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Blind ist der, der nicht lieben will

von Mathilda Grace (Autor:in)
220 Seiten
Reihe: Die Ostküsten-Reihe, Band 2

Zusammenfassung

Nick Kendall ist ein erfahrener Anwalt, der glaubt, aufgrund seines Berufes eine gute Menschenkenntnis zu besitzen. Aber seit einiger Zeit versteht Nick, obwohl er mit seiner Anfang des Jahres gegründeten Anwaltskanzlei eigentlich schon genug zu tun hat, nur noch Bahnhof, wenn es um seinen besten Freund Tristan Bennett geht, denn der benimmt sich nicht nur ihm gegenüber äußerst merkwürdig.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

 

 

 

 

Er würde zu spät kommen.

Was leider nichts Neues war, in letzter Zeit kam er ständig zu spät, egal worum es ging. Nick stöhnte genervt, während seine Finger ungeduldig auf das Lenkrad trommelten und er darauf wartete, dass die Ampel auf grün sprang. Dabei war es heute nicht mal seine Schuld. Was konnte er für einen Auffahrunfall direkt vor dem Gerichtsgebäude? Nichts. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass der betrunkene Autofahrer eingeklemmt gewesen war und von der Feuerwehr mit Großgerät aus seinem Wagen hatte befreit werden müssen.

Der Verkehr rund um das Gericht war dadurch völlig zum Erliegen gekommen. Und das mitten im täglichen Wahnsinn der Rush Hour und ausgerechnet heute, wo er verabredet war. Nick konnte von Glück reden, wenn ihn der finstere Blick seiner Sekretärin Linda nicht gleich an der Tür seiner Kanzlei zu Boden streckte. Den Blick seiner Verabredung, der entweder geduldig auf ihn wartete oder bereits wutentbrannt gegangen war, wollte er sich im Augenblick lieber gar nicht genauer vorstellen. Das hätte vermutlich einen weiteren Stau durch einen Autounfall ausgelöst, mit ihm als Opfer im Wagen.

Als er eine halbe Stunde später endlich an seiner Kanzlei eintraf, waren das Vorzimmer sowie sein Büro hell erleuchtet. Nick nahm seine Tasche, verschloss sein Auto und atmete einmal tief durch, bevor er ins Haus trat. Jetzt erwartete ihn ein Donnerwetter. Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Im Vorzimmer saß seine Sekretärin an ihrem Schreibtisch und sah auf, als er eintrat. Nick ließ ihr keine Gelegenheit, zu ihrem tadelnden Blick die passenden Worte zu finden. »Linda, meine treue Seele. Immer da, wenn ich Sie brauche. Ich könnte Sie küssen. Ist er noch da?« Statt zu antworten, schüttelte Linda den Kopf, was weit besser wirkte, als jeder ausgesprochener Tadel es hätte tun können. Nick räusperte sich verlegen. »Ich stand im Stau. Da war ein Unfall ...«

»Vor dem Gericht, ich weiß. Es kam schon in den Nachrichten. Und das ist Ihr Glück, Mister Kendall«, erklärte Linda rigoros und deutete mit dem Kopf in Richtung seines Büros. »Er wartet seit einer Stunde auf Sie. Neben einem Stapel neuer Fälle, die der Staatsanwalt Ihnen zugeschickt hat.«

»Heute?« Nick stöhnte frustriert auf. »Lassen Sie mich raten. Er will bis möglichst gestern Bescheid wissen.« Er bekam keine Antwort, was in dem Fall auch eine war. »Na toll.« Nick fuhr sich durch die Haare. Damit war die geplante Clubtour gestorben.

Linda räusperte sich, während sie sich ihrem Computer zuwandte. »Das war noch nicht alles, denn wenn ich richtig mitgezählt habe, dürfte ...« In dem Moment klingelte das Telefon. »Pünktlich auf die Minute. Nehmen Sie das Gespräch an, Mister Kendall, sonst kündige ich auf der Stelle.«

»Bloß nicht.« Nick schauderte allein bei dem Gedanken. »Wer ist es denn?« Linda schenkte ihm ein schadenfrohes Lächeln, was ihn erneut stöhnen ließ. »Oh nein.«

Keine zehn Minuten später verdrehte Nick theatralisch die Augen, während das Gezeter seiner Mandantin weiterhin sein Ohr strapazierte. Streitereien unter Nachbarn waren lästig und nervend, aber vor allem waren sie zeitaufwendig. Zeit, die er viel lieber bei seinen Freunden verbracht hätte, aber nein, seit er sich vor sechs Monaten mit einem eigenen Büro und seiner Sekretärin Linda, die in ihrem Beruf ein Ass war und auf über dreißig Jahre Berufserfahrung zurückgreifen konnte, selbstständig gemacht hatte, blieb ihm für derartige Vergnügungen kaum noch Zeit.

Sehr zum Verdruss seines besten Freundes Tristan, der gerade damit beschäftigt war, ihm gegenüber auf seinem Besucherstuhl eine bequemere Sitzposition zu finden, während er ihm nebenbei finstere Blicke zuwarf.

»Nein, Misses Murphy. Sie können Ihre Nachbarin nicht verklagen, weil sie im Bikini ihre Blumen gießt ... Nein, es gibt kein Gesetz, das von ihr verlangt, dabei einen Bademantel zu tragen. Dass ihre Figur mit achtundfünfzig Jahren nicht mehr die Straffeste ist, ist dabei völlig unerheblich.«

Nick wusste nicht, ob er sich selbst eine Runde leidtun oder sich lieber bei Tristan entschuldigen sollte, denn der Aktenberg auf seinem Tisch war zu hoch, als dass er ihn ignorieren konnte. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als ihre seit drei Wochen geplante Clubtour für heute Abend ins Wasser fallen zu lassen. Es war nicht die erste. Und mittlerweile nahm Tristan das Ganze nicht mehr mit Humor.

»Nein, Misses Murphy, ich kann auch keine einstweilige Verfügung  erwirken. Einen schlechten Geschmack zu haben, ist in diesem Land kein Verbrechen«, erklärte Nick ihr zum gefühlten tausendsten Mal, da er diese Art Gespräch nicht zum ersten Mal führte und die alte Lady mit Sicherheit nur ein paar Tage brauchen würde, um etwas Neues zu finden, mit dem sie ihn belästigen konnte. »Ja, Sie können mich jederzeit wieder anrufen. Auf Wiederhören.«

Nachdem das Tuten in der Leitung bewies, dass aufgelegt worden war, ließ Nick den Hörer geräuschvoll auf die Gabel fallen, atmete erleichtert ein und vergrub danach den Kopf in seinen Händen. In seiner alten Kanzlei hatte er solche Anrufe immer an die Neulinge abgeben können, jetzt musste er allein damit fertig werden. Normalerweise war das kein großes Problem für ihn, aber durch die Vorbereitung seines ersten eigenen Prozesses, saß er seit Wochen bis tief in die Nacht im Büro und war dementsprechend müde. Und dank der neuen Akten würde er auch heute nicht vor Mitternacht nach Hause kommen, denn morgen früh stand in seinem aktuellen Fall der erste Verhandlungstag vor Gericht an. Danach folgte ein Termin im Gefängnis mit seinem Mandanten und nachmittags war er mit dem Staatsanwalt verabredet.

Wie Nick es auch drehte und wendete, er musste seine Verabredung, mit Tristan zu Ians Pub zu gehen, verschieben, was neuen Ärger nach sich ziehen würde, denn Ian, der alte Vietnamveteran, der den Laden führte, hatte sich bereits vor Wochen bei ihm darüber beschwert, dass er ihn kaum noch zu Gesicht bekam. Aber er konnte es nicht ändern und deswegen schwieg Nick. Wie so oft in letzter Zeit, wenn ihm kein gutes Argument für eine Absage einfiel. Ganz zu schweigen davon, dass Tristan seine Worte ohnehin als Ausrede deklarieren und abschmettern würde.

»Soll ich dein Schweigen als Entschuldigung betrachten, dass du unsere Verabredung bei Ian zum vierten Mal in Folge sausen lässt?«

Ja, Tristan war genauso sauer, wie sein Gesichtsausdruck es ihn zuvor schon hatte ahnen lassen. Die Zeichen standen auf Sturm und Nick seufzte leise. Er wollte sich nicht schon wieder mit Tristan streiten. Seit er seine Kanzlei eröffnet hatte, stritten sie für seinen Geschmack viel zu viel. Nick wusste, dass es seine Schuld war und irgendwie konnte er Tristan ja auch verstehen, aber er erstickte derzeit einfach in Arbeit. Außerdem wollte er diese Kanzlei, aber vor allem wollte Nick mit ihr erfolgreich werden. Das konnte er allerdings nicht, wenn er an den Abenden ständig durch die hiesigen Clubs zog, wie er es noch vor weniger als einem Jahr mit Begeisterung getan hatte.

Nick musste Prioritäten setzen und im Augenblick lagen die eindeutig nicht bei seinem Privatleben. Wenn er genauer darüber nachdachte, hatte er nicht mal mehr eines. Jämmerlich, aber nicht zu ändern. Wieso konnte Tristan ihn nicht wenigstens ein bisschen verstehen? Er hatte doch selbst genug zu tun. Warum war es bei seinem Freund in Ordnung, wenn der eine Verabredung sausen ließ, während er überall nur noch als der große böse Wolf dastand?

Kopfschüttelnd schob Nick seinen letzten Gedanken beiseite. Er führte sich auf wie ein schmollendes Kleinkind und das war wirklich erbärmlich. Er hatte heute keine Zeit, um auszugehen, basta. Ob Tristan das gefiel, oder wohl eher nicht gefiel, ändern konnte er es ohnehin nicht.

»Es tut ...«

»Sag es nicht!«, fuhr Tristan ihm über den Mund und im nächsten Moment verkündeten energische Schritte, dass Connors Bruder aufgestanden war und zu Tür lief. »Ich habe keine Zeit, ich muss arbeiten«, äffte Tristan seine eigenen Worte abfällig nach, woraufhin Nick das Gesicht verzog. »Ich kann es nicht mehr hören, Nick. Solltest du irgendwann in diesem Jahr ein oder zwei Stunden deiner ach so kostbaren Zeit für deinen angeblich besten Freund erübrigen können, ruf mich an.«

Das war beleidigend und es tat weh. Sehr sogar. Nick sah auf. »Tris ... Bitte. Dieser Fall ist wichtig für mich.«

Tristan schnaubte nur und riss die Tür auf. Die Hand an der Klinke drehte er sich um und sah ihn enttäuscht an. »Jeder Fall ist dir seit Monaten wichtiger als deine Freunde. Aber das solltest du besser Daniel und Connor erklären, die bei Ian auf uns warten. Happy Birthday, du Vollidiot.«

Das Zuknallen der Bürotür riss Nick aus seinem Entsetzen und im nächsten Moment bemerkte er ein in silbernes Papier gewickeltes Päckchen, dekoriert mit dunkelblauem, gekräuselten Geschenkband, das auf dem zweiten Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch lag.

Das war jetzt nicht wahr. Er hatte nicht wirklich seinen eigenen Geburtstag vergessen, oder?

Nicks Blick fiel auf den großen Kalender an der Wand gegenüber, in dem der heutige Montag, der 14. Juni 2010, mit roten Tinte dick umrandet war. So ein verdammter Mist. Er hatte seinen Geburtstag tatsächlich vergessen und als wäre das nicht schon schlimm genug, konnte er Tristans Ärger auf ihn plötzlich noch viel mehr nachempfinden, denn die Clubtour zu Ian war offensichtlich eine heimlich geplante Geburtstagsfeier für ihn. Welchen Grund sollten Daniel und Connor sonst haben, spontan in die Stadt zu kommen?

Diese Überraschung hatte er Tristan gerade gründlich verdorben und das würde er auch mit einer Entschuldigung nicht so einfach wieder gutmachen können. Frustriert und wütend auf sich selbst, ließ Nick seinen Kopf laut stöhnend auf die polierte Tischplatte sinken und schlug dann mit der rechten Faust neben seinem Kopf auf das Holz.

»Scheiße!«

 

 

1. Kapitel

 

 

 

 

Nick ignorierte das einsetzende Telefonklingeln, bis Linda an den Apparat ging. Er hörte sie kurz reden und anscheinend war der Anrufer wichtig oder wenigstens energisch genug, um ihn in seinem Elend zu stören, wenn er ihre leisen Schritte richtig deutete, die wenig später auf seinen Schreibtisch zukamen.

»Will ich es wissen?«, fragte er gedämpft, weil er mit dem Gesicht immer noch auf der Tischplatte lag.

»Staatsanwalt Quinlan, Mister Kendall.«

Na wunderbar, dachte Nick sarkastisch. Adrian Quinlan, der Oberstaatsanwalt von Baltimore, hatte ihm zu seinem Glück heute noch gefehlt. »Danke, Linda.« Etwas raschelte vor ihm und Nick hob den Kopf, um direkt auf ein Päckchen zu schauen, eingewickelt in gelbes Geschenkpapier. Er seufzte. »Linda, Sie sollten mir lieber eins mit der Pfanne überbraten, statt mir etwas zum Geburtstag zu schenken.« Ihre Antwort bestand aus ihrer flachen Hand, mit der sie ihm tadelnd auf den Hinterkopf schlug. »Aua.«

»Das geschieht Ihnen recht, Mister Kendall«, erklärte seine Sekretärin rigoros und strich ihm dann sanft durch die Haare. »Ich hätte Ihnen gleich gratulieren sollen, hm?«

Nick grinste schief. »Er wäre trotzdem sauer.«

»Wohl wahr«, stimmte Linda zu und bedachte ihn anschließen mit einem Kopfschütteln. »Sie wissen, was Sie jetzt zu tun haben?«

»Vor Tristan auf Knien rutschen und hoffen, dass er Gnade walten lässt?«, stellte Nick mit Grabesstimme eine Gegenfrage, was seine Sekretärin leise lachen ließ.

»Ja. Aber vorher reden Sie noch mit dem Staatsanwalt.«

»Welche Leitung?«, fragte er und nickte, als Linda schlicht ihren Daumen hochhielt. »Danke. Wollen Sie nicht schon Feierabend machen? Ich schließe dann ab.«

Ihr Blick wurde streng. »Nur wenn Sie versprechen, heute nicht die halbe Nacht hier zu sitzen. Es ist Ihr Geburtstag.«

»Ich versuche es«, meinte Nick, obwohl sie beide wussten, dass diese Bitte ein Wunschtraum war.

Seine Sekretärin seufzte. »Sie sind unverbesserlich.«

»Und Sie sind ein echter Schatz«, konterte Nick, was Linda schmunzeln ließ.

»Charmeur. Bis morgen, Mister Kendall.«

Nick grinste und wartete, bis das Klappen der Tür im Flur ihm anzeigte, dass Linda das Büro verlassen hatte, bevor er ans Telefon ging. »Hallo Adrian.«

Schweigen.

Nick konnte beinahe sehen, wie jetzt eine Augenbraue gen Haaransatz wanderte. »Was hast du angestellt?«, kam dann die unvermeidliche Frage, denn Adrian hielt sich nie mit langen Vorreden auf.

Nick lehnte sich zurück. »Meinen Geburtstag vergessen, was die für mich geplante Überraschungsparty von Freunden und meiner Familie ziemlich torpediert hat.«

»Du machst nie halbe Sachen, nicht wahr, Nick? Wenn ein Fehler, dann auch gleich so richtig in die Vollen.«

»Danke für diese wertvolle Information, Herr Anwalt. Es wäre mir glatt entgangen«, zischte Nick und wusste nicht, über wen er sich gerade mehr ärgerte. Sich selbst oder Adrian. »Ach, lass mich doch in Frieden.«

Adrian seufzte am anderen Ende, bevor er befahl: »Schließ die Kanzlei ab und komm in dein Apartment!«

»Ich kann nicht«, wehrte Nick mit finsterem Blick auf seinen übervollen Schreibtisch ab. »Falls du es vergessen haben solltest, auf meinem Tisch liegt ein Stapel Akten aus deinem Büro, der bis möglichst letzte Woche bearbeitet werden will.«

»Und diese Akten werden morgen auch noch daliegen«, erklärte Adrian völlig unbeeindruckt, was Nick dazu brachte, erneut mit der Faust auf den Tisch zu schlagen.

»Bist du taub? Ich sagte ...«

»Du hast dreißig Minuten, Nick!«

Adrian legte auf, bevor er darauf reagieren konnte. Wutentbrannt starrte Nick den Hörer ein paar Sekunden lang an, dann knallte er ihn auf die Gabel und stand auf, um sein Jackett anzuziehen. Sauer oder nicht, Adrian Quinlan warten zu lassen, war niemals eine gute Idee, und deswegen stieg Nick kurz darauf in seinen Wagen und machte sich auf den Heimweg.

 

»Du wirst dir eine gute Entschuldigung wegen dieser Party einfallen lassen müssen«, meinte Adrian einige Stunden später und griff nach seinem Duschgel, das in der Ablage hinter ihm stand, um sich ein wenig davon auf die Hand zu geben.

Nick sah ihm schweigend zu, ließ derweil heißes Wasser auf seine verspannten Schultern prasseln und wünschte sich eine Massage. Ihm tat alles weh und das kam nicht von dem Sex, den er und Adrian bis vor ein paar Minuten gehabt hatten. Er verbrachte eindeutig zu viel Zeit damit, sich seinen Hintern auf dem Bürostuhl platt zu sitzen. Tristan hatte recht mit seinem Vorwurf, Nick wusste nur nicht, wie er das in den nächsten Wochen ändern sollte. Woher sich die Zeit nehmen, wenn sie nicht stehlen?

»Adrian? Als du damals deine Kanzlei eröffnet hast, dauerte es wie lange, bis du dir das erste Mal Urlaub nehmen konntest?«

Adrian hörte auf sich einzuseifen und sah ihn eine Weile forschend an, bevor er fragte: »Was willst du mir gerade durch die Blume mitteilen?«

Nick seufzte. »Gar nichts. Es war nur eine Frage.« Ein leises Lachen war die Antwort, die er erhielt, und die ihn innerlich fluchen ließ. Adrian kannte ihn einfach zu gut. »Ich habe in der letzten Zeit zu viele Verabredungen sausen lassen und ich will von dir wissen, wie lange ich meine Freunde vor den Kopf stoßen muss, bis das wieder besser wird.«

Adrian zuckte lässig die Schultern. »Du solltest dich schon mal an den Gedanken gewöhnen, dass du am Ende diesen Jahres vermutlich ein paar Freunde weniger hast.«

»Du bist ein Arschloch.«

Nick drängte sich an Adrian vorbei und verließ die Dusche, um wütend nach einem Badetuch zu greifen, das er sich um die Hüfte schlang, ehe er das Badezimmer verließ und in sein Schlafzimmer stürmte. Er hatte geahnt, dass Adrian ihm so etwas in der Art an den Kopf werfen würde und im Augenblick verfluchte er ihn für die Ehrlichkeit, die er sonst immer schätzte. Nick wollte keinen Preis dafür bezahlen müssen, nur weil er eine eigene Anwaltskanzlei eröffnet hatte. Und er wollte schon gar nicht Tristan verlieren. Auf sich selbst, Adrian, Tristan und irgendwie auch auf den Rest der Welt wütend, pfefferte Nick sein Badetuch in die nächste Ecke und nahm sich frische Sachen aus dem Schrank.

»Wenn dir eine Lüge lieber gewesen wäre, hättest du es mir vorher sagen müssen.«

Nick schnaubte zwar, drehte sich aber nicht zu Adrian um. Es gab nichts zu sagen und einen Streit wollte er auch nicht anfangen. Da war Schweigen die angenehmere Alternative. Allerdings kannte er im Gegenzug Adrian ebenfalls gut genug, um zu wissen, dass dieser ihn damit nie und nimmer durchkommen lassen würde, was seine nächsten Worte auch deutlich bewiesen.

»Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«

»Nein«, murrte er beleidigt und trat ans Fenster. »Ich habe keine Lust, mich schon wieder zu streiten, denn darauf wird es hinauslaufen. Lass mich in Ruhe, Adrian.«

»Willst du, dass ich gehe?«

Nick ließ leise seufzend den Kopf hängen. Nein, das wollte er nun auch wieder nicht, denn im Moment war Adrian wirklich der einzige, der einem Freund noch am nächsten kam und der nicht sauer auf ihn war. Und Adrian spürte wie immer genau, was in ihm vorging. Nick ließ zu, dass er von hinten umarmt und an einen warmen Körper gezogen wurde. So standen sie eine Zeit lang eng beieinander und Adrians Anwesenheit beruhigte ihn, wie sie es seit vielen Jahren tat.

»Du bist ein verdammt guter Anwalt, Nick, und du kannst es sehr weit bringen, das Zeug dazu hast du. Ich frage mich allerdings, ob es wirklich das ist, was du für dich und deine Zukunft willst.«

»Ich habe die Kanzlei, oder nicht?« Nick war durchaus klar, dass er sich anhörte wie ein schmollendes Kind, aber er konnte sich nicht zurückhalten. »Wie sicher kann ich wohl sein?«

Adrian lachte, ehe er ihm ins Ohrläppchen biss und danach trocken erklärte: »Nur weil man etwas getan hat, bedeutet das noch lange nicht, dass man auch davon überzeugt ist.«

 

Nick hasste es, sich entschuldigen zu müssen. Ganz besonders, wenn er wirklich Mist gebaut hatte, so wie in diesem Fall, und mit leichter Vergebung nicht zu rechnen war. Tristan Bennett war so ein Fall und er hatte ganz offensichtlich nicht vor, ihm zu vergeben. Weder heute noch in eintausend Jahren. Seit einer Woche ignorierte Tristan bereits seine Anrufe und Mails, und gestern Nachmittag hatte sich der Sturkopf sogar im Theater verleugnen lassen, als er unangemeldet da aufgetaucht war, um diese Sache zwischen ihnen aus der Welt zu schaffen.

Tristan, seit zehn Jahren sein allerbester Freund, konnte unglaublich dickköpfig sein, wenn ihm etwas nicht in den Kram passte oder er verärgert war, und langsam aber sicher gingen Nick die Ideen aus. Wie sollte er sich denn bei diesem unmöglichen Kerl entschuldigen, wenn der jedem Gesprächsversuch aus dem Weg ging? Einfangen und Fesseln wäre eine Möglichkeit. Dann könnte er zumindest nicht mehr vor ihm flüchten. Allerdings kannte Nick Tristan gut genug, um zu wissen, dass der sich dafür rächen würde. Und das ließ ihn von der zugegebenermaßen verlockenden Idee Abstand nehmen, seiner eigenen Gesundheit zuliebe.

Tristans Familie würde ihm für einen dermaßen dämlichen Plan nämlich die Hölle heißmachen. Allen voran Daniel Hanson, der mit den Worten 'einfangen' und 'fesseln' so einige Probleme hatte, seit ein perverses Pärchen ihn vor ein paar Jahren einen Monat lang als Sexsklave in ihrem Club gefangengehalten und immer wieder an genauso perverse Kunden verkauft hatte. Es kam ihm heute noch wie ein Wunder vor, dass Daniel trotzdem den Schritt gewagt und mit Connor ein neues Leben begonnen hatte. Mit dem wollte Nick sich übrigens auch nicht anlegen. Tristans jüngerer Bruder war zwar, dank des Erbes seiner Eltern, der liebevollste und geduldigste Mann, den er je kennengelernt hatte, aber wenn man ihn reizte, was passieren würde, sollte er sich in irgendeiner Form an Tristan vergreifen, war es besser, sehr weit weg zu sein, sobald Connor davon erfuhr. Die Bennetts hielten zusammen und sie waren allesamt echte Sturköpfe.

Womit Nick wieder bei seinem derzeitigen Problem angekommen war. Nein, er musste die Sache anders angehen. Und das möglichst bald, denn sein schlechtes Gewissen wuchs von Tag zu Tag, was ihn immer mehr ablenkte und das hatte ihn gestern Nachmittag vor Gericht in eine äußerst peinliche Situation gebracht, als er, komplett in Gedanken versunken, seinen Einsatz verpasste. Gott sei Dank hatte ihm Adrian, der zuständige Staatsanwalt in diesem Fall, unter die Arme gegriffen. Geholfen hatte es nicht, denn auch die spätere Nachbesprechung mit seinem Mandanten, der des Überfalls und der schweren Körperverletzung genauso schuldig war wie Gary Ridgway des Massenmordes, hatte Nick nur mit Ach und Krach über die Bühne gebracht. Adrians späterer Besuch in seinem Apartment, um ihm für seinen stümperhaften Auftritt im Gericht den Kopf zu waschen, war dann der nächste Tropfen in einem bis zum Rand gefüllten Fass gewesen. Dabei hatten sie vor einer Woche noch ganz andere Sachen in seinem Apartment getan, als sich anzubrüllen. War dieser Abend wirklich schon sieben Tage her? Wo blieb eigentlich die Zeit?

Nick schüttelte den Kopf. Er musste dringend sein Privatleben auf die Reihe bekommen, sonst würde er mit seinem ersten großen Fall als Strafverteidiger sang und klanglos untergehen. Und dann hätte er keine Verwendung mehr für Tristans Geburtstagsgeschenk. Nick musste unwillkürlich lächeln, als er sich daran erinnerte, wie er das Päckchen nach dem wütendem Abgang von Tristan zwei Tage lang angestarrt hatte, bevor er endlich den Mut fand es zu öffnen, um danach seinen Kopf erneut auf die Tischplatte zu schlagen. Seit Monaten hatte er für die Kanzlei Visitenkarten drucken lassen wollen, war aber nie dazu gekommen. Jetzt hatte er welche, inklusive einem wirklich wunderschönen gefertigten Etui aus Silber. Wie oft hatte er sich bei Tristan darüber beschwert, dass er für diesen ganzen Kleinkram, wie er es nannte, keine Zeit fand. Tristan war ein sehr guter Zuhörer, das bewies sein Geburtstagsgeschenk. Er selbst hingegen war ein verdammt schlechter Freund.

Womit er ebenfalls wieder beim Thema war. Beide Hände tief in den Taschen seines Jacketts vergraben, seufzte Nick leise und sah kurz auf, als vor ihm auf der Straße mehrmals gehupt wurde. Warum standen in Baltimore sogar mitten in der Nacht die Ampeln ständig auf rot? Wobei mitten in der Nacht ein wenig übertrieben klang, wenn man bedachte, dass es gerade erst elf Uhr abends war. Aber unterhalb der Woche wurden in einigen Ecken der Stadt ab acht Uhr die Bürgersteige hochgeklappt und Ians schummriger Pub, den er auf direktem Wege ansteuerte, lag in so einer Ecke.

Vielleicht freute sich der alte Vietnamveteran, ihn nach einiger Zeit der Abstinenz wieder bei sich zu haben. Es war einen Versuch wert, und wenn er großes Glück hatte, bekam er bei Ian nicht nur dessen freundliches Gesicht zu sehen, sondern auch noch ein paar Whisky und ein gutes Essen vor die Nase gestellt. Nick wollte sich heute Abend entspannen. Seine Fälle, die Akten auf dem Tisch und die damit verbundene Arbeit, aber vor allem seinen Streit mit Tristan, wenigstens für ein paar Stunden vergessen.

Hoffentlich gelang es ihm, denn sein Magen knurrte seit einer gefühlten Ewigkeit, seine Laune war jenseits von Gut und Böse und morgen musste er um Punkt neun Uhr bei Adrian im Büro antanzen, um den weiteren Verlauf seines aktuellen Falls zu besprechen.

Er hatte weder auf Adrian noch auf eine todlangweilige Besprechung Lust, deren Ausgang ohnehin vorbestimmt war, da sein Mandant schuldig war. Aber Staatsanwalt Quinlan gehörte nun mal nicht zu der Sorte Mann, die eine Absage klaglos akzeptierten. Besonders nicht, wenn sie von ihm kam, wobei Nick die Worte »Leck mich am Arsch!« in dem Fall weitaus lieber gewesen wären. Da bei Adrian allerdings die Gefahr bestand, dass der so eine Aufforderung wörtlich nahm, hatte er sich die beleidigende Äußerung verkniffen und stattdessen mit einem Nicken sein Kommen zugesagt. Eine andere Reaktion hätte Adrian ihm mit sehr großer Wahrscheinlichkeit heimgezahlt.

Was Rachsucht anging, konnte sich Staatsanwalt Quinlan mit Sturkopf Bennett die Hand reichen, nur dass sie ihre Rache auf unterschiedlichen Ebenen vollführten. So unterschiedlich wie Tag und Nacht, um genau zu sein. Aber Nick hatte nicht vor, Tristan zu erzählen, welche Art von Beziehung ihn mit Adrian Quinlan verband. Manche Dinge gingen auch den besten Freund nichts an.

Mit den Gedanken bei Tristan, zog Nick die Tür vom Pub auf und tauchte in das schummrige Licht ein, welches den Laden beherrschte, seit Ian ihn vor zwanzig Jahren eröffnet hatte. Ians Pub war klein, vollgestopft mit allem möglichen und unmöglichen Kram, den sein Besitzer mit Begeisterung sammelte, und trotzdem war er gemütlich. Deshalb kam Nick seit vielen Jahren hierher. An diesem Ort konnte man sich zu jeder Tages- und Nachtzeit wohlfühlen und bekam oftmals noch einen Rat fürs Leben mit auf den Weg, wenn man den Pub verließ.

Ian hatte in Vietnam zwar ein Bein verloren, dafür aber einen schier unerschöpflichen Vorrat an Weisheiten für sich gewonnen, und die teilte er gern.

Nick ließ die Stimmen der Gäste und den Geruch von Zigarren und Essen auf sich wirken, ehe er die Tür hinter sich zuzog, um sich einen Platz an der Bar zu suchen. Der Tresen begann direkt zu seiner Linken und zog sich durch den ganzen Pub, während rechts von ihm Tische, auf denen je ein Windlicht stand, den restlichen Raum ausfüllten. Zwischen ihnen war gerade so viel Platz, dass Ians Bedienungen mit vollen Tabletts und schwingenden Hüften die Tische erreichen konnten. Irgendwo weiter hinten, neben der Tür zu den Toiletten, stand eine alte Musikbox, die eigentlich immer in Betrieb war. Nick konnte sich zumindest nicht daran erinnern, dass in Ians Pub einmal keine Musik gespielt hatte.

Nachdem er sich auf einen Barhocker geschwungen hatte, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen und entdeckte Ian ein Stück weiter hinten in ein angeregtes Gespräch mit einem der Gäste vertieft. »Hey, Soldat. Bekommt man hier etwas zu trinken oder muss ich mich selbst bedienen?«

Verhaltenes Gelächter folgte seinen Worten, während Ian herumfuhr und ihn einen Moment überrascht anschaute, bevor er mit einer für sein Alter erstaunlichen Behändigkeit auf ihn zukam, um ihn vom Hocker zu reißen und in einer so heftigen Umarmung zu versenken, dass Nick nach Luft schnappte.

»Ich glaub's ja nicht. Der verlorene Paragraphenreiter kehrt in meine bescheidene Hütte zurück. Dass ich das noch erleben darf.«

Nick musste lachen. Genau so hatte er sich das vorgestellt. »Hey Ian. Schön, dich zu sehen.«

»Pah«, brummte der und schob ihn ein Stück von sich, um ihn anschauen zu können. »Schläfst du mittlerweile in deinem Büro oder warum siehst du so Scheiße aus? Tristan hatte offenbar recht, als er mir erzählte, dass es bei dir drunter und drüber geht.«

»Tut es definitiv«, stimmte Nick ihm zu und sah den alten Mann näher an. Ians schlohweißes Haar war mittlerweile genauso lang wie sein Bart, den er mit derselben Begeisterung trug, wie er seinen Krimskrams sammelte. An Kraft schien er jedoch nichts eingebüßt zu haben. »Irgendwann brichst du mir noch mal die Rippen.«

»Jammerlapper«, neckte Ian ihn gutmütig, bevor er ihn losließ. »Was führt dich her, Junge?«

»Deine Gesellschaft?«, stellte Nick grinsend eine Gegenfrage und wurde mit dafür mit herzhaftem Gelächter belohnt. Als Ian sich wieder beruhigt hatte, sah Nick verstohlen in den hinteren Bereich des Pubs, wo eine kleine Küche zu finden war. »Habe ich Glück und in deiner Küche ist ein Herd an?«

Ian nickte verstehend. »Du hast Glück, Anwalt. Setz dich. Willst du was trinken?«

»Whisky?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Auf leeren Magen?« Ian sah ihn entrüstet an. »Vergiss es und setz dich endlich. Zuerst gibt es etwas zwischen die Zähne, danach kannst du meinetwegen auch was trinken.«

Er nickte und sah Ian schweigend nach, wie der Richtung Küche verschwand, bevor er den Barhocker wieder in Beschlag nahm, um im nächsten Moment zu erstarren, als er durch den großen Spiegel an der Wand über der Bar im hinteren Teil des Pubs Tristan entdeckte, der ihn mit einem sehr wütenden Blick bedachte, ehe er sich demonstrativ wieder seinen zwei Kollegen aus dem Theater zuwandte, die mit ihm am Tisch saßen.

Adieu ruhiger Abend.

Nick rutschte vom Barhocker und ging zu Tristan hinüber. »Tristan?«

»Was willst du hier?«, fragte der und sah ihn kalt an. »Hast du nicht mindestens eine Million Akten auf deinem Tisch liegen, die dringend bearbeitet werden müssen?«

Nein, Tristans Laune hatte sich nicht im Geringsten gebessert und dass der Raum voller Menschen war, die sich ihnen nun neugierig zuwandten, um ihr Gespräch zu belauschen, da Tristan seine Frage nicht gerade leise gestellt hatte, schien ihm völlig egal zu sein.

Nick war es das allerdings nicht. »Können wir irgendwo hingehen und reden?«, fragte er leise.

Tristans Blick war genauso ablehnend wie seine folgende Antwort. »Wozu? Ich habe gesagt, was ich sagen wollte.«

Nick verdrehte genervt die Augen und verfluchte sich im nächsten Augenblick dafür. Mit Ungeduld würde er bei Tristan nicht weiterkommen, dafür war der zuständig. »Du kannst mich nicht ewig ignorieren.«

»Kann ich wohl«, hielt Tristan dagegen und stand auf, um seine Jacke von der Stuhllehne zu nehmen. Nick wusste, was das bedeutete und versuchte dagegen anzukommen.

»Tristan, bitte ...«

»Was?«, fuhr Tristan ihm harsch ins Wort. »Es gab nur diese eine Party für dich, noch eine Überraschung kannst du mir also nicht verderben. Aber keine Sorge, in Zukunft richte ich keine mehr für dich aus, du Arsch.«

Nick stöhnte innerlich auf, als ihm bewusst wurde, dass er dieses Gespräch längst verloren hatte. »Es tut mir leid.«

»Wer es glaubt, wird selig«, zischte Tristan hämisch und Nick verlor die Geduld.

»Ich habe es einfach vergessen. Ich weiß selbst, dass das bescheuert war, okay? Du musst es mir nicht ständig wieder unter die Nase reiben.«

»Du bist ein dämlicher Egoist.« Tristan schob sich wutentbrannt an ihm vorbei. »Man vergisst seine Klamotten, wie ich es dauernd tue, verlegt ein Buch, seine Geldbörse, das Handy oder sonst etwas, aber man vergisst nicht den eigenen Geburtstag. Und man vergisst vor allem nicht seine Freunde.«

Tristan war manchmal so ekelhaft ehrlich, dass es wehtat. Aber es waren nicht die Worte direkt, die Nick noch wütender machten, sondern Tristans Stimme, die immer herablassender und trotziger wurde, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Miteinander streiten war okay, aber nicht auf diese miese Art und Weise. Ja, er hatte einen Fehler gemacht, einen großen sogar, aber wieso ritt Tristan so dermaßen darauf herum und blockte jeden Versuch einer Entschuldigung ab? Das war doch gar nicht seine Art. Nick verstand langsam aber sicher die Welt nicht mehr.

»Was ist in letzter Zeit bloß mit dir los?«, fragte er und folgte Tristan zur Tür. Als der schwieg, ergriff er ihn am Arm und riss ihn zu sich herum. »Verdammt, rede mit mir!«

»Lass mich sofort los!«, forderte Tristan und sah ihn mit einem so drohenden Blick an, dass Nick eine Gänsehaut bekam und einen Schritt zurückwich, nachdem er Tristans Arm freigegeben hatte. »Du verstehst es wirklich nicht, oder? Seit du deine Kanzlei eröffnet hast, gibt es nichts mehr für dich, außer der Arbeit. Du solltest endlich damit anfangen deine Prioritäten zu überdenken.«

»Was ist falsch daran, dass ich in meinem Beruf Karriere machen will? Ich rede dir schließlich auch nicht in deine Arbeit rein«, konterte Nick beleidigt, sammelte damit aber keine Pluspunkte.

»Zu welchem Preis denn? Dein Leben? Deine Familie? Deine Freunde?«, schrie Tristan ihn abrupt an, was das Gerede im Pub auf der Stelle verstummen ließ. Nick war viel zu verblüfft, um darauf antworten zu können, aber offenbar erwartete Tristan auch gar keine Antwort, denn im nächsten Moment schüttelte er den Kopf und zog seine Jacke über. »Du willst es einfach nicht verstehen.«

Tristan verließ den Pub, bevor er die Gelegenheit hatte, auf die letzte Äußerung zu reagieren. »Scheiße«, stöhnte Nick frustriert, als sich die Tür hinter seinem besten Freund schloss, und ließ sich auf einen Barhocker sinken. »Verdammter Dickschädel. Wie soll ich mich entschuldigen, wenn er mir ständig ausweicht und ich nicht weiß, was er überhaupt von mir will?«

Ian tauchte vor ihm auf und stellte einen mit Salat, Steak und einer riesigen Portion Pommes gefüllten Teller vor ihm ab. Daneben fand eine Tasse Platz, aus der es dampfte. Nick sog den Geruch ein und sah ungläubig zu Ian auf. »Tee?«

»Du siehst aus, als könntest du ihn brauchen«, antwortete Ian und gab ihm Besteck in die Hand. »Jetzt iss erst mal und denk dabei in Ruhe nach. Dann fällt dir bestimmt ein Weg ein, wie du den Dickschädel wieder für dich gewinnen kannst.«

»Ja, Dad«, murrte er, woraufhin Ian leise lachte.

»Du bist wirklich blind, Junge«, tadelte der alte Vietnamveteran ihn daraufhin amüsiert. »Aber das ist ja nichts Neues für mich. Versuch es mit einem Geschenk.«

»Geschenk?«, fragte Nick und wickelte das Besteck aus der mit großen Sonnenblumen gemusterten Serviette. Sein Magen knurrte angesichts des volles Tellers laut und drängend. »Sein Geburtstag war vor vier Monaten.«

»Und soweit ich weiß, warst du an dem Abend leider verhindert«, konterte Ian schonungslos.

»Danke, dass du mich daran erinnerst.« Nick ärgerte sich, weil Ian nun auch noch damit anfing, ihm für seine Fehler die Leviten zu lesen. »Ich konnte nicht, weil ...«

»Deine Ausreden kümmern mich nicht«, fuhr Ian ihm bestimmt ins Wort. »Tristan allerdings schon, sonst wäre der Junge nicht so wütend auf dich. Du hast seinen Geburtstag verpasst und in letzter Zeit mehrere Verabredungen platzen lassen, hat er erzählt. So verhält man sich nicht gegenüber Freunden, das weißt du. Dieses Mal wirst du definitiv mehr investieren müssen, als eine simple Entschuldigung.«

»Und was?«, wollte Nick beinahe schon verzweifelt wissen und sah Ian hilfesuchend an. »Du hast ihn doch gerade erlebt. Egal, was ich sage, es ist das Falsche.« Dann fiel ihm etwas ein. »Wieso hast du mir eigentlich nicht gesagt, dass er hier ist?«

»Bist du sein bester Freund, oder nicht?«, hielt Ian ihm vor und begann in aller Seelenruhe ein Bierglas auf Hochglanz zu polieren. »Ich habe nichts gesagt, weil es nicht meine Aufgabe ist, für euch Dummköpfe Kindermädchen zu spielen. Aber ich hoffe ernsthaft für dich, dass du nicht vergessen hast, wie sauer Tristan war, weil er für das Konzert seiner Lieblingsband im August keine Karten mehr bekommen hat.«

Nick blinzelte überrascht, dann begann er zu grinsen und legte das Besteck beiseite, um nach seinem Handy zu kramen. Es wurde ihm genauso rasch aus den Fingern gezogen, wie er es aus seiner Tasche geholt hatte. »Hey!«, beschwerte er sich in Ians Richtung, der das Handy daraufhin in seiner eigenen Hosentasche verschwinden ließ.

Ian ließ sein Protest völlig kalt. »Erst isst du. Wen immer du anrufen willst, der ist morgen auch noch da.«

»Aber ...«

»Willst du jetzt wirklich anfangen, mit mir zu diskutieren, mein Junge?«, unterbrach Ian ihn mit einem so durchdringenden Blick, dass Nick jeglicher Einspruch im Hals steckenblieb.

Als Anwalt wusste er, wann es besser war, die weiße Fahne zu hissen, und das hier war so ein Moment. Statt also eine Debatte anzufangen, wie er es sonst unter Garantie getan hätte, griff Nick schweigend nach dem Besteck und begann zu essen, was Ian mit einem zufriedenen Nicken kommentierte, bevor er sich abwandte, um einen anderen Gast zu bedienen.

Nick sah ihm kauend nach und schüttelte den Kopf. War er eigentlich nur noch von Sturköpfen umgeben?

 

 

2. Kapitel

 

 

 

 

Es dauerte zehn Tage und gefühlte einhundert Telefonanrufe, bis Nick endlich die Bestätigung dessen in den Händen hielt, was Ian ihm an jenem Abend im Pub praktisch auf dem Silbertablett serviert hatte. Nun brauchte er nur noch einen guten Plan, wie er Tristan das Ganze schmackhaft machen konnte. Und genau deswegen saß Nick gerade in seinem Dreizimmerapartment auf der Couch im Wohnzimmer und überlegte. Vor ihm auf dem Tisch lag ein dicker Umschlag, der erst vor etwas über einer Stunde in der Kanzlei eingetroffen war, woraufhin er sich spontan den restlichen Tag frei genommen hatte, um die Sache in Ruhe anzugehen.

Ein Brief musste her, soweit war Nick schon, doch was sollte er schreiben? Wenn er Tristans derzeitige Laune mit einbezog, war es vermutlich besser, sich so kurz wie möglich zu fassen, nur half ihm das bei der Wortwahl selbst nicht weiter. Seinen Schreibblock auf dem Schoß ablegend, betrachtete er erneut die beiden Konzerttickets und die dazugehörigen Flugtickets nach New York City für nächsten Monat. Das Hotel hatte er gleich dazu gebucht, aber nur noch ein Zimmer mit Doppelbett bekommen. Das war zurzeit allerdings seine geringste Sorge, denn Nick hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie Tristan reagieren würde, sobald er die Karten in seinen Händen hielt.

Trotzdem wollte er es versuchen. Diese Tickets waren hier und viel zu verlieren hatte er demnach nicht. Sollte Tristan sie ihm wieder zurückschicken, würde er sie bei Ebay versteigern, oder Connor und Daniel schenken.

Nach einem Schulterzucken, um sich selbst zu beweisen, dass er nicht so nervös war, wie er sich gerade fühlte, begann Nick zu schreiben. Einfach drauflos, was ihm gerade einfiel, und schnell war eine Blockseite voll mit Sätzen und Satzideen, die er dann zu überarbeiten begann. Er verwarf Formulierungen, schrieb Änderungen darunter oder dahinter und strich am Ende das meiste komplett, weil es sich laut vorgelesen anhörte, als würde er vor Gericht ein Plädoyer halten.

»Mist«, fluchte er nach einem Blick auf die Uhr, die ihm tatsächlich weismachen wollte, dass er seit zwei Stunden an dem Brief für Tristan arbeitete, und dabei nicht einen Schritt weiter gekommen war. Die unzähligen, gestrichenen Sätze in seinem Block waren der Beweis dafür.

Nick ließ sich frustriert in die Polster sinken. So würde er nie fertig werden. Es musste etwas geben, das er Tristan schreiben konnte, ohne dass der ihn dafür gleich wieder in der Luft zerriss. Obwohl, bei seinem momentanen Glück öffnete Tristan seinen Brief gar nicht, sondern schmiss ihn sofort in den Mülleimer. Bei der Vorstellung stöhnte Nick laut auf. Der Gedanke, dass Tristan den Brief von ihm wirklich ungeöffnet entsorgte und er dadurch die 1.300 Dollar, die ihn die Tickets, die Flüge und das Wochenende im Hotel gekostet hatten, in den Sand setzte, behagte ihm gar nicht.

Das Geld war ihm nicht wichtig, den Verlust konnte er verschmerzen. Aber die Idee mit dem Konzert, war die letzte in einer ganzen Sammlung von Möglichkeiten, die er in letzter Zeit durchgespielt hatte. Was sollte er tun, wenn es nicht funktionierte? Wenn er es sich durch seine eigene Dummheit diesmal so mit Tristan verscherzt hatte, dass es kein Zurück mehr gab, egal wie leid es ihm tat?

Das Klingeln seines Telefons riss Nick aus seinen Überlegungen. Nachdenklich und wütend zugleich griff er nach dem Hörer. »Was?«

»Störe ich?«

Die Stimme am anderen Ende sprach leise und auch etwas zögernd. Nick stöhnte innerlich auf, als er sie erkannte. »Nein, Daniel, du störst nicht. Ich habe im Moment nur nicht die allerbeste Laune.«

»Probleme bei deinem Fall?«, fragte Daniel und Nick überlegte kurz, ob er mit der Wahrheit herausrücken sollte oder ob es nicht besser war, wenn er Daniel und den Rest der Familie aus seinem Streit mit Tristan heraushielt. Er entschied sich für letzteres.

»Wie man es nimmt. Ich kriege es hin«, wich er aus.

»Ist Tristan immer noch sauer auf dich?«, machte Daniels nächste Frage seinen schönen Plan umgehend zunichte. Offenbar hatte der liebe Tristan bei seinem Bruder aus dem Nähkästchen geplaudert und der hatte es natürlich Daniel erzählt.

Toll. Ganz toll.

Nick verdrehte seufzend die Augen zur Decke. »So sauer, wie ein Sack voller Zitronen«, antwortete er frustriert und warf den Block samt Stift zu seinem restlichen Schreibkram auf den Couchtisch. »Er weicht mir ständig aus und wenn ich ihn zufällig doch irgendwo treffe, schreien wir uns an. Ich weiß nicht mehr weiter, Dan.«

Nick fuhr sich stöhnend durch die Haare. Das wurde immer lächerlicher. Jammerte er wirklich gerade Daniel die Ohren voll, weil er sich mit Tristan gestritten hatte? Wie tief wollte er in der nächsten Zeit eigentlich noch sinken? Nick schüttelte über sein kindisches Verhalten den Kopf, bis ihm dann auffiel, dass Daniel verdächtig ruhig war.

»Dan? Alles okay?«

Daniel räusperte sich bedeutsam. »Nick? Nimm es mir bitte nicht übel, aber du bist ein Idiot.«

»Wie bitte?« Nick wusste nicht, ob er wütend oder entsetzt sein sollte. So eine Aussage hätte er von Daniel niemals erwartet, und der war offenbar noch nicht fertig mit seinen Anschuldigungen.

»Meine Güte«, schimpfte Daniel am anderen Ende weiter und seine Verärgerung war für Nick förmlich mit den Händen greifbar. »Hast du unsere Telefonnummer vergessen oder warum war es dir nicht möglich, wenigstens mal anzurufen, wenn du uns schon auf deiner eigenen Party sitzenlässt?«

Nick erstarrte. Im nächsten Moment schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn und verfluchte sich selbst. Großer Gott, wie blöd konnte man eigentlich sein? Er hatte nicht daran gedacht. Es vergessen, genau wie seinen eigenen Geburtstag. »Es tut mir leid, Dan.«

Ein tiefes Seufzen am anderen Ende war Daniels Antwort, und Nick verzog das Gesicht. Wenn er so weitermachte, war Daniel der nächste, bei dem er mit einer Entschuldigung nicht mehr weit kommen würde. Hätte er es gekonnt, wäre er vor Scham im Boden versunken. Wieso nur war auf einmal alles so kompliziert? Wo war bloß sein leichtes Leben hin, bestehend aus Job, Partys, Tristan und den gelegentlichen Affären, die er, wann immer ihm danach gewesen war, in sein Bett, oder bei passender Gelegenheit auch schon mal in die dunkle Seitengasse hinter einem Club geschleppt hatte?

Das letzte Jahr, die ganze Aufregung um Daniel, der mittlerweile ein normales Leben führte, zumindest so normal wie möglich, hatte irgendetwas verändert und er kam einfach nicht dahinter, was es war.

»Nick, ich mag dich wirklich sehr gern«, unterbrach Daniel seine Überlegungen, »aber in den letzten Monaten hast du ein paar Dinge getan, die uns doch etwas verwundert haben. Ich weiß, wie wichtig dir die Kanzlei ist und ich wünsche dir, dass du in ein paar Jahren ein erfolgreicher Anwalt bist, aber tu mir bitte den Gefallen und vergiss uns darüber nicht. Wenn das so weitergeht, müssen wir uns bald ein Foto von dir an die Wand hängen, damit wir nicht vergessen wie du aussiehst.«

Das war deutlich. War er wirklich so lange nicht mehr bei Daniel und Connor, überhaupt bei den Bennetts, gewesen? Er rieb sich die Augen. »Dan, ich ...«

»Sei still, Nick, jetzt rede ich!«, fuhr der ihm allerdings unwirsch über den Mund und Nick schwieg, viel zu verblüfft, um reagieren zu können. »Weißt du eigentlich, wann wir uns zum letzten Mal gesehen haben? Weihnachten. Vor mehr als sechs Monaten.« Daniel schnaubte. »Was ist denn bloß bei euch los? Du vergräbst dich in der Kanzlei, Tristan spuckt Gift und Galle, und wir können hier nur Rätselraten spielen, da keiner von euch darüber reden will. Connor hat drei Stunden gebraucht, um aus seinem Bruder herauszukriegen, warum du nicht auf deiner Geburtstagsparty erschienen bist. Was, zur Hölle noch mal, geht bei dir und Tristan eigentlich ab?«

Scheiße! Scheiße! Scheiße!

Nick setzte sich auf, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Tristan hatte seiner Familie gar nichts Genaueres von ihrem Streit erzählt. Aber wieso? Normalerweise ging er immer zu Connor, wenn er ein Problem wälzte, warum nicht dieses Mal? Was war mit Tristan los, wenn er nicht mal mehr den Rat seiner Familie annahm? Stattdessen giftete er ihn an, aus gutem Grund, da machte er sich nichts vor, und ging jedem Treffen aus dem Weg. Nicks Misstrauen wuchs. Irgendetwas war hier definitiv faul.

Nick runzelte die Stirn, als ihm ein Gedanke kam. »Dan? Wann war Tris das letzte Mal bei euch?«

»Ach, wacht der Herr doch endlich mal auf?«, fragte Daniel schnippisch.

Nick verstand nur Bahnhof. »Was meinst du?«

»Das fragen wir uns bereits seit Monaten«, antwortete Daniel wütend und besorgt zugleich. »Tristan war das letzte Mal an seinem Geburtstag bei uns. Danach hörten wir wochenlang fast gar nichts von ihm, bis er anfing, die Überraschungsparty für dich zu planen. Du kannst dir Connors Begeisterung sicher vorstellen, als er ein Wochenende nach dem anderen absagte. Und dann taucht er an jenem Abend mit einer Mordslaune bei Ian auf, erklärt mit keinem Wort, wieso du nicht kommst, sondern betrinkt sich stattdessen, woraufhin Connor beinahe ausgeflippt ist. Würdest du mir bitte mal erklären, was das soll?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Nick ehrlich und sah auf die Tickets auf seinem Tisch. »Er hat wirklich seine Wochenenden mit Connor abgesagt?« Daniel schnaubte, was für ihn Antwort genug war. »Er geht mir genauso aus dem Weg wie euch, und wenn wir uns doch sehen, dann streiten wir. Ich habe keine Ahnung, was los ist.«

»Kein Wunder, du arbeitest ja nur noch«, murmelte Daniel mit einem tiefen Seufzen und brauchte gar nicht zu sagen, dass er darüber genauso unglücklich war wie Tristan, Nick wusste es auch so. »Tu mir zwei Gefallen, okay?«

»Welche?«, wollte Nick wissen.

»Finde heraus, was Tristan vor uns verheimlicht, und scher deinen Hintern hierher, bevor wir wirklich ein Foto von dir an die Wand hängen müssen.«

Nick musste unwillkürlich lachen und war erleichtert, als Daniel mit einstimmte. »Versprochen, Dan«, sagte er, den Blick auf die Konzerttickets gerichtet. Auf einmal wusste er, was er in den Brief schreiben würde.

 

Vierzehn Tage und noch immer keine Antwort.

Nicht, dass Nick ein schnelles Einlenken von Tristan erwartet hatte, immerhin lag der Termin für das Wochenende, samt Konzert, erst im nächsten Monat, aber dass er bisher gar nichts gehört hatte, verwunderte ihn. Ob Tristan ihm seine Frage übel genommen hatte? Vielleicht hätte er doch etwas mehr in den Brief schreiben sollen, überlegte Nick und runzelte die Stirn. Eine schlichte Frage, statt einer vernünftigen Entschuldigung, war möglicherweise etwas zu wenig für Tristan. Dabei hatte es vor zwei Wochen so gut geklungen.

Nimmst du mich mit?

Vier Worte, die eigentlich alles sagten, aber offenbar war der Sturkopf zu wütend, um sie als das zu akzeptieren, was sie für ihn außerdem waren, eine ehrliche Entschuldigung. Nick seufzte und löste dadurch ein Kratzen in seinem Hals aus. Gedankenlos griff er nach der angebrochenen Tüte Bonbons, die er seit ein paar Tagen beinahe ständig mit sich herumschleppte, um durch das Lutschen seinen Hals zu beruhigen. Er wusste, dass er zu wenig trank und auch zu wenig aß, aber wenn morgen sein aktueller Fall hinter ihm lag, konnte er endlich ein paar Tage ausspannen, um sich zu erholen und endlich auszuschlafen. Er würde das kommende Wochenende am besten im Bett verbringen.

Schlafen. Das war es, was Nick derzeit am meisten wollte. Aber zuerst musste er das Schreiben für Richter Bolton fertigmachen. Dann konnte er sich ruhigen Gewissens unter die Dusche stellen, um sich danach ins Bett zu legen.

Nick sah auf die Uhr. Es war fast elf. Mist. Er hatte mit seinen Gedanken an Tristan unnötig Zeit vertrödelt. »Ich gebe dir noch eine Woche«, murmelte er und nahm einen Stift in die Hand. »Dann werde ich anrufen und fragen, ob du die Karten zu benutzen gedenkst oder ob du sie schon im Mülleimer versenkt hast.« Alles andere ergab sich dann bitte hoffentlich von selbst. Oder auch nicht, wer wusste das bei Tristan schon? Mit einem weiteren Seufzen machte er sich wieder an die Arbeit.

Einige Stunden später wurde Nick von einem lauten Klingeln aus dem Schlaf gerissen. Er brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass der Krach nicht von seinem Handy kam, sondern irgendwer vor seiner Apartmenttür stand.

»Ich komme«, rief er und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um wacher zu werden, während er gleichzeitig aus dem Bett in den Flur stolperte.

Nick stutzte, als sein Blick durch den Türspion auf Tristan fiel. Nanu? Was wollte der denn um die Zeit hier? Er schnappte überrascht nach Luft, als ihm klar wurde, was Tristan ausgerechnet jetzt hier suchte. Sein Brief. Etwas anderes konnte es nicht sein. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Und das mitten in der Nacht. Nach einem tiefen Einatmen öffnete Nick die Tür.

»Ist dir klar, wie spät es ist? Ich hoffe für dich, dass deine Bude abgebrannt ist und du einen Platz zum pennen suchst«, gab er sich unbeschwerter, als er es innerlich war.

Tristan ging nicht darauf ein, er antwortete ihm nicht einmal, sondern zog stattdessen schweigend seinen Brief aus der Tasche, um ihn mit undefinierbaren Gesichtsausdruck hochzuhalten. Nick zuckte die Schultern. Das war es dann wohl. Deutlicher konnte Tristan ihm nicht antworten, denn Begeisterung sah anders aus, und so wie sein Freund vor ihm stand, schien er eher zu überlegen, ob er ihm die Konzertkarten ins Gesicht werfen sollte, statt sie einzulösen.

»Okay, dein Gesichtsausdruck ist deutlich genug«, sagte er und wandte sich enttäuscht ab. »Mach mit den Tickets, was du willst. Schenk sie Connor oder wirf sie weg, ist mir egal.«

Nick ging ins Schlafzimmer zurück und überließ es Tristan, ob er reinkommen und die Tür schließen oder einfach wieder gehen wollte. Er hatte einfach keine Lust mehr auf ihre ständigen Streitereien, genauso wenig wie er von Tristan weiter mit Missachtung gestraft werden wollte. Er war müde und würde jetzt einfach wieder ins Bett gehen, um den Rest der Nacht kein Auge mehr zuzumachen. Was blieb ihm auch anderes übrig? Nick kletterte ins Bett und zog sich die Bettdecke bis zum Kinn hoch, da er fror, obwohl laut Kalender mittlerweile Hochsommer war. Wenn er jetzt auch noch krank würde, dann …

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als die Lampe auf seinem Nachttisch plötzlich hell aufleuchtete. Nick stöhnt, ehe er ein paar Mal gegen das grelle Licht anblinzelte, erst dann erkannte er Tristan neben seinem Bett.

»Tristan, ich will schlafen«, murmelte er, in der Hoffnung, dass der ihn verstehen und in Ruhe lassen würde. Wenigstens bis zum Morgen. Nur schien Tristan andere Pläne zu haben, denn er setzte sich zu ihm aufs Bett.

»Ja.«

Nick kam nicht mit. »Was?«

Tristan schmunzelte. »Meine Antwort auf deine Frage im Brief, ob ich dich mit nach New York nehme. Ja, das tue ich.«

Obwohl ihm eiskalt und er hundemüde war, sah Nick Tristan nach dessen Worten genauer an. Das Lächeln in Tristans Gesicht war echt und es galt eindeutig ihm. »Ich dachte, du willst sie nicht.«

Tristan sah ihn irritiert an. »Wie kommst du denn darauf?«

Nick rieb sich über die Augen, weil sie vor Überarbeitung brannten, und gähnte hörbar, bevor er Tristan wieder anschaute. »So wie du mich gerade angesehen hast, war ich der Meinung, ich habe diese Karten gleich im Gesicht.«

Tristan lachte leise und schüttelte dabei den Kopf. »Du bist so ein Blödmann, nur damit du Bescheid weißt. Aber wenn du dich jedes Mal mit Konzertkarten, zwei Flugtickets und einem dazugehörigen Wochenende im Hotel für einen Fehltritt entschuldigst, könnte ich mich daran gewöhnen, Kendall.«

»Du bist ein raffgieriger Kerl«, empörte sich Nick gespielt, konnte aber nicht verbergen, wie erleichtert er in Wirklichkeit war. »Tris, es tut mir wirklich leid.«

»Ich weiß«, meinte der und sah ihn aufmerksam an, um auf einmal die Stirn zu runzeln. »Sag mal, hast du Fieber?«

»Quatsch«, wehrte Nick ab. »Ich bin nur müde.«

Tristan legte eine Hand auf seine Stirn. »Du hast eindeutig erhöhte Temperatur. Wie hast du das denn wieder hinbekommen?«

»Red keinen Unsinn. Ich habe kein Fieber.« Nick gähnte erneut und drehte sich auf die Seite. »Kann ich jetzt bitte schlafen, du Nervensäge? Ich bin heute früh um acht Uhr mit dem Gerichtssaal verabredet.«

»Nein, kannst du nicht«, konterte Tristan und zog ihm die Decke weg. »Schlafen, meine ich.«

»Tris , hör auf. Mir ist eiskalt«, murrte Nick und versuchte an seine Decke zu kommen, die Tristan daraufhin aus dem Bett zog und auf den Boden fallen ließ. Wer solche Freunde hatte, der brauchte echt keine Feinde mehr, grübelte Nick finster und rieb sich beide Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben, die sich gerade über seinem Körper ausbreitete, was auch Tristans neugierigen Augen nicht entging.

»Dass dir eiskalt ist, ist nicht zu übersehen«, erklärte er mit Blick auf die Gänsehaut und erhob sich. »Deswegen wirst du jetzt ein heißes Bad nehmen, damit du auftaust. Du hast fünf Minuten, mir zu folgen, sonst gibt es Ärger.«

Nach den Worten verschwand Tristan in den Flur und Nick starrte verdutzt auf die Stelle, wo sein Freund eben gestanden hatte. Was war denn nun los? Ein Bad? Gut, der Gedanke hatte etwas, aber doch bitteschön nicht um diese Zeit. Sein Blick fiel auf die am Fußboden liegende Decke und einen Moment lang war er versucht, sie wieder aufs Bett zu ziehen und sich in ihr einzuwickeln. Aber Nick kannte Tristan und er wusste, was ihm blühte, wenn er nicht aufstand und tat, was der von ihm verlangt hatte. Also ließ er es bleiben und quälte sich stöhnend aus dem Bett, um Tristan ins Badezimmer zu folgen.

Der ganze Raum roch nach Eukalyptus und Nick wurde sofort leicht schwindlig, als er eintrat und dabei zusah, wie Tristan einen großen Schluck einer grünen Flüssigkeit in die voll laufende Wanne gab. Er schloss die Tür hinter sich. »Seit wann habe ich ein Erkältungsbad?«

»Seit Dad es dir im letzten Winter mitgegeben hat, als du kurz nach Weihnachten gerade noch so an einer Grippe vorbeigeschrammt bist«, antwortete Tristan und drehte danach den Heißwasserhahn zu.

Nick runzelte ratlos die Stirn. Daran konnte er sich nicht erinnern. »Ach so?«

Tristan zwinkerte ihm zu. »Los, runter mit den Klamotten und ab ins Wasser mit dir. Du bist nicht nur müde, sondern auch vollkommen verspannt. Ich bin Schauspieler, ich sehe so etwas. Gönn dir endlich mal eine Nacht Ruhe, Nick.«

»Ich habe einen Termin in ...«, wandte er ein, doch Tristan ließ ihn nicht aussprechen.

»Etwas über sechs Stunden«, unterbrach er ihn nach einem Blick auf seine Uhr unwirsch und verschränkte beide Arme vor der Brust. »Das ist genug Zeit, um dich ein wenig aufzupäppeln. Also, steigst du jetzt freiwillig in die Wanne, oder muss ich nachhelfen, Kendall?«

»Das möchte ich sehen.« Als sich Tristan umgehend vom Wannenrand erhob, hielt Nick abwehrend beide Hände hoch. »Schon gut, das war ein Scherz. Ich mach ja schon.«

»Okay, ich sehe derweil nach, ob du irgendetwas im Kühlschrank hast, das man Essen schimpfen kann«, erklärte Tristan zufrieden und trat an ihm vorbei zur Tür.

»Ich habe keinen Hunger«, wehrte Nick rein aus Trotz ab, da es ihm unangenehm war, so bemuttert zu werden. Das hatte Tristan von seiner Mutter, Rachel war in der Beziehung genauso. »Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln.«

»Dann benimm dich nicht wie eines. Nick, leg dich endlich in die Wanne und entspann dich, während ich dir etwas zu essen mache. So wie du aussiehst, hattest du in den letzten Tagen nicht viel.«

Nick ließ sein Schlafshirt zu Boden fallen und sah dabei an sich hinunter, um hinterher Tristan fragend anzusehen. »Was? Ich sehe aus wie immer.«

Der warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Brauchst du zufällig eine Brille? Du warst immer schlank, aber nicht so deutlich sichtbar, dass man auf deinen Rippen Klavier spielen konnte, wie es im Moment der Fall ist. Dafür bin ich dürres Hemd zuständig.«

»Du bist nicht dürr«, widersprach Nick und stieg gleichzeitig in die Wanne. Das Wasser war perfekt, was ihn wohlig aufseufzen ließ. »Dan war dürr, aber das wird deine Mum spätestens bis Ende des Jahres mit Sicherheit geändert haben.« Tristan grinste und verschwand nach draußen, um keine zehn Minuten später mit einem Teller voller dick belegter Sandwiches und zwei Tassen Tee wieder im Raum zu stehen. Und genau in der Sekunde begann Nicks Magen lautstark zu knurren. »Elender Verräter«, knurrte er in Richtung seines Bauches, weil Tristan zu lachen begann, und nahm ein Sandwich, um sich damit zurück gegen den Wannenrand zu lehnen. Genüsslich kauend sah er zu, wie Tristan den Teller in Ermangelung einer Ablagefläche auf dem Fliesenboden abstellte und dann einen Schluck Tee trank. Dabei betrachtete er ihn. Nick war dieser forschende Blick unangenehm. »Ist was?«

Tristan seufzte leise und nahm sich ebenfalls ein Sandwich. »Wann hast du dich das letzte Mal im Spiegel angesehen? Ich meine so richtig, und nicht nur, um morgens den Sitz deiner Krawatte zu prüfen. Nick, du wiegst aktuell unübersehbar zu wenig für deine Größe. Außerdem sah deine Narbe auch schon mal besser aus.«

Was das anging, konnte er Tristan nicht einmal widersprechen, das wäre eine Lüge gewesen. Seine Haut um die Narbe herum juckte seit Tagen und das lag nicht am Wetter. Er war in letzter Zeit kaum bis gar nicht dazu gekommen, sich regelmäßig einzucremen und die Rache dafür folgte im Fall seiner Unfallnarbe auf dem Fuße, mit Juckreiz und einer deutlichen Rötung, um die er sich besser bald kümmerte. Tristan schien die gleiche Idee zu haben, wie seine nächsten Worte bewiesen.

»Hast du ein Massageöl da?«

Nick beugte sich über den Wannenrand und griff sich noch ein Sandwich. »Im Schlafzimmer. Nachttisch.«

»Okay«, meinte Tristan zufrieden und trank seinen Tee, bevor er befahl: »Iss fertig und in fünfzehn Minuten liegst du in deinem Bett. Ich verpasse dir eine Massage à la Bennett.«

 

Massagen von Tristan Bennett konnten Himmel und Hölle zugleich sein.

In dem Bereich hatte Nick in den letzten zehn Jahren weitreichende Erfahrungen gesammelt, aber heute Nacht gehörte die Massage definitiv in die Sparte: »Hölle auf Erden«. Dass er verspannt war, wusste Nick, aber wie sehr, war ihm bis vor ein paar Minuten nicht klar gewesen. Doch je länger Tristan auf seinem Hinterteil saß und seinen Rücken mit warmen Händen bearbeitete, desto mehr wünschte er sich zurück in seine Wanne, wo ihn wenigstens keiner gequält hatte. Wie sollte er nachher nur auf einem Stuhl sitzen, geschweige denn vernünftig arbeiten können?

»Aua«, jammerte er zum wiederholten Male und zuckte in der nächsten Sekunde schmerzhaft zusammen, als Tristan eine besonders harte Stelle erwischte. »Das tut weh, du Grobian.«

»Meine Güte, was sind wir heute für eine Mimose.« Tristan seufzte, ebenfalls nicht zum ersten Mal, lockerte seinen Griff aber etwas. »So besser?«

»Ja, danke.«

Die nächsten Minuten schwiegen sie, bis Tristan befand, ihn für heute genug massakriert zu haben und sich die Hände waschen ging.

»Willst du hier schlafen?«, fragte er, als sein Freund wieder ins Schlafzimmer kam und stützte sich seitlich auf dem Ellbogen ab, um ihn besser ansehen zu können, als Tristan zustimmend nickte und sich danach sein Bettzeug aus dem Schrank nahm. Tristan hatte seit Jahren eigenes Bettzeug hier, so oft wie er bei ihm schlief. Obwohl, in letzter Zeit waren die Übernachtungen selten geworden, fiel Nick auf. Im nächsten Augenblick kam ihm ein anderer Gedanke. Eigentlich war die Gelegenheit perfekt, um Dans erste Bitte in die Tat umzusetzen.

»Wieso hast du in der letzten Zeit eigentlich deine Wochenendtreffen mit Connor abgesagt?«

Tristan runzelte kurz die Stirn, danach verdrehte er die Augen, bevor er sich auszog und ins Bett kam. »Lass mich raten ... Dan hat dich angerufen.«

»Ja. Also?«

»Ich hatte keine Lust«, erklärte Tristan schlicht.

Nick blinzelte irritiert. »Bitte? Du hattest keine Lust?«

Tristan sah ihn kurz an und vergrub sich dann tiefer in seiner Bettdecke. »Ich war stinksauer auf dich, wie du sehr wohl weißt, und hatte dementsprechend miese Laune, die ich nicht an Connor ablassen wollte.«

Nick ließ sich keine neuen Schuldgefühle einreden. Er hatte genug an seinen schon vorhandenen zu knabbern. »Ich weiß. Aber normalerweise gehst du genau dann immer zu Connor, selbst wenn es nur darum geht, dich bei ihm über Idioten wie mich auszukotzen.«

»Du bist kein Idiot ... Na ja, jedenfalls nicht im Moment«, wehrte Tristan ab.

Nick grinste schief. »Du meinst, wenn ich mir Mühe gebe, kann ich es morgen wieder sein?« Tristan schob eine Faust unter der Decke hervor und drohte ihm damit, was Nick lachen ließ. »Mal ernsthaft, deine Familie macht sich Sorgen, weil du so lange nicht mehr dort warst. Gilt im Übrigen auch für mich. Dan sagte am Ende, ich solle gefälligst meinen Hintern wieder zu ihnen scheren, bevor sie ein Bild von mir an die Wand hängen müssen.«

»Autsch«, murmelte Tristan und verzog getroffen das Gesicht. »Das war mehr als deutlich.«

»Hm«, machte Nick zustimmend und legte sich wieder hin. »Es wird wirklich Zeit, mal wieder bei ihnen aufzuschlagen.«

Tristan grinste verlegen. »Connor hat schon gefragt, ob ich am nächsten Wochenende mit ihm und Daniel campen gehe. Um ehrlich zu sein, hat er mir angedroht, persönlich nach Baltimore zu kommen, um mich zu fesseln und zu knebeln, wenn ich Freitag nicht bei ihnen auf der Matte stehe.«

Nick schüttelte amüsiert den Kopf, dann fragte er: »Ist das eine Einladung?« Tristan nickte nur. »Ich werde Freitagnachmittag zu dir ins Theater kommen«, versprach er und schaltete das Licht aus, während er sich gleichzeitig schwor, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, damit er dieses Versprechen einhalten konnte. »Schlaf gut.«

»Nick?«, durchbrach Tristans Stimme nach einigen Minuten die eingetretene Stille zwischen ihnen. »Du gehörst auch zu meiner Familie. Vergiss das nicht ständig.«

 

 

3. Kapitel

 

 

 

 

»Tristan, da ist Besuch für dich!«, schrie einer von dessen Schauspielkollegen quer durch den Besuchersaal des Theaters, als Nick am Freitagnachmittag mit einer Reisetasche über der Schulter dort auftauchte.

»Ich kann jetzt nicht! Muss los«, rief Tristan von irgendwoher. »Bin eh schon zu spät.«

Dito, dachte Nick und grinste. Er war heilfroh, dass er überhaupt einigermaßen pünktlich aus dem Büro gekommen war. Einen Fall hatte er fertig, ein Dutzend neuer lag bereits auf seinem Tisch. Neben jenen, die er aktuell in Arbeit hatte. Offenbar war Adrian aus irgendeinem Grund, den wohl nur er verstand, der Meinung, dass Nick immer noch nicht genug zu tun hatte. Aber trotz der Berge an Akten, die ihn in den kommenden Monaten beschäftigen würden, hatte er sich allen Widerständen zum Trotz dieses Wochenende frei gehalten. Sehr zur Freude von Linda, die ihm dafür vorhin einen Anruf von Adrian abgenommen hatte, mit der Ausrede, er hätte bereits Feierabend gemacht und wäre unterwegs.

Dafür würde er Linda Montag einen riesigen Blumenstrauß mitbringen, bevor er bei Adrian zu Kreuze kroch, der ihn dafür mit noch mehr Arbeit eindecken würde, da war Adrian völlig gnadenlos. Aber im Augenblick war Nick die kommende Woche herzlich egal. Er hatte zwei Tage mit Tristan, Connor und Daniel vor sich, inklusive einem Campingausflug zum Fluss, was ein Bad in selbigem, sich den Bauch mit gutem Essen vollschlagen, spielen mit Zeke und sonstigen Blödsinn treiben mit einschloss. Und wenn sie großes Glück hatten, schloss ihr Ausflug auch eines von Grandma Charlies grandiosen Fresspaketen mit ein. Dafür verzichtete Nick sogar gern auf das Tragen seiner heißgeliebten Anzüge, in die er Montag früh wahrscheinlich nicht mehr reinpassen würde. Obwohl, so locker wie sie in letzter Zeit saßen, dürfte das vielleicht doch kein großes Problem sein.

»Dann sag das deinem Besucher selbst!«, brüllte Mister Unbekannt neben ihm zurück und riss Nick aus seinen Gedanken, um zu lachen, als von Tristan nur ein finsteres »Idiot!« zurückkam, ehe er ihm zuzwinkerte und auf die Besucherreihen deutete. »Er kommt gleich. Mach es dir solange gemütlich.«

»Danke.«

Nick schmunzelte und ließ sich in der ersten Reihe auf einen Sitz fallen, um Tristan kurz darauf über die Bühne laufen zu sehen, während er gleichzeitig versuchte etwas zu trinken und sich ein T-Shirt überzuziehen. Offenbar kam er gerade aus der Dusche. Nick lachte in sich hinein, als Tristan im linken Ärmel des Shirts steckenblieb und anfing zu fluchen.

»Brauchst du Hilfe, alter Mann?«, rief er mit breitem Grinsen auf die Bühne, was Tristan mitten im Lauf innehalten und zu ihm herumfahren ließ. Als er ihn entdeckte, verschluckte er sich an dem eben getrunkenen Schluck Wasser, begann zu husten und zerrte sich das T-Shirt wieder über den Kopf, um ihn verblüfft anzusehen.

»Nick?«

»Ja, das ist mein wirklich wundervoller Name«, stichelte er und streckte Tristan die Zunge raus, als der daraufhin die Augen zur Decke verdrehte und danach an den Bühnenrand kam, um sich dort niederzulassen.

Eine Weile sahen sie sich einfach nur an, dann lächelte Tristan. »Du kommst wirklich mit?«

»Nein, ich habe diese volle Reisetasche neben mir nur dabei, um dich zu ärgern. Und ich komme auch nicht mit zu Daniel und Connor, sondern fahre gleich wieder nach Hause, um mich zuerst ohne Ende aufzustylen, mir dann einen sexy Arsch in einem Club aufzureißen und den heute Nacht genüsslich ... Hey!« Nick wich lachend aus, als Tristan schnaubend die Plastikflasche nach ihm warf. »Soll das jetzt etwa heißen, ich darf mir keinen sexy Arsch aufreißen?«

»Du bist so ein Spinner«, stöhnte Tristan und startete einen erneuten Versuch, sich das T-Shirt anzuziehen, der dieses Mal auch klappte, konnte sein Grinsen aber nicht länger verbergen. »Deinen sexy Hintern reißt an diesem Wochenende jedenfalls keiner auf, nur damit du Bescheid weißt. Es sei denn einer unserer Schwarzbären hält dich für essbar.«

Nick schnappte gespielt empört nach Luft. »Tristan, Tristan ... Du hast mir ja vielleicht Wunschvorstellungen.« Dann lachte er. »Als ob ein Bär meinen Arsch zu schätzen wüsste, aber egal. Sag mal, oh holder und gelegentlicher Strumpfhosenträger, erzählen wir unseren niedlichen Turteltauben eigentlich, dass ich auch komme oder überraschen wir sie einfach?«

»Ähm ...« Tristan räusperte sich verlegen.

Nick winkte ab. »Ich weiß, dass du nichts gesagt hast, immerhin war ich in letzter Zeit nicht sehr zuverlässig, was Verabredungen anging.« Tristan zuckte die Schultern. »Ich mache es wieder gut, ich schwöre es.«

»Ich verfüttere dich schamlos an Zeke, wenn nicht«, drohte Tristan mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, was Nick gespielt schmollend die Unterlippe vorschieben ließ.

»Zeke mag mich.«

»Mich auch«, erklärte Tristan und grinste dann schief. »Gemäß den Fall, er erinnert sich noch daran, wer wir sind.«

»Autsch«, murmelte Nick, der genau wusste, was in Tristans Kopf gerade vorging. Was Connor und Daniel, überhaupt die ganze Familie Bennett, anging, hatten sie beide einiges wieder gutzumachen.

»Hey, wolltest du nicht los, Tristan?«, fragte Mister Unbekannt im nächsten Moment vom Gang her und schaute auf seine Uhr, während er näher kam. »Es ist gleich fünf.«

»Mist. Dan und Con bringen mich um«, fluchte Tristan und sprang von der Bühne. »Hast du meine Tasche gesehen, Tom?«

Mister Unbekannt hatte einen Namen und wirklich schöne, grüne Augen, die er gerade verdrehte, was Nick erneut grinsen ließ, da er wusste, was jetzt kam. Tristan war ein Schussel, wie er im Buche stand, ständig auf der Suche nach irgendetwas.

»Wo soll dein Zeug schon sein? Hinten in der Umkleide natürlich. Irgendwann vergisst du noch deinen Kopf.« Tom trat dicht vor Tristan, um ihn prüfend anzusehen. »Noch scheint er fest am Hals verankert, dein Glück.«

»Ja, ja, ich hab dich auch lieb«, winkte Tristan ab und sah sich nach ihm um. »Kommst du, Nick? Wir gehen hinten raus. Da habe ich geparkt.«

Tom seufzte tief auf. »Hast du nicht, weil du heute Morgen wie üblich zu spät kamst und schon alles voll war. Deswegen steht dein Wagen auch an der Straße.«

Zu spät? Wie üblich? Nick runzelte die Stirn. Tristan kam nie zu spät, wenn es um seine Arbeit ging. Jedenfalls kannte er das nicht von ihm. Merkwürdig.

»Ach ja?«, fragte Tristan und schaute Tom irritiert an. »Und ich war mir sicher, ich wäre heute hinten gewesen«, meinte er, zuckte im nächsten Moment aber schon die Schultern. »Ist ja auch wurscht. Wo ist mein Autoschlüssel?«

Tom stöhnte auf und Nick prustete los, als ihn ein leidvoller Blick traf, den er selbst schon so oft aufgesetzt hatte, wenn Tristan hektisch wurde und dabei sich selbst, aber vor allem seine nähere Umgebung an den Rand des Irrsinns trieb, dass er es längst nicht mehr mitzählen konnte. Vielleicht sollte er sich mit Tom bei nächstbester Gelegenheit mal etwas genauer über ihre gemeinsamen Erfahrungen diesbezüglich unterhalten.

»Abmarsch, Nick, wir müssen los«, holte Tristans resolute Stimme ihn aus der Betrachtung von Tom, der seinen Blick mit einem anzüglichen und eindeutig interessierten Lächeln beantwortete.

»Viel Spaß beim Camping.« Tom machte kehrt, nicht ohne ihn einmal kurz vom Kopf bis zu seinen ausgelatschten Turnschuhen zu mustern. »Und lasst euch nicht auffressen ... Von wem auch immer.«

»Tom, hör gefälligst auf, mit meinem Freund zu flirten«, murrte Tristan.

»Ich mach doch gar nichts.« Tom lachte, als Tristan ihm mit der Faust drohte. »Du gönnst mir auch gar nichts, Bennett.«

»Hey, das Beste behalte ich immer für mich selbst«, grinste Tristan, woraufhin nun Tom ihm mit der Faust drohte, bevor er laut lachend nach hinten verschwand. »Okay, auf geht’s«, erklärte Tristan danach und sah ihn wissend an. »Übrigens, sein neuester Lover ist ein Cop, also beherrsch dich.«

Nick setzte ein unschuldiges Lächeln auf. »Schade.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739310404
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Drama schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Thriller, Romanzen und Fantasy. Weitere Informationen zu meinen Büchern und aktuelle News zu Veröffentlichungen findet ihr auf meiner Autorenseite.
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Titel: Blind ist der, der nicht lieben will