Weitere Informationen zu meinen Büchern, aktuelle News zu Veröffentlichungen und jede Menge kleine Häppchen/Leseproben, findet ihr auf meinem Blog: https://mathilda-grace.blogspot.de
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Titel: Nachtschwärmer