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Liebe ist jenseits von Gut und Böse

von Mathilda Grace (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Die Ostküsten-Reihe, Band 1

Zusammenfassung

Sie hatten ihn zerbrochen. Zu einem Häufchen Elend gemacht, das allein nicht mehr lange überleben würde. Er war zu einem Schatten seiner Selbst geworden, gefangen in einer Welt voller Gefahren, wo hinter jeder Straßenecke seine ganz persönlichen Monster lauerten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

 

 

 

 

Tagebucheintrag, 11. Juli 2009

 

The Queen City, wie die kleine Stadt von ihren Einwohnern liebevoll genannt wird, soll im Sommer wunderschön sein. Zumindest, wenn man sich in der Stadt auskennt und weiß, wohin man gehen muss. Davon bin ich weit entfernt. Von der Stadt kenne ich bisher nur die Bushaltestelle, einen ständig redenden Taxifahrer und das Motel, in dem ich wohnen werde, bis mein Haus etwas außerhalb der Stadt bezugsfertig ist.

Eigentlich sollte es bei meinem Eintreffen fertig sein, aber in dieser Stadt läuft das Leben ein wenig gemütlicher ab, als ich es gewohnt bin. Jedenfalls kommen die Maler erst in ein paar Tagen und die bestellte Küche Anfang der nächsten Woche. Das und noch mehr, woran ich mich dank Jetlag und Müdigkeit nicht mehr genau erinnere, erzählte mir die Verkäuferin des Hauses am Telefon. Eine höfliche alte Dame, die drei Kinder und sieben Enkel hat, von denen einige noch zu vergeben sind.

Ich habe ihr Verkupplungsangebot auf später verschoben, so wie alles andere auch, bevor ich in meinem vorübergehenden Domizil die erste Dusche seit drei Tagen nahm und danach ins Bett verschwand, um mich nach langer Zeit endlich wieder einmal auszuschlafen.

Auch wenn ich die Nächte ohne Tabletten noch nicht überstehe, gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass es mir eines Tages wieder gelingen wird.

Das Motel ist in Ordnung. Keine 5-Sterne-Herberge, aber auch kein Rattenloch. Mein Zimmer ist sauber, die Miete erschwinglich. Ich werde jedenfalls nicht unter einer Brücke schlafen müssen.

Auch wenn das sicherer wäre, in Anbetracht der Tatsache, dass ich ständig über meine Schulter schaue, aus Angst, ihre Gesichter hinter mir zu entdecken.

Ich hatte früher nie Angst. Jedenfalls nicht so. Ich war ein normaler Mensch, mit normalem Schulabschluss und einer normalen Ausbildung als Bankkaufmann. Ich hatte einen guten und vor allem sicheren Job, ein eigenes Haus und eine Katze als Haustier. Es war ein schönes, ruhiges Leben – mehr hatte ich nie gewollt.

Dann tauchten sie auf und heute besteht mein Leben aus einer vollgestopften Reisetasche, einem Laptop und 27.548 Dollar.

Ich habe das Haus verkauft und meinen gesamten restlichen Besitz zu Bargeld gemacht, bevor ich meine Katze im Tierheim abgab, wo es ihr hoffentlich gut geht, und meiner Heimat den Rücken zukehrte, um in dieser kleinen Stadt in Maryland neu anzufangen.

Ob es funktioniert, weiß ich noch nicht. Ich bin weder im Besitz einer Greencard noch eines Jobs und soweit ich weiß, braucht man in diesem Land wenigstens eines von Beidem, um nach Ablauf des Touristenvisums nicht irgendwann verhaftet und abgeschoben zu werden. Aber darum werde ich mich erst kümmern, wenn es zu einem Problem wird. Vorerst will ich einfach nur meine Ruhe haben und sollte mir das Glück hold sein, was ich bezweifle, vergesse ich in der Zwischenzeit vielleicht, was mir passiert ist.

Heute rede ich mir ein, dass das Ganze für irgendetwas gut war. Erfahrungen prägen und aus seinen Fehlern lernt man, heißt es doch immer. Aber müssen sie deswegen so schmerzvoll sein?

Nun, ich bin zum Teil selbst schuld, denn ich hätte »Nein« sagen können. Zumindest anfangs. Später war es ihnen völlig egal, was ich sagte oder wollte, und am Ende wollte ich nur noch tot sein. Aber ich habe überlebt und irgendwann werde ich die Vergangenheit akzeptieren und wieder normal leben können. Zumindest hoffe ich das. Doch noch ist es dafür zu früh. Noch ist meine Angst zu groß, dass sie mich eines Tages finden.

Die Flucht über den großen Teich war das einzig Richtige. Wäre ich geblieben, wo ich herkomme, wäre ich mittlerweile von einer Brücke gesprungen. Der Gedanke an Selbstmord ist immer noch da, aber nicht mehr so stark wie zu Anfang.

Ich frage mich oft, wieso ich ihnen blind vertraut habe, denn ich weigere mich zu glauben, dass Sex allein so viel Macht haben kann. War ich wirklich so naiv und dumm, wie ich mich heute fühle?

Zu begreifen, dass man nur ein ...

Ich weiß nicht, wie ich beschreiben könnte, was ich in dem Augenblick fühlte, als ich verstand, dass ich nur ein Spielzeug für sie war. Ein kleiner Schwachkopf, mit dem man es ja machen konnte. Ich weiß nicht, was schlimmer war; meine eigene Scham oder die Erkenntnis, wie gefühllos sie in Wirklichkeit sind.

Dass Menschen die Worte »Ich liebe Dich« über die Lippen bringen, obwohl sie nicht das Geringste dabei empfinden, habe ich durch sie gelernt. Früher glaubte ich an die große Liebe. Heute weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.

»Es war doch alles nur ein Spiel.«

Was habe ich diese Worte hassen gelernt. Für mich ist Liebe kein Spiel. Mir bedeutet sie etwas und ich spreche die berühmten drei Worte nicht leichtfertig aus. Im Augenblick denke ich, dass ich sie nie wieder aussprechen werde. Ganz schön zynisch für jemanden, der erst 28 Jahre alt ist, nicht wahr?

Meine Narben verheilen, aber verschwinden werden sie niemals. Ich habe sehr viele Narben. Sichtbare und unsichtbare. Sie haben einen anderen Menschen aus mir gemacht und der gefällt mir nicht. Ich möchte wieder so naiv sein wie früher, denn mein Leben war so bedeutend einfacher. Aber das wird nicht passieren. Ich bin nicht so dumm, das zu glauben.

Was würde ich darum geben, einfach aus der Tür dieses kleinen Zimmers in die Welt hinaustreten zu können, ohne dabei panische Angst zu haben. Ohne eine geladene Waffe unter der Jacke zu tragen und das Pfefferspray in der Jackentasche mit den Fingern fest zu umklammern. Statt unbeschwert zu leben, wäge ich jeden Schritt genau ab und kontrolliere alles doppelt und dreifach.

Ich bin sehr vorsichtig geworden, gebe mein Vertrauen und meine Sicherheit nicht mehr in fremde Hände. Deswegen weiß auch niemand aus meinem alten Leben wo ich bin und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dafür zu sorgen, dass es so bleibt.

 

 

1. Kapitel

 

 

 

 

Irgendetwas musste der Sommer in diesem Jahr falsch verstanden haben. Regen im Juli war zwar kein Weltuntergang, aber dass er seit zwei Wochen anhielt und die warme Luft dadurch mit jedem Tag drückender wurde, machte allein das tägliche Aufstehen langsam zu einer Qual.

Es war nicht so, dass Daniel unbedingt nach draußen gemusst hätte, die Notwendigkeit Nahrung zu sich zu nehmen wurde seiner Meinung nach sowieso überbewertet. Aber wenn er schon alle zwei Tage seine Panik überwand und sein kleines Motelzimmer verließ, um in diesem amerikanischen Diner auf der anderen Straßenseite etwas zu essen, wollte er dabei nicht jedes Mal klitschnass werden.

Der Regen ging ihm auf die Nerven. Und sein Haus war immer noch nicht fertig, was ihn zusätzlich ärgerte. Wenigstens hatte sich die höfliche Stimme der Hausverkäuferin am Telefon als nette alte Dame herausgestellt, die wollte, dass er sie Charlie nannte und heute zu ihr zum Essen kam. Das war ihre Art sich für die nicht geplante Wartezeit wegen des Hauses zu entschuldigen. Daniel hatte ihre Einladung abgelehnt, aber Charlie war hartnäckig geblieben und schlussendlich hatte er nachgegeben, um seine Ruhe zu haben. Ein Essen würde er schon irgendwie überstehen. Außerdem war die alte Frau über Achtzig und keine Gefahr für ihn.

Das redete er sich jedenfalls seit zehn Minuten ein, während der warme Regen unablässig auf seinen Schirm tropfte und ihn jeder Schritt ein bisschen näher zur Wohnung der alten Dame brachte.

Ein Privatverkäufer stellte weniger Fragen, als eine öffentliche Immobilienfirma. Deswegen hatte er von Beginn an nach einer Bleibe in Privatbesitz gesucht. Er hatte sein neues Haus von dem Gewinn aus dem Verkauf seines vorherigen bezahlt und den Rest seines Geldes auf mehrere Konten unter verschiedenen Namen verteilt. Viel war nicht übrig. Der Flug nach Baltimore, seine neuen und falschen Papiere, das Busticket, die Arztrechnungen, das Hotelzimmer, seine Waffe, das Pfefferspray – heutzutage gab es nichts umsonst, schon gar nicht, wenn man sich von der Polizei fernhalten wollte.

Er wurde in diesem Land nicht gesucht und dabei sollte es auch bleiben. In seiner alten Heimat hatte man ihn vermutlich schon als vermisst gemeldet, aber das kümmerte ihn nicht. Er wollte einfach keine Aufmerksamkeit erregen und sie so möglicherweise doch noch auf seine Spur führen.

Ein blauer Pick-up fuhr an ihm vorbei und erwischte dabei eine große Pfütze am Straßenrand. Das Wasser schoss in einer Fontäne nach oben und traf ihn mit voller Breitseite. Fluchend und schimpfend sprang Daniel beiseite und verlor dabei seinen Schirm.

»Du Vollidiot!«, schrie er dem Wagen nach und wischte sich ein paar blonde Haarsträhnen aus der Stirn, bevor er an sich hinunterblickte.

So konnte er unmöglich bei der alten Dame auftauchen. Die Jeans war dreckig bis zum Knie und auch sein graues Shirt hatte einige Dreckspritzer abbekommen. Der Regen lief ihm in Sturzbächen in den Kragen seiner Jacke und über seine restliche Kleidung, und durchnässte ihn bis auf die Haut, was die Narben auf seinem Körper mit einem spürbaren Brennen quittierten.

»Mist«, fluchte er leise und griff nach dem Schirm. Ein Fehler, denn der Stoff seines Shirts rieb dadurch über die Narben auf seinem Rücken. Mit einem schmerzvollen Zischlaut richtete er sich wieder auf. Das er auch nie daran dachte.

»Alles okay?«

Die tiefe Männerstimme erschreckte Daniel so sehr, dass er aufs Heftigste zusammenzuckte und dabei herumwirbelte, während er zurückwich, bis die rot getünchte Mauer einer Buchhandlung seinen Rückzug abrupt stoppte. Er konnte den schmerzhaften Laut, der in seiner Kehle aufstieg, nur mit Mühe und Not unterdrücken.

»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Das mit der Pfütze tut mir leid, ich war in Gedanken. Aber ich bezahle die Reinigung, mein Wort drauf. Du bist Daniel Hanson, oder? Grandma hat erzählt, dass du zum Essen kommst.«

Wie? Was? Wer?

Daniel blinzelte, um den Regen aus seinen Augen zu bekommen, damit er sein Gegenüber richtig sehen konnte und schob nebenbei erneut eine störrische Haarsträhne beiseite. Er brauchte dringend einen Haarschnitt.

Der Mann vor ihm allerdings auch. Er war groß, ziemlich groß sogar, komplett in schwarz gekleidet und hatte Muskeln, die mit Sicherheit dem Fitnessstudio entstammten. Scheiße, dachte Daniel, und konnte sich nur schwer davon abhalten, die Flucht anzutreten. Vor ihm stand ein Arnold-Schwarzenegger-Verschnitt, nur dass er durch seine Größe besser proportioniert war. Mehr in die Richtung von Vin Diesel und den hatte er sich im Kino immer gern angesehen.

»Wovon redest du überhaupt? Wer bist du eigentlich?«, fragte er, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte.

Sein Gegenüber begann zu lächeln. Ein echtes Lächeln, das auch die hellblauen Augen erreichte, was Daniel ein wenig beruhigte. Er konnte sehr genau unterscheiden, wenn ein Mensch wirklich lächelte oder nur so tat als ob.

»Oh, sorry. Ich bin Connor Bennett. Grandma Charlie ist ganz begeistert von dir. Deshalb hat sie dich zum Essen eingeladen. Sie sagt, wenn jemand so nett aussieht und eine Stimme wie ein Sänger hat, muss er der Richtige sein. Ist mir zwar ein Rätsel, wie sie das anhand eines Fotos und ein paar Telefonaten wissen kann, aber so ist Grandma eben.«

Der Typ redete ohne Punkt und Komma, da konnte doch keiner mithalten. Zwischen Verwirrung und Misstrauen hin und her schwankend, sah Daniel sein Gegenüber fragend an. »Der Richtige?«

»Für ihr Haus«, antwortete Connor und steckte die Hände in die Hosentaschen, so als wüsste er, dass Daniel einen Handschlag zur Begrüßung nicht erwidert hätte. »Seit Grandpa tot ist, sucht sie einen Käufer, der zu ihrem Haus passt. Allein ist es ihr zu groß, deshalb ist sie auch in die Wohnung hier in der Stadt gezogen. Tja, jetzt hat sie ihn wohl gefunden.«

»Äh ...« Daniel hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, daher schloss er den Mund wieder, was Connor mit einem Lachen quittierte.

»Ja ja, das ist Grandma. Komm, ich nehme dich mit. Du musst aus dem Regen raus und ich auch. Mal sehen, ob bei ihr noch Sachen von Tristan herumliegen, die müssten dir sogar passen. Er sieht auch immer halb verhungert aus.«

Connor drehte sich um und ging zu seinem Pick-up zurück. Daniel starrte ihm verblüfft nach. Was war das denn jetzt? Die alte Dame war die Großmutter von diesem Riesen? Und wer, zum Kuckuck, war Tristan?

»Kommst du?«

Daniel nickte automatisch und erst als Connor den Pick-up wieder auf die Straße lenkte, registrierte er, wo er sich gerade befand und mit wem. Daniel versteifte sich unwillkürlich und wich auf dem Sitz so weit zur Seite wie möglich. Es war trotzdem zu wenig Platz zwischen ihm und Charlies Enkel, aber er konnte den Mann schlecht bitten wieder anzuhalten, weil er vor lauter Panik am liebsten aus dem Wagen gesprungen und zu Fuß gegangen wäre.

»Du redest nicht viel, kann das sein?«, fragte Connor und hielt an einer Ampel.

»Du dafür umso mehr«, konterte Daniel impulsiv und hätte seine Stirn im nächsten Moment am liebsten gegen das vollgekramte Armaturenbrett geschlagen. Himmel, wie konnte er nur? »Sorry.«

Connor grinste ihn amüsiert an. »Kein Problem. Ich kann einfach nicht anders. Stört es dich? Weißt du, ich rede gern und viel. Laut meiner Familie mache ich den ganzen Tag lang nichts anderes und vergesse gelegentlich sogar das Luftholen. Tristan behauptet, ich würde sogar nachts reden, wenn ich es könnte. Er ist auch so ruhig wie du. Macht nichts, bleibt mehr Zeit zum Reden für mich.«

Daniel konnte nicht anders und sah Connor genauer an. Dieser Typ schien ein wandelndes Klischee zu sein. Zumindest kam es ihm im Moment so vor. Seit wann quatschte ein Mann so viel? Das war doch im Allgemeinen Frauensache. Und hieß es nicht immer, dass Männer nur dann solche Muskeln ansetzten, wenn sie etwas kompensieren wollten? Fehlende Intelligenz zum Beispiel?

Hallo Vorurteil, dachte Daniel, entsetzt über sich selbst und lief rot an. Seit wann traf er so vorschnelle Urteile? Das hatte er früher nie getan.

»Nanu? Habe ich etwas Falsches gesagt oder warum bist du auf einmal so verlegen? Männer in Strumpfhosen sind zwar nicht gerade jedermanns Sache, aber ...«

Männer in Strumpfhosen? Daniel hatte keine Ahnung, wovon Connor sprach. Statt dem Mann zuzuhören, hatte er lieber unfeine Gedanken gewälzt. Das passierte ihm ständig, wenn er nervös war. »Was?«

Connor stutzte kurz, dann grinste er wieder. »Erwischt. Du hast mir nicht zugehört.«

»Äh ...«

»Schon gut«, winkte der Riese gut gelaunt ab. »Aber von Tristans Theaterkarriere wird man definitiv nicht rot. Es sei denn, man erstickt fast bei einem Lachanfall, wie dieser verrückte, reiche Schnösel bei der Uraufführung von Robin Hood. Sachen gibt’s. Aber egal. Also, wo warst du gerade mit deinen Gedanken?«

»Ist nicht wichtig.«

Daniel verschränkte seine Arme vor der Brust, presste die Lippen zusammen und sah auf die Straße. Ein eindeutiges Zeichen, ihn jetzt besser in Ruhe zu lassen. Bei den ganzen Ärzten, Psychologen und anderen Menschen, mit denen er in der letzten Zeit zu tun gehabt hatte, hatte das immer funktioniert, aber entweder kannte Connor diese Geste nicht oder er war dermaßen gutmütig, dass es ihn nicht kümmerte.

»Hm, du hast sicher recht. Ich würde einem Typen, der mich erst total einsaut und danach auch noch zuquatscht, auch nicht gleich meine Lebensgeschichte erzählen.«

Daniel stöhnte innerlich auf. Konnte der Typ nicht einfach seine Klappe halten? »Und was machst du dann gerade?«

Connor schwieg verblüfft, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Verdammt, ich bin ertappt. Aber wir sind gleich da. Sag am besten »Halt die Klappe!«, wenn ich dir zu viel rede, okay?«

»Halt die Klappe.«

Connor lachte unterdrückt und zwinkerte ihm dann fröhlich zu. »Hatte ich erwähnt, dass ich nicht dafür garantieren kann, dass es funktioniert?«

Daniel stöhnte, was mit einem weiterem Lachen beantwortet wurde. Der Typ war unmöglich und offenbar durch nichts zu erschüttern. Ob es helfen würde, wenn er ihm den Mund zuklebte? Die Vorstellung war ziemlich verlockend, gestand er sich ehrlich ein, aber vorerst begnügte sich Daniel damit, den Mann neben sich einfach reden zu lassen.

Hoffentlich waren sie bald da.

 

Daniel konnte sich nicht daran erinnern, jemals so froh gewesen zu sein, aus einem Auto herauszukommen. Und das hatte dieses Mal ausnahmsweise nichts mit seiner Angst zu tun. Nach einem Blick auf die Uhr schüttelte er den Kopf und setzte Connor nach, der bereits mit langen Schritten auf ein rotes Backsteinhaus zuhielt. Die Autofahrt hatte nur zwanzig Minuten gedauert und ihm klingelten die Ohren. Wenn Connors Großmutter genauso viel redete, würden sie spätestens heute Abend abgefallen sein.

Bevor Daniel sich weitere Schauergeschichten inklusive ekliger Details ausmalen konnte, wurde abrupt die Haustür aufgerissen und im ersten Augenblick hatte er die verrückte Assoziation einem Gnom gegenüberzustehen. Einem ziemlich bunten Gnom. War das dieselbe Frau, die mit ihm mehrere Wochen lang knallhart über den Kaufpreis ihres Hauses und zusätzliche Konditionen verhandelt hatte? Daniel blinzelte irritiert.

»Hi Grandma.«

Connor umarmte die zierliche Frau, die ein Tuch um ihr Haar gewickelt hatte, das genauso bunt gemustert war wie das Kleid, welches sie trug. Grandma Charlie war vielleicht über Achtzig, aber körperlich keinesfalls so alt, wie Daniel erwartet hatte. Im Gegenteil. Die alte Dame erschien ihm putzmunter, so wie sie ihrem Enkel neckend in die Hüfte zwickte, bevor sie ihn in Augenschein nahm.

»Also auf dem Foto war aber mehr an dir dran, Daniel Hanson«, erklärte sie und stemmte die Hände in die Hüften. Daniel lief erneut rot an, was sie kichern ließ. »Entschuldige, wir necken uns ständig. Das liegt der ganzen Familie im Blut. Kommt endlich rein, ihr beiden. Was für ein Sauwetter. Hat Connor dich unterwegs aufgegabelt? Ach du meine Güte, deine Sachen. Ihr werdet duschen, bevor wir essen, keine Widerrede. Connor, du gehst zuerst. Du weißt ja, wo du trockene Sachen findest. Und beeil dich.«

»Ja, Grandma.«

»Na dann, hopp hopp. Nicht, dass unser Gast noch krank wird.«

Connor ging mit einem amüsierten Funkeln in den Augen den Flur entlang und verschwand hinter einer Tür, während sich Charlies Aufmerksamkeit ein weiteres Mal auf ihn richtete. Nach einer kurzen Musterung seiner Person begann sie sich nachdenklich gegen die volle Unterlippe zu tippen. Daniel räusperte sich unbehaglich.

»Du hast ziemlich stark abgenommen. Wie alt ist denn das Foto, das du mir geschickt hast? Na, mal sehen, wir finden schon etwas zum Anziehen für dich. Ansonsten musst du beim Essen meinen rosa Bademantel tragen.«

Rosa Bademantel?

»Wie bitte?« Daniel versuchte sein Entsetzen zu verbergen. Es misslang ihm gründlich, denn die alte Dame lachte erneut.

»Das war ein Scherz, mein Junge. Und wenn ich recht überlege, müssten im Gästezimmer noch ein paar Sachen von Tristans letztem Besuch herumliegen. Die könnten dir passen. Ich sag dir, der Junge ist so schusselig, der vergisst eines Tages noch seinen Kopf.«

Und wenn Grandma Charlie so weiter redete, fing seiner gleich an zu qualmen. Daniel war mit der Situation gelinde gesagt völlig überfordert. so viel auf einmal hatte man das letzte Mal vor über einem Jahr mit ihm gesprochen und da hatte der Großteil auch nur aus dem lauten Geschrei der Ärzte bestanden, die alles versucht hatten, um ihn am Leben zu erhalten.

Wann hatte er zuletzt eine normale Konversation geführt? Daniel konnte sich nicht daran erinnern. Er räusperte sich. »Sie müssen sich keine Umstände machen. Wirklich nicht.«

»Ach was, das macht keine Umstände. Und nenn mich Charlie, das habe ich dir doch schon am Telefon gesagt«, meinte sie schlicht und lief, sehr behände für ihr Alter, den Flur entlang, um in einem anderen Zimmer zu verschwinden. »Schau dich ruhig ein wenig um, bis Connor fertig ist. Ah, hier sind sie ja. Das müsste gehen. Connor? Beeil dich mal ein bisschen.«

»Ja, Grandma«, schallte Connors hörbar amüsierte Stimme in den Flur.

»Sag nicht immer »Ja, Grandma.«, sondern mach es auch. Zeit ist Geld, und von beidem kann man nie genug haben.«

 

Ein paar Minuten später stand Daniel stocksteif in einem mit Wasserdampf vernebelten Badezimmer und überlegte, ob er, ohne es zu merken, in einem Irrenhaus gelandet war. Zwar einem mit äußerst höflichen Insassen, aber trotzdem ein Irrenhaus. Hatte er solche offenen und herzlichen Menschen früher auch gekannt? Er war sich nicht sicher. Irgendwie kam es Daniel immer mehr so vor, als hätte sein Leben erst vor einem Jahr begonnen.

Seine Familie war jedenfalls nicht so gewesen, das wusste er. Es hatte ihm nie an etwas gemangelt, auch nicht an der Zuneigung von der Seite seiner Eltern, aber sie hatten einfach nicht akzeptieren können, dass er ihnen niemals Enkel schenken würde. Nach seinem Outing war ihr Verhältnis abgekühlt und als er in die Großstadt gezogen war, hatten sie sich nur noch an Geburtstagen und Weihnachten gesehen. Für beide Seiten die beste Entscheidung, das wusste Daniel, trotzdem war es immer schmerzhaft gewesen.

Dann waren seine Eltern gestorben und er hatte ein Haus geerbt, das ihm heute nicht mehr gehörte. Daniel schüttelte den Kopf und begann seine Jacke auszuziehen. Er konnte die Vergangenheit nicht ändern, es wurde Zeit, sich damit abzufinden.

In einem hatte Charlie recht, entschied er, als ihm auffiel, wie sehr er vor Kälte zitterte. Eine heiße Dusche war notwendig, denn krank zu werden konnte er nicht gebrauchen.

Sich aus seinen restlichen Sachen zu schälen, war allerdings gar nicht so einfach, stellte Daniel zum wiederholten Male fest. Die Kleidung klebte überall an seiner Haut und mehr als einmal stieß er zischend den Atem aus, wenn der nasse Stoff über eine seiner Narben rieb. Früher hatte er ausgiebige Bäder geliebt, am liebsten zu zweit. Heute war er froh, wenn er es zehn Minuten unter dem Duschstrahl aushielt. Duschgel war ein zusätzliches Problem. Daniel benutzte nur wenig, an manchen Tagen auch gar keines. Je nachdem, wie gut oder schlecht er sich allgemein fühlte.

Hier, in einer fremden Wohnung, mit fremden Leuten, entschied er sich für das Kurzprogramm. In die Duschkabine stellen, das Wasser aufdrehen, Zähne zusammenbeißen und bis sechzig zählen. Danach war er fix und fertig und stand erst mal einige Minuten auf dem weichen Vorleger vor der Duschkabine, bis seine Haut aufhörte sich anzufühlen, als würde jemand mit heißen Nadeln auf ihn einstechen.

Die Tür zum Badezimmer wurde aufgestoßen. »Hey, Dan, hier hast du ...«

Daniel zuckte erschrocken zusammen und wirbelte herum, um nach einem der Badetücher zu greifen, die auf einem ordentlichen Stapel im Regal neben der Dusche lagen. »Kannst du nicht anklopfen?«, blaffte er und ärgerte sich tierisch, weil seine Stimme zitterte, während er sich in das Badetuch wickelte. »Verschwinde, Connor. Ich will mich anziehen.«

Doch der schwieg, stand einfach nur da, die Türklinke in einer Hand, frische Kleidung für ihn in der anderen, und starrte ihn an. Daniel erkannte Entsetzen, wenn er es vor sich sah und Connor war entsetzt. So entsetzt, dass er tatsächlich den Mund hielt. Was für ein Erfolg, dachte Daniel schnippisch. Er wusste wie sein Körper aussah und wie der Anblick auf andere wirkte. Im Krankenhaus hatte er oft genug erlebt, dass ein Pfleger oder eine Schwester ihn fassungslos angestarrt hatte.

Er hatte ihre Blicke hassen gelernt, genauso wie er seine Narben selbst hasste. Die wulstigen, roten Linien auf seiner Haut waren so empfindlich, dass selbst die leichteste Berührung mit Schmerzen verbunden war. Ob beim Schlafen, während einer Dusche oder beim Anziehen, es tat immer weh. Eine Sensibilisierung der Nerven hatte sein Arzt im Krankenhaus gesagt und ihn dabei mitleidig angesehen. Ob das jemals wieder vergehen würde, wusste niemand.

»Woher hast du die?«, wollte Connor wissen und trat ein, um die Tür hinter sich zu schließen und die Sachen für ihn auf dem Toilettendeckel abzulegen.

Daniel wich unwillkürlich zurück, weil Charlies Badezimmer für sie beide eindeutig zu klein war. »Geht dich das etwas an?«, fragte er giftig, als Connor ihn forschend ansah. Er war nicht wie Connor oder Charlie, die mit Fremden schon nach zwei Minuten Freundschaft schlossen und dann aus dem Nähkästchen plauderten. »Kannst du gefälligst mal abhauen, damit ich mich anziehen kann?«

Connors Augen weiteten sich erstaunt, dann wich er langsam zur Tür zurück. »Ich verspreche, dass ich dir nichts tun werde.«

Woher ...?

Daniel schnappte schockiert nach Luft. Connor wusste Bescheid. Obwohl er keine Ahnung hatte, wieso er sich dessen so sicher war, aber er war es. Die Panik, dass sein Geheimnis keines mehr war, überflügelte seine Angst vor zu viel Nähe.

Er musste hier raus.

Sofort!

Daniel ließ das Badetuch fallen, trat vor und griff nach der Hose. Dass er noch nass war, hatte er dank Connor leider vergessen und eine frisch gewaschene Jeans war beim Kontakt mit Nässe nicht sehr kooperativ. Je heftiger er versuchte den störrischen Stoff über seine Beine zu zerren, umso weniger gelang es ihm, und am Ende war er so wütend über die Jeans und sich selbst, dass er die Hose mit Tränen in den Augen in die Ecke pfefferte und sich danach auf die kalten Fliesen sinken ließ.

Es war nicht sein erster Anfall, zumindest nannte Daniel diese Attacken so, seit er im Krankenhaus vor einem Pfleger, der ihm nur beim Waschen hatte helfen sollen, regelrecht ausgeflippt war.

»Connor? Daniel? Ist alles in Ordnung da drin?«

Daniel zuckte erneut zusammen und zog seine Beine an den Körper, um sich so klein wie möglich zu machen. Charlie. Das fehlte ihm gerade noch, dass die alte Dame ihn so sah.

»Ja, Grandma. Alles okay. Wir kommen gleich.«

»Ich setze schon mal den Tee auf. Pfefferminze ohne Zucker, wie du ihn liebst.«

Dieser Baum von einem Kerl liebte Pfefferminztee? Würde er nicht gerade mitten in einer Panikattacke stecken, wäre ihm jetzt wohl ein amüsiertes Lachen entglitten. So aber saß er zitternd auf dem kalten Boden und stieß sich den Hinterkopf an der Wand, als Connor ihn plötzlich am rechten Unterschenkel berührte und damit fast zu Tode erschreckte.

»Nimm deine Pfoten weg!«

Seine Worte sollten bedrohlich und einschüchternd wirken, aber da er vor lauter Angst nicht mehr wusste, wo er hin sollte, klang seine Stimme unnatürlich hoch. Außerdem wusste Daniel, dass man in seinen Augen im Moment genauso leicht lesen konnte, wie in einem aufgeschlagenen Buch.

Connor wich auf Armlänge vor ihm zurück. In seinen Augen stand kein Mitleid, wie Daniel es erwartet hatte, nur echtes Mitgefühl. »Ich werde nicht fragen, wer dir das angetan hat. Noch nicht. Ich möchte nur wissen, ob du es schaffst, dich anzuziehen und mit nach hinten zu kommen.«

»Nach hinten?«

»Ins Gästezimmer. Da wartet ein junger Hund auf dich, der ein Zuhause braucht. Grandma wollte dich mit ihm überraschen, weil sie der Meinung ist, dass jeder einen vierbeinigen Freund braucht, der in deinem Fall auch gleich noch das Haus bewachen kann. Aber ich glaube, es stört sie nicht im Geringsten, wenn ihr beide jetzt schon Freundschaft schließt. Ist das okay für dich?«

Ein Hund? Charlie schenkte ihm einen Hund? Einfach so? Zwischen Angst und Verblüffung schwankend, war Daniel zu keinem Wort fähig, daher nickte er nur.

»Normalerweise würde ich dir jetzt meine Hand anbieten, um dir aufzuhelfen, aber ich fürchte, wenn dich heute noch irgendjemand anfasst, drehst du völlig durch.«

Die Hartnäckigkeit musste Connor von seiner Großmutter haben, über den Rest wollte Daniel lieber nicht nachdenken. Jeder andere wäre einfach gegangen, hätte ihn für verrückt abgestempelt und nie wieder ein Wort mit ihm gewechselt. Ganz in seinem Sinne also. Nur Connor schien andere Pläne zu haben.

Daniel war sich nicht sicher, was er davon halten sollte.

 

»Das ist Zeke. Grandma hat ihn so genannt, keine Ahnung wieso«, sagte Connor leise und eindeutig amüsiert. »Du kannst ihn aber umbenennen, wenn du willst.«

Daniel hörte nicht wirklich zu. Er war zu sehr von einem Paar schwarzer Knopfaugen abgelenkt, die einem beigefarbenen Labrador gehörten, der ihn gerade von einem großen, sehr weich aussehenden Kissen her anschaute. Als Connor sich neben den Kleinen hockte, um ihn zu streicheln, jaulte der Welpe leise.

»Er ist ein wenig schüchtern«, erklärte Connor und lachte leise, als Zeke ihm die Hand ableckte. »Das macht er allerdings dauernd. Willst du ihm Hallo sagen, Dan?«

Daniel stand immer noch in der Tür des Gästezimmers. Connor hatte ihn allein gelassen und war vorgegangen, damit er sich in Ruhe anziehen konnte. So als hätte er gewusst, dass er jetzt ein paar Minuten für sich brauchte. Aber wie sollte er nun reagieren, nachdem Connor ihn so gesehen hatte?

Seine Gedanken spielten völlig verrückt. Er musste irgendetwas sagen oder etwa nicht? Connor eine Erklärung für sein Verhalten liefern. Aber erwartete der das von ihm? Es sah zwar nicht so aus, doch alle anderen hatten es erwartet, wann immer er in der Klinik zusammengeklappt war. Seine Reaktion war daraufhin meistens stures Schweigen gewesen. Heute erschien ihm das nicht richtig, denn bislang hatte Connor nichts von ihm verlangt. Im Gegenteil.

Trotzdem. Irgendetwas musste er doch jetzt sagen. Das gehörte sich so. Oder? Verdammt. Daniel ärgerte sich über sich selbst, vor allem über seine verfluchte Unsicherheit.

»Du musst mir nichts erklären, Dan«, murmelte Connor plötzlich und sah zu ihm hoch. »Und du brauchst dir auch keine Geschichte auszudenken, nur um mir nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Es ist okay für mich, wenn du nichts sagen willst. Sag stattdessen Hallo zu Zeke, der freut sich.«

War es wirklich so einfach? Anscheinend schon, wenn er Connors Lächeln richtig einschätzte. Daniel zögerte noch einen Augenblick, dann gab er sich einen Ruck, trat ins Zimmer und ging vor dem Kissen in die Hocke. Der Welpe spitzte neugierig die Ohren und beschnüffelte ihn. Nach einmal Bellen und einem weiteren Jaulen war er akzeptiert.

Daniel lachte, als der Welpe vom Kissen auf seinen Schoß kletterte und an ihm herumzulecken begann. Er würde dieses kleine Fellknäuel ohne Ende verwöhnen, wie er es mit allen Haustieren gemacht hatte, die in seinem bisherigen Leben gekommen und wieder gegangen waren.

»Tja, das nenne ich Liebe auf den ersten Blick«, murmelte Connor und räusperte sich leise. »Lass dir Zeit, Dan. Komm nach, wenn du soweit bist. Ich gehe wieder zu Grandma.«

Daniel hob alarmiert den Kopf. »Erzählst du es ihr?«

»Nein«, versprach Connor ohne zu zögern. »Ich sagte ihr vorhin, dass du dich schon mit Zeke anfreunden willst, weil du ihn vom Bad aus gehört und mich dann gefragt hast. Dabei bleibt es.«

»Danke.«

 

 

2. Kapitel

 

 

 

 

»Wer ist eigentlich dieser Tristan?«, fragte Daniel, als Connor vier Stunden später endlich Luft holte.

Das war natürlich übertrieben, aber seit dem Essen redete Connor in seinen Augen ununterbrochen. Und wenn er zwischendurch wirklich einmal schwieg, übernahm Charlie das Ruder. Die beiden hatten ihm so viel über die Stadt und die Menschen hier erzählt; Daniel hatte schon lange den Anschluss verloren. Trotzdem machte es Spaß ihnen zuzuhören, und das erstaunte ihn am meisten.

Wegen des Vorfalls im Badezimmer hatte er eigentlich vorgehabt, sich nach dem Essen höflich für die Einladung zu bedanken, Zeke zu nehmen, der mittlerweile neben seinem Stuhl auf dem Küchenboden lag und leise schnarchte, und schnell zu gehen.

Dann war Connor eingefallen, dass das Motel vermutlich gar keine Hunde akzeptierte, was Grandma Charlie nach einem Anruf dort bestätigt hatte. Also war eine Diskussion darüber ausgebrochen, wo Zeke bleiben sollte, bis das Haus fertig war, und Connor hatte geredet und geredet und geredet.

Und irgendwann hatte Daniel nicht mehr gehen wollen.

Charlie sah ihn kurz verdutzt an, dann lachte sie fröhlich und stupste ihrem Enkel gegen den von der Sonne gebräunten Unterarm. »Du hast im Auto auch ohne Punkt und Komma geredet, was?«

»Nein, er hat mir nicht zugehört«, wehrte sich Connor und grinste ihn an.

»Kein Wunder«, erklärte Grandma Charlie amüsiert. »Du schreibst zwar wunderschöne Bücher, mein Junge, aber beim Reden solltest du wirklich ab und zu eine Pause einlegen. Sonst fällst du eines Tages wegen Luftmangels vom Stuhl oder rauscht beim Autofahren gegen einen Baum.«

Connor schrieb Bücher? Das hatte er bisher nicht erwähnt. Daniel sah sein Gegenüber erstaunt an, was der mit einem frechen Zwinkern quittierte, das ihm selbst ein lässiges Schulterzucken entlockte. Muskeln hin oder her, ihm gegenüber saß definitiv ein wandelndes Klischee. Obwohl er es nicht wollte, Daniel war fasziniert.

»Ich bin ein guter Fahrer.«

»Von wegen. Was ist noch mal aus dem grünen Volvo geworden?«

»Grandma, da war ich sechzehn und die Straße durch den Eisregen am Vorabend spiegelglatt«, empörte sich Connor.

»Deswegen hättest du auch nicht fahren dürfen.«

Connor stöhnte und sah ihn Hilfe suchend an. »Da siehst du mal, was ich ständig aushalten muss. Kein Wunder, dass ich den ganzen Tag über rede. Und alles nur wegen dem Weihnachtsbaum, der den kleinen Crash mit der Straßenlaterne leider nicht überstanden hat.«

Die alte Dame verdrehte theatralisch die Augen zur Küchendecke. »Es war das einzige Weihnachten in meinem Leben ohne Baum. Edwina hat noch sechs Monate später darüber gelacht.«

»Wer ist Edwina?« Langsam sah Daniel bei den ganzen Namen überhaupt nicht mehr durch.

»Edwina Murphy, die Vorsitzende des städtischen Kochclubs und die beste Freundin von Trude Duffy, unserer Oberklatschbase. Ihr gehört der Buchladen neben dem Café von Patty Goldstein.« Sie sah zu Connor. »Oh, das habe ich ganz vergessen. Trude hat vorletzte Woche nach dir gefragt. Sie würde sich freuen, wenn du bei ihr aus deinem neuesten Buch vorliest, sobald es erschienen ist. Ruf sie doch einfach mal an. Ihr beide erzählt gleich gern.«

»Pah. Das ist eine schamlose Unterstellung«, brummelte Connor, doch in seinen Augen leuchtete deutlich sichtbar der Schalk. Daniel schmunzelte.

»Weißt du«, wandte sich Charlie an ihn, »Connor hat schon immer gern geredet. Seitdem er gelernt hat aus Buchstaben Wörter zu bilden, hört er nicht mehr damit auf. Ich weiß wirklich nicht, wo er die Energie dafür hernimmt, aber es ist faszinierend. Meine Älteste hatte ihm nach der Uni empfohlen, die Wörter in seinem Kopf in Zukunft einfach aufzuschreiben, statt sie weiter ungehemmt auszusprechen. Reine Selbsterhaltung, sagte sein Vater damals. Es hat nicht viel geholfen. Jetzt macht er nämlich beides, schreiben und reden.«

»Wie hält man das aus?«, fragte Daniel.

Charlie lachte laut auf. »Das frage ich mich auch jedes Mal, wenn er bei mir hereinschneit, um sich ein Essen zu schnorren. Mein lieber Enkel hat vom Kochen nämlich genauso wenig Ahnung, wie vom Gelübde des Schweigens. Aber ansonsten ist er ein toller Bursche.«

»Grandma ... Fang bitte nicht damit an.«

Daniel fiel förmlich der Unterkiefer herunter, als er mitbekam, wie sich Connors Blick verlegen auf den Tisch richtete und er rote  Wangen bekam. Es war gar nicht so einfach, bei diesem Anblick nicht zu lachen. Connor Bennett konnte seine Gesichtsfarbe also genauso schnell wechseln wie er selbst, man musste nur das richtige Thema ansprechen. Und Grandma Charlie schien noch nicht damit fertig zu sein, ihren Enkel in Verlegenheit zu bringen.

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst.« Die alte Dame lächelte unschuldig und zwinkerte ihm dann zu. »Er ist ein wenig schüchtern. Kaum zu glauben bei dem Aussehen, was? Ein Wink mit dem Finger und die Männer liegen ihm reihenweise zu Füßen. Und er sieht das gar nicht.« Sie seufzte leise. »Seit dieser Banker aus Baltimore ihm das Herz gebrochen hat, will er ja unbedingt Single bleiben.«

»Grandma, muss das sein?«

Connors Einspruch wurde schlichtweg ignoriert und Daniel wusste nicht, ob er ihn deswegen bemitleiden oder darüber lachen sollte. Er verkniff sich einen Kommentar dazu und dass er vor seiner Flucht ebenfalls im Bankwesen gearbeitet hatte, ging niemanden etwas an. Um sich abzulenken, weil er ahnte, wo dieses Gespräch hinführte, goss er sich frischen Tee ein.

»Single, stell dir das vor? Mit 29 Jahren. Die Jugend von heute hat für die Liebe keine guten Augen mehr. Manchmal ist eine Brille eben doch für etwas gut, aber hört er auf mich? Nein. Ganz wie der Vater. Der ist genauso stur. Aber so wahr, wie ich auf diesem Stuhl sitze, ich werde es erleben, dass er sich wieder verliebt. Du bist nicht zufällig frei, Daniel?«

Daniel verschluckte sich an dem gerade getrunkenen Schluck Tee und begann heftig zu husten. Er hatte es ja geahnt. Aber in diesem Punkt würde er die alte Dame enttäuschen müssen, denn er hatte weder vor sich mit Connor, noch irgendeinem anderen Mann näher zu befassen. Woher wusste Grandma Charlie überhaupt, dass er, wenn er die Wahl hatte, lieber Männer bevorzugte? Vermutlich besaß sie durch ihren Enkel einen Blick dafür. Er würde nicht nachfragen.

»Grandma, jetzt ist aber genug«, brummte Connor in dem Moment und ein leichter Anflug von Ärger schwang in seiner Stimme mit. »Lass Daniel doch erst einmal hier heimisch werden, bevor du ihn verkuppelst.«

Daniel nutzte die Gunst der Stunde, um zu seiner eigentlichen Frage zurückzukehren, denn die Themen Liebe und Beziehungen wollte er keinesfalls weiter erörtern. Außerdem würde er nie erfahren, wer der bislang so ominöse Tristan war, wenn er zuließ, dass die beiden wieder zu einem anderen Thema abschweiften, was sie perfekt beherrschten.

»Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, aber wer ist denn nun dieser Tristan?«

Grandma Charlie begann zu kichern. »Ups.«

»Mein älterer Bruder«, lüftete Connor daraufhin endlich das Geheimnis. »Er schauspielert am Theater in Baltimore.«

Ein Schauspieler also. Das wurde immer interessanter. Connor war Autor, sein Bruder beim Theater. Ob der Rest der Familie auch in künstlerischen Bereichen tätig war?

»Hast du noch mehr Geschwister?«, fragte Daniel daher nach.

Er war neugierig und solange Connor und seine Großmutter redeten, musste er wenigstens keine Fragen beantworten oder etwas über sich erzählen. Daniel wollte die beiden aus einem ihm unerklärlichen Grund nicht belügen, doch genau das würde er tun müssen, wenn sie die falschen Fragen stellten.

»Violett Grace.« Grandma Charlie seufzte verzückt. »Sie ist das Nesthäkchen. Zehn Jahre jünger, als der Bursche hier. Das Mädchen kann malen, da fallen mir jedes Mal vor Staunen die Augen aus dem Kopf. Wunderschön, sag ich dir. Seit einem Jahr studiert sie nun Kunst und wird bestimmt mal eine ganz große Malerin.«

Die Bennetts schienen wirklich eine Künstlerfamilie zu sein. Daniel hätte gern gewusst, was Connors Eltern machten, traute sich aber nicht nachzufragen, um nicht als zu neugierig abgestempelt zu werden. Eines musste er aber unbedingt noch wissen.

»Seid ihr zufällig Einwanderer oder haben deine Eltern nur ein Faible für ungewöhnliche Namen?«, fragte er an Connor gewandt. »Connor, Tristan und Violett. Das sind nicht gerade die typischen amerikanischen Namen, soweit ich weiß.«

»Nein, wir sind keine Einwanderer«, antwortete der und grinste breit. »Mum liebt, seit sie ein ganz kleines Mädchen war, schnulzige Liebesromanzen, die im Mittelalter spielen. Am besten ist es, wenn sie in Schottland oder Irland angesiedelt sind. Dad schüttelt zwar immer den Kopf darüber, konnte ihr aber noch nie etwas abschlagen. Tja, und deswegen haben wir Kinder alle Namen von Buchhelden bekommen.«

»Romantisch, nicht wahr?« Grandma Charlie lachte leise.

Daniel grinste nur.

 

Als Connor am späten Abend seinen Pick-up vor dem kleinen Motel parkte, nahm Daniel seinen gesamten Mut zusammen, um die Frage zu stellen, die ihm seit Stunden durch den Kopf ging.

»Wieso hast du das getan?«

Connor sah ihn an. »Was meinst du?«

Daniel schüttelte den Kopf und stieg aus. Er wartete, bis Connor es ihm nach tat. »Das weißt du ganz genau.«

»Was hätte ich sonst tun sollen?«

Daniel war verblüfft. Was für eine seltsame Frage. Ihm fielen Unmengen an Möglichkeiten ein, aber keine einzige beinhaltete das, was Connor für ihn getan hatte. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, daher schob er das Ganze beiseite. »Danke.«

»Wofür?«, fragte Connor daraufhin erstaunt.

Über Daniels Lippen huschte ein zögerliches Lächeln. Der Mann konnte wirklich verdammt merkwürdige Fragen stellen. Außerdem war er auf einmal so einsilbig und wirkte dadurch richtig schüchtern. Ein krasser Gegensatz zu dem Connor, der den ganzen Tag den Mund nicht hatte halten können. Daniel zuckte die Schultern.

»Für deine Verschwiegenheit, das Essen, Zeke, den Tag – einfach alles.«

Connors Gesicht hellte sich auf, als er sein Lächeln erwiderte. »Gern geschehen, Daniel Hanson. Vielleicht könnten wir irgendwann mit Zeke mal spazieren gehen oder so?«

»Oder so«, gab Daniel zurück.

Er wollte nicht zusagen, aber das Angebot ablehnen konnte er ebenfalls nicht. Beides schien falsch zu sein. Im Moment wollte er nur noch dieser sonderbaren Situation entfliehen, die ihm langsam aber sicher Unbehagen bereitete. Da fiel ihm etwas ein.

»Oh, ich gebe Tristans Sachen so schnell es geht zurück.«

Connor winkte gelassen ab. »Gib sie Grandma, wenn du Zeke besuchst. Mein Bruder vermisst sie sowieso nicht.«

»Okay.« Daniel sah zum Hotel und dann in den Himmel. Er war sternenklar und trotz der Straßenlampen, die die Umgebung in schummriges Licht tauchten, konnte er viele Sterne erkennen. »Der Regen hat aufgehört.«

»Hm. Hoffentlich hält das Wetter länger als diese Nacht. Magst du die Sterne?«

Irgendwie schien Connor sich genauso wenig losreißen zu können wie er. Das war lustig und auch verrückt, gleichzeitig verstärkte sich seine Beunruhigung mit jedem Augenblick, den er an Connors Seite blieb. Daniel wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Er kam sich gerade vor wie ein Teenager.

»Wo ich herkomme, hat man sie meist nur gesehen, wenn man die Innenstadt verließ oder auf ein Hochhaus kletterte.«

»Großtstadtpflanze?«, fragte Connor schmunzelnd.

Daniel nickte. »Und du?«

Connor deutete auf die Umgebung. »Das hier ist mein Leben.«

Kein Wunder, dachte Daniel mit einem Anflug von Neid. Wer in so einer Familie aufwuchs, hatte keinen Grund woanders hinzugehen. Er schob seine Hände in die Jackentaschen, fühlte das Pfefferspray zwischen seinen Fingern und war sofort ernüchtert.

»Es ist schon spät. Du solltest langsam fahren.«

Connor sah ihn nachdenklich an und schien etwas sagen zu wollen. Stattdessen nickte er stumm, um sich im nächsten Moment leise zu räuspern. »Beantwortest du mir eine Frage, bevor ich gehe?«

»Kommt auf die Frage an«, wich Daniel unsicher aus.

»Hat man ihn oder sie dafür verurteilt?«

Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer so direkten Frage. Darauf war er nicht vorbereitet, ganz und gar nicht. Daniel holte zitternd Luft und sah an Connor vorbei auf die Straße. Was sollte er jetzt sagen? Die Wahrheit? Oder lieber eine Gegenfrage stellen, die ihm verriet, woher Connor Bennett wusste, was er eigentlich nicht wissen konnte.

Ein Jeep fuhr vorbei. Das Licht der Scheinwerfer erhellte für einen Moment ihre Gesichter und irgendetwas in Connors Blick, das er weder erklären noch wirklich greifen konnte, ließ ihn nachgeben.

»Sechs Jahre und neun Monate«, antwortete Daniel leise und schlang die Arme um seinen Körper, weil er plötzlich heftig fror, bevor er sich abwandte. »Für jeden.«

 

Erst als Connor einige Minuten später vom Parkplatz fuhr, nachdem er sein Motelzimmer schon lange betreten und die Tür verriegelt hatte, löste sich Daniels Anspannung und er ließ sich müde auf das Bett sinken.

Was für ein Tag. Kopfschüttelnd schob er alles Erlebte beiseite. Heute nicht mehr. Kein Nachdenken, kein Grübeln, keine Schlüsse ziehen. Morgen hatte er noch genug Zeit dafür und Daniel kannte seine innere Stimme gut genug, um zu wissen, dass sie ihn erst wieder in Ruhe lassen würde, wenn er diesen Nachmittag bis ins kleinste Detail zerpflückt und analysiert hatte.

Mit einer routinierten Bewegung zog Daniel das Hosenbein ein Stück hoch und nahm den Revolver aus seiner Halterung, um ihn neben sich auf den kleinen Nachttisch zu legen. Dann löste er die Halterung um seinen Knöchel und legte sie neben die immer geladene Schusswaffe. Das Pfefferspray folgte.

Eine Zeit lang saß er schweigend auf der Bettkante und starrte die Waffen an. Er würde den Revolver morgen reinigen, um sicher zu gehen, dass die Feuchtigkeit in Charlies Badezimmer keinen Schaden hinterlassen hatte.

Daniel runzelte die Stirn bei dem Gedanken. Es war erschreckend, wie nüchtern er das Ganze betrachtete. Wie normal es mittlerweile für ihn war, eine Waffe neben sich liegen zu sehen, die die Macht besaß im Bruchteil einer Sekunde zu töten. War es ihm schon so in Fleisch und Blut übergegangen, sie zu besitzen, dass er langsam aber sicher vergaß, wie abnormal das war?

Andere Menschen, normale Menschen, Menschen wie Connor oder Grandma Charlie, nahmen in ihrem gesamten Leben vielleicht niemals eine Waffe auch nur in die Hand, geschweige denn, dass sie sie benutzten oder darüber nachdachten es zu tun. Und er bekam Schüttelfrost und Schweißausbrüche, weil er ohne nicht leben konnte. Ohne das verdammte Ding war er nicht in der Lage, aus der Tür dieses Hotelzimmers zu gehen.

Es war ein Wunder, dass sie Connor im Bad nicht aufgefallen war. Aber seine Narben hatten ihn abgelenkt und in diesem Fall fand Daniel das sogar gut, denn wie hätte er erklären sollen, dass er bewaffnet zu einem Mittagessen bei einer alten Frau kam? Er bezweifelte, dass Connor, egal wie höflich erzogen er war, das für gut befunden hätte.

Gott, wie sehr er es hasste. Wie sehr er verabscheute, was aus ihm geworden war. Ein Waschlappen ohne Rückgrat. Ein Krüppel, der ohne seine Pillen keine Nacht überstand.

»Verdammte Scheiße!«

Voller Wut auf sich selbst holte Daniel aus und fegte den Revolver und das Pfefferspray in einer unbeherrschten Bewegung vom Nachttisch. Die Waffe landete vor der gegenüberliegenden Wand auf dem stark abgenutzten Teppich, das Spray überlebte seinen kleinen Anfall nicht und schlug mit einem hörbaren Knacken gegen die Wand, bevor es ebenfalls zu Boden fiel.

»Mist«, fluchte Daniel und riss die Schublade des Nachttisches auf, um das Verbandstuch aus seiner Erste-Hilfe-Tasche zu zerren und sich gegen Nase und Mund zu drücken, während er zum Fenster lief, um es weit aufzureißen und durchzulüften.

Pfefferspray hatte eine heftige Wirkung auf Augen, Atmung und Haut, besonders auf so engem Raum. Frischluft war die einfachste und schnellste Hilfe dagegen und sobald das Spray verflogen war, würde er die zerstörte Dose entsorgen und den Teppich reinigen. Mehrmals, um sicherzugehen, dass niemand im Hotel etwas merkte. Was hieß, er brauchte Putzmittel, und da er keinen Wagen besaß, würde er sich zu Fuß auf den Weg machen müssen, um irgendwo, möglichst weit weg von diesem Motel, einen Laden zu finden, der führte, was er brauchte.

Daniel stöhnte leise auf, denn das würde Stunden dauern.

Diese Nacht war definitiv gelaufen.

 

Tagebucheintrag, 26. Juli

 

Ich hätte energischer ablehnen müssen. Hör auf deinen Instinkt. So oft habe ich mir das in den letzten zwölf Monaten versprochen und bei der erstbesten Gelegenheit mache ich genau das Gegenteil. Und was habe ich davon?

Connor Bennett kennt mein Geheimnis, zumindest einen Teil davon, und ich habe das dumme Gefühl, dass er mehr ahnt, als gut für mich ist. Genau das wollte ich immer vermeiden. Verdammt, was mache ich jetzt? Den Mitwisser beseitigen ist leider keine Option, obwohl der Gedanke im ersten Moment wirklich reizvoll war.

Aber ich bin kein Mörder. Ich war nie einer und werde nie einer sein. Eher bringe ich mich um, als dass ich mich auf die gleiche Stufe stelle wie sie.

Gott, was würde ich darum geben, die Zeit zurückdrehen zu können. Hätte ich gewusst, wie das Ganze endet, hätte ich niemals damit angefangen. »Es war doch alles nur ein Spiel.« Ja genau, und deswegen sieht mein Körper jetzt aus wie eine Landkarte von den Rocky Mountains. Deswegen werde ich nie wieder schmerzfrei leben können. Falls ich überhaupt jemals wieder so etwas wie ein Leben habe.

Ich weiß, Sarkasmus ist keine Lösung, aber er hilft.

Manchmal wenigstens.

Ich kann nicht mehr genau sagen, wie damals alles begann oder wann wir anfingen zu spielen, aber ich weiß noch sehr gut, dass es aufregend war. Etwas Neues und Verruchtes. Nie zuvor hatte ich so etwas getan und genau das machte es so verdammt reizvoll. Ich war jung, ungebunden und neugierig, und es hatte absolut nichts dagegen gesprochen, ein wenig herum zu experimentieren.

Tja, ich habe die Rechnung bekommen.

Und jetzt? Was soll jetzt werden? Was mache ich nun mit Connor Bennett? Ihn ignorieren? Möglich wäre es, aber ich bezweifle, dass er das lange mit sich machen lässt. Wieder verschwinden? Nein! Ich habe gerade erst das Haus gekauft und irgendwie will ich nicht schon wieder weglaufen. Ich tue seit einem Jahr nichts anderes. Ich bin müde und ausgelaugt.

Kein Wunder, so dünn wie du bist, würde Grandma Charlie jetzt sagen und sie hat recht. Vernünftig und vor allem regelmäßig zu essen, ist ein Problem für mich, das weiß ich, auch wenn ich es gern übersehe, weil es leichter ist, nichts zu essen, nicht raus zu müssen. Ich könnte kochen lernen. Einen Versuch wäre es allemal wert, denn wenn es klappt, muss ich nicht mehr ständig nach draußen. Ja, das mache ich. Sobald ich ins Haus gezogen bin, werde ich mir ein paar Kochbücher kaufen und meine Küche einweihen.

Ein Schritt nach dem anderen.

Irgendwo muss es einen Platz für mich geben und ich möchte, dass dieser Platz hier ist. In dieser kleinen Stadt in Maryland.

Weglaufen kann ich auch noch nächste Woche.

Aber vorher sollte ich das Pfefferspray ersetzen. Drei Straßen weiter gibt es ein Geschäft für Waffen und allem dazugehörigen Bedarf, hat mir die Putzfrau vorhin verraten, als sie mein Zimmer saubermachte und die etwas hellere Stelle auf dem Teppich, Gott sei Dank, nicht bemerkte. Was für eine Nacht. Als ich mit der Schrubberei fertig war, wurde es bereits hell und dementsprechend sehe ich auch aus. Total übermüdet. Aber ich habe heute nichts weiter vor als diesen Laden aufzusuchen und mir ein neues Spray zu kaufen.

Das schaffe ich.

Hoffentlich.

 

Regen.

Schon wieder.

Vorhin, beim Verfassen des Tagebucheintrags, hatte die Sonne noch von einem strahlend blauen Himmel geschienen. Jetzt war er mit dicken, grauen Wolken verhangen und Daniel kam sich langsam vor, als wäre er in den Tropen in der Regenzeit gelandet und nicht an der Ostküste der USA.

Den Kragen der Jacke hochgeschlagen und eine Hand in der Tasche vergraben, während die andere den Regenschirm hielt, eilte er über die Straße. Nach einem schnellen Blick auf den Laden vor sich, war er erleichtert. Die richtige Straße hatte er gefunden und wenn die Beschreibung der Putzfrau korrekt war, musste er sich jetzt rechts halten. Den Schirm in die andere Hand wechselnd, ging er langsam den Bürgersteig entlang und hielt dabei nach seinem Ziel Ausschau.

Die Geschäfte und Gehwege waren durch den Regen verwaist. Bei diesem Wetter verirrten sich Bewohner oder in der Stadt anwesende Touristen nur selten auf die Straße, was Daniel sehr entgegen kam. So konnte er sich ein wenig ungezwungener bewegen, ohne die ständige Selbstkontrolle, die für ihn zur zweiten Natur geworden war, wenn es darum ging, sich mit anderen Menschen zu umgeben.

Nach seinem Krankenhausaufenthalt hatte er sehr schnell gelernt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Über die Hälfte aller Menschen waren in seinen Augen pure Egoisten, die zuallererst immer das eigene Wohl im Kopf hatten und sich einen Dreck darum scherten, wie andere über sie dachten oder wie sie nach außen hin wirkten. Dazwischen gab es die Mitläufer, die keine eigene Meinung hatten und stattdessen die Meinung und Eigenarten anderer annahmen, um dazuzugehören oder zu gefallen. Dann kamen die Verweigerer, die grundsätzlich das Gegenteil von dem taten, was von ihnen erwartet wurde und darauf stolz waren. Die Kuscher, die zu allem nur Ja und Amen sagten, Hauptsache sie hatten ihre Ruhe, waren für ihn die Verlierer der Gesellschaft, denn sie gingen zwischen den anderen unter.

Aber was ging es ihn an, wer wie lebte? Das konnte jeder halten wie er wollte, solange er ihm dabei nicht zu nahe kam.

Und das taten sie nicht. Oft reichte ein finsterer Blick, den er bis zum Erbrechen vor dem Spiegel geübt hatte, aus, um jedwedes Gegenüber, das Interesse an ihm zeigte, sofort zu verjagen. Nur auf diese Art war es ihm möglich, nach draußen zu gehen, was er ohnehin nur tat, wenn es denn unbedingt sein musste.

Er fragte sich nur, wie er Connor einordnen sollte. Der hatte sich weder von Worten noch einem bösen Blick vertreiben lassen. Ganz im Gegenteil, fiel Daniel ein und irgendwie schien er auch zu keiner von den Gruppen zu gehören, in die er Menschen unterteilte.

Connor ein Egoist? Auf keinen Fall, wehrte Daniel den Gedanken ab. Dann hätte er ihm im Badezimmer nicht geholfen.

Ein Mitläufer vielleicht? Nein, kein Mitläufer startete eine eigene Karriere.

Verweigerer passte auch nicht. Grandma Charlie war einer, hatte er das Gefühl. Daniel bezweifelte, dass die alte Dame sich von irgendwem etwas sagen ließ, geschweige denn, dass sie tat, was man von ihr erwartete. So alt und lebensfroh zu sein, schaffte niemand, der sich nicht durchzusetzen wusste.

Und Kuscher kam für Connor genauso wenig in Frage. Die kleine blonde Bedienung im Diner war ein Kuscher, wie er im Buche stand. Das hatte er in den letzten Wochen zuhauf erlebt.

Aber was war Connor Bennett? Eine Mischung aus allem? Oder etwas ganz anderes, was ihm bisher noch nicht über den Weg gelaufen war? Es ärgerte Daniel, dass er ihn nicht in eine der Gruppen packen konnte, weil es auf diese Art leichter war, sich von den Menschen abzukapseln.

Daniel war so damit beschäftigt, Connor zu analysieren, dass ihm erst eine Straßenecke weiter auffiel, dass er an dem Waffengeschäft vorbeigelaufen war. Kopfschüttelnd machte er kehrt und übersah in seinem Ärger, dass auf dem Parkplatz an der Straße ein blauer Pick-up stand.

Den Schirm schließend konzentrierte er sich und holte einmal tief Luft, um sich wieder zu beruhigen, bevor er schließlich die Tür öffnete und erschrak, als eine Klingel über der Tür mit lautem Gebimmel auf sein Eintreten reagierte.

Der Laden war klein und bis zur Decke mit Regalen zugestellt. Aber vor allem war er sauber, das war für Daniel die Hauptsache. Noch so eine Aktion wie bei seinem Revolverkauf, der in einem so schmutzigen und abartig stinkenden Hinterzimmer über die Bühne gegangen war, dass er den Geruch noch Wochen später in der Nase gehabt hatte, würde er nicht mitmachen.

Ein Mann mittleren Alters kam aus dem hinteren Teil des Ladens auf ihn zu und lächelte freundlich. Daniel brauchte zwei Versuche, dann schaffte er es das Lächeln zu erwidern.

Die Enge des Geschäfts bereitete ihm Unbehagen. Er bekam feuchte Hände, das erste Anzeichen seiner Klaustrophobie, aber es war wichtig den Schein zu wahren. Auch wenn seine Panik mit jeder Sekunde, die er hier war, stärker wurde, hoffte Daniel, dass man sie ihm nicht ansah und er lang genug durchhielt, um das Pfefferspray kaufen zu können. Der Mann schien jedenfalls nichts zu bemerken, als er auf ihn zutrat.

»Guten Morgen. Ich bin Mick Hester, der Besitzer. Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?«

»Ich suche Pfefferspray«, antwortete Daniel knapp. Je schneller er hier wieder raus war, desto besser.

»Da sind Sie bei mir richtig«, erklärte sein Gegenüber erfreut und deutete hinter sich zur Kasse. »Folgen Sie mir bitte. Ich habe verschiedene Sprays zur Auswahl.«

 

Fünf Minuten später war er auf dem Weg nach draußen und atmete dabei erleichtert aus. Das neue Pfefferspray war sicher in seiner Jackentasche verstaut und Daniel strebte mit schnellen Schritten auf die Tür zu. Wenn er sich beeilte, konnte er in weniger als einer Viertelstunde zurück im Motel sein. Nach einem Blick durch die Türscheibe bemerkte er erfreut, dass der Regen aufgehört hatte und ließ den Schirm wieder sinken. Wenn das keines gutes Zeichen war, sollte ihn auf der Stelle der Blitz treffen.

Im nächsten Moment erstarrte er. Ein Winchester Gewehr über der linken Schulter und eine Packung Patronen in der rechten Hand, kam Connor aus einem Seitengang auf ihn zu. Ein Eimer kaltes Wasser hätte nicht wirkungsvoller sein können, um Daniels Vorstellung zu zerstören, dass jemand wie Connor die Finger von Waffen ließ.

Der stutzte kurz, als er ihn bemerkte, dann bildete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Hi, Dan.«

»Wieso kaufst du ein Gewehr?«, fragte Daniel ruppig, ohne den Gruß zu erwidern.

Connor sah ihn erstaunt an. »Weil das alte kaputt gegangen ist und Dad mich gebeten hat, ihm ein neues zu besorgen«, antwortete er und ging zur Kasse. »Hey Mick, ich hab sie gefunden.«

»Oh, gut. Ich habe gestern eine Lieferung brandneuer Patronen bekommen. Wie wär's? Willst du für deinen alten Herrn ein paar zum probieren mitnehmen?«

»Ja, sehr gern. Sag mal, hast du zufällig noch ein Exemplar der ...«

Daniel blendete das Gespräch der beiden aus. Warum hantierte Connor so offen mit einer Schusswaffe herum? Die Dinger waren kein Spielzeug, sondern gefährlich. Es ging ihm gegen den Strich und er verstand nicht wieso.

»Träumst du?«

Daniel zuckte überrascht zusammen, als Connor auf einmal direkt vor ihm stand. Er blinzelte. Einmal, zweimal, und starrte dann wie vom Donner gerührt auf das graue und äußerst mitgenommen wirkende Shirt, das Connor unter seiner schwarzen Lederjacke trug. Auf dem Stoff waren deutlich mehrere, verschieden große, eingetrocknete Blutflecken zu erkennen, die ihn unwillkürlich an seinen weißen Pullover erinnerten, der in Raum zwei der Notaufnahme zerschnitten auf dem Boden gelegen hatte, so voller Blut, dass die Schwester auf ihm ausgerutscht war, während er auf der Untersuchungsliege das erste Mal starb.

»Dan? Ist alles in Ordnung?«

»Du hast Blut auf deiner Kleidung«, murmelte er tonlos.

Connor sah an sich hinab. »Ach das«, meinte er dann abwinkend und zog die Tür auf. Daniel folgte ihm nach draußen zum Wagen. »Tristan hat mir mal eins auf die Nase gegeben, das ist alles. War keine große Sache und ist auch schon eine halbe Ewigkeit her, aber ich kann mich trotzdem nicht von dem Shirt trennen.«

»Hm«, machte Daniel und runzelte die Stirn, als Connor die Winchester auf die Ladefläche des Pick-up legte, eine weiße Plane über die Waffe schob und die Patronen in seine Jackentasche steckte, ehe er sich wieder zu ihm umdrehte. »Dein Vater braucht ein Gewehr?«

Connor sah ihn verständnislos an. »Ja.«

»Warum?«

»Dan, was soll die Frage? Fast alle Leute in dieser Stadt haben eine Waffe.«

Für diese Aussage, hätte Daniel Connor am liebsten geschlagen. »Na und? Wenn irgendein Spinner von einer Brücke hüpft, springst du doch auch nicht hinterher.«

Jetzt war er zu weit gegangen, denn Connor verschränkte die Arme vor der Brust und verlagerte sein Gewicht auf einen Fuß. »Ich habe keine Ahnung, was im Augenblick mit dir los ist, aber du solltest es nicht übertreiben. Wir brauchen das Gewehr zum Schutz ...«

»Wovor?«, unterbrach Daniel ihn giftig und ärgerte sich darüber, als Connor ihn daraufhin gereizt ansah. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten. »Wofür braucht man in dieser Stadt ein Gewehr? Ich habe hier jedenfalls noch keinen verrückten Michael-Myers-Verschnitt herumrennen sehen und Jason Voorhees hat kaum ...«

»Schwarzbären.«

Daniel stutzte irritiert, als Connor ihn unterbrach und ihm nächsten Moment fiel ihm auf, wie stark sich dessen sonst hellblaue Augen verdunkelt hatten. Connor war stinksauer, was seinen eigenen Ärger ins Nichts verschwinden ließ. Dafür stieg seine altbekannte Angst in ihm auf, sehr viel heftiger, als zuvor im Laden.

»Was?«, fragte er vorsichtig und wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als Connor die Brauen zusammenzog.

»In den umliegenden Wäldern gibt es Schwarzbären und diese Tiere haben einen sehr guten Geruchssinn. Ohne ein Gewehr in der Tasche, um sie damit im Notfall vertreiben zu können, geht in dieser Stadt niemand campen oder fischen. Es ist zu gefährlich. Und das hätte ich dir auch gesagt, Dan, wenn du nicht sofort, nachdem du mich im Laden entdeckt hast, Gift und Galle gespuckt hättest. Was, zum Teufel, sollte das eben?«

Daniel lief knallrot an, als ihm nach Connors Erklärung aufging, was er getan hatte. Anstatt seinen Verstand zu benutzen und ein klein wenig das logische Denken zu bemühen, war er wie eine sprichwörtliche Furie auf Connor losgegangen. Dabei wusste er aus Reiseführern und Büchern, die er über Maryland gelesen hatte, dass der Bundesstaat neben einer ganzen Reihe von Naturschutzgebieten, auch eine umfangreiche Tierwelt, inklusive Bären, besaß.

Hatte er daran gedacht? Nein. Hatte er überhaupt nachgedacht, ehe er wegen dieser blöden Waffe ausgetickt war? Wieder nein. Er hatte nur das Gewehr gesehen, die Gefahr – und seine eigene Scham, weil er ohne Waffe nicht existieren konnte.

Verdammt.

»Es tut mir leid, Connor«, murmelte er, zu Tode verlegen.

»Das sollte es auch«, meinte der kühl und wandte sich ab, um die Wagentür zu öffnen. »Dan«, sagte er dabei leise, »nicht jeder, der eine Waffe in die Hand nimmt, ist ein Mörder.«

Nach den Worten stieg Connor in seinen Pick-up und fuhr davon. Daniel blieb auf dem Gehsteig zurück und sah dem sich entfernenden Wagen nach. Damit war es amtlich. Er war ein Vollidiot und nach dem unmöglichen Auftritt hatte er Connor Bennett garantiert zum letzten Mal gesehen.

 

 

3. Kapitel

 

 

 

 

Tagebucheintrag, 14. August

 

Seit meinem Einzug ins Haus vor zwei Wochen, hat sich eine gewisse Routine in mein Leben geschlichen.

Das gefällt mir und beruhigt mich. Viele andere Menschen würden vermutlich gelangweilt gähnen bei der Vorstellung, aber ich liebe es, in den Tag hineinzuleben. Morgens regelmäßig von einer feuchten Schnauze geweckt zu werden und dann die Zeitung ins Haus zu holen, bevor ich mir einen Tee aufbrühe und eine Weile in der Küche sitze, um den Nachrichten aus dem Radio zu lauschen.

Pure Normalität. Herrlich.

Ich, die Natur, das Haus und Zeke. Mehr brauche ich nicht. Kann man das Glück nennen? Ich glaube schon, denn ich bin ... Hm, genau weiß ich nicht, wie ich es beschreiben soll, aber ich fühle mich wohl und seit ein paar Tagen wache ich morgens auch nicht mehr mit der Angst auf, dass heute bestimmt etwas Schlimmes passiert.

Nein, ich wache mit dem Gedanken auf, dass es da jemanden gibt, der mich braucht und das fühlt sich gut an.

Zeke ist ein richtiger Wirbelwind geworden, der mich ständig auf Trab hält, seit ich ihn bei Grandma Charlie abgeholt habe. Von morgens bis abends will er Action, und seit der kleine Teufel begriffen hat, dass wenige Schritte hinter meinem Haus der Wald beginnt, bettelt er jeden Morgen so lange, bis ich nachgebe und wir zu einem Spaziergang aufbrechen.

Die ersten Tage reichte schon der entfernte Schatten einer Person aus, um die Angst siegen und mich ins Haus zurückkehren zu lassen, was Zeke überhaupt nicht gefiel. Seinen Ärger darüber ließ er am Treppengeländer im Flur, dem Wohnzimmerteppich und einem Paar gerade erst gekaufter Schuhe aus.

Ja, wir hatten es anfangs nicht leicht, aber mittlerweile haben wir Kompromisse geschlossen und ich werde von Tag zu Tag besser. Heute habe ich es geschafft, mich fünfzehn Minuten mit einem alten Mann, der einen total albernen Hut mit Schachbrettmuster trug und den Waldweg ebenfalls als Spazierpfad nutzte, über unsere Tiere zu unterhalten, während die gemeinsam spielten.

Ein verdammter Rekord für mich und ich will ihn überbieten. Nicht gleich morgen, das wäre wohl zu viel des Guten, aber vielleicht nächste Woche.

Von Connor habe ich nichts mehr gehört oder gesehen. Ich wette, er ist immer noch sauer wegen meines peinlichen Auftritts vor dem Waffengeschäft. Verübeln kann ich es ihm nicht, es ist nur ein Grund mehr, mich von ihm und der Stadt fernzuhalten. Das dürfte einfach werden, denn mein Vorratsraum ist bis an die Decke gefüllt und ich bezweifle, dass ich im nächsten halben Jahr oft einkaufen gehen muss.

Ein halbes Jahr.

Ich fange an die Zukunft in meine Überlegungen mit einzubeziehen und das hat etwas ungemein Beruhigendes. Ob es funktioniert? Ich werde es erleben, denn ich denke nicht im Traum daran, mir das wieder von irgendwelchen dummen Zweifeln kaputtmachen zu lassen. Dazu genieße ich diese neue Freiheit, wie ich sie nenne, viel zu sehr. Da kann Connor sauer sein so viel er will.

Apropos genießen. Grandma Charlie ist gestern Nachmittag vorbeigekommen. Sie hat mir einen selbst gebackenen Apfelkuchen als Einweihungsgeschenk gebracht und eine Weile neben mir auf der Veranda gesessen, während wir den Kuchen aßen und uns über Zeke lustig machten, der ständig versuchte etwas vom Kuchen zu erbeuten. Nach drei Stücken war mir übrigens übel und ich musste aufgeben. Aber es war eine Übelkeit der angenehmen Art. Grandma Charlie hat vier Stücke geschafft und mich für meinen schwachen Magen ausgelacht.

Ich muss mir unbedingt etwas einfallen lassen, wie ich ihr dafür danken kann, dass sie sich die Zeit bis zum Einzug um Zeke gekümmert hat. Geld will sie natürlich nicht. Sie hat mich richtig böse angeschaut, als ich den Vorschlag machte. Meinte dann nur, sie hätte es gern getan. Trotzdem werde ich mich noch irgendwie dafür bedanken und wenn es mit einem großen Blumenstrauß ist.

Grandma Charlie liebt nämlich Blumen und plant jetzt schon die Bepflanzung für meinen Vorgarten im nächsten Jahr. Die alte Dame ist unglaublich und es war richtig schön mit ihr draußen zu sitzen und über Gott und die Welt zu plaudern.

Jetzt kann man das auch endlich. Das Wetter hat nämlich Anfang August von einem Tag auf den anderen umgeschlagen und seither genießt ganz Maryland einen herrlichen Spätsommer mit Sonne satt und angenehmer Wärme.

Grandma Charlie gefällt es genauso wie mir. So kann sie in Ruhe durch die Straßen schlendern, um nach einem Geburtstagsgeschenk für Connor zu suchen. Am 12. September ist der große Tag und die Familie will ihn ordentlich feiern. Man wird schließlich nicht jeden Tag dreißig.

Ich bin auch eingeladen. Sogar ganz offiziell. Mit einer von der ganzen Familie unterschriebenen Karte. Grandma Charlie hat sehr amüsiert gelächelt, als sie mir die Karte in die Hand drückte und dann meinte, ich solle einfach das Beste daraus machen.

Was immer das auch heißen mag.

Ich weiß noch nicht, ob ich hingehe. Es werden viele Leute aus dem Ort dort sein und ich bezweifle, dass ich das durchhalte. Nein, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ich es nicht tue. Soweit bin ich noch nicht. Nur, weil mir ein Gespräch mit einem alten Mann gelingt, heißt das nicht, dass ich die Gesellschaft von einem Dutzend oder mehr Menschen verkrafte.

Aber ich würde gehen, wenn ich es könnte, glaube ich.

Vielleicht reicht es ja, wenn ich kurz vorbei schaue. Um zu sehen, wie es Connor geht und ob er wirklich noch wütend auf mich ist. Ich meine, seine Familie hätte mich kaum eingeladen, wenn er sauer wäre, oder? Aber wenn ich hingehe, brauche ich ein Geschenk und was schenkt man jemandem, den man irgendwie mag, aber trotzdem kaum kennt?

Ich werde morgen darüber nachdenken. Wenn ich mit Zeke wieder durch den Wald gehe, der mir mit jedem Tag ein bisschen vertrauter erscheint. Vielleicht kommt mir zwischen den Bäumen eine Eingebung, wie ich mich bei Connor Bennett entschuldigen kann.

 

Daniel hätte nie gedacht, wie sehr er die Natur lieben würde. Der Wald mit seinen riesigen Bäumen, deren volle und sich vereinzelt bereits ins herbstliche verfärbende Blätter ständig im seichten Wind raschelten und rauschten. Er fand es herrlich.

Diese faszinierende Welt hinter seinem Haus war für seine Seele Erholung pur, und seit ein paar Tagen wehte der Wind immer wieder den Geruch von frischem Korn durch die Bäume, denn auf den Feldern hatten die Farmer mit der Ernte begonnen. Daniel verstand nicht das Geringste von den Feinheiten der Landwirtschaft, konnte Weizen nicht von Gerste unterscheiden, aber den Geruch, den der Wind gerade wieder in seine Nase trug, den mochte er.

Obwohl mögen ein schwaches Wort dafür war, wenn er bedachte, wie schnell sein Herz geschlagen hatte, als Shane Harrow, dessen Vater die dem Wald angrenzende Farm gehörte, ihn am Rand des Feldes hatte stehen sehen und herübergekommen war. Ein lässiges Grinsen und ein paar gewechselte Worte später, hatte er sich hinter dem jungen Farmer auf dessen Mähdrescher wiedergefunden und die meiste Zeit damit zu kämpfen gehabt, dass ihm vor Staunen nicht die Augen aus dem Kopf fielen, während Shane Runde um Runde über das Feld fuhr.

Jetzt war Daniel auf dem Rückweg zu seinem Haus, hatte von Shane eine lockere Einladung auf ein Bier erhalten und grinste schon die ganze Zeit wie ein Idiot vor sich hin.

Ein sehr glücklicher Idiot.

Zeke bellte und lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Hier im Wald ließ er den stark in die Höhe geschossenen Welpen ohne Leine laufen und der hatte gerade einen Schmetterling erspäht, dem er nun wild kläffend nachjagte. Mal sehen, wie lange es dauerte, bis er dabei wieder über seine zu großen Pfoten stolperte. In ein paar Wochen würde sich der Körper des Labrador seinen Pfoten von der Größe her angepasst haben, aber momentan sah Zeke aus, als hätte man ihn falsch zusammengesetzt.

Daniel konnte nicht sagen, wie oft er sich bereits über die Tollpatschigkeit des Kleinen amüsiert hatte. Es verging kein Tag, an dem Zeke nicht über irgendetwas stolperte, den Fliesenboden in der Küche entlang schlitterte oder beim Spielen im Garten mit dem dicken Seil, das er von Grandma Charlie bekommen hatte, über die eigenen Pfoten fiel.

Ein Platschen, gefolgt von einem ziemlich erbärmlichen Jaulen, ließ Daniel überrascht aufhorchen. »Zeke?«

Der Kleine jaulte erneut, lauter diesmal. Bei Daniel stellten sich sämtliche Nackenhaare auf, während er die Leine fest in die Hand nahm und losrannte. Aus dem Jaulen wurde ein Bellen, dann ein Gurgeln und wieder platschte es, woraufhin Stille einkehrte.

Oh Gott.

Daniel kämpfte seine aufsteigende Panik nieder, umrundete eine Gruppe junger Eichen und stoppte abrupt. Eine rosa Zunge hechelte ihn aus einem völlig mit schwarzem Schlamm bedeckten Gesicht an, und obwohl er alles tat, um möglichst streng auszusehen, kam er nicht gegen das Lachen an, das in seiner Kehle aufstieg, bei dem Anblick, den Zeke bot, während er neben einem großen Schlammloch hockte und ihn treuherzig anschaute.

»Zeke, du bist so ein dummer Hund.«

Als der daraufhin bellte, so als wäre er einverstanden, begann Daniel schallend zu lachen. Die Erleichterung darüber, dass Zeke unbeschadet aus dem Loch herausgekommen war und sein Amüsement, weil der Kleine aussah, wie das sprichwörtliche Monster aus dem Sumpf, ließen ihn die zuvor ausgestandene Angst vergessen.

»Oh je«, meinte Daniel, nachdem er sich beruhigt hatte und nur noch kicherte. »Ich ahne bereits, in was es ausarten wird, dich wieder sauber zu bekommen.«

 

Die Realität übertraf seine Vorstellung bei weitem, stellte Daniel eine halbe Stunde später fest, denn Zeke hielt weder still noch wollte er aufhören nach dem Lappen zu schnappen, den er aus dem Schrank geholt hatte, um den frechen Racker zu waschen. An die schwarze Spur, die sie von der Haustür an bis ins Badezimmer hinterlassen hatten, wollte er im Moment lieber noch nicht denken. Und wie er selbst aussah, das konnte er sich gut vorstellen, auch wenn er einen genaueren Blick in den Spiegel tunlichst vermied, seit Zeke sich geschüttelt und dabei eine Menge an Wasser und Schlamm im gesamten Badezimmer verteilt hatte.

»Zeke, wenn du nicht stillhältst, sitzen wir heute Abend noch hier«, meinte er belehrend und grinste, als der Labrador daraufhin bellte und dann eine Pfote über seine Schnauze legte. »Ja, ich merke schon, wie beeindruckt du bist.«

Den Lappen ins Wasser tauchend, griff er nach dem Duschgel und behielt Zeke dabei im Auge, der selbiges mit seiner Hand machte, die das Duschgel festhielt. Daniel wusste, was gleich kam, immerhin wusch er Zeke nicht zum ersten Mal, und als der sich im nächsten Moment auf die Flasche stürzte, zog er abrupt seinen Arm weg. Zeke rutschte mit seinen Hinterpfoten im Wasser weg und landete mit einem Platschen auf seinem Bauch. Das warme Wasser spritzte erneut überall hin und Daniel lehnte sich lachend auf den Wannenrand, um Zeke belustigt die Zunge herauszustrecken.

»Das geschieht dir recht«, kicherte er vor sich hin und streichelte Zeke belustigt durch das nasse Fell, nachdem der sich wieder aufgerappelt hatte und ihm mit der Zunge quer übers Gesicht gefahren war.

Ein Räuspern von der Tür her, ließ ihn erschrocken herumfahren. Connor lehnte am Türrahmen und grinste übers ganze Gesicht. So wie er aussah, stand er schon eine Weile dort. Daniel bedachte ihn mit einem tadelnden Blick und Connor hob daraufhin in einer entschuldigenden Geste beide Hände, bevor er ins Badezimmer trat.

»Ich habe angeklopft, mein Ehrenwort, aber als keiner die Tür aufmachte und ich dich oben lachen hörte, war mir alles klar. Den unübersehbaren Spuren nach zu urteilen, ist Zeke in eis der Schlammlöcher im Wald gefallen. Das haben wir schon so oft hinter uns, frag Mum danach. Die könnte dir Storys erzählen, das glaubst du mir nie. Tristan hat sich einmal nachts ins Haus geschlichen, als er nach einer Party den Waldweg nahm und, betrunken wie er war, einem Schlammloch nicht ausweichen konnte. Das war ein Geschrei am nächsten Morgen, da Mum und Dad zuerst glaubten, jemand wäre ins Haus eingebrochen.«

Daniel musste grinsen bei der Vorstellung, dann fiel ihm etwas ein. »Wie bist du überhaupt rein gekommen?«

Connor lachte leise. »Die Tür stand einen Spalt offen, Dan.«

»Kann nicht sein«, empörte sich Daniel und überlegte fieberhaft, ob er die Tür zugemacht hatte. »Die Tür stand wirklich offen?«

»Warum sollte ich lügen?«, fragte Connor und zuckte gelassen mit den Schultern. »Außerdem hast du kein Telefon und es schien mir nicht sehr ratsam, Grandma nach deiner Handynummer zu fragen, um vorher anzurufen, dass ich komme. Die ist nämlich sauer auf mich.«

»Wieso das denn?«, fragte Daniel verblüfft.

Connor wirkte auf einmal reichlich verlegen. »Weil ich in der letzten Zeit lieber vor meinem Computer gehockt habe, anstatt unseren dummen Streit aus der Welt zu schaffen.«

Daniel wurde prompt rot, als er daran erinnert wurde.

Connor nickte. »Ja, so ging es mir auch, als Dad vor einer Stunde plötzlich bei mir vor der Tür stand und mich deswegen auf Zwerggröße zusammen stauchte. Das kann er wirklich gut, ich habe jetzt noch eine Gänsehaut. Jedenfalls war er so sehr in Fahrt, dass ich nicht mal alles verstand, was er mir an den Kopf warf. Irgendetwas von feigen Söhnen und dummen Ausreden hat er geschimpft und ist dabei vor mir auf und ab marschiert, wie ein Marinegeneral vor der Schlacht. Das sieht man doch immer in diesen Kriegsfilmen. Ich glaube, er nannte mich einen Dummkopf oder war es Dickschädel?« Connor wedelte mit der Hand in der Luft herum. »So genau will ich das eigentlich nicht wissen. Ich kam mir vor, als wäre ich wieder zwölf.«

»Sorry«, sagte Daniel und zuckte in einer hilflosen Geste die Schultern. Connor tat es im gleichen Moment, was sie beide grinsen ließ. »Ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen«, meinte er dann und deutete auf Zeke.

Connor sah ihn amüsiert an. »Schließen wir etwa gerade einen Waffenstillstand? Und das, obwohl du etwas gegen die Dinger zu haben scheinst?«

Autsch, das war deutlich. Daniel seufzte ergeben. »Du hast recht und es tut mir ehrlich leid, Connor. Könnten wir uns vielleicht darauf einigen, dass ich Waffen nicht leiden kann?«

Connor nickte. »Können wir. Friede?«

»Friede.« Daniel warf Connor den Lappen zu.

Der grinste erneut und hockte sich neben ihn vor die Wanne, um ihn dann mit blitzenden Augen anzusehen. »Du hast da was im Gesicht, Dan.«

Daniel verdrehte die Augen. »Fang bloß nicht damit an. Ich traue mich schon gar nicht mehr, überhaupt in Richtung des Spiegels zu schauen. Und wer nachher das Haus putzt, haben Zeke und ich auch noch nicht entschieden.«

Connor lachte und zog sich die Jacke aus, um sie auf den Toilettendeckel zu werfen. Daniel verzog das Gesicht als sein Blick auf Connors T-Shirt landete. Es war mit den Blutflecken. Daran würde er sich niemals gewöhnen, aber vielleicht konnte er es ignorieren.

Der Plan war zwar gut, er funktionierte nur nicht. Immer wieder fiel sein Blick auf das fleckige Shirt und Daniel kam sich nach ein paar Minuten wie ein Spanner vor. Ein Wunder, dass Connor es noch nicht gemerkt und ihn darauf angesprochen hatte. Aber der war so damit beschäftigt, den Lappen vor Zeke zu verteidigen und dabei vor Lachen nicht das Luftholen zu vergessen, dass Daniel ungeniert schauen und sogar jeden einzelnen Blutfleck zählen konnte.

Nach zehn Minuten gab er auf. »Connor, würdest du mir einen Gefallen tun?«

»Worum geht’s?«, wollte Connor wissen und drohte Zeke grinsend mit dem Zeigefinger, als der wieder das Shampoo ins Visier nahm, was der Kleine mit einem freudigen Bellen quittierte.

»Zieh dein Shirt aus.«

Connor hielt inne, das Shampoo in einer, den Lappen in der anderen Hand, und sah ihn erstaunt an. »Bitte?«

Daniel wurde rot. »Nicht, was du denkst. Ich meine ...«

Connor begann zu grinsen. »Was denke ich denn?«

»Na, dass ... Also, äh ...«

Connor lachte, legte den Lappen auf den Rand der Wanne und stellte das Shampoo daneben. Zeke schnappte sofort nach dem Lappen, den Connor ihm gutmütig überließ, während er sich das Shirt über den Kopf zog und es einfach hinter sich auf die Fliesen fallen ließ.

»Besser?«

»Ja, danke«, murmelte Daniel und räusperte sich verlegen, als ihm aufging, wie sich das anhörte.

Aber dieses Mal lachte Connor nicht, stattdessen sah er ihn eine ganze Weile schweigend an, bevor er sich wieder Zeke zuwandte, der den Lappen gerade in seine Einzelteile zerlegte.

»Hast du ...?«

»Moment.«

Daniel holte einen neuen Lappen aus dem Schrank und hockte sich wieder neben Connor. Er wusste welche Frage jetzt kam, sie stand so deutlich in Connors Augen, dass er am liebsten »Frag nicht!« gerufen hätte. Aber er brachte es nicht über die Lippen.

»Das ist schon das zweite Mal, dass du so auf dieses alte Shirt reagierst. Sagst du mir den Grund dafür?«, fragte Connor dann wie erwartet, kümmerte sich aber gleichzeitig weiter um Zeke, während er selbst neben der Wanne saß und nicht wusste, was er sagen sollte. »Dan? Soll ich raten?«

Daniel schüttelte heftig den Kopf. Bloß nicht. Wenn Connor jetzt anfing zu spekulieren, würde er es nicht ertragen, vor allem, da er Connor als sehr feinfühlig kennengelernt hatte und nicht wollte, dass der auf die Art vielleicht Erinnerungen hervorholte, für die er noch nicht bereit war. Die Frage war für ihn schon schlimm genug.

»Wärst du sauer, wenn ich es dir nicht sagen will?«

Connor sah ihn kurz von der Seite her an und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Ich würde mir nur wünschen, dass du es irgendwann doch tust, damit ich verstehe, warum ich das Shirt heute Abend entsorge.«

Daniel sah verblüfft auf. »Du ... Was?«

Connor sah ihn erneut an. »Ich habe andere Sachen, auf das eine Shirt kommt es nicht an.«

»Aber du liebst das Teil, hast du selbst gesagt.«

»Es ist leichter, sich davon zu trennen, als jedes Mal zusehen zu müssen, wie du zu Eis erstarrst, wenn du die Blutflecken siehst.«

Verdammt.

Warum war Connor nur derart nett und verständnisvoll? Es wäre Daniel leichter gefallen ihn abzuwehren, wenn er, wie alle anderen bisher auch, Druck gemacht und auf die Beantwortung seiner Frage gedrängt hätte. So jedoch kam er sich schäbig vor, da er zwar einerseits nichts sagen wollte, Connor andererseits aber auch nicht einfach abweisen konnte.

»Ich hatte einen weißen Pullover«, begann er schließlich leise zu erzählen. »Ein Geburtstagsgeschenk von meiner Schwester. Ich trug ihn wirklich sehr gern, bevor ...«

Daniel stockte. Nein, er durfte nicht in diese Richtung denken. Und doch, obwohl er dagegen ankämpfte, driftete er mit seinen Gedanken ab. Plötzlich war er wieder in diesem dunklen Zimmer, mit verbundenen Augen auf das Bett gefesselt.

Kälte.

Schmerzen.

Schreie. War es wirklich er, der da schrie? Irgendwie klang die Stimme komisch, so hoch. Seine war nicht so hoch, oder?

Dann ... Auf einmal ... Licht.

So grell, dass es seinen Augen weh tat.

Und Blut. Da war so viel Blut. Es konnte nicht nur von ihm sein.

Der Raum war auf einmal ganz anders. So weiß und hell, und dazu dieser ekelhafte Geruch, dieses laute Piepen, das immer schneller und unregelmäßiger wurde.

»Daniel!«

Daniel zuckte heftig zusammen und wich gegen die Wand zurück, als er Connors besorgtes Gesicht plötzlich direkt vor sich sah. »Alles okay, ich bin wieder da.«

»Dan, du bist weiß wie eine Wand.«

»Sorry, geht schon.«

»Bist du sicher?«, hakte Connor beunruhigt nach und streichelte nebenbei Zeke über den Kopf, der unruhig jaulte. »Ist schon gut, mein Kleiner. Dein Herrchen hat nur ... geträumt.«

Geträumt? Guter Witz.

Daniel konnte Connors Blick nicht standhalten und sah zu Boden. Er hätte alles dafür gegeben, seine Erinnerungen einfach als Traum abtun zu können. Aber das war unmöglich.

»Entschuldige, ich hätte nicht fragen dürfen«, murmelte Connor leise, was ihn dazu brachte wieder aufzusehen. Connor fühlte sich schuldig, Daniel sah es ihm an.

»Nein, ist schon okay. Ich war nur ... Ich bin ...«

Daniel holte tief Luft, um sein Stottern wieder unter Kontrolle zu bekommen und seine Hände zu beruhigen, die, wie ihm im nächsten Moment auffiel, heftig zitterten. Und plötzlich kamen die Worte einfach aus seinem Mund, als hätten sie auf diesen Augenblick gewartet. Daniel konnte es nicht verhindern und nachdem er erst mal angefangen hatte, gab es auch kein Zurück mehr.

»Ich trug diesen Pullover, als ich in die Klinik kam. Er war voller Blut. Mein Blut. So viel, dass man kaum noch seine richtige Farbe erkennen konnte. Sie mussten ihn zerschneiden, weil sie ihn nicht von meinem Körper bekamen und eine der Schwestern ist wegen dem ganzen Blut auf ihm ausgerutscht. Ich kann noch immer die Spur malen, die sie dabei auf den weißen Fliesen hinterlassen hat. Ich weiß auch noch die Anzahl der Tupfer und Tücher, die auf dem Boden landeten, während sie versuchten mich vom Verbluten abzuhalten und dabei habe ich mir solche Mühe gegeben, in jener Nacht zu sterben. Ich war wach, obwohl die Ärzte später behaupteten, ich wäre die ganze Zeit über bewusstlos gewesen und hätte mir das alles nur eingebildet. Aber ich weiß genau, dass ich den Pullover angesehen habe. Die ganze Zeit, während ich starb, starrte ich auf den Fliesenboden neben der Behandlungsliege, wo er lag. Über und über mit meinem Blut bedeckt. Dieser Fetzen Stoff, der mir so viel bedeutet hat.«

»Du bist gestorben?«

Daniel nickte wie ferngesteuert. »Zweimal innerhalb von zehn Minuten und dann noch mal eine Stunde später. Ich wollte nicht in diese Welt zurück, die für mich nur noch aus warmem Blut und höllischen Schmerzen bestand. Aber die Ärzte ließen mich nicht gehen, obwohl ich sie darum anflehte. Ich wollte sterben und manchmal, wenn ich nachts schreiend aufwache, weil ich im Traum wieder dort bin, will ich es noch.«

»Aber du lebst«, warf Connor leise ein, doch Daniel war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um den lauernden Unterton zu bemerken.

»Ja, ich bin am Leben.«

Daniel holte tief Luft und lehnte sich völlig erschöpft mit dem Rücken gegen die kalten Badezimmerfliesen, ignorierte den einsetzenden Schmerz seiner Narben und schloss die Augen. Sein Hals war unangenehm trocken und er fühlte sich wie leer gesaugt, als hätte jemand den Stecker seiner inneren Batterie gezogen.

Er hörte, wie Connor leise mit Zeke sprach und war dankbar, dass der ihm ein wenig Raum für sich gab. Erst als etwas Schweres und Weiches in seinen Schoß krabbelte, öffnete er die Augen wieder. Zeke schaute ihn an und leckte ihm vorsichtig übers Gesicht, als Daniel ihn streichelte. Der Labrador schien instinktiv zu wissen, dass er jetzt Ruhe brauchte und allein Zekes Blick half ihm, nicht komplett den Boden unter den Füßen zu verlieren. Da war jemand, der ihn brauchte, das durfte er nicht vergessen.

»Dan? Was hältst du von einer Tasse Tee?«

»Eine Menge«, flüsterte Daniel erstickt und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen.

»Gut. Ich setze Wasser auf. Komm, Zeke. Lassen wir dein Herrchen ein paar Minuten in Ruhe.«

Connor hielt Wort. Daniel bekam sogar mehr als ein paar Minuten, um sich auf den Fliesen im Badezimmer wie ein Baby zusammen zu rollen und zu weinen. Tränen halfen, obwohl er sehr lange gebraucht hatte, um sich nicht wie ein Idiot zu fühlen, wann immer er dem Drang nachgab.

Und auch wenn er nicht sicher war, ob er die leisen Schritte im Flur zuvor wirklich gehört hatte, als er eine halbe Stunde später die Küche betrat und sich auf einen Stuhl sinken ließ, fühlte Daniel sich ein wenig besser. Nur die Müdigkeit lag weiter wie ein bleiernes Gewicht auf seinen Schultern.

»Ich bin froh, dass die Ärzte nicht auf dich gehört haben.«

Es dauerte eine Weile, bis er den Sinn hinter Connors Worten verstand. »Warum?«, fragte er dann müde.

Connor lächelte und erhob sich. »Weil wir uns sonst nicht kennengelernt hätten. Und das lass jetzt bitte einfach so stehen, Dan. Ich mache noch schnell sauber und nehme Zeke danach mit zu meinen Eltern, dann hast du für eine Weile deine Ruhe. Wir grillen heute Abend. Deswegen bin ich nämlich auch gekommen. Meine Eltern haben dich eingeladen. Ich hol dich gegen sechs Uhr ab.«

Daniel schluckte. »Connor ...«

»Nein«, wehrte der kopfschüttelnd ab. »Sag nicht gleich ab. Wir sind nur zu viert und mich und Grandma kennst du ja schon. Versuch es einfach. Gehen kannst du immer noch.«

 

 

4. Kapitel

 

 

 

 

Ein Grillabend, auch Barbecue genannt, obwohl die Bezeichnung nicht korrekt war, wenn man es ganz genau nahm.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739310374
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Drama schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Thriller, Romanzen und Fantasy. Weitere Informationen zu meinen Büchern und aktuelle News zu Veröffentlichungen findet ihr auf meiner Autorenseite.
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Titel: Liebe ist jenseits von Gut und Böse