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Mitternachtsblau - Liebe zwischen drei Welten

von Mathilda Grace (Autor:in)
270 Seiten

Zusammenfassung

Tom Markson weiß, dass sein neuer Auftraggeber ihn belügt, doch einen zerstreuten Genetiker und dessen Sohn auf Urlaubsreise zu begleiten, hört sich nach einem leichten Job an. Vater und Sohn planen einen Roadtrip durch die USA hoch nach Kanada. Wozu sie dabei einen Söldner brauchen ist Tom schleierhaft, aber die Bezahlung ist gut und dann ist da noch Seth. Ein Kind, das ihn auf eine ungesunde Weise anzieht. Tom ist entsetzt, denn er hat sich nie für Kinder interessiert und hält Abstand zu dem Jungen, der bei jeder Gelegenheit seine Nähe sucht und ihn damit immer wieder in Bedrängnis bringt. Nach fünf Tagen wirft Tom den Auftrag schließlich hin, doch da ist es längst zu spät, denn Seth ist kein Kind und er will den Mann, den er erwählt hat, nicht mehr gehen lassen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

Tom

 

 

 

 

Kriege sind ein Milliardengeschäft.

Darum gibt es auch so viele davon.

Es ist für die meisten Regierungen heutzutage profitabler, ihre Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, statt sich engagiert um einen hoffentlich andauernden Frieden zu bemühen. Die jährlichen Absatzzahlen von Waffen und Militärgerät aller Art gehen in die Millionen. Die des Profits in die Milliarden.

Ich hatte allerdings schon alle Freunde verloren, als ich mit Mitte Dreißig endlich begriff, dass nichts Gutes daran war, in einem von Dürre geplagten Land humanitäre Hilfe zu leisten, wenn die Einheimischen unsere neu gebauten Brunnen in den Nächten wieder abrissen, da ihnen die Maschinen und Bauteile auf dem Schwarzmarkt mehr Geld einbrachten, als sie je zuvor besessen hatten und auch nie wieder besitzen würden. Es war in meinen Augen auch nichts Gutes daran, heimischen Rebellen oder den Regierungstruppen zu helfen, die sich mit Waffen bekämpften, die wir ihnen geliefert hatten.

An Kriegen ist überhaupt nichts gut, aber dennoch blieb ich an der Front, denn all das Leid und der Tod brachten mir eine Menge Geld. Auslandseinsätze werden verdammt gut bezahlt, vor allem mit vielen Dienstjahren auf dem Buckel.

Doch irgendwann begannen die Kriege noch schmutziger zu werden. Noch tödlicher. Biologische Kriegsführung. Häuser blieben unbeschädigt, während die Menschen in ihnen starben wie die sprichwörtlichen Fliegen. Eine vollkommen neue Art, um Kämpfe für sich zu entscheiden, aber wie immer hielt die erste Empörung der Welt nicht lange an.

Es gibt einfach zu viele Schlachten zu schlagen, wen stört da schon ein ausgerottetes Dorf irgendwo in einer namenlosen Wüste, um an die vorhandenen Bodenschätze zu kommen. In diese Gegenden setzt kein Reporter jemals einen Fuß, und falls es doch mal ein Mutiger versucht, wird er aus Versehen von einer Drohne mit Fehlfunktion getötet oder verschwindet für immer in den unendlichen Weiten zwischen vertrockneten Bäumen und Sanddünen.

Ich war sehr viele Jahre nicht besser als diejenigen, die uns regelmäßig mit Kanistern voller Giftgas und großen Kisten, bis zum Rand mit Waffen gefüllt, versorgten.

Sie lieferten den Tod, wir töteten.

Ich tötete.

Doch selbst ein völlig abgestumpfter Soldat, wie ich einer war, erreicht eines Tages den Punkt, an dem es genug ist. Bei mir war es ein Einsatz im Sudan. Dabei waren wir eigentlich nur dort, um aufzuräumen. Ein hinterhältiger Giftgasanschlag, durchgeführt von irgendeiner unbekannten Gruppe. Niemand hatte sich zu dem Anschlag bekannt und tat es auch nie. Mein Team wurde geschickt, um die Leichen zu bergen, weil das Gas ursprünglich von uns stammte. Also bargen wir die Leichen, um unseren guten Willen zu zeigen.

Einundzwanzig Erwachsene und mehr als fünfzig Kinder. Gestorben in der einzigen Schule der Gegend.

Ein Job wie jeder andere. Eigentlich.

Doch an diesem Tag rastete irgendetwas in mir aus. Ich hatte beinahe zwanzig Jahre lang alles ertragen, jeden Befehl befolgt, war gegangen, wohin man mich schickte – aber der Anblick dieser toten Kinder war zu viel.

Dabei hatte ich schon weitaus Schlimmeres gesehen. Selbst Leichen von Kindern waren bisher nichts Besonderes für mich, aber dann erreichte ihr viel zu früher Tod an dem Tag das, was sonst vielleicht keinem jemals gelungen wäre.

Ich hörte auf, ein schweigender, willenloser Soldat zu sein. Stattdessen wurde ich zu einem selbst denkenden Menschen, der den Anblick der toten Kinder einfach nicht verkraftete.

Nach einem Tag wollte ich keine Waffe mehr anfassen.

Nach zwei Tagen verweigerte ich zum allerersten Mal in meinem Leben einen Befehl.

Nach acht Tagen verprügelte ich einen jungen Private, der mich aus der Einzelhaft holte, als er dabei einen Scherz über die ermordeten Kinder machte.

Am selben Tag wurde ich als psychisch instabil eingestuft.

Am nächsten Tag schickte man mich heim.

Heim in eine Welt, die ich nicht mehr kannte, wo niemand auf mich wartete, in die ich nicht mehr gehörte. Man flog mich zurück in die Staaten, in der Tasche ein Attest und die höfliche Aufforderung, mich in der Heimat an einen Psychologen mit Traumaerfahrung zu wenden, was ich natürlich nicht tat. Mein Ziel, aus dem aktiven Dienst entlassen zu werden, hatte ich mit dem Attest erreicht, und nach Zahlung einer netten Abfindung und der Unterschrift auf einem Blatt Papier, das mir befahl auf ewig Stillschweigen über all meine Einsätze und das Erlebte zu bewahren, war ich frei.

Ein Zivilist.

Ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung.

Dafür mit einem halben Leben an Kriegserfahrung auf dem Buckel und mit genügend Geld in der Tasche, um wenigstens ein Jahr gut über die Runden zu kommen.

Aber so ein Jahr geht schnell vorbei, und als schließlich die Frage aufkam, womit ich in Zukunft mein Geld verdienen soll, um mir den Magen zu füllen und ein Dach über dem Kopf zu haben, entschied ich mich für das, was ich ohnehin am besten konnte, nur ab sofort zu meinen Bedingungen.

Ich wurde Söldner.

 

 

Kapitel 1

Tom

 

 

 

 

»Bist du sicher, Seth?«

Der Junge begann zu grinsen und nickte.

»Wirklich?«, fragte sein Vater zweifelnd, während ich kurz davor stand, dem hübschen Bengel einfach einen Schubs vom Steg ins Wasser zu geben. Wenn er hier unbedingt schwimmen gehen wollte, was sprach denn dagegen? Nicht das Geringste, aber der werte Professor war leider übervorsichtig, was seinen Sprössling anging, und das ging mir langsam auf die Nerven, dabei waren wir noch keine zwei Tage unterwegs.

Bodyguard für Papa und Junior auf einem Roadtrip durch die USA spielen. Was ich mir dabei gedacht hatte, wusste wohl nur der liebe Gott, dabei war ich weder gläubig noch hatte ich vor, es jemals zu werden. Also war vermutlich die fünfstellige Summe der Grund, die ich für einen Job von ein paar Wochen Dauer bekam. Ein leichter Job, was meine innere Alarmglocke schon warnend hatte aufheulen lassen, da hatte der zerstreute Professor sein verlockendes Angebot noch nicht mal zu Ende ausgesprochen.

Kurz gesagt, ich traute Professor Doktor Irgendwas Robert Richards nicht über den Weg. Ein erfolgreicher und bis zum Hals in Arbeit steckender Genetiker machte keinen Roadtrip quer durch die USA. Schon gar nicht mit seinem zwölfjährigen Sohn im Schlepptau, zu dem es keine Mutter gab.

Ich hatte mich über Richards schlau gemacht und sein Titel und der andere Kram stimmten, soweit ich an Informationen über ihn herangekommen war. Aber offiziell gab es kein Kind in seinem Lebenslauf auf der Webseite des Weltkonzerns, für den er arbeitete. Oder besser gesagt gearbeitet hatte, denn die Unterschrift auf seiner Kündigung war derart frisch, dass es in meinen Augen gleich noch mal verdächtig war.

Ich fand nur keine Beweise, um ihn damit zu konfrontieren, denn was Seth anging, war seine Begründung, sein Privatleben privat zu halten, hieb- und stichfest.

Dagegen konnte ich nicht argumentieren und nach außen hin sah alles danach aus, als hätte Professor Richards offiziell vor ein paar Wochen seinen Job gekündigt und wollte jetzt Zeit mit seinem Sohn verbringen, bevor er sich um eine neue Arbeit kümmerte. Grundsätzlich war ihm das positiv anzurechnen, denn welcher hochdekorierte Wissenschaftler tat das schon?

Mein Problem dabei war nur, dass der liebe Doc alles, was wir taten, mit Bargeld bezahlte, das er entweder bei sich trug oder irgendwo herzauberte, denn er benutzte nirgends seine Kreditkarte. Weder bei unseren Einkäufen noch bei den Hotels, in denen wir übernachteten. Das war zwar grundsätzlich kein richtiger Beweis, immerhin gab es gerade auf dem Land noch genügend Menschen, die ausschließlich Bargeld nutzten, aber ich wusste trotzdem, dass irgendetwas an dieser ganzen Sache nicht stimmte.

Wenn man lange genug in der Armee dient und außerdem im Ausland ständig damit beschäftigt ist, nicht hinterrücks von Heckenschützen ermordet zu werden, entwickelt man einen verdammt guten Instinkt für Menschen und Situationen. Und mein Instinkt sagte mir eindeutig, dass an dem höflichen Doc und seinem niedlichen Bengel etwas oberfaul war. Allerdings standen meinem misstrauischen Instinkt zehntausend Dollar gegenüber, die ich verdammt gut gebrauchen konnte, deshalb hatte ich schlussendlich zugesagt, als Richards anrief, um mich zu fragen, ob ich Junior und ihn als Beschützer begleitete.

Beschützer. Was für ein Witz.

Ich saß seit gestern die meiste Zeit faul in der Sonne herum und tat nichts weiter, als Seth dabei zu beobachten, wie er ein Buch nach dem anderen durchsah, mit kindlichem Erstaunen von seinem Vater alles über die hiesige Natur und ihre Tiere wissen wollte, oder, so wie jetzt, sämtliche Überredungskunst einsetzte, damit er in den See springen konnte, auf dessen Steg wir es uns vor einer Stunde gemütlich gemacht hatten.

Das Gewässer gehörte zum familiär geführten Hotelbetrieb und man hatte uns wärmstens ans Herz gelegt, das herrliche Frühsommerwetter auszunutzen und eine Runde schwimmen zu gehen. Oder zu wandern, denn die Gegend war angeblich ein wahres Mekka für Naturfreunde und Kletterer. Das glaubte ich sogar, denn es war nicht zu übersehen, dass wir uns bereits an den Ausläufern der Rocky Mountains befanden. Wir würden allerdings nicht lange genug bleiben, um die Naturwunder von Colorado gebührlich bewundern zu können, denn bereits morgen ging es weiter Richtung Wyoming.

»Du kannst noch nicht gut schwimmen.«

»Dad«, stöhnte Seth lang gezogen und ich verkniff mir ein Lachen. Offenbar nicht sonderlich gut, denn er grinste mich an, was wiederum seinem Vater auffiel, der mir daraufhin einen resignierten Blick zuwarf.

»Was?«, gab ich mich unschuldig. »Es ist fünfundzwanzig Grad warm und die Sonne scheint schon seit vielen Tagen fast ununterbrochen. Das Wasser dürfte also warm genug sein, und der Tümpel sieht mir außerdem nicht danach aus, als würde Seth in weniger als zwei Minuten von einem riesigen Weißen Hai gefressen.«

»Sie sind nicht hilfreich.«

Das hatte man mir in meinem Leben sehr oft vorgeworfen, allerdings war es noch nie von einem behütenden Vater gesagt worden. Ich war darüber ziemlich amüsiert. »Und Sie sind viel zu vorsichtig. Wir sind hier zu zweit und ich kann definitiv schwimmen. Seth kann also gar nicht absaufen.«

»Ich kann auch schwimmen«, mischte sich Seth ein und sah seinen Vater abwartend an.

»Aber erst seit Kurzem«, hielt der Doc dagegen und da war ich nicht der Einzige, der die Augen verdrehte, auch wenn Seth die genervte Geste hinter einem Schnauben versteckte.

»Na und? Tom rettet mich, wenn ich … äh … absaufe?«

Er klang, als hätte er das Wort noch nie gehört, und das ließ mich nicht zum ersten Mal die Stirn runzeln, denn es gab eine Menge, was der Junge nicht wusste. Zu viel für ein Kind seines Alters, aber dafür konnte es mehrere Erklärungen geben. Eine schwere Krankheit zum Beispiel oder vielleicht war Seth auch einfach nur sehr behütet aufgewachsen. Das würde zumindest seine Begeisterung und Neugier für alles in der Natur erklären, und vor allem die merkwürdige Tatsache, dass sein Wortschatz nicht gerade der Beste war. Und es erklärte ebenfalls, wieso der Doc offiziell überhaupt kein Kind hatte, denn falls die Mutter gestorben war und Seth bei ihr gelebt hatte …

Ja, das erklärte so einiges. Ich würde Richards heute Abend danach fragen, denn auch wenn er mich nur für meinen Schutz bezahlte, hieß das nicht, dass ich dazu bereit war, die berühmte Katze im Sack zu kaufen. Obwohl ich das längst getan hatte, das war mir durchaus bewusst. Aber zehntausend Dollar sind nun mal zehntausend Dollar. Und die würden mich für einige Monate über die Runden bringen, ohne sofort den nächsten Job für ein superreiches Papasöhnchen annehmen zu müssen, das zu dämlich war, sich die Schuhe zu binden.

»Genau, ich rette ihn«, stimmte ich dem Jungen feixend zu, damit er endlich ins Wasser kam, denn da wollte er unbedingt hin, seinem verträumten Blick auf die Wasseroberfläche nach zu urteilen, und schließlich gab sein Vater mit einem lässigen Schulterzucken nach.

»Na dann los. Aber schwimm bitte nicht weit raus.«

»Mach ich nicht«, versprach Seth ernst und sein Vater und ich grinsten, als er daraufhin einfach Anlauf nahm und in den See sprang.

Es dauerte nicht lange, bis er wieder auftauchte, etwas Wasser ausspuckte und lachte. Ein völlig normales Kind. Das allerdings wirklich nicht sehr gut schwimmen konnte, erkannte ich schnell und stand auf, um mich ans Ende des Stegs zu setzen, weil ich sehen wollte, wie er seine Beine einsetzte. Himmel, er strampelte herum wie ein ungelenkes Kleinkind. Das reichte, um sich über Wasser zu halten, aber für mehr auch nicht. In einem Gewässer mit Strömung wäre er verloren.

»Nicht so hektisch.«

»Was?«, fragte er verständnislos und ich bewegte die Beine langsam in einer gleichmäßigen Bewegung vor und zurück. Er sah mir zu und probierte es aus. »Verstehe«, murmelte er und winkte mit den Fingern. »Und meine Arme?«

Ich zeigte es ihm. »Lass dich einfach treiben. Das Wasser ist ruhig und hat kaum Strömung. Ins Meer würde ich dich nicht lassen, dazu fehlt dir die Übung. Ja, genau so ...« Ich nickte ihm zu, denn er bekam den richtigen Dreh schnell raus. »Siehst du? Geht sofort leichter, oder?«

Seth strahlte mich an. »Ja. Vielen Dank.«

Ich winkte lächelnd ab. »Kein Thema.«

»Was ist kein Thema?«

Ach ja, der Wortschatz. Ich winkte erneut ab. »Das war nur so ein Spruch. Kein Thema bedeutet in dem Fall: Kein Problem, ich habe dir gerne geholfen.« Und das stimmte auch, denn der Junge war nett und genauso neugierig wie ich als kleines Kind. Mir fiel etwas ein. »Seth, versuch nicht zu tauchen, okay?«

»Warum nicht?«, fragte er und an seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er genau das vorgehabt hatte. Aber mit den kaum vorhandenen Schwimmkenntnissen war mir die Gefahr zu groß, dass er unter Wasser in Panik geriet und ertrank. Erst einmal reichte es in meinen Augen vollkommen aus, dass sein Kopf oberhalb des Wassers blieb.

»Weil du das vernünftig lernen musst«, antwortete ich und warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu. »Du könntest sonst leicht ertrinken.«

Seth nickte. »Verstehe. Ich versuche es nicht.«

Wohlerzogen, höflich und doch von Tuten und Blasen nicht die geringste oder zumindest wenig Ahnung. In welcher Höhle der Junge auch aufgewachsen war, hier draußen, in der Sonne und an der frischen Luft, mit seinem Vater an der Seite, war er eindeutig besser aufgehoben. Den Rest würde hoffentlich die Zeit erledigen. Und wahrscheinlich unzählige Stunden teurer Nachhilfeunterricht, sobald Seth wieder zur Schule ging. Wann immer das auch sein würde. Noch eine Frage, auf die ich keine Antwort wusste, denn wir hatten Juni und die Sommerferien starteten oftmals erst im Juli.

Andererseits war das von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden und wenn Seth gerade erst seine Mutter verloren hatte, war er wahrscheinlich für den Rest des Schuljahres vom Unterricht freigestellt. Vor allem, da sein Vater plante, mit ihm nach Kanada umzusiedeln.

Ich beobachtete Seth noch ein paar Minuten, doch er lernte wirklich schnell, und als ich mir sicher war, dass ich nicht im nächsten Moment einen Kopfsprung vom Steg machen musste, um ihn vor dem Ertrinken zu retten, sah ich mich nach seinem Vater um, der uns schmunzelnd beobachtete.

»Was?«, fragte ich und bedankte mich mit einem Nicken, als er zu mir kam und mir eine Wasserflasche reichte.

»Sie gehen gut mit ihm um.«

Ich zuckte die Schultern und trank einen Schluck. »Ich habe nichts gegen Kinder.«

»Wollen Sie irgendwann welche?«

»Nein«, antwortete ich, denn Kinder standen definitiv nicht auf meinem Lebensplan. Richards war sichtlich überrascht und ich warf einen prüfenden Blick auf Seth, der von irgendwoher eine Seerose hatte, die er gerade ganz genau betrachtete. »Seth? Das ist eine Seerose.«

»Danke«, rief er und das brachte mich wieder einmal zum Grinsen. Bis mir auffiel, dass die Gelegenheit, mit Richards ein paar Dinge zu klären, gerade mehr als günstig war.

»Wie ist seine Mutter gestorben?«, fragte ich daher und als der Doc daraufhin heftig zusammenzuckte, begriff ich, dass ich mit der Frage mitten in ein Wespennest gestochen hatte.

»Wie kommen Sie darauf, dass sie …?«

Er verstummte und mied meinen Blick, was mir so einiges über ihn verriet. Unter anderem, dass ich auf meinen Instinkt von Anfang an hätte hören sollen. Die Sache war mehr als faul, aber die Einsicht kam jetzt zu spät, denn ich hatte sein Geld genommen, also würde ich ihn und Seth nach Kanada bringen. Außerdem konnte der Junge nichts dafür, dass sein Vater ein Lügner war.

»Versuchen wir es mal anders … Ich spekuliere, Sie hören zu und am Ende sagen Sie mir, ob ich richtig liege.«

»Mister Markson ...«

»Tom.«

»Tom, Sie können nicht … Das ist nicht so einfach.«

Ja, das war mir mittlerweile auch klar, es änderte nur nichts daran, dass ich Antworten wollte, und ich wollte sie jetzt. »Seth spricht zu schlecht für einen Jungen seines Alters. Noch dazu ist er entschieden zu höflich für einen Zwölfjährigen. Ich will ihm nicht unterstellen, dumm zu sein, im Gegenteil, dafür lernt er zu schnell. Aber er sieht Pflanzen und Tiere an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, und Sie werfen ihm manchmal Blicke zu, als könnten Sie nicht glauben, dass es ihn gibt.«

Richards seufzte leise, richtete den Blick auf seinen Sohn und dann sackten seine Schultern etwas herab. »Es stimmt. Bis vor ein paar Monaten wusste ich nicht mal, dass Seth existiert. Er ist an einem Ort aufgewachsen, der so abgeschottet ist, dass er vieles überhaupt nicht kennt. Aber ich möchte, dass sich das ändert. Darum unternehmen wir diese Reise. Ich möchte, dass er die Welt kennenlernt, denn ein Kind sollte jeden Tag spielen, durch die Gegend toben und lauthals lachen dürfen. Ich will, dass er endlich ein normaler Junge sein darf.«

Wahrscheinlich hatte Seth sein ganzes, bisheriges Leben in einem Internat oder irgendeiner anderen, privaten Einrichtung verbracht, in die man nur dann einen Fuß setzen durfte, wenn man steinreich war. Und als, aus welchem Grund auch immer, die mütterliche Geldquelle versiegt war, hatte man Seths Vater ausfindig gemacht und ihm den Jungen aufs Auge gedrückt.

»Und seine Mutter?«, fragte ich, doch da presste Richards die Lippen zusammen und schwieg. Aha, definitiv ein wunder Punkt. Ich entschied, es dabei zu belassen. Zumindest vorerst. »Was wollen Sie eigentlich tun, sobald Sie mit Seth in Kanada angekommen sind?«

Jetzt sah Richards mich an. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. So weit gehen meine Planungen nicht. Ich bin immer noch dabei, mich daran zu gewöhnen, auf einmal Vater eines Sohnes zu sein.«

Das konnte ich verstehen. Würde bei mir plötzlich ein Kind vor der Tür stehen, das ich angeblich gezeugt hatte …

Nein, es gab Dinge, über die dachte ich besser nicht mal im Traum nach. Ich hatte nie Kinder gewollt und würde auch nie welche haben. Es sei denn, wir Männer entwickelten in naher Zukunft die Fähigkeit welche auszutragen. Aber das war reine Utopie und für alles andere gab es Kondome.

Ich würde auf keinen Fall so verrückt sein, mir ein Kind ans Bein zu binden. Nicht bei meinem unsteten Leben und all den anderen Problemen, die ich mit mir herumschleppte.

 

 

Kapitel 2

Seth

 

 

 

 

Diese Erde war so anders und gleichzeitig doch so vertraut. Das Licht, die Farben, die Gerüche, die Geräusche – ich kannte all das und doch nichts davon.

Ich träumte von Dingen, die es auf der Erde nicht gab und von denen ich doch wusste, dass sie existierten. Nur eben nicht hier. Ich war nicht von dieser Welt und dennoch gehörte ich auf eine gewisse Weise dazu. Durch jene Teile von mir, die Robert mir im Labor gegeben hatte. Das starke Tier, das ich von Tag zu Tag mehr in meinen Adern, meinen Knochen und in meinen Sehnen fühlen konnte. Der Mensch, den Robert von sich selbst an mich weitergegeben hatte. Und dies war der Teil, der mein Leben hier überhaupt erst möglich machte.

Aber da gab es auch noch diesen dritten Teil in mir, der so vollkommen anders war als das, was auf der Erde als »normal« galt. Jener dritte Teil, der langsam erwachte und der mir, ginge es nach einigen Menschen im Labor, den Tod bringen sollte.

»Seth? Brauchst du noch lange?«

»Nein, Dad.«

»Vergiss das Zähne putzen nicht.«

»Ja, Dad.«

Robert lachte nebenan leise und ich lächelte in den Spiegel, grinste dieses Gesicht an, das nicht meines war, aber irgendwie auch doch. Es gab so vieles von Robert in diesem Gesicht, doch ich musste immer gut hinsehen, wenn ich es betrachten wollte. Ich hatte seine Nase und seine Ohren, aber nicht seine Augen. Die waren anders. Nicht nur in der Farbe. Sie lagen auch ganz anders als in Roberts Gesicht.

Im Labor hatte einer der übrigen Wissenschaftler einmal zu Robert gesagt, ich hätte die Augen eines widerlichen Raubtiers und man sollte mich besser vergasen. Das verstand ich nicht, hatte aber auch nicht danach fragen wollen, denn Robert war nach diesen Worten sehr wütend geworden.

Kurz darauf hatten wir das Labor überstürzt verlassen und seither war er für mich Dad.

Dad, Vater, Papa.

Robert hatte mir diese Wörter erklärt und mir auch gesagt, warum ich sie benutzen musste, solange Tom bei uns war oder andere Menschen in der Nähe. Wir durften nicht auffallen, um unsere Flucht nicht zu gefährden. Und wir durften vor allem nicht erwischt werden, weil sonst mein Leben in Gefahr war.

Dieses Leben, das so seltsam für mich war und gleichzeitig so schön. Die Erde war voll mit erstaunlichen Wundern, die ich unbedingt alle entdecken wollte. So wie das angenehm kühle Wasser heute Nachmittag im See, der Duft dieser Seerose oder der eklige Geruch von den Autos, die vor dem Hotel standen.

Toms anziehender Geruch.

Ich schürzte nachdenklich meine Lippen. Woher war dieser Gedanke jetzt gekommen? Ich hatte ihn nicht zum ersten Mal, seit Robert mir Tom vorgestellt hatte, und jedes Mal drängte es mich nur noch stärker in seine Richtung, um näher zu diesem erdigen, ruhigen und ganz wunderbaren Duft nach Kraft und Schutz zu kommen.

Ich musste Tom Markson für mich haben. Und zwar schon sehr bald. Warum ich das wollte, dafür hatte ich absolut keine Erklärung. Ich wusste nicht mal, was es überhaupt bedeutete, jemanden für sich haben zu wollen.

Aber eines wusste ich sicher, nämlich, dass er Mein war.

Mein ganz allein.

Niemand sonst durfte ihn haben. Niemals.

»Seth?«

Mein Blick wanderte zum Spiegel und ich entdeckte Robert an der Tür stehen, der mich neugierig ansah. »Ja?«, fragte ich und da trat er näher, strich mit einer Hand über meine Wange.

»Deine Augen sind ganz dunkel. Fast schon schwarz. Hast du wieder an Tom gedacht?«

Er wusste von meinem inneren Drang Tom betreffend, aber auch er hatte keine Erklärung dafür. Robert vermutete, dass es an dem dritten Teil in mir lag. Dass der außerirdische Teil, tief in meinen Genen, Tom haben wollte. Wozu auch immer. Robert wusste so viele Dinge über diese faszinierende Welt, aber was mich anging, war er oftmals noch ratloser als ich selbst. Aber das war in Ordnung für mich, denn ich wusste, dass er mir nichts Böses wollte. Trotz der Tests und Untersuchungen, die ich immer weniger mochte, war Robert das, was er immer als »guten Mann« betitelte. Und Tom war auch ein guter Mann.

Ganz im Gegensatz zu Colonel Jared Trusk aus dem Labor, dem ich auf keinen Fall in die Hände fallen durfte, und der mit Sicherheit längst auf der Suche nach uns war.

»Darf ich?«, fragte Robert und ich konnte sein Unbehagen so stark aus diesen beiden Worten heraushören, dass mir schon klar war, was er wollte, bevor er mir die Spritze zeigte.

»Nicht mehr lange«, sagte ich und hielt ihm den Arm hin, damit er mir Blut abnehmen konnte. Das tat er regelmäßig, um meine Entwicklung zu überwachen, wie er es nannte.

»Was meinst du damit, nicht mehr lange?«, wollte Robert von mir wissen und ich runzelte überlegend die Stirn, aber es war mehr eine Art inneres Gefühl gewesen, das ich dringend in Worte hatte fassen müssen.

»Ich weiß es nicht.«

Robert nickte und machte sich ans Werk. Er agierte schnell und sicher, ich merkte den Stich der Nadel kaum noch, und als er fertig war, bedankte er sich, wie er es immer tat.

Er war der einzige Mensch im Labor gewesen, der sich vom Tag meiner Geburt an immer freundlich und anständig mir gegenüber benommen hatte. Die anderen hatten Angst vor mir gehabt oder waren einfach gemein gewesen, weil ich für sie nur ein Subjekt war, das sie bis zur allerletzten Zelle ausbeuten wollten. Robert hatte mich niemals so gesehen und daher hatte ich keine Sekunde gezögert, als er im letzten Monat plötzlich mitten in der Nacht in meinen gläsernen Käfig gekommen war und gesagt hatte, dass wir sofort gehen müssten.

Und hier waren wir nun.

An einem Ort, den man als Hotel bezeichnete, irgendwo in der Mitte der USA, weit weg von der Anlage im Osten, wo ich geboren worden war. Wirklich sicher würden wir jedoch erst in einem Land namens Kanada sein, aber bis dorthin lag noch ein weiter Weg vor uns.

Robert schmunzelte, als ich gähnte. »Ab ins Bett mit dir. Es ist schon spät.«

»Kommst du auch?«, fragte ich, weil ich seit ein paar Tagen in den Nächten ständig fror und Roberts Körperwärme machte diese innere Kälte ein wenig erträglicher.

»Ich erledige die Schnelltests und dusche danach, dann bin ich wärmer für dich«, antwortete er und strich mir lächelnd durchs Haar. »Ich liebe dich, Seth, und ich hoffe, dass du eines Tages verstehst, was diese Worte bedeuten und wie wichtig sie für uns Menschen sind.«

 

 

Kapitel 3

Tom

 

 

 

 

Mein Brummschädel fiel Richards beim Frühstück am nächsten Morgen schnell auf, aber er sagte nichts dazu, denn er hatte genug damit zu tun, Seth auf seinem Stuhl zu halten, der unbedingt noch eine Runde schwimmen gehen wollte, ehe wir unseren Mietwagen vollluden und uns in Richtung Norden auf den Weg machten.

Schließlich gab er sich den ständigen Bitten seines Sohnes geschlagen und ich war insgeheim heilfroh darüber, denn mit meinem Restalkohol im Blut konnte ich mich nie und nimmer hinters Steuer setzen, das wäre zu gefährlich gewesen. Aber ich wollte auf gar keinen Fall Richards fahren lassen und den Unterhalter für Seth spielen müssen, das würden meine armen Nerven heute nicht durchhalten.

Kaffee. Ich brauchte Kaffee. Und zwar jede Menge davon und so schwarz wie nur möglich. Dazu etwas Vernünftiges zu essen und danach war ich startklar. Hoffentlich.

Richards schien davon allerdings nicht überzeugt zu sein, denn nach dem Frühstück wurde ich doch zum Aufpasser von Seth verdonnert, damit sein Vater in Ruhe unser Zeug packen und auschecken konnte. Wie gut, dass ich es aus der Armeezeit gewohnt war, direkt nach dem Aufstehen meinen Kram in aller Eile zusammenzupacken. So würde Richards nur eine volle Reisetasche auf dem Bett vorfinden, die keinerlei Verdacht erregte, da ich mein Messer bereits an meinem Knöchel unter der Hose und die Waffe nicht sichtbar unter der dünnen Jacke bei mir trug.

Seth kletterte mithilfe der seitlich angebrachten Leiter auf den Steg und setzte sich neben mich. Ich reichte ihm wortlos ein Handtuch zum Abtrocknen und widmete mich dann mit Inbrunst meiner dritten Tasse von einem umwerfenden Kaffee, der, gemeinsam mit den Schmerztabletten, die man netterweise an der Rezeption für mich gehabt hatte, langsam den Kampf gegen die Kopfschmerzen gewann. Ich hatte es gestern Abend wirklich übertrieben und war dementsprechend mit mir und meinem Elend beschäftigt, sodass mir erst recht spät auffiel, dass Seth die ganze Zeit schwieg.

»Alles in Ordnung, Kleiner?«, fragte ich, als mir Seths Ruhe schließlich unheimlich wurde.

»Du riechst komisch.«

Mist. Vielleicht hätte ich mir die Zähne doch lieber zweimal putzen sollen. Oder das nächste Mal rechtzeitig daran denken, neue Pfefferminzbonbons zu kaufen. Mein Vorrat war nämlich schon seit letzter Woche aufgebraucht und ich hatte einfach nicht daran gedacht, mir vor dem Aufbruch mit Richards und seinem Jungen ein paar neue Tüten zu besorgen.

»Hey, ich war vorhin duschen«, versuchte ich es mit einem Scherz, der allerdings mächtig nach hinten losging, denn statt zu lachen, runzelte Seth nachdenklich die Stirn.

»Du bist sauber, aber du riechst trotzdem komisch.«

Er roch dafür umso besser. Was mich vollkommen entsetzte und schockiert ein Stück von Seth abrücken ließ, als mir abrupt klar wurde, was ich da gerade gedacht hatte.

Hatte ich mir letzte Nacht aus Versehen den Verstand weg gesoffen? Das war ein Kind, um Himmels willen! Ein netter, zwölfjähriger Bengel, der mit großer Wahrscheinlichkeit meine Fahne gerochen hatte und damit hoffentlich nichts anfangen konnte. Und ich saß neben ihm auf einem zwei Meter breiten Holzsteg und dachte darüber nach, wie gut er roch?

»Du solltest dich lieber anziehen, wir wollen bald los«, war schlussendlich alles, was mir einfiel, um ihn loszuwerden, und Gott sei Dank funktionierte es, denn Seth stand auf und strich mir kurz über die Schulter, bevor er mich alleinließ.

Und was sollte das nun wieder?

Ich rieb mir schaudernd über die von ihm berührte Stelle. Mein Magen rebellierte auf einmal und mir wurde so übel wie schon lange nicht mehr. Zu viel zu saufen war eine Sache. Ich hatte mich daran gewöhnt und wusste im Allgemeinen, wie viel ich vertrug. Gut, gestern Abend war ein Fehler gewesen, aber ich hatte einfach nicht die Augen schließen können, ohne plötzlich wieder im Sudan zu sein, und war am Ende runter an die zum Hotel gehörende Bar gegangen, um mir eine Flasche Jack Daniels zu besorgen.

Wie gesagt, das Trinken war eine Sache, die zwar ein Fehler war und mich irgendwann umbringen würde, aber ich hatte es wenigstens unter Kontrolle.

Doch das eben entzog sich meiner Kontrolle ganz gewaltig und es ging eindeutig zu weit. Ich durfte auf gar keinen Fall so über ein Kind denken. Ich hatte während meiner Dienstzeit in der Armee Männer getötet, die Kinder auf diese widerwärtige Weise ansahen, und ich hatte dabei nicht den leisesten Hauch eines schlechten Gewissens gehabt.

»Schluss mit der Sauferei«, murmelte ich zu mir selbst und erhob mich kopfschüttelnd, was ich besser gelassen hätte, denn mein Brummschädel reagierte darauf mit einer neuen Welle an Schmerzen. »Scheiße«, schimpfte ich und machte mich auf den Weg ins Hotel. Es wurde Zeit, dass wir hier verschwanden, und wenn ich großes Glück hatte, nahm Seth den Beifahrersitz in Beschlag, sodass ich noch ein paar Stunden schlafen konnte. »Ein toller Bodyguard bist du«, schalt ich mich leise und trug die Tasse ins Restaurant, wo ich sie bekommen hatte.

Auf dem Rückweg zum Auto traf ich mit Seth zusammen, der einen Rucksack bei sich hatte und mir einen dermaßen missbilligenden Blick zuwarf, dass ich eine Gänsehaut bekam. »Was?«, blaffte ich ihn unbeherrscht an und machte dann, dass ich nach draußen kam, als Seth mich merklich irritiert ansah. »Ich fahre!« Richards, der am Wagen wartete, war der nächste, der meine schlechte Laune zu spüren bekam, aber was dann passierte, damit hätte ich nie im Leben gerechnet.

»Du fährst nicht«, knurrte auf einmal Seth hinter mir und ich drehte mich verblüfft zu ihm um. Sein bedrohlicher Blick ließ mich zusammenzucken, wie einen jungen Rekruten vor seinem laut herum brüllenden Ausbilder am ersten Tag in der Grundausbildung. »Dad fährt uns. Du sitzt hinten, bis du nicht mehr stinkst.«

»Sie haben meinen Sohn gehört«, erklärte Richards trocken und stieg ins Auto. Seth folgte ihm und kurz darauf stand ich wie ein Vollidiot allein neben dem Wagen.

Na wunderbar. Tag drei meines angeblich leichten Auftrags und ich hatte es mir mit meinen Auftraggebern, Seth zählte ich jetzt einfach mal dazu, soeben vollends verscherzt.

Das war ein neuer Negativrekord.

Sogar für mich.

 

Eine kleine Hand strich sanft über meine Wange. Ich lehnte mich seufzend in die Berührung und dämmerte wieder weg, als die Finger blieben, wo sie waren. Das fühlte sich wirklich gut an. Schön. Behaglich. Warm. Ich war zufrieden.

»Lass ihn schlafen, Seth.«

»Er riecht wieder gut.«

»Das kann ich mir vorstellen. Lass ihn trotzdem schlafen, er braucht die Erholung. Ich bringe ihm für unterwegs etwas mit. Was möchtest du essen?«

»Einen Burger und diese … Moment … Pommes? Mit dem weißen Zeug drauf, das mag ich.«

Ich hörte Richards lachen, aber es klang seltsam gedämpft, wie durch Watte. Scheinbar war ich wirklich noch nicht wach. Eher wie in einer Art von Halbschlaf. Seltsam. Hatte ich so was schon mal erlebt? Ich konnte mich nicht daran erinnern.

»Mayonnaise. Bekommst du, aber nur wenn du auch einen Salat dazu isst.«

»Was ist da drin?«

»Überraschung.«

»Robert!«

Wieder dieses Lachen, während mein schlaftrunkenes Hirn sich erstaunt fragte, warum Seth seinen Vater beim Vornamen nannte. Aber irgendwie erschien mir eine Antwort darauf nicht wichtig. Jedenfalls nicht wichtig genug, um jetzt die Augen zu öffnen und aufzuwachen.

 

Der Burger und die Pommes, die Richards mir mitgebracht hatte, waren längst kalt, als ich sie am Nachmittag förmlich in mich hineinschlang, nachdem ich mit einem heftig knurrenden Magen aufgewacht war.

Sehr zur Belustigung von Seth, der mir einen enttäuschten Blick zuwarf, als er in einer Tank- und Toilettenpause bei mir auftauchte und ich sofort vor ihm zurückwich. Es war unfair ihm gegenüber, aber ich konnte einfach nicht vergessen, was ich am Morgen über ihn gedacht hatte, und ich wollte so weit wie nur irgendwie möglich von ihm fernbleiben. Was natürlich völliger Blödsinn war, immerhin sollte ich auf Seth und seinen Vater aufpassen. Aber ich konnte wenigstens den Versuch von Anstand wahren und mich ab jetzt ganz professionell geben.

Ich hielt bis zum späten Abend durch.

Wir hatten eben erst in einem Motel am Rand einer kleinen Ortschaft, deren Name ein echter Zungenbrecher war, für diese Nacht Halt gemacht, als ich beim Öffnen der Reisetasche ein leichtes Zittern in meiner rechten Hand bemerkte.

Ich erkannte es nicht mal sofort, weil es überhaupt nicht die übliche Zeit war. Nicht nach meinem Absturz gestern. Normal waren ein paar Tage, mindestens drei, bis die obligatorischen Biere vor dem Schlafengehen nicht mehr reichten. Das musste an dem ganzen Stress liegen. Und daran, dass ich von Richards und seinem Sohn ertappt worden war. Dem Sohn, an den ich in einer Art und Weise dachte, für die andere Perverse von mir eine Kugel in den Kopf kassiert hatten. Kein Wunder, dass ich mit den Nerven am Ende war.

Nachdem ich die Hand zur Faust geballt und ein paar Mal hörbar durchgeatmet hatte, war das Zittern verschwunden und ich ging unter die Dusche. Fest entschlossen mir später zum Abendessen ein Bier zu gönnen. Aber nicht mehr. Ich hatte das Ganze unter Kontrolle und ich würde mir nicht noch einmal so einen Fauxpas erlauben wie heute Morgen.

Allerdings geraten derartige Entschlüsse verdammt schnell ins Wanken, wenn man in einem Diner gegenüber vom Motel knapp eine Stunde damit beschäftigt ist, eindringlichen Blicken auszuweichen, für die »subtil« nun eindeutig nicht das richtige Wort war. Seth beobachtete mich die ganze Zeit. Während wir bestellten, Smalltalk trieben und dabei auf das Essen warteten, schweigend aßen. Er beobachtete mich sogar, während er sich von Richards erklären ließ, was Pfannkuchen waren und wieso man die hier nur zum Frühstück bekam. Am Ende hätte ich am liebsten erleichtert eine Faust in die Höhe gereckt, als Richards für uns bezahlte, damit wir gehen konnten.

Ich war derart fertig mit den Nerven, dass mich mein erster Gang nach unserer Rückkehr zum Motel zur Rezeption führte, um herauszufinden, ob und wo es eine Bar gab. Selbst wenn es in solchen Kleinstädten keine Geschäfte gab, Alkohol bekam man immer irgendwo. Ich hatte auch hier Glück und nach den ersten zwei Bier, die ich gleich auf dem Rückweg trank, wurde ich ruhig genug, um nachdenken zu können.

Was stimmte mit dem Jungen nicht? Ja, er war nett, höflich, schien im Grunde recht intelligent zu sein, dafür, dass er bisher förmlich hinterm Mond gelebt hatte, aber all das täuschte nicht darüber hinweg, dass er mir langsam unheimlich wurde.

Doch gleichzeitig zog es mich zu Seth hin.

Du lieber Himmel. Schluss damit!

Kopfschüttelnd trank ich einen weiteren Schluck Bier und ließ meinen Blick dabei prüfend die einzige Hauptstraße dieses Ortes entlangwandern. Es war alles ruhig. Nicht mal ein Auto war noch unterwegs, dabei zeigte der Himmel gerade mal die ersten Anzeichen seiner typischen Abendfärbung. Man merkte eindeutig, dass dieser Ort vom Trubel einer größeren Stadt wie Denver so weit entfernt war, wie der Mond von der Erde.

Ich sah in die entgegengesetzte Richtung, wo mich dieselbe Langeweile erwartete. Lange konnte ich hier nicht mehr sitzen ohne aufzufallen. Ein Bier trinkender Motelgast auf einer Bank vor besagtem Motel, das war in Ordnung. Aber mein letztes Bier war fast leer und ein Fremder, der nichts tat, außer abends in regelmäßigen Abständen die Straße zu beobachten, das wäre verdächtig. Besonders in verschlafenen Orten wie diesen.

Eine Hand erschien überraschend in meinem Blickfeld und nahm mir die Flasche weg.

»Hey!«

»Es gibt weitaus bessere Wege, um etwas gegen anhaltende Schlafstörungen zu tun. Ich habe einen Söldner engagiert und keinen Säufer.« Richards setzte sich zu mir und stellte das Bier außerhalb meiner Reichweite neben sich auf die Bank. »Soll ich für Seth und mich jemand anderen finden?«

Seine Frage war berechtigt und sie hatte kommen müssen, nach meinem Auftreten von heute Morgen. Aber ich wollte sie nicht beantworten, denn seltsamerweise wollte ich diesen Job nicht verlieren. Ich konnte noch immer Seths Hand auf meiner Wange fühlen, die Wärme seiner Finger, die Weichheit seiner Haut. Großer Gott, ich verlor wirklich den Verstand, aber bei der Vorstellung, Richards' Frage mit Ja zu beantworten, was ich hätte tun müssen, wäre ich ein anständiger Mann gewesen, drehte sich mir der Magen um. Ich würde Seth nicht anfassen, nie im Leben. Eher jagte ich mir eine Kugel in den verdammten Schädel. Aber ich konnte auf ihn aufpassen. Zeit mit ihm und seinem Vater verbringen. In seiner Nähe bleiben, aber nicht zu nahe. Nur die paar Wochen, mehr würde es ohnehin nicht sein. Wenigstens dieser eine Monat, und hinterher würde ich einen Weg finden, um endlich von diesem gottverdammten Alkohol wegzukommen.

»Nein.«

»Sicher?«, konterte Richards scharf und schlug im nächsten Moment seine Beine übereinander. »Ich weiß, dass Sie glauben, ich würde Sie belügen, und Sie haben recht, das tue ich. Aber ich schätze, was das angeht, können wir uns die Hand reichen, nicht wahr?«

Ich schwieg, denn er hatte recht.

»Wie lange trinken Sie schon?«

Lange. Viel zu lange.

Alkohol war leicht zu bekommen. Vor allem für Soldaten in Kriegsgebieten. Man glaubt es kaum, bis man es selbst erlebt. Dort bekam man für Geld einfach alles, und eine Fahne konnte mit dem Gestank von seit Wochen nicht ausgelüfteten Schuhen oder seit Tagen nicht gewaschenen T-Shirts leichter vertuscht werden, als eine von zu viel Schnupferei blutende Nase oder Einstichstellen am Körper. Wobei es auch dabei Möglichkeiten gab, um seine Sucht zu verbergen, bis man irgendwann nicht mehr an Stoff kam und Entzugserscheinungen auftraten.

Ich hatte einige Kameraden gekannt, die aus diesem Grund ihren Dienst hatten quittieren müssen, während wir mit selbst gepanschtem Zeug super über die Runden gekommen waren. Natürlich waren nicht alle Soldaten in meiner Einheit Säufer oder anderweitig süchtig gewesen, aber es hatte immer welche in den einzelnen Truppenteilen gegeben, sodass wir jederzeit mindestens einen fanden, der wusste, wo günstig Nachschub zu kaufen oder zu klauen war.

Spätestens mit dem dritten oder vierten Einsatz in einem Kriegsgebiet begannen weit mehr Soldaten abzubauen, als die naive Öffentlichkeit je erfahren würde, oder sie entwickelten Macken, die sie spätestens nach ihrer Entlassung auf die Straße trieben. Oft in die Sucht und Obdachlosigkeit, aus der viele ihr Leben lang nicht mehr herausfanden. Aber das ging Richards nichts an und deshalb schwieg ich einfach weiter.

»Soll ich heute das Spekulieren übernehmen?«

Er war eine Nervensäge, aber kein Vollidiot, das musste ich ihm lassen. Trotzdem verdrehte ich die Augen, bevor ich beide Beine ausstreckte und einen Seitenblick zu meinem Bier warf, der nicht unbemerkt blieb.

»Muss ich es wirklich erst auskippen?«

»Herrgott!«, fuhr ich aus der Haut. »Dann saufe ich eben zu viel, na und wenn schon? Ich bezweifle doch sehr, dass hier in fünf Minuten eine Horde Wahnsinniger auftaucht, um Sie und Seth niederzumetzeln. Ich frage mich ohnehin, wofür Sie mich eigentlich engagiert haben?«

»Zu unserem Schutz.«

»Wovor? Dem guten Wetter?«

»Vor demselben Schlag von Leuten, die Sie jahrelang in den Krieg geschickt haben, ohne sich darum zu kümmern, was das für Soldaten für Folgen haben kann.«

»Militär?«, fragte ich verblüfft und starrte Richards an. »Sie sind doch nur ein Wissenschaftler, der in seinem Labor hockt und irgendwelche Experime...« Ich brach abrupt ab, als mir ein Gedanke kam, doch der Doc erhob sich und schob mir das Bier zu, bevor ich ihn aussprechen konnte.

»Viel Spaß beim zu Tode saufen, Tom.«

Das saß. Und es verdarb mir endgültig die Lust an meinem Bier. Es war ohnehin ein Fehler gewesen, es zu besorgen, aber jetzt hatte ich einen guten Grund, die Flasche auszukippen und mich dabei zu fragen, ob es wirklich sein konnte, dass der nette Professor Richards in Wahrheit ein gruseliger Doktor Mengele war, der für das Militär arbeitete?

 

 

Kapitel 4

Seth

 

 

 

 

»Tom ist krank, nicht wahr?«

Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich verstand, was der Begriff Kranksein bedeutete, aber dass mit Toms Geruch heute Morgen etwas nicht gestimmt hatte, war mir aufgefallen. Und mir war ebenfalls nicht entgangen, wie wütend Robert in der ersten Stunde nach unserer Abfahrt gewesen war, bis Tom im Schlaf anfing zu träumen und erst wieder ruhiger wurde, als ich es schließlich wagte, ihn zu berühren.

Das hatte ihm sehr gefallen. Mir auch, was ich immer noch nicht erklären konnte. Eines hatte ich mittlerweile jedoch sehr wohl begriffen, nämlich dass Tom meine Berührungen zwar im Schlaf mochte und dann sogar meine Nähe suchte, sich aber unwohl damit fühlte, sobald er wach war.

Robert sah mich mitfühlend an und klopfte neben sich auf das Bett. Er wartete, bis ich mich zu ihm gesetzt hatte. »Ja, Seth, das ist er. Aber nicht auf körperliche Weise, das hoffe ich jedenfalls für ihn.«

»Was?«, fragte ich verständnislos.

»Ich versuche, es dir zu erklären«, antwortete Robert und nahm meine Hand in seine. »Weißt du, Tom war früher, bevor er anfing, Leute zu beschützen, ein Soldat … Ein guter«, schob Robert sofort nach, als ich instinktiv das Gesicht verzog. »Nicht wie Trusk, Seth, denk das nicht. Tom gehört zu den Guten und darum ist er jetzt auch krank.«

Weil jemand gut war, wurde er davon krank? »Das verstehe ich nicht.«

Robert nickte, als hätte er damit gerechnet. »Viele Soldaten, die in Kriegen kämpfen, haben anschließend Probleme, wieder ein normales Leben zu führen. Einige von ihnen werden krank. Sie schlafen schlecht, haben böse Träume, so wie Tom heute im Auto, oder sie bekommen Angst vor anderen Menschen, sogar vor dem Leben selbst … Für diese Soldaten gibt es Ärzte, die ihnen helfen können, gesund zu werden, nur müssen sie dafür zu ihnen gehen. Ich glaube aber nicht, dass Tom das getan hat. Er versucht, allein mit seinen bösen Erinnerungen an den Krieg fertigzuwerden und dafür braucht er Hilfsmittel. Darum riecht er manchmal so komisch. Was du heute an ihm gerochen hast, war Alkohol. Tom hat sich gestern Abend betrunken, damit er in der Nacht schlafen kann, und hatte heute Morgen deswegen eine Fahne. So nennen wir das, wenn sich jemand betrinkt und man das am nächsten Tag deutlich merkt.«

»Alkohol trinken ist also nicht gut?«, fasste ich das für mich Wichtigste aus Roberts Erklärung zusammen und er schüttelte mit ernstem Blick den Kopf.

»Nein. Absolut nicht.«

»Aber warum trinkt er ihn dann?«

»Alkohol ist eine Droge, Seth, und danach kann man leicht süchtig werden.« Robert schaute mich mahnend an. »Stell dir einmal vor, ich würde dich nie mehr schwimmen gehen lassen. Wie wäre das für dich?«

Bei der Vorstellung schauderte ich, weil ich das auf keinen Fall wollte. Ich mochte Wasser so gern, auch wenn ich nicht gut schwimmen konnte und unbedingt tauchen lernen wollte, um mir diese merkwürdigen Pflanzen und Tiere anzusehen, die im Wasser lebten. »Aber warum? Ich mag Wasser.«

»Ja, genau darum. Ich würde es dir verbieten und du wärst wütend und enttäuscht. Du wärst sauer auf mich, weil ich dich nicht mehr schwimmen lasse, obwohl du es so sehr willst.«

Ich runzelte nachdenklich die Stirn. Das klang, als wäre ich ebenso krank wie Tom, aber ich fühlte mich nicht krank. Ganz im Gegenteil, ich fühlte mich gut. Gesund und stark. Außer in den Nächten, wo ich immer so sehr fror. Aber das konnte doch nicht am Wasser liegen. Oder?

»Bin ich auch süchtig?«, fragte ich beunruhigt, doch Robert schüttelte sofort den Kopf.

»Nein, Seth, keine Sorge, das bist du nicht. Ich wollte es dir nur an einem Beispiel erklären. Kein gutes Beispiel, ich gebe es zu.« Er schmunzelte kurz, um anschließend schwer zu seufzen. »Tom trinkt Alkohol, damit er schlafen kann, Seth, und wenn er genug trinkt, träumt er nicht vom Krieg. Das Tückische an Alkohol ist aber, dass sein Körper sich an ihn gewöhnt und mit der Zeit braucht Tom immer mehr, um nachts weiterhin ruhig schlafen zu können. Irgendwann erreicht er dann einen Punkt, an dem er ohne Alkohol gar nicht mehr zurechtkommt. In dem Moment wird der Alkohol für ihn wirklich zur Sucht.« Robert sah mich besorgt an. »Ich glaube, Tom steht kurz davor, diesen Punkt zu erreichen.«

Die Vorstellung war so erschreckend, dass mir übel wurde. Ich wollte nicht, dass Tom krank war und in Zukunft immer so eklig roch und schlecht gelaunt war wie heute früh. Ich wollte, dass er so war wie gestern am See. Als er gelächelt und mir erklärt hatte, wie ich besser schwimmen konnte. Also fasste ich einen Entschluss.

»Er muss damit aufhören.«

Robert nickte. »Ich weiß, nur ist das nicht so leicht, wie du dir das vorstellst. Wenn sich ein Körper an eine Droge gewöhnt hat, reagiert er mit Entzugserscheinungen, wenn er nicht mehr regelmäßig Nachschub bekommt. Von ihm zu verlangen, nicht mehr zu trinken, wird vielleicht nicht ausreichen, Seth.«

Bevor ich fragen konnte, was Entzugserscheinungen waren, stöhnte Robert plötzlich auf und erhob sich.

»Himmel, ich bin so dumm. Warum ist mir das nicht früher eingefallen?«

Er eilte zu seiner Tasche und kam kurz darauf mit seinem Laptop zurück zu mir zum Bett. Ich wusste, dass dieser Laptop ein Computer war, mit dem er an meinen Testreihen arbeitete. Es dauerte nicht lange und auf dem dunklen Bildschirm zeigte sich ein Foto von mir als Baby und viele kleine Symbole, die ich nicht verstand. Robert zeigte auf eines und berührte dabei mit seinem Finger eine kleine, schwarze Fläche unterhalb von mehreren Buchstabenreihen.

»Sieh mal … Das ist unser Internet. In etwa gleichzusetzen mit Büchern, nur dass du hier viel mehr Informationen vor dir hast.« Er tippte über die Buchstabenreihen die Wörter »Sucht, Alkohol, Entzugserscheinungen« ein und sie erschienen gleich darauf auf dem Bildschirm. Ich war völlig fasziniert. »Möchtest du es versuchen?«

Mein sprachloses Nicken brachte ihn zum Lachen und ein paar Minuten später saß ich, in ein langes Dokument vertieft, das den Titel »Alkoholsucht« trug, auf dem Bett und fing an zu lernen, was es mit Toms Krankheit auf sich hatte.

 

 

Kapitel 5

Trusk

 

 

 

 

»Irgendeine Spur von ihnen?«

Der erfahrene Sergeant salutierte vor mir und erst als ich nickte, entspannte er sich und nahm die Hand herunter. »Nein, Sir. Wie Sie vermuteten, nutzt Doktor Richards ausschließlich Bargeld. Die Spur verliert sich weiterhin bei ihm zu Hause und wir konnten trotz all unserer Bemühungen nicht herausfinden, in welche Richtung er mit Subjekt 11 unterwegs ist.«

Die Ausrede hörte ich jetzt seit drei Wochen und langsam aber sicher hing sie mir zum Hals raus. Wir hatten die besten technischen Spielereien und sogar Satellitenüberwachung zur Verfügung, und trotzdem gelang es meinen Leuten nicht, einen Mann in Begleitung eines Kindes aufzuspüren?

»Der Computer?«, fragte ich weiter.

»Absolut sauber. Der Laptop war nicht zu finden, daran hat sich auch nach unserer zweiten, ausführlichen Durchsuchung nichts geändert. Er hat ihn also entweder zerstört oder bei sich. Ich würde Letzteres vermuten, weil er Wissenschaftler ist und vermutlich Forschungsdaten auf dem Laptop hat, doch bisher hat er nicht versucht, sich von außerhalb ins Netzwerk unseres Labors einzuloggen. Weder über seinen eigenen Laptop noch über ein Internetcafé oder andere Hotspots. Ich bezweifle auch ernsthaft, dass er das jemals tun wird.«

Dahingehend stimmte ich dem Sergeant zu, denn Richards hatte alles riskiert, um Subjekt 11 vor knapp einem Monat in einer Nacht- und Nebelaktion hier rauszuholen. Er würde das niemals durch einen dummen Fehler kaputtmachen, dafür war der Mann zu klug.

»Haben Sie die Beweise für unsere Anwesenheit in seinem Haus vernichtet?«

»Ja, Colonel, wie befohlen. Ein Gasleck, das leider zu einem Feuer führte, welches das Haus komplett zerstörte. Wir haben vorher noch entdeckt, dass in Richards' Heimbüro einige Dinge fehlten. Unter anderem ein Mikroskop samt Zubehör, ein Paket steril verpackter Spritzen und Verbandsmaterial. Es kann sein, dass noch mehr fehlte, aber sein Haus war nach unserer ersten Durchsuchung ein totales Chaos, es wäre unmöglich gewesen, das herauszufinden.«

Das war auch gar nicht nötig. Jedenfalls nicht für mich. Der werte Doktor hatte vor, unterwegs seine Testreihen an Subjekt 11 fortzuführen. Schlau. Verdammt schlau sogar. Ich verbiss mir einen saftigen Fluch. Der Mistkerl wollte seine Forschung beenden und hinterher wahrscheinlich an den Meistbietenden verkaufen, um sein Überleben zu sichern. Und vielleicht sogar das unseres wertvollen Subjekts. Doktor Robert Richards war ein verdammter Verräter.

»Handydaten?«

»Nichts Auffälliges. Seit seiner Flucht ist es ausgeschaltet, war aber nicht im Haus. Was nichts heißen muss. Vermutlich hat er es weggeworfen.«

»Die öffentlichen Verkehrsmittel?«

»Weiterhin keine Spur zu finden. Weder bei Bus oder Bahn. Die Flughäfen sind ebenfalls sauber. Ich tippe immer noch auf einen Mietwagen, doch falls er den bar bezahlt hat, wovon wir ausgehen müssen, weil sein Konto am Tag der Flucht aufgelöst und ausbezahlt wurde, ist es so gut wie unmöglich, ihn damit zu finden. Wir überprüfen dennoch weiter alle hier ansässigen Firmen, aber selbst wenn wir Glück haben sollten, wird er den Wagen mittlerweile gewechselt haben. Der Mann ist eindeutig nicht dumm.« Der Sergeant verzog das Gesicht.

»Was?«, hakte ich sofort nach.

»Doktor Meyers aus dem Labor hat sich gemeldet. Sie sind endlich mit der Bestandsaufnahme fertig und es sieht nicht gut aus, Sir.«

Das Gegenteil hätte mich auch stark gewundert, immerhin hatten wir fast zwei Tage gebraucht, um das Feuer zu löschen, das Richards in den Laboren gelegt hatte, um seine Spuren zu verwischen. Drei Tage war er bereits mit unserem Subjekt auf der Flucht gewesen, als wir endlich bemerkten, dass die beiden nicht in den Flammen umgekommen waren.

»Ich höre.«

»Richards hat nicht nur die Feuerlöschanlage ausgeschaltet, sondern auch die Kühlung für die restlichen Embryonen und befruchteten Eizellen. Das wurde erst heute Morgen bemerkt, weil sie die ganze Zeit versucht haben, wenigstens die sieben Lebendproben zu retten, die das Feuer überstanden hatten. Die Datensicherung der verbrannten Computer war ebenfalls nicht erfolgreich. Laut Doktor Meyers stehen sie wieder bei Null.«

»Richards hat also ganze Arbeit geleistet«, knurrte ich und schickte den Sergeant mit einem harschen »Suchen Sie weiter!« aus meinem Büro.

Dafür würde Robert Richards mir büßen. Mehr als dreißig Jahre mühsam zusammengetragene Forschung war vernichtet, weil ein genialer Genetiker plötzlich ein Gewissen bekommen hatte. Es war unfassbar. Und ein verdammtes Ärgernis. Warum war im Labor niemandem aufgefallen, dass Richards zu dem Subjekt einen fast schon väterlichen Kontakt aufgebaut hatte? Es gab aus gutem Grund Ethikregeln, die zu nahen Kontakt zu den Forschungsobjekten untersagten. Aber offenbar nahm man es hier mit den Regeln nicht allzu genau, sonst hätte der beste Genetiker dieses Labors kaum einfach so mit dem wertvollsten Objekt, das je unter meiner Kontrolle gestanden hatte, aus der Anlage spazieren können.

Wir brauchten dringend unser verdammtes Subjekt zurück. Gerade jetzt, wo die restlichen Lebendproben und Embryonen vollständig vernichtet waren. Dieses unzählige Milliarden von Dollar teure Forschungsobjekt war die letzte noch verbliebene Möglichkeit mit seinem genetischen Code weiterzuarbeiten, damit wir in ein paar Jahren anfangen konnten, erste Tests an lebenden Probanden durchzuführen.

Genetisch verbesserte Soldaten wären der Durchbruch auf den Schlachtfeldern dieser Welt, und die USA würde innerhalb weniger Jahre wieder an der Spitze der Nahrungskette stehen.

Da wo sie hingehörte.

Fressen oder gefressen werden, war das Motto dieser Welt, und ich hatte nicht vor, mich fressen zu lassen.

 

 

Kapitel 6

Tom

 

 

 

 

Als wir am nächsten Tag um die Mittagszeit Pause in einem kleinen Diner am Highway machten, berührte mich Seth beim Aussteigen am unteren Rücken.

Es war kaum fühlbar, nicht mehr als ein Lufthauch, aber ich war schon den ganzen Vormittag über wegen seiner ständigen Blicke in den Rückspiegel nervös gewesen, da war seine Hand auf mir wie ein Schwall Eiswasser. Der pure Schock. Der mir allerdings auch eines klarmachte.

Seth berührte mich nicht zufällig.

Das hatte er schon gestern Morgen am See nicht getan und auch später im Wagen nicht, während ich noch im Halbschlaf gewesen war. Er suchte meine Nähe. Wieder und wieder. Dazu seine Blicke und jetzt auch noch dieses knappe Lächeln, als er sich zu mir umdrehte, weil ich neben der Autotür förmlich zur Salzsäule erstarrt war. Ich konnte es kaum glauben. Nein, das stimmte nicht, denn ich wollte es nicht glauben. Dabei war es mehr als offensichtlich, und wäre Seth ein Mann, hätte ich seine Vorstöße längst als das erkannt, was sie waren.

Der Junge flirtete mit mir. Nicht sonderlich geschickt, kein Wunder, er war schließlich ein gerade mal zwölfjähriges Kind, aber Seth machte mir eindeutig Avancen.

Was zur Hölle …?

Ich entschied mich dagegen, ihnen ins Diner zu folgen, weil ich jetzt nie im Leben etwas hätte essen können, sondern warf stattdessen die Wagentür zu und strebte mit langen Schritten Richtung Toiletten, die neben dem Diner in einem gesonderten Anbau lagen und leider jedem Klischee entsprachen, das ich von Highwaytoiletten kannte. Überall im Vorraum lagen leere Klopapierrollen, Damenbinden, Tampons und weiterer Dreck herum, von dem ich lieber gar nicht wissen wollte, was es war, dachte ich und schob die Tür zu den Männertoiletten auf.

Andererseits war ich durch meine lange Zeit im Ausland in der Hinsicht einiges an Kummer gewöhnt, und wer schon mal drei Nächte direkt neben dem vollen Container einer mobilen Toilettenkabine genächtigt hat, der wird hart im Nehmen.

Nebenbei lenkte mich der widerliche Gestank der offenbar schon seit Monaten nicht mehr geputzten Toiletten weit genug ab, dass ich mich im letzten Moment davon abhalten konnte, meine Faust in den verdreckten Spiegel über den insgesamt drei nebeneinanderliegenden, völlig versifften Waschbecken zu schlagen. Mit einem entsetzten Kopfschütteln stützte ich mich mit beiden Händen auf einem der Becken ab. Es musste früher einmal strahlend weiß gewesen sein, aber mittlerweile war die Farbe nicht mehr identifizierbar.

Was auch für die schwarzen Flecken und Schlieren galt, die sich überall auf und im Becken fanden. Wahrscheinlich gab es nicht mal mehr fließendes Wasser.

Ich atmete zitternd durch.

Es roch nach Urin, Fäkalien, altem Schweiß und nach Muff. Alles war alt, stellte ich fest, während ich meinen Blick mithilfe des Spiegels durch den Raum wandern ließ. Es gab sechs Toilettenkabinen. An einer fehlte die Tür, auf der vierten hatte sich ein Sprayer mit ganz passablen Malkünsten verewigt und der Fleck auf dem Boden vor der letzten Kabine sah nach lange getrocknetem Blut aus. Wenn ich mir die Menge so ansah, war in dieser Müllhalde jemand gestorben.

Und das würde mir ebenfalls blühen, wenn ich keinen Weg fand, mich von Seth fernzuhalten. Ich sah an mir hinunter und war angeekelt, denn ich reagierte auf das Kind in einer Weise, die ich einfach nur abartig fand. Das durfte nicht sein. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich auf ein Kind mit einem Ständer reagiert. Niemals. Ich bevorzugte zwar mein eigenes Geschlecht, aber ich wollte Männer. Große Kerle. Ob schlank oder breiter war mir egal, ich wollte einfach etwas in der Hand haben. Am besten gefiel mir, wenn mein Partner stark genug war, dass er gegenhalten konnte. Eben ein ganzer und vor allem erwachsener Mann.

Kein kleiner Junge, der einfach nur nett und freundlich zu mir gewesen war, und den ich wirklich gemocht hatte. Dem ich dabei geholfen hatte, besser schwimmen zu lernen. Über den ich mich insgeheim amüsiert hatte, weil er einerseits total naiv und andererseits so wissbegierig und offen für alles Neue war, wie es jedes normale Kind sein sollte.

Und den ich, trotz allem, immer noch mochte.

Mein Gott, was sollte ich bloß tun? Ich musste den Auftrag kündigen, und zwar sofort. Aber ich brauchte das Geld und ich musste doch nur Abstand halten. Das bekam ich bestimmt hin. Verfluchte Hölle, ich hatte schon ganz andere Dinge geschafft, die bedeutend heikler und gefährlicher gewesen waren, als ein hübscher, zwölfjähriger Bengel mit blonden Engelslocken und den schönsten blauen Augen, die ich jemals gesehen hatte.

»Tom?« Ich zuckte zusammen und sah zur Tür. Richards stand dort und sah mich fragend an. »Geht es Ihnen gut?«

»Ich komme gleich.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

Das war mir sehr wohl bewusst, aber ich konnte dem Mann ja schlecht sagen, dass mein bescheuerter Schwanz auf seinen Sohn abfuhr. Gott, allein der Gedanke bescherte mir eine Welle von Übelkeit, die dieses Mal leider so gar nichts mit Alkohol zu tun hatte, und ich wünschte, es wäre anders. Ich brauchte was zu trinken. Und zwar dringend. Hauptsache, ich hörte auf, mir Gedanken über ein Kind zu machen.

»Ich brauch was zu trinken.«

Richards nickte. »Verstehe.«

»Was verstehen Sie?«, knurrte ich, weil sein Mitleid oder was auch immer es war, mich auf die Palme brachte. »Sie sind bloß ein Wissenschaftler, der noch nie eine Waffe in der Hand hatte. Sie haben doch überhaupt keine Ahnung, was man alles zu tun bereit ist, wenn es ums nackte Überleben geht … Nein, Doc, Sie verstehen gar nichts. Also sparen Sie sich Ihr Mitleid.«

Was wusste dieser Laborhengst schon vom Krieg, oder was er einen kostete, wenn man ihn überlebte? Die Albträume, das schlechte Gewissen, die Schuldgefühle, die einen irgendwann erstickten, falls man keinen Weg fand, mit ihnen zu leben. Tja, meinen Weg hatte ich in der Flasche gefunden, auch wenn das mit Sicherheit nicht der gesündeste war. Aber wenigstens hatte ich einen. Ich wusste von Kameraden, die nicht so viel Glück gehabt hatten, und die man schließlich mit weg geschossenem Kopf aus ihren Häusern getragen hatte.

»Sie haben recht. Ich hatte noch nie eine Waffe in der Hand. Zumindest nicht das, was Sie darunter verstehen, Tom.« Er trat neben mich und unsere Blicke trafen sich im Spiegel. »Aber Sie haben unrecht, wenn Sie glauben, ich wüsste nicht, was man alles zu tun bereit ist, um sich selbst zu beschützen. Oder jene, die man über alles liebt.«

Wieso hatte ich auf einmal den Eindruck, dass er dabei von Seth sprach? Ich runzelte die Stirn. »Wie ist das gemeint?«

Richards lächelte traurig. »Wir haben alle unsere kleinen oder größeren Geheimnisse. Erzählen Sie mir Ihre, Tom, dann erzähle ich Ihnen vielleicht auch meine.«

 

Ich dachte noch viele Stunden später über dieses seltsame Angebot von Richards nach, weil ich mir keinen Reim darauf machen konnte, aber mittlerweile kurz davor stand, es einfach anzunehmen, um herauszufinden, was für große Geheimnisse ein Mann wie er haben konnte.

Andererseits, wie war das mit Doktor Mengele? Noch dazu hatte er bereits freimütig zugegeben, dass er mich belog. Wer konnte schon mit Gewissheit sagen, was dieser auf den ersten Blick so harmlose Wissenschaftler in seinem Labor schon alles getrieben hatte? An meine erste Militär-Überlegung glaubte ich zwar nicht wirklich, doch möglich war alles. Vielleicht hatte er grausame Experimente an Tieren durchgeführt. Oder andere, ethisch fragwürdige Versuche. Vielleicht sogar an Menschen?

Irgendwie war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich es tatsächlich wissen wollte.

Es gab Gelegenheiten, da war es für die Nerven und für das eigene Seelenheil eindeutig besser, wenn man nach der »Kopf in den Sand«-Methode handelte, und das hier war eindeutig so eine. Ich wollte nicht wissen, was Richards in seinen Laboren getrieben hatte oder mit wem. Ich wollte nicht wissen, ob Seth wirklich war, was der Doc behauptete. Oder ob er das war, was ich insgeheim zu fürchten begann.

Experimente an Menschen. An Kindern.

Wie früher im Krieg.

Wie heute, sobald man gegen die eigene Bevölkerung mit Keimen oder Giftgas zu Felde zog und hinterher behauptete, es wäre ein Versehen gewesen. Das war es nie. Jeder wusste das, doch niemand sprach es aus. Was nicht sein durfte, durfte eben nicht sein. Also tat man, als wüsste man von nichts, und genau das würde ich auch tun. Ich wusste eh schon genug, noch mehr würde ich nicht ertragen.

Nein, ich wollte nichts mehr wissen.

Ich wollte nur diesen einen verfluchten Monat überstehen, ohne eine Dummheit zu begehen, und danach mein Geld nehmen und verschwinden.

 

Allerdings sind auch die schönsten Vorsätze zum Scheitern verurteilt, wenn man völlig unerwartet genau das zu Gesicht bekommt, was man niemals hatte sehen wollen.

So erging es mir am nächsten Morgen, als ich nach zu viel Wodka und zu wenig Schlaf aus meinem Zimmer vor die Tür des billigen Motels trat, in dem wir übernachtet hatten, um mir die wackligen Beine zu vertreten, und ein paar Minuten später beinahe über Seth stolperte.

Der etwa fünf Schritte vor mir mitten auf dem schmalen Waldweg stand und sich mit einem Wolf unterhielt.

Das Tier entdeckte mich zuerst und knurrte, woraufhin ich einen selbstgefälligen Blick von Seth zugeworfen bekam. Doch entweder war ich noch zu betrunken, um mir aus dem, was ich gerade sah, irgendetwas zu machen, oder, was mir logischer erschien, mich wunderte nach diesen nebulösen Andeutungen von Richards wirklich gar nichts mehr.

»Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«, murmelte ich und machte kehrt, um zurück zum Hotel zu stapfen, vor dem Richards bereits dabei war, den Wagen zu beladen.

Im Moment war es ein SUV in schwarz, aber ich hatte das ungute Gefühl, dass sich das schon bald wieder ändern würde, denn der werte Doktor hatte sich gestern, während der letzten Etappe unserer Fahrt hierher, die ich am Steuer gesessen hatte, im Internet nach Leihwagenfirmen in der näheren Umgebung umgesehen.

Ich wusste nicht genau, woran es lag. Dem Restalkohol in meinem Blut, diesem vollkommen unmöglichen Anblick eben oder meinem verrückten Gedankenkarussell, das sich von Tag zu Tag schneller drehte, aber als ich Robert Richards dort am Kofferraum stehen sah, mit Seths Rucksack in der Hand, hörte ich es plötzlich ganz laut in meinem Ohr klicken. So als würde etwas in mir einrasten. Und dann war ich auch schon bei ihm, schlug Richards den Rucksack aus der Hand und drängte ihn mit dem Rücken gegen die Seitenwand des Autos.

»Was …? Tom?«

»Was, zum Teufel, ist das für ein Kind?«, zischte ich, besaß dabei aber gerade noch genug Geistesgegenwart, um nicht zu brüllen und jeden im Umkreis von einer Meile damit auf uns aufmerksam zu machen. Wir waren nicht die einzigen Gäste in diesem Motel, das durfte ich nicht vergessen, auch wenn es früh am Morgen war und der Großteil mit Sicherheit noch in den Federn lag.

»Sie verstehen das nicht … Seth ist einzigartig.«

Ich hatte mit meinem komischen Gefühl und dem Instinkt, dass irgendetwas an den beiden oberfaul war, also wirklich die ganze Zeit recht gehabt. Himmel noch mal, in was war ich hier nur hineingeraten? Ich packte Richards am Kragen seiner Jacke und zog ihn zu mir, bis wir Nase an Nase waren.

»Sie haben recht, ich verstehe es nicht und ich weiß derzeit auch nicht, ob ich das überhaupt will. Seth spricht mit Tieren!« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich saufe zu viel, das weiß ich, aber ich bin nicht bescheuert. Und ich bin vor allem nicht blind. Er hat sich gerade im Wald mit einem Wolf unterhalten. Einem Wolf! Behaupten Sie ja nicht, Sie wüssten nichts davon. Sie wissen, was mit ihm los ist. Sie wissen, was er ist.« Richards zog eine Grimasse und da fiel es mir wie die sprichwörtlichen Schuppen von den Augen. »Genauso wie Sie wissen, dass Ihr zwölfjähriger Bengel mir Avancen macht, seit ich für Sie arbeite … Womit ab sofort Schluss ist!«

Seine Augen weiteten sich schockiert. »Tom, bitte ...«

»Nein!«

Ich ließ von ihm ab, drehte mich um und erstarrte förmlich auf der Stelle, denn keine drei Meter von uns entfernt standen Seth und dieser Wolf und sahen uns an. Das an sich war schon verrückt genug, aber die Tatsache, dass Seths Augen beinahe schwarz waren und er auf mich damit überirdisch schön und anziehend wirkte – ich wollte mich übergeben. Hier. Jetzt. Und dann sah Seth mir in die Augen und das Gefühl, mich vor mir selbst zu ekeln, war fort, als hätte es niemals existiert.

Stattdessen durchfluteten mich Wärme, Ruhe und Frieden. Was, zur Hölle, trieb Seth für Spielchen mit mir? »Hör sofort damit auf!«, fuhr ich ihn an und er zuckte heftig zusammen.

»Seth … Niemals ohne Erlaubnis, weißt du noch?«

Richards trat wie schützend vor mich und unterbrach den Blickkontakt zwischen uns. Seth wurde rot und sah zu Boden.

Das Gefühl der Wärme verschwand.

»Es tut mir leid.«

Richards räusperte sich. »Seth ...«

»Erzähl es ihm.«

»Seth ...«

Als der Junge wieder aufsah, stand nackte Panik in seinem unschuldigen, jungen Gesicht und sein Atem ging auf einmal viel zu schnell. »Er darf nicht weggehen. Er ist meiner. Er darf nicht. Ich kann nicht … Er muss bleiben. Bitte. Sag ihm, was ich bin, Robert … Er versteht es. Ganz bestimmt. Er darf nur nicht weggehen.«

Seth sprach über mich, erkannte ich verdattert, und wurde dabei immer unruhiger, bis er sogar den Wolf damit ansteckte, der sich jetzt vor seine Beine schob und ihn zurückdrängte, als wolle er Seth vor uns beschützen. Langsam wurde das Ganze echt merkwürdig. Also noch merkwürdiger als ohnehin schon.

Warum durfte ich nicht weggehen? Was war hier eigentlich los? Und wie kam Seth darauf, dass ich seiner war, was immer er damit auch meinte?

»Bist du sicher?«, hakte Richards leise nach und stockte im selben Moment wie ich, denn als Seth uns nach diesen Worten ansah, waren seine Augen vollkommen schwarz. Es gab keine Pupille mehr, keine Iris. Nur Schwärze.

Grundgütiger.

»In Ordnung«, gab Richards nach. »Ich erzähle Tom alles, Seth, ich verspreche es.« Und das schien zu helfen, denn Seths Atmung wurde langsamer und der Wolf trat wieder an seine Seite, während Seths Augen zu ihrer normalen Form und der blauen Farbe zurückkehrten. Richards deutete auf den Wolf. »Ist dein Freund verletzt? Braucht er Hilfe?«

»Nein, er hatte nur Langeweile und war neugierig, weil ich so anders bin.«

Der Doc nickte. »Geht lieber wieder in den Wald. Tom wird uns nicht verraten, aber für die anderen Hotelgäste garantiere ich besser nicht. Wir gehen in unser Zimmer zurück, wenn du uns suchst, okay?«

»Ja, gut.«

Ich starrte Seth eine geschlagene Minute hinterher und erst als Richards die Kofferraumtür schloss und das Auto danach verriegelte, kam ich weit genug zu mir, um ihm langsam ins Motelzimmer folgen zu können, während ich mich die ganze Zeit stumm fragte, ob ich das alles gerade geträumt hatte oder vielleicht doch schon im Alkoholdelirium lag?

Richards schwieg, während er die zerwühlte Bettdecke ein bisschen glattstrich. Er wollte mir offenbar Zeit lassen, bis ich das Thema von selbst aufgriff, aber erst mal wollte ich nur eins, nämlich mich hinsetzen. Und da das Bett gerade so schön vor mir stand, drehte ich mich einfach um und ließ mich darauf nieder, um mein Gesicht zwischen den Händen zu vergraben und leise zu stöhnen.

Das konnte doch alles nicht wahr sein. Aber das war es und darüber jammern würde mir auch nicht helfen. Ich hatte diesen Job des Geldes wegen angenommen, obwohl ich gespürt hatte, dass die beiden Ärger bedeuteten, und jetzt hatte ich den Salat. Verdient, denn es war meine eigene Schuld. Ich hätte absagen können. Wie ich es anfangs gewollt hatte. Ich hätte einfach Danke, aber nein danke, zu Robert Richards sagen sollen und zusehen, dass ich einen anderen Job an Land zog, der zwar mit Sicherheit schlecht bezahlt, aber zumindest so langweilig war, dass ich nicht Gefahr lief, über Kinder zu stolpern, die sich mit Wölfen unterhielten und tiefschwarze Augen bekamen, wenn sie … Was auch immer. Ich hatte keine Erklärung dafür.

»Seine Augen«, murmelte ich schließlich und schüttelte den Kopf, ehe ich aufsah, als Richards sich mir gegenüber auf dem abgewetzten, beigefarbenen Ledersessel niederließ, von dem auch ein Exemplar in meinem Zimmer nebenan stand. Ich stieß geräuschvoll die Luft aus. »Was, zum Geier, war das?«

»Das passiert, wenn er aufgeregt ist. Ich habe das schon ein paar Mal gesehen, aber noch nie so komplett wie heute. Er hat panische Angst davor, dass Sie ihn verlassen.«

Und das war mir ein Rätsel. Wir kannten uns nicht einmal eine Woche. Wie kam dieser Junge dazu …? Ich stutzte mitten in meiner Überlegung, als mir etwas anderes einfiel. War Seth überhaupt ein Junge? Oder war er irgendetwas Komisches, mit dem Richards aus dem Labor getürmt war? Weitere Gedanken stürmten auf mich ein. Kein Wunder, dass Richards mit ihm nach Kanada wollte. Die beiden waren auf der Flucht. Er hatte den Jungen entführt und ich war der Blödmann, der so dumm gewesen war, sich darauf einzulassen, für sie den Rambo zu spielen, sobald die mit Sicherheit schwer bewaffnete Kavallerie auftauchte, um Frankensteins Monster wieder einzufangen.

Gott, ich musste wirklich mit der Sauferei aufhören, sonst würde ich noch meinen verfluchten Verstand verlieren, ehe ich Vierzig war. Aber verflixte Hölle noch mal, ich wollte endlich Antworten.

Nein, das war Unsinn. Ich wollte sie nicht, ich brauchte sie. Und zwar sofort.

»Okay, reden Sie.«

Richards stieß nachgebend die Luft aus. »Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich keine Ahnung, wo ich anfangen soll.«

Wenn es weiter nichts war, dabei konnte ich ihm behilflich sein. »Wie wäre es damit, mir zu erklären, was er da eben mit mir gemacht hat? Oder wieso er mit Tieren reden kann? Oder was er damit meint, dass ich nicht weggehen darf?«

»Ich weiß es nicht genau.«

Ich schnaubte abfällig. »Blödsinn!«

Richards schüttelte den Kopf und sah mich eindringlich an. »Ich schwöre, das ist die Wahrheit. Ich weiß es nicht, weil es in unserer Sprache dafür keine Worte gibt. Ich kann versuchen, es zu umschreiben, aber ich weiß nicht, was er tut oder wie. Ich weiß nur, dass es beruhigend wirkt. So als hätte Seth die Gabe Konflikte, Streits oder Schlimmeres zu verhindern. Hat es sich wie Wärme angefühlt, die Ihren ganzen Körper durchdringt?«

Ich nickte sprachlos.

»Er hat es zum allerersten Mal getan, da war er noch keine Woche alt. Ich habe es ihm sofort verboten, weil ich verhindern wollte, dass meine Kollegen etwas merken. Ich liebe Seth über alles. Schon lange, bevor er geboren wurde, liebte ich ihn.«

Richards lächelte und in dem Moment hätte nicht einmal ein Blinder übersehen können, was er für den Jungen fühlte. Er sagte wirklich die Wahrheit, wurde mir bewusst, obwohl ich gleichzeitig begriff, dass er mit seinen Worten höchstens an der Oberfläche dessen gekratzt hatte, was ich mir vermutlich nicht mal in meiner kühnsten Fantasie würde vorstellen können.

»Erinnern Sie sich noch, als Sie fragten, woran seine Mutter gestorben wäre?«

»Ja.«

»Tja, das kann ich Ihnen sagen … Seth hat keine Mutter. Er hatte nie eine. Er ist das Ergebnis eines Experiments. Er ist der erste seiner Art. Der Einzige. Eine Vermischung dreier Spezies, was eigentlich unmöglich ist. Zumindest dachten wir das, aber dann war er plötzlich da und sehr lebendig, und ich hoffe, dass er das noch viele Jahre bleiben wird.«

Ich blinzelte. »Wie bitte?«

»Seth ist zu einem Drittel ein Mensch, zu einem Drittel ein Tiger und zu einem Drittel etwas anderes. Deshalb spricht er mit Tieren. Zumindest glaube ich das, weil er das gestern zum ersten Mal gemacht hat, nachdem Sie beschlossen hatten, sich wiederholt zu betrinken. Ich weiß nicht, wie lange er es schon kann oder warum, aber er kann es, und ich schätze, je älter er wird, umso mehr solcher Fähigkeiten wird er entwickeln. Aber auch das ist reine Spekulation meinerseits, denn diese raschen Veränderungen in seinem Verhalten, seiner ganzen Art, treten erst auf, seit Sie bei uns sind.« Richards winkte ab, als ich ihm widersprechen wollte. »Das war kein Vorwurf, im Gegenteil, es ist gut. Er soll sich entwickeln, je schneller, desto besser, denn wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, läuft uns die Zeit davon … Und dass er Sie nicht gehen lassen will … Nun ja, der Grund dafür dürfte für Sie wohl noch verrückter klingen, als es meine Geschichte vermutlich ohnehin schon tut.«

Tja, damit hatte Richards verdammt recht, entschied ich und tippte mir schweigend und äußerst vielsagend gegen die Stirn. Wenn dieser Mann tatsächlich annahm, ich würde ihm so einen Bullshit glauben …

»Ich sage die Wahrheit, Tom.«

»Das ist doch Blödsinn!«, konterte ich. »Sie wollen mir also ernsthaft weismachen, dass dieser Junge da draußen im Wald nicht Ihr Sohn ist?«

»Jedenfalls nicht richtig.«

»Weil er eigentlich ein Tiger ist?«

»Nicht nur.«

Ich wollte nicht lachen, wirklich nicht, aber es ging einfach nicht anders. »Doc, nehmen Sie das bitte nicht persönlich, aber Sie sind nüchtern noch weitaus durchgeknallter als ich, wenn ich besoffen bin.«

»Tom ...«

»Hören Sie auf mit der Scheiße. Selbst wenn ich Ihnen das glauben wollte, ist und bleibt es Science-Fiction-Blödsinn. Man kann im Labor keine Menschen erschaffen!«

Richards fuhr sich seufzend durchs Haar. »Glauben Sie, ich weiß nicht, wie sich das anhört? Es ist die Wahrheit. Ich war in diesem Labor, ich war dabei. Ich habe Seth sogar eigenhändig aus dem Brutkasten geholt, als er reif genug dafür war.«

»Reif?«, wiederholte ich angeekelt. »Sie müssten sich selbst mal zuhören. Tomaten werden reif. Obst wird reif. Ein Mensch wird gezeugt und danach geboren. Geboren! Soll ich es Ihnen buchstabieren, Doc? Sie klingen wie ein leibhaftig gewordener Frankenstein. Seth ist ein Kind, verdammt noch mal!«

»Haben Sie jemals ein Kind so sehr begehrt, Markson?«

Unerlaubter Tiefschlag. Mir wurde speiübel und ich musste mich mit aller Macht zusammenreißen, um ihm für diese Frage nicht die Faust ins Gesicht zu schlagen. Stattdessen presste ich meine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, was Richards nicken ließ.

»Ja, ich weiß es, denn ich habe Augen im Kopf, und wie Sie gestern in der Toilette von diesem Diner reagiert haben … Es war offensichtlich für mich. Aber ich weiß auch, dass Sie Seth nicht angerührt haben.«

»Ich bin nicht pädophil!«

»Und er ist kein Kind. Was Sie fühlen, ist nicht falsch.«

»Er ist zwölf Jahre alt!«

»Seth ist ein Hybrid. Der Einzige, bei dem die Vermischung dreier Stränge je gelungen ist.«

»Was?«

Richards winkte ab. »Ihnen das zu erklären, würde Wochen dauern. Kurz gesagt, mir und meinen Kollegen ist es im Labor gelungen, die genetischen Eigenschaften eines Menschen, mir, eines Tigers und … etwas Anderem zu verbinden. Seth ist das Ergebnis. Der erste Embryo, der überlebt hat. Er ist der Einzige seiner Art. Ich bin Wissenschaftler und ich war stolz auf meine Arbeit. Ich wollte Menschen helfen. Leben retten. Aber nicht alle sahen das so und ich habe das leider viel zu spät begriffen. Er ist mein Sohn, zumindest ein Teil von ihm. Ich will nicht, dass er von der Regierung für Experimente missbraucht wird. Darum sind wir geflohen. In Kanada habe ich Verbindungen, Freunde. Wir werden verschwinden. Ein ganz neues Leben. Ich möchte, dass Seth eine Zukunft hat. Er ist etwas Besonderes, können Sie das denn nicht verstehen?«

Doch, das konnte ich durchaus, denn hätte ich einen Sohn, dessen Leben in Gefahr wäre – ich würde alles tun, um ihn zu beschützen. Alles. Aber Seth war nun mal nicht mein Sohn. Ich warf Richards einen nachdenklichen Blick zu. »Was ist dieses Andere, von dem Sie gesprochen haben?«

Er zog eine Grimasse. »Ich möchte Ihnen das nicht sagen, um ehrlich zu sein.«

Als wenn ich ihn damit jetzt durchkommen lassen würde. Ich schnaubte. »Ihr Junge macht mir Avancen, Doc. Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wie ich mich seit Tagen fühle? Ich habe Männer erschossen, die solche Gelüste hatten, und ich dachte, ich tue etwas Gutes.«

Sein Blick wurde mitfühlend. »Sie sind nicht pädophil. Ich schwöre Ihnen, dass das, was Sie wollen, nicht falsch ist. Nicht in diesem Fall.«

»Sagen Sie das meinem Verstand.«

Richards schwieg eine Weile, dachte angestrengt nach, um schlussendlich zu nicken. »Also gut … Seth hat die genetischen Eigenschaften eines Tigers. Ihre Stärke, ihre Ausdauer und ihr dominantes Wesen. Der andere Teil ist menschlich, genau wie Sie und ich. Doch das letzte Drittel ist es, worüber wir kaum etwas wissen. Dieser Anteil von ihm ist jener, der Sie will. Als Partner, Gefährte und Mann. Als Teil seiner Seele. So hat er es mir letzte Nacht erklärt und ich glaube ihm das. Seth mag für uns aussehen wie ein Kind, aber er ist keins. Ich fange sogar langsam an zu glauben, dass er das nie war. Er ist mehr

Wie war das denn nun wieder gemeint? »Doc, ich verstehe nur Bahnhof.«

»Der dritte Code, den Seth in seinen Genen in sich trägt, ist außerirdisch.«

Ich starrte Richards an. »Wie bitte?«

»Sagt Ihnen SETI etwas?«

»Sicher. Diese verrückten Kerle im Arecibo-Observatorium, die damals ...« Ich brach ab, blinzelte und prustete los. »Das ist ein Scherz, oder? Sie wollen mir nach all dem jetzt auch noch weismachen, dass Sie eine Antwort bekommen haben?«

»Kennen Sie den Film Species

Mir verging das Lachen abrupt, denn Richards' Blick war in dem Moment so ernst, dass mir langsam zu dämmern begann, wie tief ich in dieser Sache drinsteckte, die ich weder glauben noch wirklich begreifen konnte. »Ach du Scheiße.«

Der Doc nickte. »Der Film war damals Science-Fiction, Seth ist es nicht. Und er ist auch kein blutrünstiges Monster, das die Weltherrschaft an sich reißen will. Und bevor Sie fragen, nein, ich weiß es nicht, aber ich glaube daran. Ich kenne Seth und er ist kein Monster.«

»Wissenschaftler«, murmelte ich frustriert und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. »Okay, okay, nehmen wir mal ganz kurz, für eine Millisekunde, an, ich glaube Ihnen diese Story … Was ist dieses außerirdische Ding in ihm?«

»Das weiß ich nicht.«

»Du lieber Himmel.« Ich fluchte unflätig. »Sie haben also in Ihrem Labor einfach so einen Gen-Cocktail zusammengemixt, ohne vorher genauer zu erforschen, was Sie da eigentlich vor sich haben? Sind Sie noch ganz dicht?«

»Seth ist mein Sohn!«

»Er kann sonst etwas sein! Er könnte Sie schon belügen, seit Sie seinen kleinen Hintern gerettet haben.«

Richards sah mich enttäuscht an. »Sie verstehen gar nichts. Seth ist etwas Besonderes, aber Sie sehen auch nur eine Gefahr in ihm. So wie meine Vorgesetzten, nachdem ihnen klar wurde, dass er uns eines Tages weit überlegen sein wird. Alles, was sie nicht beherrschen oder kontrollieren können, muss zerstört werden. Dabei hat er dasselbe Recht auf ein Leben wie Sie oder ich. Ich werde nicht zulassen, dass er getötet wird, nur weil er anders ist. Wissen Sie, was man Seth im Labor antun wollte? Was sie mit ihm vorhatten? Soll ich es Ihnen sagen?«

Ich hatte im Krieg genug gesehen, um es erahnen zu können, deshalb verzog ich angewidert das Gesicht, dachte dabei an das fröhliche Lächeln von Seth und meine Schultern sanken herab. Ich würde es nicht können. Weder den Job hinschmeißen noch mich auf Dauer von Seth fernhalten.

»Bitte, helfen Sie uns nach Kanada zu kommen. Seth ist so viel mehr, Tom, das haben Sie vom ersten Moment an gespürt. Er mag den Körper eines Kindes haben, aber er war nie eins. Ich kann Ihnen nicht sagen, was er genau ist, doch ich weiß, dass er dasselbe fühlt wie Sie.«

»Das macht es nicht besser, Doc.«

»Das ist mir bewusst, aber er wird schon bald erwachsen sein. Sie müssen nur Geduld haben.«

Moment, was? »Erwachsen?«, hakte ich nach und Richards wurde prompt rot. »Was verschweigen Sie mir, Doc?«

»Wir haben Tests gemacht, bevor ich mit ihm geflohen bin. Die außerirdischen Stränge wuchsen sehr viel schneller, als es bei einem normalen Menschen üblich ist. Ich mache diese Tests immer noch und er … Nun ja ...«

Mir kam ein Gedanke. »Richards? Wie alt ist er?«

»Seth wurde vor sechs Monaten in einer streng geheimen, militärischen Forschungseinrichtung in Virginia geboren.«

Und da blieb mir endgültig der Mund offen stehen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739470160
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Liebesroman schwul Militär Liebe Außerirdisch SciFi Romanze Science Fiction Wissenschaft Abenteuer Krieg Roman

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Mitternachtsblau - Liebe zwischen drei Welten