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Das Spiel der Libelle

von Mathilda Grace (Autor:in)
420 Seiten

Zusammenfassung

Nachdem ein Sturm die übel zugerichtete Leiche eines vermissten Anwalts an Land gespült hat, ist jedem in Sanford Grove klar, unter ihnen lebt ein kaltblütiger Mörder. Sheriff Brackstone versucht alles, um den Fall herunterzuspielen, zum Unverständnis von Deputy Beckett McEverett, der Hilfe von außerhalb anfordern will, da ein weiterer Mann vermisst wird und niemand in ihrer kleinen Stadt für eine Mordermittlung ausgebildet ist. Mit dem Fund einer zweiten Leiche taucht unerwartet Special Agent Ford Templeton vom FBI in der Stadt auf, und das wiederum gefällt Beckett gar nicht, denn Ford und er haben eine gemeinsame Vergangenheit, die er nur zu gerne aus seinem Gedächtnis streichen würde.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Nachdem ein Sturm die übel zugerichtete Leiche eines vermissten Anwalts an Land gespült hat, ist jedem in Sanford Grove klar, unter ihnen lebt ein kaltblütiger Mörder. Sheriff Brackstone versucht alles, um den Fall herunterzuspielen, zum Unverständnis von Deputy Beckett McEverett, der Hilfe von außerhalb anfordern will, da ein weiterer Mann vermisst wird und niemand in ihrer kleinen Stadt für eine Mordermittlung ausgebildet ist. Mit dem Fund einer zweiten Leiche taucht unerwartet Special Agent Ford Templeton vom FBI in der Stadt auf, und das wiederum gefällt Beckett gar nicht, denn Ford und er haben eine gemeinsame Vergangenheit, die er nur zu gerne aus seinem Gedächtnis streichen würde.

 

 

Prolog

 

 

 

 

Lauf! Bleib nicht stehen, lauf!

Adrian Donaldson rannte so schnell, wie er schon seit sehr vielen Jahren nicht mehr gerannt war.

Seit seiner Highschoolzeit im Footballteam, um genau zu sein. Damals hatte es ihm Spaß gemacht zu laufen. Dem Jubeln der Cheerleader zuzuhören, wenn sein Team wieder mal einen Pokal holte. Mit Sarah, einer der Cheerleaderinnen und dem in seinen damaligen sechzehnjährigen Augen schönsten Mädchen an der Highschool, zum Abschlussball zu gehen. In derselben Nacht an Sarah seine Unschuld zu verlieren. Und es zwei Jahre später noch einmal zu tun – mit Jack, seinem Zimmernachbarn an der Uni, wo er begonnen hatte, Jura zu studieren.

Danach war er ein allerletztes Mal gerannt. Weg von seinen beginnenden Gefühlen für Jack, für den er nur ein One-Night-Stand gewesen war. Die beste Entscheidung seines Lebens, denn an jenem Abend hatte er Will getroffen, die Liebe seines Lebens, die jetzt vermutlich, krank vor Sorge um ihn, in ihrem Apartment saß und hoffte, dass er gesund heimkehrte.

Zwölf gemeinsame Jahre und Adrian hätte so gern auch die nächsten zwölf Jahre mit Will verbracht, aber dieser nagende Hunger und der unglaubliche Durst hatten an seinen Kräften gezerrt, und er fühlte, dass er es nicht schaffen würde.

Dünne, harte Äste peitschten ihm schmerzhaft gegen Stirn, Wangen und Arme, bei dem Versuch, wenigstens seine Augen zu schützen. Es war finsterste Nacht, er konnte kaum etwas erkennen, doch stehenzubleiben würde seinen sicheren Tod bedeuten, also rannte Adrian weiter, obwohl seine Lungen brannten und er, trotz keuchender Atemzüge, immer mehr das Gefühl hatte, nicht genug Luft zu bekommen.

Irgendwo musste es eine Straße geben, eine Stadt, Rettung. Dieser Wald hatte ein Ende, er musste es nur finden.

Adrian stolperte und schlug der Länge nach auf den nassen Waldboden. Herabgefallene Blätter, kühle Erde und Teile von abgebrochenen oder toten Ästen stachen in seine Finger, als er sich hektisch aufrichtete, einen panischen Blick über seine linke Schulter warf und weiter rannte.

Er war zu langsam, aber er konnte einfach nicht mehr. Wie lange irrte er schon in dieser undurchdringlichen Dunkelheit herum? Wenn wenigstens der Mond geschienen hätte.

Hinter ihm knackte es plötzlich im Geäst, dicht gefolgt von einem leisen, stetigen Flüstern. Beinahe wie eine Art Singsang. »Adrian … Komm raus, Adrian.«

Oh Gott, er hatte ihn gefunden.

Gefangen in seiner Panik, starrte Adrian in die Dunkelheit hinter sich, vergaß dabei, dass er immer noch rannte, und blieb mit dem Fuß irgendwo hängen. Er stürzte zu Boden und schrie auf, als er das Knacken hörte, bevor gleißender Schmerz durch seinen rechten Fuß, sein Bein hinauf, bis durch seinen gesamten Körper schoss und ihn beinahe ohnmächtig werden ließ.

Es war vorbei, Adrian wusste es.

Er hatte sich den Fuß gebrochen und damit sein Schicksal besiegelt.

 

 

 

1

 

 

 

 

Peter Wilson, der jüngste Beamte in ihrem Revier, übergab sich zum dritten Mal an diesem Morgen, als der Assistent des Leichenbeschauers, dessen Name so exotisch war, dass Beckett ihn sich auch nach zehn Jahren, die er nun schon als Polizist in dieser kleinen, gemütlichen Stadt im Norden arbeitete, einfach nicht merken konnte, auf dem vom Regen der letzten Nacht nassen Laub ausrutschte und dabei das blutverschmierte Bein des Toten von der Bahre rutschte. Der rechte Fuß des Mannes war eindeutig gebrochen. Mehrere Knochenstücke stachen hell aus einer in seinen Augen viel zu großen Wunde hervor, was Beckett vermuten ließ, dass sich bereits Tiere an der Leiche zu schaffen gemacht hatten. Er verzog das Gesicht, als der nackte Fuß hin- und herzuschaukeln begann, wie ein Stück Fleisch an einer Schnur. Scheinbar wurde er nur noch durch Sehnen und Fleisch am Bein des Opfers gehalten.

Beckett empfand ehrliches Mitgefühl für Peter, denn selbst ihm war nach dem ersten Blick auf die splitterfasernackte und wirklich furchtbar zugerichtete Leiche beinahe sein Frühstück, bestehend aus gebratenen Eiern, knusprigem Speck, Toast und zwei Tassen Kaffee, wieder hochgekommen.

Er hatte Chicago verlassen, um von derartigen Verbrechen wegzukommen, und jetzt lag hier, im beschaulichen Städtchen Sanford Grove, eine Leiche herum, die mit Sicherheit keines natürlichen Todes gestorben war. Beckett war zwar kein Leichenbeschauer, aber er erkannte Fesselspuren, wenn er sie sah, und der Tote hatte sie an beiden Hand- und Fußgelenken, obwohl das bei dem gebrochenen Fuß durch die offene Wunde schwer zu sagen war.

»So eine gottverdammte Scheiße«, murmelte Bookster, der eigentlich Mark Hensley hieß, aber wegen seiner Vorliebe für gedruckte Bücher nur Bookster genannt wurde, bevor er leise seufzte und kopfschüttelnd zu Peter hinüberging, der aschfahl war und sich kaum noch aufrecht halten konnte.

Armer Junge, dachte Beckett, als Bookster ihm eine Flasche Wasser und eine Packung Taschentücher reichte, damit er sich schnäuzen und ein bisschen säubern konnte. So einen Anblick wünschte Beckett niemandem, schon gar keinem Frischling, der eigentlich viel zu sanftmütig für den Polizeidienst war und nur dank der Hilfe des Sheriffs überhaupt bei der Polizeischule angenommen worden war.

Sheriff Brackstone und Peters Vater, der die ansässige Bank leitete, waren Freunde seit ihrer gemeinsamen Grundschulzeit, und da Peter unbedingt ein Polizist hatte werden wollen, hatte Brackstone eben dafür gesorgt, dass er Polizist wurde. Beckett kannte diese und viele weitere Geschichten der Bewohner von Sanford Grove, obwohl er selbst nie zu ihnen gehören würde. Er war ein Zugezogener, kein Einheimischer. Da konnte er so lange hier leben, wie er wollte, sie würden ihn nie vollständig akzeptieren. Aber damit konnte Beckett gut leben, solange sie ihn respektierten, und auch dafür hatte Brackstone gesorgt.

Colt Brackstone duldete keine Respektlosigkeit gegenüber seinen Untergebenen und da er ein angesehener Bewohner von Sanford Grove war, der schon seit über zwanzig Jahren, nachdem er als hochdekorierter Soldat die Marines verlassen hatte, hier als Sheriff für Recht und Ordnung sorgte, hatte die Ansprache bei Becketts Vereidigung, er freue sich auf eine gute Zusammenarbeit und sei stolz darauf, einen guten Polizisten aus Chicago, mit einem so großartigen Leumund, in ihrer Stadt begrüßen zu dürfen, vollkommen ausgereicht, um den Leuten klarzumachen, dass er es nicht hinnehmen würde, wenn sie ihn unhöflich behandelten.

Niemand hatte es seither gewagt, Beckett schief anzusehen, aber die verstohlenen Blicke und die Tuscheleien über diesen Städter, der mit einem Hund allein am Stadtrand im Haus der verrückten Misses Bicock wohnte, die sich ein Jahr vor seinem Einzug in das Haus in ihrem muffigen Wohnzimmer die Flinte in den Mund gesteckt hatte, bemerkte er trotzdem. Ihre Blicke interessierten ihn nicht, die war er aus Chicago gewohnt, aber die Tuscheleien würden mit den Jahren zunehmen, da er keine Frau und keine Kinder hatte, und auch nicht im Traum daran dachte, an dieser Tatsache etwas zu ändern.

Ganz gleich wie gerne Sandrine Mitchell aus dem Diner am Südende der Stadt, mit ihren Brüsten, die immer in zu engen Blusen steckten, vor ihm herumstolzierte. Oder Mila Delacourt mit ihren künstlich verlängerten Haaren und in schwindelerregend hohen Absätzen, mit selbst gebackenen Kuchen, Aufläufen oder den angeblichen Resten vom gestrigen Abendessen für ihn uneingeladen vor seiner Haustür auftauchte.

Die zwei Frauen waren die hartnäckigsten in einer ganzen Reihe von heiratswilligen Töchtern, die dringend an den Mann gebracht werden wollten, und scheinbar hielten sie ihn, Städter hin oder her, für gut aussehend und gebildet genug, um ihm eine gute Ehefrau zu sein und ihm Kinder zu gebären.

Für Beckett eine gruselige Vorstellung. Nicht, dass er etwas gegen Kinder hatte, davon gab es in Sanford Grove schließlich mehr als genug, aber er wollte dieser Rotte von lauten, frechen und teilweise ziemlich ungebildeten Nachzöglingen keinesfalls eigene Exemplare hinzufügen. Sanford Grove mochte nur eine Kleinstadt sein, aber auch hier gab es Straßen, die man abends besser mied, und Viertel, wo die Leute es nicht schafften, jeden Tag eine warme Mahlzeit in den Bauch zu bekommen. Selbst in ihrer ländlichen Gemeinde gab es Drogensüchtige, Obdachlose und die üblichen Verbrechen, wie kleinere Diebstähle oder das eingeworfene Fenster im Lebensmittelladen von Bob Augustus in der Wilson Street, die ihren Namen dem Ururgroßvater von John Wilson verdankte – Peters Vater.

Beckett wandte sich kopfschüttelnd von Peter und Bookster ab und sah dem Leichenabtransport zu, bis sich der Wagen auf dem schlammigen Waldweg langsam in Bewegung setzte, ehe er hinunter zum Ufer ging, um sich ein wenig umzuschauen. Er hatte keine allzu große Hoffnung, irgendwelche Spuren zu finden, da der Fluss durch die vielen Regenfälle in letzter Zeit bereits seit einigen Wochen Hochwasser führte und sämtliche verwertbaren Spuren garantiert längst weggespült hatte, aber ein genauer Blick konnte nicht schaden und Beckett fand, dass er es dem Toten schuldig war.

Der Mann war ermordet worden und das auf eine überaus brutale Weise, da war es ja wohl das Mindeste, dass alles daran gesetzt wurde, diese Tat aufzuklären.

Dabei hatte Beckett nicht die geringste Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollten. Sie hatten weder genug Leute noch die Ausbildung für die Lösung eines solchen Falles. Darum musste sich die höher gelegene Dienststelle kümmern. Mit erfahrenen Leuten. Ausgebildete Mordermittler, die wussten, was sie taten und worauf es ankam, während er nur wusste, dass sie den Tatort sofort hätten absperren und Spurensucher herbeordern müssen. Stattdessen hatte Peter nach einem Blick auf den Toten den Inhalt seines Magens überall auf dem Waldboden verteilt und Bookster den Leichenbeschauer angerufen, um den Toten bloß schnell von hier wegzubringen.

Als Beckett eingetroffen war, war schon alles zu spät gewesen. Sie waren eben nur eine kleine Dienststelle, die neben ihm aus vier weiteren Beamten, plus Brackstone, bestand, der immer noch nicht hier war, obwohl Beckett ihn umgehend nach der Meldung über einen Leichenfund angerufen hatte.

Nicht, dass das etwas Neues war. Brackstone war ein guter Sheriff, dem es wirklich wichtig war, den Menschen zu helfen und für sie da zu sein, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er sich in seiner Morgenroutine stören ließ. Schon gar nicht für eine Leiche. Nur dass sie diesmal keinen alten Mann, der friedlich im Schlaf gestorben war, mausetot in seinem Haus gefunden hatten, sondern ein bislang unbekanntes Mordopfer, das offenbar schon nackt im Fluss gelandet war, denn Beckett konnte nirgendwo auch nur einen Stofffetzen entdecken.

War dieser Mann etwa ohne Kleidung in den eisigen Fluss gesprungen? War er überhaupt freiwillig im Wasser gelandet? Die Fesselspuren an Hand- und Fußgelenken deuteten für ihn auf das Gegenteil hin, aber dazu konnte der Leichenbeschauer ihnen später hoffentlich mehr sagen.

Die Stelle am Ufer, wo Burt Mason, ein begeisterter Angler und leider auch ein Mann, der nichts für sich behalten konnte, die Leiche vor zwei Stunden in einem beim letzten, schweren Wintersturm umgestürzten Baum festhängend entdeckt hatte, war von unzähligen Stiefeln völlig zertrampelt und hatte sich in eine wahre Schlammlandschaft verwandelt. Hier würden sie keine Spuren mehr finden und an dem Baum hatte man beim Versuch, an den zerschundenen Körper zu kommen, einfach so lange herumgezerrt, bis sich die Leiche gelöst hatte. Leider war der Baum dabei ins tiefere Wasser geraten und würde bald von der Strömung weggespült werden.

Er hätte jemanden von der Forstwirtschaft anrufen und mit schwerem Gerät herbestellen können, aber Beckett ließ es nach einem Blick auf die tiefen Fahrrillen im Waldweg bleiben. Sie konnten von Glück reden, wenn sie sich mit ihren Autos nicht festfuhren, sobald der Tatort fotografiert und freigegeben war. Sofern Peters Magen sich weit genug beruhigte, dass er in der Lage war, Tatortfotos für die Akten zu machen. Hier in Sanford Grove mussten die Jüngsten nun mal die Drecksarbeit machen, das war ein ungeschriebenes Gesetz.

Beckett warf einen Blick auf seinen jungen Kollegen, dessen Gesichtsfarbe immer noch weit davon entfernt war, als normal durchzugehen, und entschied, dass er, wenn sie nicht noch den Rest des Tages vor Ort bleiben wollten, bis Peter sich erholte, die Fotos genauso gut selbst machen konnte, während sie auf die Ankunft von Sheriff Brackstone warteten.

»Wie geht’s ihm?«, fragte er leise, als Bookster sich einige Zeit später zu ihm gesellte.

»Weiß der Teufel was Brackstone sich damals dabei gedacht hat, Peter auf der Polizeischule unterzubringen. Er ist fix und fertig.«

Beckett nickte nur und knipste weiter.

»Was denkst du, ist hier passiert?«, wollte Bookster wissen und zog unbehaglich die Schultern hoch, als Beckett ihn ansah. »Ich meine, wir hatten schon ein paar Tote bei uns in Sanford Grove, aber so was ...«

»Er wurde ermordet«, fiel Beckett ihm ruhig ins Wort und Bookster runzelte die Stirn.

»Bist du sicher?«

»Hast du das Loch in seiner Stirn nicht gesehen? Das hat er sich kaum selbst zugefügt. Von den Fesseln an Händen und Füßen gar nicht zu reden.«

Bookster nickte und schwieg ein paar Minuten. »Sind Tote immer so dünn?«, fragte er dann.

»Nein«, antwortete Beckett, denn das war ihm auch sofort aufgefallen. Der Mann hatte es entweder mit einer fragwürdigen Diät mächtig übertrieben oder … Nein, darüber wollte er lieber nicht genauer nachdenken.

»Scheiße«, war alles, was Bookster dazu einfiel, dann ging er wieder zu Peter hinüber, der die Wasserflasche mittlerweile zur Hälfte geleert hatte und mit blutunterlaufenen Augen zum Waldweg sah. Beckett folgte dem Blick und entdeckte Sheriff Brackstone mit finsterem Gesicht auf sie zukommen.

»Wo ist Ihr Wagen, Sheriff?«, fragte Bookster.

»Eine Meile von hier im Dreck steckengeblieben«, knurrte Brackstone und tippte sich grüßend an den Hut. »Scheiß Regen … Was habe ich da von Burt gehört? Ihr habt ein zerstückeltes Mordopfer gefunden?«

Und schon geht es los, dachte Beckett innerlich seufzend. Bis morgen würde Burt Mason diese ganze unselige Geschichte in zehn verschiedenen Ausführungen überall in der Stadt zum Besten gegeben haben, und dann stand ruckzuck Clint Walters von der Sanford Times im Sheriffbüro, um einen reißerischen Artikel über einen brutalen Massenmörder zu schreiben, der seine Opfer in tausend Teile schnitt, um sie dann genüsslich im heimischen Wohnzimmer zu verspeisen. Dieser Mann war ein Klatschreporter der schlimmsten Sorte, weil ihm Fakten völlig egal waren, Hauptsache, seine Auflagenhöhe stimmte und die Leute redeten über ihn.

Beckett sparte sich einen Kommentar dazu und überließ es Bookster, Brackstone auf den neuesten Stand zu bringen.

Er hatte Fotos zu schießen.

Jede Menge Fotos.

 

»Ich habe eine Libelle im Hals des Toten gefunden.«

Es war später Nachmittag, die Sonne stand bereits tief über den Bäumen und tauchte die Leichenhalle, die gleichzeitig bei Beerdigungen als Aufbahrungshalle genutzt wurde, weil sich der Bestatter Bill Pelzer und Leichenbeschauer Max McBride, der zugleich auch der einzige Arzt in Sanford Grove war, die Räumlichkeiten teilten, in helles Licht. Es schien so gar nicht zu dem dürren Körper zu passen, der, ein Handtuch über seinen Hüften, in der Mitte des kargen Raumes auf dem nach allen Seiten schwenk- und höhenverstellbaren Tisch lag.

Sein Brustkorb war weit geöffnet und Beckett dankte allen Göttern, an die er nicht glaubte, dass er so schlau gewesen war, auf ein Mittagessen zu verzichten, denn sonst wäre es ihm jetzt genauso ergangen, wie Peter heute Morgen, den Brackstone für ein paar Tage beurlaubt hatte, damit er sich erholen konnte.

Becketts bescheidener Meinung nach brauchte der Junge dringend einen Psychologen und vor allem eine andere Arbeit, aber er würde sich hüten, das laut zu sagen. Er hing an seinem Job und Peter war mit Anfang zwanzig alt genug, um selbst zu entscheiden, was er tun wollte.

»Eine was?«

McBride hob nicht mal den Blick, sondern deutete nur auf eine Schale, die hinter dem Kopf des Toten auf einem schmalen Beistelltisch aus Metall, mit Rollen an den Füßen, stand. »Eine Libelle. Hübsches Teil. Aus Gold, verziert mit Schmucksteinen. Ein Kettenanhänger vermute ich, aber ich bezweifle doch sehr, dass er dem Opfer gehört hat.«

»Wissen Sie schon, wer er ist?«

»Seine Identifizierung ging überraschend schnell, nachdem wir die Fingerabdrücke hatten. Ein junger Anwalt aus Chicago. Adrian Donaldson. Er wurde seit drei Monaten vermisst. Sein Ehemann hat sich bei der Polizei gemeldet, als er eines Abends nicht aus dem Büro nach Hause kam, obwohl seine Kollegen in der Kanzlei sagten, er wäre pünktlich gegangen. Man fand den abgeschlossenen Wagen und seine unberührte Brieftasche eine Woche später in einer Seitenstraße, ein paar Meilen von seinem Wohnort entfernt. Es gab keine Kampfspuren.«

»Der Fall wurde zu den Akten gelegt«, murmelte Beckett und fing einen fragenden Blick des Leichenbeschauers auf, der ihn die Schultern zucken ließ.

Er hatte lange genug bei der Polizei in Chicago gearbeitet, um zu wissen, wie solche Fälle liefen. Ein erwachsener Mann, der einfach nicht nach Hause kam, ein zurückgelassenes Auto ohne Kampfspuren, die möglicherweise auf eine Entführung schließen ließen, keine Lösegeldforderung, nichts. Kein Polizist beschäftigte sich mit so einem Fall länger als unbedingt nötig, sondern legte ihn zuerst in die Ablage auf seinem Schreibtisch und schließlich, sobald die Anrufe von möglichen Angehörigen nachließen, ruckzuck zu den Akten aller ungelösten Fälle, weil der Vermisste wahrscheinlich nur beschlossen hatte, ein neues Leben anzufangen.

»Nach einem Monat. Die zuständigen Cops waren ziemlich überrascht, als Tino sie anrief, um ihnen zu erzählen, dass aus ihrem langweiligen Vermisstenfall ein Mord geworden ist. Sie informieren den Ehemann, der dann wahrscheinlich bald hier auftauchen wird.«

»Moment, ein Mord?«, fragte Sheriff Brackstone abwehrend und das brachte nun auch ihm einen kurzen Blick ein. »Könnte es kein Unfall gewesen sein?«

»Nein«, antwortete der Leichenbeschauer und wandte sich wieder dem ausgemergelten Körper zu.

»Warum nicht?«

»Weil dieser unglückselige Mann splitterfasernackt und tot ans Ufer unseres Waldflusses gespült wurde, in dem Sie gerne angeln, erinnern Sie sich?«

»Das heißt aber noch lange nicht, dass er ...«

»Eiskalt ermordet wurde?«, nahm der Leichenbeschauer Brackstone die Worte aus dem Mund. »Doch, genau das heißt es, Sheriff, denn er weist eindeutige Spuren von Folterungen durch Wasser- und Nahrungsentzug auf, hat an beiden Händen und Füßen unübersehbare Spuren von Fesseln und irgendjemand hat ihm mit Gewalt eine Libelle aus Gold tief in den Rachen gestopft.« Der Mann schaute Brackstone ernst an. »Das deutlichste Anzeichen für einen derart skrupellosen Mord, wie ich ihn in meiner langen Zeit als Arzt und Leichenbeschauer nie zuvor gesehen habe, dürfte jedoch die tiefe Einstichstelle, vermutlich von einem Jagdmesser, in seiner Stirn sein, finden Sie nicht auch?«

»Aber ...«, setzte Brackstone erneut an, was Beckett irritiert die Stirn runzeln ließ, doch er wartete schweigend ab, als Max McBride sich abrupt aufrichtete.

»Dieser Mann wurde gefangen gehalten, gefoltert und am Ende ermordet, Sheriff, und genau das werde ich auch in meinen Bericht schreiben, ob Ihnen das gefällt oder nicht. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe eine Autopsie zu beenden und diesen Mann anschließend mit Bills kompetenter Hilfe so gut es geht wieder herzurichten, damit sein Ehemann, der ihn wahrscheinlich ein letztes Mal sehen möchte, um sich gebührend zu verabschieden, bei dem Anblick nicht umgehend in Ohnmacht fällt.«

Brackstone schnaubte abfällig und Beckett verkniff sich den Kommentar, der ihm dazu auf der Zunge lag, da er ganz genau wusste, worauf sich der abfällige Laut bezog. Brackstone war ein alter Mann, hatte nur noch ein Jahr bis zu seinem offiziellen Ruhestand, und er war so homophob, wie ein Mensch nur sein konnte, der alles ablehnte, was sich hinter seinem beschränkten Tellerrand abspielte.

»Übrigens, Sheriff? Wurde am Fluss ein Ehering gefunden? Er trägt nämlich keinen.«

Brackstone warf ihm einen auffordernden Blick zu. »Nein«, sagte Beckett und suchte McBrides Blick. »Ich werde morgen früh noch einmal hinfahren und nachsehen, ob er irgendwo am Ufer im Schlamm liegt. Aber da die Leiche im tieferen Wasser gefunden wurde ...«

McBride nickte. »Ich danke Ihnen, dass Sie es wenigstens versuchen. Der Gedanke, einem trauernden Witwer mit leeren Händen gegenüberzustehen, behagt mir gar nicht.«

Beckett konnte das sehr gut verstehen, obwohl sein eigenes Unbehagen, sich schon bald mit dem Ehemann von Donaldson auseinandersetzen zu müssen, persönlicherer Natur war. Nicht weil Sheriff Brackstone solche Angelegenheiten, wie Gespräche mit Hinterbliebenen oder Angehörigen, bereits seit Jahren auf ihn abwälzte, sondern weil der trauernde Witwer schwul war.

Eine Tatsache, die sie gemeinsam hatten, obwohl Beckett das verdrängte, seit er Chicago und seiner einstigen, großen Liebe in einer Nacht- und Nebelaktion, getrieben von Alkohol, riesiger Enttäuschung und einem gebrochenen Herzen, für immer den Rücken gekehrt hatte, nachdem ihm durch einen zerknitterten Brief, den er nur durch Zufall beim Sortieren ihrer dreckigen Kleidung gefunden hatte, klar geworden war, dass Fords Prioritäten, in Bezug auf ihr Leben zu zweit und seine berufliche Zukunft, Beckett nicht mit einschlossen. Sonst hätte Ford seine Beförderung und die Versetzung nach Quantico, um dort in einer Sondereinheit für das FBI zu arbeiten, wohl kaum vor ihm geheimgehalten.

Aber das war Geschichte und musste es bleiben, denn hier in Sanford Grove wusste niemand, dass er Männern privat den Vorzug gab, und Beckett würde alles dafür tun, damit das auch so blieb.

 

 

2

 

 

 

 

Ford Templeton wusste, dass sie ernsthaft in der Klemme steckten, als eine Kugel knapp an seinem Kopf vorbeiflog, um mit einem Geräusch, für das er selbst nach all der Zeit, die er schon für das FBI tätig war und dabei mal mehr mal weniger häufig in Schießereien verwickelt wurde, immer noch nicht das passende Wort gefunden hatte, direkt neben ihm in einer weiß-roten Backsteinmauer zu landen.

Dreckiger Putz rieselte aus dem entstandenen Loch und fiel auf den Anzug, den er erst vor zwei Tagen aus dem Laden von Mister Cotton geholt hatte, einem bärbeißigen Kauz, so alt wie Methusalem, dessen finsterer Blick sogar den Teufel zur Raison gebracht hätte. Aber der Mann konnte nähen wie kein zweiter. Deshalb hatte er sich ja auch von Brixton, seinem Partner, der niemals weniger als einen Ralph Lauren Anzug der aktuellen Kollektion trug, dazu überreden lassen, Cotton endlich einen Besuch abzustatten, um, Zitat Brixton, einen gut gekleideten Mann aus ihm zu machen.

Dass Brixton dank alter Adelsfamilie reich wie Krösus war, während Ford nur sein FBI-Gehalt zur Verfügung hatte, war in Brixtons Augen kein Hindernis gewesen. Verfluchter Snob. Der allerdings auch ein verdammt guter Agent, mit einem leider etwas zu perfekten Riecher für brenzlige Situationen war, was ihn wieder zu ihrer aktuellen Situation brachte, denn man saß schließlich nicht jeden Tag in einer edlen Maßanfertigung von Armani aus der letzten Saison hinter einem Müllcontainer im Dreck und blutete besagte Maßanfertigung langsam voll.

Ford hatte drei Jahre auf diesen Traum in schwarz gespart, doch nach diesem komplett aus dem Ruder gelaufenen Einsatz würde er ihn wegwerfen können. Das setzte natürlich voraus, dass er diesen Tag überlebte, und momentan sah es eher nicht danach aus.

Brixton fluchte auf französisch, als eine weitere Kugel über ihnen in der Wand landete. »Dieser Kretin schießt, als wäre er auf einem Auge blind.«

»Findest du?«, fragte Ford mit nachdenklichem Blick auf den immer größer werdenden Blutfleck auf seinem vor einer Stunde noch blütenweißen Hemd. Ein Bauchschuss, der nicht mehr wehtat, und was das bedeutete, wusste er, denn es war nicht die erste Kugel, die man ihm in die Gedärme gejagt hatte. Allerdings war es die erste, mit der er nach mehr als dreißig Minuten immer noch ohne jede ärztliche Behandlung war, und langsam gab ihm diese Tatsache etwas zu denken. »Wo bleibt die Verstärkung?«

»Hältst du durch?«, fragte Brixton knapp und schob neue Patronen in eine Pumpgun, die sein Partner vorhin einem der Drogendealer abgenommen hatte, wegen denen sie gerade in diesem Hinterhalt festsaßen, nachdem ein als versiffter Penner verkleideter, verdeckt arbeitender DEA-Agent eine bereits seit vier Monaten äußerst akribisch geplante Operation mit einem Handyklingeln komplett vermasselt hatte.

Penner hatten nun mal keine Handys mit einem Klingelton von AC/DCs Thunderstruck, und der Agent konnte von Glück reden, wenn er nach dem heutigen Tag noch einen Job hatte.

Ford sah Brixton zu und betrachtete angelegentlich dessen schlanke, manikürte Finger, die mit einer geladenen Waffe genauso gut umzugehen wussten, wie mit einer Tastatur oder einer eine Million teuren Stradivari – ein Geschenk von Brixtons Eltern zu dessen dreißigstem Geburtstag, denn sein Partner spielte wirklich herausragend Geige, hatte dafür aber null Ahnung von Poker und weigerte sich auch standhaft dieses in seinen Augen furchtbare Proletenspiel zu erlernen.

Stattdessen versuchte Brixton ihm seit mehreren Jahren das Schachspielen beizubringen. Erfolglos. Aber zumindest hatten sie dabei jedes Mal ihren Spaß, wenn sie auf todlangweiligen Überwachungen umso längere Nächte überstehen mussten, ohne sich gegenseitig oder ihren observierten Personen an die Gurgel zu gehen.

»Ford!«

»Was?«, fragte Ford und riss die Augen auf, als er merkte, dass sie ihm zugefallen waren. Brixton lehnte die Pumpgun an den Müllcontainer und zog ihm danach seine Glock aus dem Hosenbund, um diese ebenfalls nachzuladen.

»Hältst du noch durch?«

»Nein.«

Brixton hielt inne und warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Was soll das heißen, Nein? Du hast doch bereits vier Kugeln kassiert und mit der letzten bist du sogar noch auf einen Berg geklettert.«

»Und wessen Schuld war das bitte?«, fragte Ford verärgert. »Hättest du den Grizzly nicht angebrüllt, hätte ich gemütlich weiter auf dem weichen Moos im Wald sitzen und auf meinen Rettungshubschrauber mitsamt Notarzt warten können. Aber nein, du musstest ihm unbedingt erklären, dass er stinkt und es unter deiner Würde ist, dich länger mit ihm am gleichen Ort aufzuhalten. Und das alles, nachdem ich deinetwegen eine Kugel abbekommen hatte. Mal wieder.«

»Jetzt werd hier nicht kleinlich«, grollte Brixton, doch sein besorgter Blick strafte seine Worte Lügen. »Außerdem hat der Bär wirklich gestunken und dieser popelige Durchschuss war sowieso nicht der Rede wert.«

»Meine Schulter hat gebrannt wie Feuer und ich habe mich vollgekotzt, während du mich mit Gewalt auf diesen blöden Berg hochgetrieben hast, nur weil du nicht bei lebendigem Leib gefressen werden wolltest. Dabei hättest du es sogar verdient, immerhin hast du den Grizzly dumm von der Seite angemacht. Der wollte gar nichts von uns, bis du ihn beleidigt hast.«

»Wow, du klingst, als kämst du aus der Gosse, dir muss es wirklich scheiße gehen. Tut es sehr weh?«

»Alles taub«, lallte Ford und blinzelte, da er seinen Partner auf einmal doppelt sah. Und das brachte Bewegung in Brixton, während er wiederholt fluchte und kurz darauf in sein Handy brüllte, wo zum Teufel die Verstärkung blieb, weil sein Partner am Verbluten war und er jedem den Hals umdrehen würde, wenn hier nicht sofort Hilfe auftauchte. Ford lachte, als Brixton in seiner Aufregung mit der Hand in einen stinkenden Haufen Hundescheiße fasste, um den er bislang und trotz ihrer wilden Schießerei erfolgreich einen Bogen hatte machen können, und schloss bei dem folgenden, empörten Blick seines Partners die Augen. Er war müde, so unsäglich müde.

»Ford, wach bleiben. Wehe, du pennst ein … Templeton!«

 

»Aus welchem mir völlig unverständlichen Grund habe ich dich damals eigentlich in mein Bett eingeladen?«

Diese Frage stellte Brixton ihm nicht zum ersten Mal und ebenfalls nicht zum ersten Mal war Fords Antwort darauf ein Lachen, bevor er sich im Bett herumdrehte und dabei natürlich nicht an seine gerade erst frisch verheilte Verletzung dachte. Er zuckte schmerzerfüllt zusammen, denn die Narbe machte ihm immer noch Probleme, wenn er sich zu schnell und unbedacht bewegte, und fiel zurück auf den Rücken.

»Selbst schuld«, erklärte Brixton mitleidslos und schob die Bettdecke zur Seite, um einen Blick auf die Narbe zu werfen. »Sie ist gerötet und leicht geschwollen. Warst du etwa gestern joggen, ehe du hergekommen bist?« Ein sehr finsterer Blick traf ihn. »Du weißt genau, dass dir jede sportliche Betätigung noch für einen Monat verboten wurde!«

»Und was war letzte Nacht?«

Brixton grinste anzüglich. »Soweit ich mich erinnere, hast du nur faul herumgelegen und mich die ganze Arbeit machen lassen.« Als Ford die Augen verdrehte, lachte sein Partner und schlug ihm dann tadelnd mit der offenen Hand auf den Bauch. »Hoch mit dir. Es gibt Frühstück. Außerdem müssen wir heute ins Büro. Nachbesprechung des letzten Einsatzes. Der Boss will endlich deinen Bericht, um die Akte schließen zu können, und er hat einen neuen Fall erwähnt, irgendwo in einer kleinen Stadt, westlich von Chicago. Ein Mord mit demselben Modus Operandi, wie bei den beiden nicht identifizierten Leichen aus Chicago. Ich habe ein bisschen nachgeforscht. Das dritte Opfer stammt aus Chicago, ein schwuler Anwalt. Wieso seine Leiche in einem Waldfluss nahe dieser Kleinstadt gefunden wurde, ist allerdings ein Rätsel. Möglicherweise musste der Täter seinen Standort verändern oder er ist umgezogen.«

Ford gähnte und setzte sich auf, wobei er dieses Mal mehr auf die Narbe achtete. Sie zog ein bisschen, vermutlich hatte er es mit der Joggingrunde gestern Abend wirklich übertrieben. Aber nach drei Wochen im Krankenhaus und weiteren zwei Wochen Krankschreibung, hatte er das Herumsitzen zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten. Er war angeschossen worden und hatte es überlebt. Jetzt wurde es Zeit, dass er wieder etwas zu tun bekam, und ein neuer Fall kam ihm da gerade recht.

Nichtstun lag ihm nicht, das hatte es noch nie getan. Arbeit war für Ford, wie Urlaub für normale Leute. Zudem erinnerte ihn in seinem Apartment zu viel an früher, als er noch einen Verlobten gehabt hatte und glücklich gewesen war. Doch das war vorbei, die Vergangenheit ließ sich nicht mehr ändern, und er würde damit leben, wie er es schon seit zehn Jahren tat. Und irgendwann würde er es schaffen, die Bilder von den Wänden zu nehmen und den Ring wegzuwerfen, den er Beckett an dem Tag an den Finger hatte stecken wollen, als der gegangen war.

»Hör auf damit!«

Ford zuckte zusammen und sah zu Brixton, der, mit einem Anzug in einer Schutzhülle über dem Arm, den er nach dem Frühstück mit ins Badezimmer nehmen würde, um sich gleich dort fertigzumachen, vor seinem Kleiderschrank stand und ihn nachdenklich ansah.

»Wie oft hast du seine Bilder in den letzten beiden Wochen angestarrt?«

Ford antwortete nicht auf die Frage, da er keine Lust hatte, wegen dieses Themas erneut einen Streit anzufangen. Brixton war ein verdammt guter Partner, ein toller Agent und ein sehr guter Freund. Er war auch super im Bett, deswegen wälzten sie sich seit nun mehr sechs Jahren regelmäßig gemeinsam durch die Laken. Aber er war auch ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, sobald es um Fords Vergangenheit ging, und er wurde nicht müde, ihm zu sagen, dass es falsch gewesen war, die gemeinsamen Bilder und Erinnerungen an Beckett in sein neues Leben nach Quantico mitzubringen. Ford wusste, dass er recht hatte, und er wusste auch, dass es nicht gesund war, was er tat. Beckett war gegangen und würde nicht zurückkommen, und trotzdem konnte er nicht aufhören zu hoffen, dass er es eines Tages vielleicht doch tat.

»Vielleicht hättest du ihn einfach mal suchen sollen.«

»Und vielleicht gehst du lieber duschen und hältst dich aus meinen Angelegenheiten raus!«, blaffte Ford impulsiv zurück und stöhnte kurz darauf frustriert auf, als die Badezimmertür hinter Brixton ins Schloss fiel. Soviel zu einem gemeinsamen Frühstück. Mist. Dass er sich auch nicht beherrschen konnte, wenn es um Beckett ging. Ford erhob sich und folgte Brixton. Die Tür des Badezimmers war nicht abgeschlossen, also trat er ohne anzuklopfen in den Raum, dessen Boden mit schwarzen Fliesen ausgelegt war und der mindestens so groß war wie sein eigenes Wohnzimmer. Man sah nicht nur Brixton selbst seinen Reichtum an, doch im Moment interessierten Ford weder die weißen Fliesen an den Wänden, noch die beiden Waschbecken oder die riesige Eckbadewanne mit Whirlpoolfunktion, in der sie schon einige Zeit gemeinsam verbracht hatten.

Wortlos schob er die Glastür der extrabreiten Duschkabine mit zwei Duschköpfen auf und stellte sich hinter Brixton, der sich mit einer Hand an den Fliesen abstützte und seinen Kopf gesenkt hielt. Heißes Wasser prasselte auf sie beide nieder und Ford strich mit seinen Fingern sanft durch das kurze Haar in Brixtons Nacken. Manchmal hatte er darüber nachgedacht, wie es sein könnte, diesen Mann richtig zu lieben. Wie es sich wohl anfühlen würde, echte Gefühle für ihn zu haben und nicht nur ein Freund mit Extras und ein guter Partner zu sein, aber Ford konnte es nicht. Sein Herz hatte immer nur Beckett gehört und es würde immer nur Beckett gehören.

Außerdem würde man Brixton und ihn für immer trennen, sobald herauskam, dass sie mehr waren, als Partner beim FBI, und dann würde er den einzigen, echten Freund verlieren, den er hatte. Und das war es nicht wert. Nicht für Ford. Außerdem verdiente Brixton etwas Besseres, als nur zweite Wahl zu sein.

»Es tut mir leid«, murmelte Ford schließlich und griff nach dem Duschgel und dem Schwamm, um Brixton den Rücken zu waschen.

»Du kannst nicht ewig auf ihn warten.«

Damit sagte Brixton ihm nichts Neues, nur würde das für Ford nichts ändern. Er liebte Beckett nun mal und er würde nie aufhören, ihn zu lieben, obwohl er leider nicht sehr gut darin gewesen war, seine Gefühle in Worte zu fassen. Einem Mann mit einem Lächeln die Nase brechen, nachdem dieser versucht hatte, ihn zu erstechen, das konnte er, aber dem Mann, für den sein Herz schlug, zu sagen, dass er ihn liebte, das hatte er nie zustande gebracht, und als Ford endlich der perfekte Weg eingefallen war, wie er seine Gefühle ausdrücken konnte, war es zu spät und Beckett fort gewesen.

»Ich weiß.«

»Du wirst ewig auf ihn warten, oder?«

»Ja.«

Brixton fluchte wieder einmal auf französisch und fuhr im nächsten Moment zu Ford herum, um ihn zu packen und dann mit dem Rücken gegen die Fliesen zu pressen. Nasse und harte Lippen pressten sich auf seine und Ford stöhnte haltlos in den Mund, der ihn verschlang, wie eine überaus teure Köstlichkeit, während Hände ihn berührten, streichelten, fester zupackten, und ihn am Ende herumdrehten und mit dem Gesicht voran gegen die Fliesen drängten, um seinen Körper zu erobern und mit heißem Samen zu markieren, als wäre er Brixtons Eigentum.

Und Ford ließ es geschehen. Er ließ zu, markiert und heftig genommen zu werden, weil er genau das jetzt brauchte. Weil sie es beide brauchten, während das heiße Wasser die Fliesen hinablief und sie in immer dichter werdende Dampfschwaden hüllte, bevor ihr Stöhnen und die Geräusche ihrer aufeinander klatschenden Körper im Prasseln des Wassers untergingen.

 

Captain Winston Mercer war ein Bär, wie man in gewissen Kreisen jene Art von Männern betitelte, denen das Haar nicht nur auf dem Kopf in Massen sprießte, und denen man ansah, dass sie einem gutem Essen und einem ebenso guten Wein nie abgeneigt waren.

Natürlich waren das alles teilweise furchtbare Klischees, denn Ford kannte echte Bären, sowohl mit Fell als auch in Lack und Leder, und er konnte aus dieser äußerst persönlichen Erfahrung heraus sagen, dass man gut daran tat, beide Spezies ebenso wenig zu unterschätzen wie Mercer, denn obwohl sein Boss mit seinem Aussehen einer alten Schiffsboje Konkurrenz machen konnte, hatte er einen unglaublich scharfen Verstand, den er besonders gern gegen Verbrecher einsetzte, die immer wieder darauf hereinfielen, dass er mit seinem dichten, weißen Bart und den buschigen Augenbrauen wie ein unschuldiger Weihnachtsmann wirkte.

»Nun, Special Agent Templeton? Haben Sie Ihrem Bericht noch etwas hinzuzufügen?«

»Nein, Sir.«

»Gut.« Mercer warf einen letzten Blick auf die fünf Seiten, die er in den vergangenen beiden Stunden an seinem Schreibtisch in den PC getippt hatte, und schlug dann die Akte zu. »Es dürfte Sie freuen zu hören, dass unser junger AC/DC Freund bis auf Weiteres die Akten im DEA-Archiv sortieren darf. Sie wissen schon, das Archiv, das vor acht Jahren aus Versehen bei einem Rohrbruch abgesoffen ist. Eine sehr wichtige Aufgabe, die ihn wohl einige Jahre beschäftigen dürfte.«

Ford brauchte ein paar Sekunden, bis er die Verbindung zwischen AC/DC und DEA zog, aber dann konnte er sich ein schadenfrohes Grinsen nur mühsam verkneifen. Leider kannte Mercer ihn zu gut, als dass es ihm entgangen wäre.

»Ich erinnere mich an einen jungen Agenten, der vor knapp zehn Jahren durch meine Bürotür getrampelt kam. Pitschnass und stinksauer, weil er auf dem Weg in sein neues Zuhause bei einem Sturm über Bord gegangen war, obwohl man ihm mehr als einmal geraten hatte, unter Deck der Fähre zu bleiben.«

Ford richtete sich kerzengerade auf, in der Erwartung eines Tadels, stattdessen begann Mercer zu grinsen.

»Erwischt. Es ist immer gut, sich an eigene Dummheiten zu erinnern, bevor man über die anderer lacht.«

»Ja, Sir«, murmelte Ford und verzog das Gesicht, weil seine Narbe sich prompt diesen unpassenden Augenblick aussuchte, um wieder zu schmerzen.

»Agent Eastmore hat bereits durchblicken lassen, dass Ihre Verletzung Ihnen immer noch Schwierigkeiten macht, und im Normalfall würde ich der Empfehlung Ihres Arztes zustimmen und Sie die nächsten Wochen an den Schreibtisch verbannen, bis Ihre psychologische Untersuchung zu meiner Zufriedenheit ausfällt, nur leider«, Mercer machte eine künstlerische Pause, um dabei eine Akte aus seinem Schreibtisch zu holen und ihm zu reichen, »wird dieser Mörder vermutlich nicht abwarten, bis Sie sich erholt haben, und ich habe derzeit kein anderes Team mit Ihrer Erfahrung zur Hand, darum werde ich es riskieren und Sie auf den Chicago-River-Killer ansetzen.«

»Er hat schon einen Namen?«, fragte Ford überrascht, denn sobald die Presse involviert war und anfing, solche Fälle für ihre Auflagen auszuschlachten, wurde es oftmals hässlich, was ebenso oft zu mehr Leichen führte.

»Nein«, antwortete Mercer und lehnte sich zurück. »Da wir aktuell drei Leichen haben, zwei direkt in Chicago und eine an einem Flussufer gefunden, kam irgendein Scherzkeks, dem ich bereits auf der Spur bin, auf die Idee, den Namen auf die Akte zu schreiben.« Mercer deutete auf selbige in Fords Hand. »Dort steht alles drin, was wir wissen, und das ist nicht viel, denn das Sheriffbüro im zuständigen Distrikt der dritten Leiche war nicht sonderlich auskunftsfreudig. Fahren Sie hin und machen Sie den Leuten Beine. Der Bürgermeister von Chicago legt, wie Sie sicher verstehen werden, keinen Wert auf weitere Leichen, die in Form von hochgeschätzten, verheirateten Mitbürgern an Flussufer gespült oder, wie in den anderen zwei Fällen, einfach in Müllcontainern abgelegt werden. Wobei die Betonung im Fall des letzten Opfers auf verheiratet liegt, denn der Ehemann des Verblichenen war bereits vor Ort und wurde offenbar nicht so höflich behandelt, wie es einem Hinterbliebenen zusteht.«

Ford konnte sich schon denken, was dafür der Grund war, war aber klug genug, seinen Gedanken für sich zu behalten. Schwule mochten zwar mittlerweile alle Rechte und Pflichten haben, die auch den Heterosexuellen zustanden, das bedeutete allerdings noch lange nicht, dass homophobe Individuen auf einmal damit aufgehört hatten, über die in ihren Augen an allem Übel der Welt schuldigen Homosexuellen herzuziehen. Gerade in ländlichen Gegenden herrschte viel zu oft noch ein Glaube, der dem des vergangenen Mittelalters beunruhigend nahe kam.

»Zudem war Sheriff Colt Brackstone nicht begeistert über die Aussicht, in seiner Stadt zwei FBI-Agenten beherbergen zu müssen.« Mercer schürzte die Lippen. »Ich habe ihn, nachdem es mir schlussendlich doch gelungen ist, ihn zu erreichen, auf freundliche Weise darauf hingewiesen, dass unsere Behörde auf die Jagd nach Serienmördern spezialisiert ist und ich dafür sorgen werde, dass er seine baldige Pensionierung sofort und unwiderruflich antreten kann, sofern er seine Meinung zum Thema Hilfe von außen nicht unverzüglich ändert. Daraufhin hat er mich ebenso freundlich darauf hingewiesen, dass am Stadtende derzeit ein Haus freistünde, das er für Sie und Agent Eastmore reinigen lassen wird. Sie können sich den Schlüssel beim Sheriffbüro abholen.«

»Ist der Ehemann noch vor Ort?«, fragte Ford, denn mit dem Mann wollte er sprechen, bevor er anfing, sich mit einer homophoben Hinterwäldlerbehörde auseinanderzusetzen und einen Mörder zu fangen. Außenstehende bekamen selbst bei kurzen Besuchen und sogar, wenn sie unter Schock standen, in vielen Fällen mehr mit, als sie selbst wussten, und Brixton und er waren darauf geschult, genau diese unwichtigen Details ans Tageslicht zu holen, denn diese waren meistens entscheidend für einen schnellen Ermittlungserfolg.

»Nein. Statten Sie ihm in Chicago einen Besuch ab, ehe Sie sich auf den Weg nach Sanford Grove machen. Ich will wissen, was dort genau vorgefallen ist und ob wir uns auf Probleme einstellen müssen. Also mehr Probleme als üblich, wenn wir es mit Serienmördern und hiesigen Behörden zu tun haben. Und, Templeton? Bleiben Sie um Himmels willen höflich. Der Mann hat seinen langjährigen Lebensgefährten verloren und musste sich schon mit einem homophoben Sheriff herumärgern. Achten Sie und Agent Eastmore also genau darauf, was Sie sagen und wie Sie es sagen, habe ich mich klar ausgedrückt?«

 

 

3

 

 

 

 

Colt Brackstone tippte sich grüßend an die Stirn, als Selma Aticott auf der anderen Straßenseite lächelnd winkte, bevor sie damit fortfuhr, das frische Gemüse in den alten Holzkisten vor ihrem kleinen Geschäft zu sortieren. Den Aticotts gehörte die größte Farm außerhalb der Stadt, wenn man diese stinkende Baracke nicht mitzählte, in der Chuck Braddock im Westen der Stadt seine Schweine hielt. Am liebsten hätte Brackstone den Laden dicht gemacht und Braddock aus der Stadt gejagt, aber leider hielt sich der Mann sehr penibel an jede Vorschrift zur Tierhaltung und seinen Schweinen ging es gut, Brackstone schickte regelmäßig einen seiner Deputys unangemeldet auf die Farm raus, um es nachzuprüfen. Trotzdem behagte ihm der Gedanke nicht, hunderte von Schweinen so nah am Fluss und der umliegenden Natur zu haben, die ihnen Jahr für Jahr mehr Touristen in die Stadt brachte, von denen Sanford Grove jeden einzelnen mit offenen Armen empfing.

Was seine Stadt nicht brauchte, war ein Mörder, der eben jene Touristen vertrieb, denn dann hätte er umgehend Selma, ihren Mann, der gleichzeitig Bürgermeister der Stadt war, und andere besorgte Bürger vor seiner Tür, die um den guten Ruf ihrer Stadt und vor allem um ihre Einnahmen bangten. Sanford Grove brauchte das Geld eines jeden Touristen, die ganzjährig in die Stadt kamen, und es hatte ihn gestern beinahe eine Stunde gekostet, genau das diesem Dummkopf Clint Walters von der Sanford Times zu verklickern. Am Ende hatte nur die unverhohlene Drohung, den Bürgermeister einzuschalten, der die Zeitung seit Jahren mit Steuergeldern unterstützte, dafür gesorgt, dass der Artikel über den toten Schwulen heute Morgen nur auf Seite sechs und nicht auf der Titelseite gestanden hatte.

Brackstone schob seine Daumen betont lässig in zwei seiner Gürtelschlaufen und ließ dann den Blick die Hauptstraße seiner kleinen Stadt entlang schweifen. Idylle pur. Besser als es jedes Postkartenmotiv darstellen konnte. Blühende Kübel voller gelber Narzissen, weißen und lilafarbenen Krokussen und Tulpen in unzähligen Farben säumten beide Straßenseiten in regelmäßigen Abständen. Dazu gab es dunkel gestrichene, nach dem letzten Regen frisch geputzte Bänke aus altem Kiefernholz – für Gäste, die sich mit einem selbst gemachten Pausenbrot oder einem Kaffee und einem der wirklich leckeren Schokoladenmuffins aus Linda's Heart Café für eine kurze Pause niederlassen wollten.

Er entdeckte ein Pärchen, das händchenhaltend vor Eddys Trödelladen stand und das Schaufenster näher in Augenschein nahm. Brackstone grinste zufrieden, als die junge Frau auf die Scheibe deutete und ihren Freund oder Ehemann dann lachend in den Laden zog. So gefiel ihm das. Junge Liebe, Touristen, die Geld ausgaben und damit die Stadtkasse füllten, und ein, trotz der für Ende März noch verdammt kühlen Temperaturen, bereits vollständig ausgebuchtes Hotel, weshalb er die FBI-Agenten, die ihm so unwirsch aufs Auge gedrückt worden waren, im Haus des vor zwei Monaten verstorbenen William Bucky hatte einquartieren müssen.

Brackstones Blick verfinsterte sich merklich, als er sich an das wortreiche Telefonat mit diesem arroganten FBI-Agenten erinnerte, der es sogar gewagt hatte, ihm zu drohen. Nur leider konnte er dagegen nicht einmal intervenieren, denn ein Mord blieb ein Mord, und obwohl er es McEverett immer noch übel nahm, dass der versucht hatte ihn dazu zu drängen, offiziell um Hilfe zu ersuchen, besaß Brackstone in der Sache keinerlei Handhabe. Nicht bei drei Leichen und einem brutalen Serienmörder, der den Bürgermeister von Chicago so nervös machte, dass er beschlossen hatte, sich einzumischen. Deswegen lag die Zuständigkeit ab sofort beim FBI, ob ihm das gefiel oder nicht, und es gefiel ihm absolut nicht.

Was hatte ein schwuler Anwalt überhaupt in den Wäldern außerhalb seiner Stadt zu suchen gehabt? Warum hatte er sich nicht in Chicago umbringen lassen, wie die anderen Opfer? Es tat ihm zwar leid um den Mann, aber gleichzeitig ärgerte ihn maßlos, dass sich offensichtlich niemand fragte, aus welchem Grund dieser Typ in den Wäldern herumgeschlichen war? Ein feiner Anwalt aus der Großstadt, der gerne angelte und dabei zufällig einem Mörder in die Arme lief? Eher unwahrscheinlich und in seinen Augen auch ziemlich weit hergeholt. Brackstone hegte viel eher den Verdacht, dass der Anwalt hergekommen war, um seinen Ehemann zu betrügen. Das taten diese Schwulen doch dauernd. Die konnten nicht treu sein, weil sie krank waren und therapiert gehörten, sagte die Kirche, und jetzt hatte der Mann die Quittung für sein schändliches Verhalten bekommen.

Vielleicht hätte er ein bisschen Mitgefühl für den Ehemann zeigen sollen, der wahrscheinlich nicht einmal gewusst hatte, was sein Mann für ein Hallodri war. Aber wer konnte schon sagen, ob der Ehemann nicht selbst ein Schürzenjäger war und nur so tat, als wäre er über den Verlust untröstlich. Schwule waren erfahrene Lügner, die jeden leicht täuschen konnten. Die Regierung war dafür das beste Beispiel, seit mittlerweile sogar Senatoren offen ihre Perversion auslebten und andere Männer heirateten. In manchen Fällen sogar Kinder großzogen.

Brackstone schauderte unwillkürlich bei der Vorstellung, wie gering die Chance für so ein armes Kind wohl war, normal aufzuwachsen, und setzte sich in Bewegung, um sich die Beine zu vertreten und im Diner der Mitchells etwas zu essen. Es war fast Mittag und seit Emma, seine geliebte Frau, vor acht Jahren an Krebs gestorben war, kochte Brackstone nur selten. Für sich allein machte es ihm einfach keine Freude und da Emma und ihm eigene Kinder leider nicht vergönnt gewesen waren, fühlte er sich in seinem mittlerweile viel zu leeren Haus an manchen Tagen ziemlich einsam. Im Diner zu Mittag zu essen versprach hingegen den neuesten Klatsch, einen Blick auf gute Bekannte und alte Freunde, sowie einen weiteren Blick auf die aktuellen Touristen in seiner Stadt, von denen Sanford Grove in seinen Augen niemals genug haben konnte.

Sollte das FBI doch zwei Agenten herschicken, die hier eine Weile herumschnüffelten. Wenn er Glück hatte, würde es keine weitere Leiche geben und die Spur sehr schnell kalten werden, wie es in diesen Kriminalsendungen immer gesagt wurde, die er sich so gerne ansah. Sie konnten nicht finden, was nicht hier war, und dieser Serienmörder war vermutlich längst wieder in Chicago, wo er bitte auch bleiben sollte.

Schon sehr bald wird das Leben in Sanford Grove wieder seinen gewohnten Gang gehen, dachte Colt Brackstone mit einem sehr breiten Lächeln und zog die Tür des Diners auf, in dem ihn der köstliche Geruch von würzigem Schweinebraten und süßem Käsekuchen erwartete.

 

 

4

 

 

 

 

Er brauchte bald einen neuen Probanden.

Nur gestaltete sich die Suche nach einem in seinen Augen passenden als schwierig. Nummer 34 zu übertrumpfen würde nicht einfach werden. Vermutlich sogar unmöglich. Es tat ihm beinahe leid, dass er ihn hatte töten müssen, dabei war er eine wirklich brillante Studie gewesen. So stark und voller Leben. Dazu dieser ungebrochene Kampfgeist, selbst dann noch, als es zu Ende ging. Es gab keine Worte, die ihm gerecht würden.

Ein Stirnrunzeln erblickte das Licht der Welt, während sein Blick über seine früheren Probanden schweifte. Warum hatte er fliehen müssen? Damit hatte er alles zwischen ihnen zerstört, seine gesamte Arbeit ins Lächerliche gezogen. Wie hatte sein so sehr geliebter Proband ihn nur auf diese absolut schändliche, unverzeihliche Weise hintergehen können und warum hatte er die Anzeichen nicht rechtzeitig erkannt und interveniert? Bei allen anderen war es ihm doch auch gelungen.

Nummer 12 hatte so laut geweint und an seinen Nerven gezerrt, und doch hatte er ihr nicht getraut – zu Recht, wie sich am Ende zeigte, als sie wie eine Furie auf ihn losging und alles gab, bis der letzte Atemzug über ihre Lippen geflossen war.

Er ging zu ihr hinüber, strich mit einem leisen Lachen über ihre faltige Haut. Noch immer haftete ihr ein leichter Duft des Honigs an, mit dem er ihren Körper eingerieben hatte und es schon bald wieder würde tun müssen, um sie so lange wie nur irgend möglich zu erhalten.

Sein Blick wanderte weiter zu den Gerätschaften, die er im Laufe der Jahre hier hinunter gebracht hatte, um diesen für ihn einzigartigen Raum trocken zu halten.

Seine Krypta.

Ein hohes, recht großes Gewölbe, das er gleich bei seinem ersten Rundgang in den Stollen entdeckt hatte. Wahrscheinlich aufgrund der Goldgrabungen nachträglich und auf natürliche Weise entstanden, und er hatte sich sofort in die wunderschön geschwungenen Wände aus groben Stein verliebt.

Liebe auf den ersten Blick, wie es immer so schön hieß, und auf ihn und sein zweites Zuhause traf das in jedem Fall zu. Die unzähligen Edelsteine, die seiner herrlichen Krypta zusätzlich das gewisse Etwas gaben, waren ihm egal, obwohl sie mitunter ein grandioses Lichtspiel boten, wann immer er sich den Luxus einer künstlichen Lichtquelle gönnte, während er ein bisschen Zeit mit seinen Probanden verbrachte.

Er lauschte in die Stille seiner Krypta und seufzte bei dem leisen, stetigen Tropfen, das in der Ferne leider noch zu hören war. Der einzige Nachteil an seinem Zuhause war das Wasser, gegen das er unermüdlich ankämpfen musste, und der stetige Regen in den vergangenen Wochen hatte ihn letztendlich doch einen Teil seiner neu hinzugewonnenen Krypta gekostet, weshalb er sich gezwungen gesehen hatte, seine letzten Probanden so umständlich in Chicago zu entsorgen, um keinen Verdacht auf sein Heim zu lenken.

Aber diese Unterbrechung seiner Routinen hatte ihm auch Nummer 34 beschert und obwohl ihr Zusammensein dann so unschön geendet war, würde er diesem Anwalt trotz allem für immer dankbar sein.

Ab sofort wollte er seine neuen Probanden sorgfältiger auswählen und er hatte schon einen genauer ins Auge gefasst, der es möglicherweise wert war, seine neue Nummer 35 zu werden. Doch noch war er unschlüssig, ob er mit diesem vielleicht eine Grenze überschritt, denn er würde vermisst werden. Er hatte Familie und war für die Menschen nicht unsichtbar, wie seine bisherigen Probanden. Aber mit seinem Anwalt hatte es ebenfalls funktioniert und möglicherweise war es das Risiko wert, denn sein Auserwählter war jung, stark und über die Maßen gefühlvoll. Genauso wie seine Nummer 34.

Mit ihm versprach seine neue Studie ein atemberaubender Erfolg zu werden und er brauchte jetzt einen Erfolg. Dringend sogar, nachdem sein letzter Proband eine solche Enttäuschung gewesen war, dass er ihm nicht einmal einen Platz in seiner Krypta zugestanden hatte.

Eine Libelle erhielten alle, als Wertschätzung seinerseits, für ihre Teilnahme an seiner Arbeit, aber einen Platz in der Krypta erhielten nur die, die sich würdig erwiesen. Nummer 34 hatte das nicht getan und der letzte Proband …

Er schüttelte verärgert den Kopf über diesen Fehlversuch. Wie hatte seine erste Nummer 35 es wagen können, einfach so zu sterben?

Unfassbar.

 

 

5

 

 

 

 

Es war nicht Peters Art, zu spät zu kommen.

Beckett erinnerte sich noch viel zu gut an den Wintersturm vor zwei Jahren, in dessen Verlauf es drei Tote und mehrere Verletzte, einer davon Peter, gegeben hatte, nachdem das Dach der Grundschule den Schneemassen nicht mehr standgehalten hatte und zusammengebrochen war. Selbst mit gebrochenem Arm hatte Peter weiter dabei geholfen, die panischen Kinder in Sicherheit zu bringen, und darum irritierte es Beckett mehr als er zugeben wollte, dass sein junger Kollege um fünf Minuten nach acht Uhr morgens nicht an seinem Schreibtisch saß.

Dabei würden sie heute jeden Mann brauchen, denn gegen Mittag hatte sich das FBI angekündigt, um die hier noch nicht mal in Gang gekommenen Ermittlungen im Mordfall Adrian Donaldson zu übernehmen und das war Beckett auch mehr als recht. Er schämte sich nämlich immer noch dafür, wie Sheriff Brackstone dessen Ehemann letzte Woche behandelt hatte.

Es war eine Sache, homophob zu sein, aber einem Witwer Fragen über die Freizeitgestaltung seines Mannes zu stellen, ob dieser gern angelte oder es üblich war, dass er sich so weit von Chicago entfernt herumtrieb, und das alles, nachdem William Donaldson erst kurz zuvor in das ausgemergelte Gesicht seines verstorbenen Mannes geblickt hatte – Beckett hätte Brackstone am liebsten die Faust ins Gesicht gerammt und er würde sich höchstpersönlich darum kümmern, dass William Donaldson den, trotz einer ausführlichen Suche am Flussufer seinerseits, leider weiterhin unauffindbaren Ehering zurückbekam. Wenn er schon sonst nichts tun konnte, um diese in seinen Augen unverzeihliche Verfehlung seines Bosses wiedergutzumachen, wollte er wenigstens etwas für den trauernden Witwer tun, der jetzt eine Beerdigung zu organisieren hatte.

Bookster betrat das Büro, in der Hand die Reste eines von Lindas unvergleichlichen Schokoladenmuffins mit Streuseln, um die Beckett so oft wie möglich einen Bogen machte, weil er sonst längst nicht mehr durch die Türen seines Hauses passen würde, und hielt irritiert inne, nachdem sein Blick auf Peters leeren Schreibtisch gefallen war.

»Wo ist Peter?«

Beckett zuckte ratlos die Schultern und wandte sich wieder seinem Computerbildschirm zu, um die neuesten E-Mails in Augenschein zu nehmen, die ihr Büro über das Wochenende erhalten hatte. Brackstone mochte zwar kein großer Verfechter der Technik sein, aber er wusste, dass auch die hiesige Polizei mit der Zeit gehen musste, und deshalb hatte das Sheriffbüro von Sanford Grove eine eigene Webseite mit einer Möglichkeit zur Kontaktaufnahme, die die Bürger auch redlich nutzten. Vor allem an den Wochenenden, wo das Bürotelefon nicht besetzt war und Mimi, sein privater Hausdrachen, wie Brackstone die ältere Dame liebevoll nannte, nur Notfälle an den Sheriff oder seine Deputys weiterleitete.

Und die entrüstete Beschwerde über die Lautstärke eines Rasenmähers am Sonntagmorgen gehörte ganz sicher nicht in die Kategorie Notfall. Sie gehörte in keine Kategorie, deswegen löschte Beckett sie unbeantwortet, weil der Absender dieser Beschwerde sich ständig mit seinem Nachbarn wegen dessen Rasenmäher in den Haaren lag und sie aus diesem Grund nur alle paar Monate auf die Beschwerde reagierten.

Dasselbe trostlose Schicksal ereilte die Nachricht von Mila Delacourt, die ihn zum Abendessen einlud. Beckett schnaubte und verdrehte die Augen, als Bookster ihn fragend ansah, doch schon im nächsten Moment zu grinsen anfing.

»Mila?«

»Wer sonst«, murmelte Beckett und wandte sich der dritten von acht E-Mails zu, während Bookster lachte. Jeder im Büro wusste über Milas hartnäckige Annäherungsversuche Bescheid und jeder amüsierte sich darüber – abgesehen von ihm selbst, versteht sich.

»Warum gehst du nicht mal mit ihr aus?«

Beckett warf Bookster einen entgeisterten Blick zu. »Damit sie sich bestätigt fühlt? Nein, danke.«

»Sie wird sowieso nicht aufhören«, konterte Bookster und klang für Beckett viel zu belustigt, was seiner eigenen Laune nicht gerade zuträglich war.

»Wenn du Mila so scharf findest, geh du doch mit ihr aus. Dann habe ich wenigstens endlich meine Ruhe.«

Booksters überraschter Blick ließ ihn innerlich fluchen, weil ihm klar war, dass er seinen Kollegen jetzt erst recht neugierig gemacht hatte. Nicht, dass Bookster immerzu versuchte, ihn zu verkuppeln, aber dass er es merkwürdig fand, dass Beckett mit mittlerweile siebenunddreißig Jahren offenbar nicht im Traum daran dachte, sich eine Frau zu suchen und endlich sesshaft zu werden, wusste Beckett natürlich. Solche Dinge fielen in ihrer kleinen Stadt nun mal auf und irgendwann würde man wohl anfangen, ihn zu fragen, ob er vorhatte, auch so ein seltsamer Eigenbrötler zu werden wie William Bucky, dessen Haus seit dem Tod des alten Mannes leer stand – zumindest bis nachher diese FBI-Agenten hier aufkreuzten.

Es war Becketts Glück, dass Owen und Adam Marshall, die anderen beiden Deputys, sich genau den Moment aussuchten, um lachend und schwatzend im Sheriffbüro aufzutauchen und ihn somit vor Booksters neugierigen Fragen bewahrten. Fürs erste war er gerettet, aber Beckett machte sich keinerlei Illusionen, dass das auch so blieb. Früher oder später würde Bookster ihn abpassen, um dieses Gespräch fortzuführen.

»Hallo, Beckett.« Owen, der jüngere der Marshall-Brüder, kam breit grinsend an seinen Schreibtisch. »Wir waren eben im Diner und rate mal, wer uns gebeten hat, dir ganz liebe Grüße auszurichten? Sie trug übrigens ihre Mörderbluse … Du weißt schon, das knallrote Ding mit den Druckknöpfen, das für ihre enormen weiblichen Attribute mindestens zwei Nummern zu klein ist.«

Beckett stöhnte unbeherrscht und prompt begannen seine lieben Kollegen, inklusive Bookster, schallend zu lachen. Dabei sollten sich gerade die Brüder besser zurückhalten, denn beide hatten bereits bei seinem Dienstantritt hier den Ruf gehabt, nie etwas anbrennen zu lassen, und daran hatte sich bis heute auch nichts geändert. Selbst Mila und Sandrine machten um Owen und Adam große Bögen, da sie keine Lust hatten, die nächsten Kerben in deren Bettpfosten zu werden.

»An deiner Stelle wäre ich vorsichtig, Owen«, sagte Beckett trocken und warf einen erneuten Blick auf die nächste E-Mail, obwohl er sich der Aufmerksamkeit seiner Kollegen deutlich bewusst war. »Wenn Selma dich jemals dabei erwischt, wie du ihre Rosenhecke hochkletterst, um ins Zimmer ihres niedlichen Engels zu kommen, bist du ein toter Mann.«

»Woher …?«, fing Owen fassungslos an und wurde prompt von seinem Bruder und Bookster ausgelacht, während Beckett sich ein überhebliches Grinsen gönnte, aber nichts weiter dazu sagte. Es war sowieso reiner Zufall, dass er Owen letzte Woche dabei gesehen hatte, wie der sich durchs Fenster ins Haus der Aticotts schlich, um deren Tochter zu beglücken. Spaziergänge mit dem Hund waren manchmal wirklich sehr erheiternd.

Er versah die dritte Nachricht, ein Hinweis auf eine illegale Mülldeponie im Wald, mit einem roten Erinnerungsfähnchen, um sich später darum zu kümmern, und entsorgte die übrigen fünf Mails, von denen drei Werbung und zwei lächerliche Beschwerden waren, im Papierkorb. Danach stockte er. Andererseits konnte er sich genauso gut gleich auf den Weg machen. Zu tun gab es an einem normalen Montagmorgen ohnehin nie viel und so entkam er wenigstens einer weiteren Diskussion über Sandrine Mitchells Oberweite.

Beckett erhob sich. »Ich fahre hoch zur Tankstelle. Ernie hat eine wilde Mülldeponie gemeldet, das sehe ich mir mal an.«

Er steckte seine Waffe ein, überprüfte das Funkgerät, das er neben seinem privaten Handy täglich bei sich hatte, da es hier draußen immer noch zu viele Funklöcher gab, und schnappte sich zum Schluss seine Jacke. Frühling hin oder her, das Wetter in Sanford Grove machte niemals halbe Sachen, und nur weil in der Stadt schon überall die Blumen blühten, hieß das nicht, dass es nächste Woche nicht noch einmal schneien konnte.

Eine dicke Jacke war auch Ende März noch unerlässlich in Sanford Grove, das hatte er gleich in seinem ersten Winter hier oben auf die harte Tour gelernt.

 

Die illegale Mülldeponie entpuppte sich als wild entsorgter Hausmüll, inklusive einer zusammengeknüllten Rechnung, auf der Beckett mit einem Kopfschütteln Namen und Anschrift des Verursachers fand. Dummheit stirbt wohl nie aus, dachte er und rief in der Tankstelle an, um Ernies jüngeren Bruder Wyatt herzubestellen, mit dem er sich vorhin noch unterhalten hatte. Der Mann hatte eine Frau und drei Kinder zu versorgen, was ihm eher schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs gelang, darum waren seine Kinder derzeit wieder einmal bei Pflegefamilien untergebracht, da sowohl Wyatt als auch seine Ehefrau Christine ihren Frust zu oft in Alkohol ertränkten.

Die Brüder kamen zusammen und Beckett überließ es nach einem tadelnden Blick und einem Strafzettel, von dem er jetzt schon wusste, dass er nicht bezahlt werden würde, Ernie, sich um die Strafpredigt für seinen Bruder zu kümmern. Wenn die Müllsäcke nachher weg waren, würde er das Ganze vergessen. Bis zum nächsten Mal. Und zum übernächsten Mal. Und dann zum überübernächsten Mal. Er konnte Menschen nicht ändern und wenn sie sich nicht selbst ändern wollten, würden sie eben damit leben müssen, dass ihre Schuldenberge stetig wuchsen und ihre Kinder bei Fremden aufwuchsen. Sein Mitgefühl hielt sich in dieser Hinsicht in Grenzen, besonders da Ernie seinem Bruder schon oft unter die Arme gegriffen und ihm die Chance gegeben hatte, neu anzufangen. Für Beckett waren Wyatt und Christine hoffnungslose Fälle und eines Tages würde Ernie das akzeptieren müssen.

Nach einem kurzen Abstecher in Linda's Heart Café, um sich ein Sandwich und einen frischen Kaffee zu holen, bog Beckett mit seinem Wagen, einem inneren Instinkt folgend, nach rechts in die Wilson Street ab und folgte ihr in westlicher Richtung bis zur Schweinefarm hinaus. Er sah Chuck Braddock auf einem klapprigen Traktor über sein großes Kartoffelfeld rumpeln und folgte der asphaltierten Straße weiter, bis er erneut rechts auf jenen matschigen Waldweg abbog, der ihn direkt zur Stelle am Fluss führte, wo Burt Mason die Leiche gefunden hatte. Beckett wusste gar nicht genau, was er hier draußen eigentlich wollte. Vielleicht noch mal nach dem Ring suchen, einen Versuch war es wert, nachdem es jetzt drei Tage nicht geregnet hatte. Außer ihn interessierte es scheinbar ohnehin keinen, was aus diesem Mord wurde.

Nicht mal Clint Walters hatte eine Titelstory aus dem Toten gemacht, wobei er dabei Sheriff Brackstone und Bürgermeister Aticott in Verdacht hatte. Walters war zwar ein jämmerlicher Klatschreporter, der es niemals müde wurde, aus dem Unglück Anderer Kapital zu schlagen, aber die Zeitung wurde mit Steuergeldern aus der Stadtkasse unterstützt, die Aticott und der Stadtrat von Sanford Grove jedes Jahr neu verteilten. Es dürfte Walters nicht viel anderes übrig geblieben sein, als sich mit den alten Männern gut zu stellen, sofern er im nächsten Jahr noch seinen Job machen wollte. So gesehen war der knappe Artikel über das Mordopfer auf Seite 6 dahingehend keine allzu große Überraschung.

Der schwarze SUV mit getönten Scheiben, der mitten auf dem Waldweg parkte, als Beckett endlich am Flussufer eintraf, war indes eine ziemliche Überraschung.

Wer, zur Hölle, war das denn?

Das FBI möglicherweise, aber die Agenten sollten doch erst gegen Mittag hier eintreffen, und vor allem sollten sie sich bei Sheriff Brackstone im Büro melden, wegen der Schlüssel vom Haus des alten Bucky, und nicht eigenmächtig im tiefen Wald herumschnüffeln.

Das wird Brackstone nicht gefallen, dachte Beckett, hielt hinter dem Geländewagen, der weitaus sauberer war als sein eigener, und stieg aus. Er musste nicht lange suchen, um die beiden unerwünschten Besucher zu entdecken, und setzte ein finsteres Gesicht auf, während er zu ihnen hinüberging. Ein schlanker, hochgewachsener Blonder, der einen grauen Anzug trug, der mit Sicherheit nicht von der Stange kam, drehte sich zu ihm um. Grüne Augen musterten ihn einen Moment, dann weiteten sie sich verblüfft.

»Merde!«, fluchte der Fremde auf französisch, was prompt seinen Partner aufmerksam machte, der weiter unten am Fluss hockte, mit einem Ast im Matsch herumstocherte, und Beckett dabei seltsam bekannt vorkam. Als der Mann sich dann erhob und ebenfalls zu ihm umdrehte, hielt Beckett abrupt inne.

Nein!

Das konnte nicht sein.

Beckett wurde speiübel. Schweißperlen, geboren aus reiner Panik, liefen ihm über die Stirn und in den Nacken, wo sie sich ihren Weg über seinen Rücken bahnten und ein unangenehm klammes Gefühl hinterließen, während er einmal blinzelte und dann langsam einen Schritt zurück machte. Am liebsten hätte er kehrt gemacht und wäre davongerannt, und Beckett begriff erst in letzter Sekunde, dass er kurz davor stand, genau das zu tun, woraufhin er sich mit aller Macht zusammenriss, einmal tief durchatmete und anschließend den Abstand überbrückte, der ihn von dem anderen Mann trennte, den er nicht kannte.

»Und Sie sind wer?«, fragte er mürrischer als geplant, doch sein Gegenüber ließ sich davon nicht stören, sondern zog eine schwarze Ledermappe aus einer Innentasche in seinem Jackett, die er aufklappte und ihm hinhielt. Ein Dienstausweis und die dazu gehörige Plakette des Federal Bureau of Investigation waren unverkennbar.

»Special Agent Brixton Eastmore und Special Agent Ford Templeton vom FBI. Wir wurden angekündigt.«

Beckett blickte demonstrativ auf seine Uhr. »Für zwölf Uhr mittags im Büro des Sheriffs. Nicht für halb zehn Uhr morgens am Fundort einer Leiche, mitten im Wald.«

»Bitte um Vergebung«, konterte Agent Eastmore spöttisch und das ließ Becketts ohnehin schon schlechte Laune völlig in den Keller rutschen.

»Es mag ja sein, dass Sie Ihre Ermittlungen in einem neuen Fall immer damit beginnen, die hiesigen Behörden gründlich zu verärgern, aber bei uns sollten Sie das tunlichst unterlassen. Zumindest wenn Sie vorhaben, sich der dringend notwendigen Mitarbeit selbiger Behörden zu bedienen.«

Eastmore schaute ihn überrascht an. »Haben Sie uns gerade gedroht, Deputy?«

Beckett wäre beinahe ertappt zusammengezuckt. Das hatte er tatsächlich, aber im Moment war ihm das vollkommen egal. Er wollte nur noch möglichst viel Abstand zwischen sich und Ford bringen, und zwar schnell.

»Wenn Sie klare Fakten als Drohung betrachten, bitte sehr. Und jetzt folgen Sie mir in die Stadt. Sheriff Brackstone will mit Ihnen reden.«

Den er erst einmal anrufen und ins Büro beordern musste, aber das konnte er auf dem Rückweg tun. Hauptsache, er hatte Ford nicht mehr im Blickfeld, der, obwohl die Falten rund um seine Augen und seine Mundpartie in den vergangenen zehn Jahren um einiges tiefer geworden waren, immer noch genauso gut aussah wie früher. Ganz zu schweigen von seinen akkurat kurz gehaltenen, braunen Haaren, an den Schläfen um ein paar Nuancen heller als früher, und einem schlanken Körper, den er gerade unter einem dunkelblauen Anzug versteckte und von dem Beckett noch genau wusste, wie er damals ohne Kleidung ausgesehen hatte. Auch daran schien sich nichts geändert zu haben. Rein körperlich war Ford offenbar immer noch genauso rank und schlank, wie mit Anfang dreißig, und dass er diese Tatsache überhaupt registrierte, ärgerte Beckett ungemein, weil er das von sich selbst nicht behaupten konnte.

Die täglichen Spaziergänge mit Cooper reichten nun einmal nicht aus, um sich schlank und fit zu halten, wenn man sonst keine regelmäßige, körperliche Betätigung vorweisen konnte, und ein Fitnessstudio hatte Sanford Grove nicht zu bieten. Er war nicht zu dick, darauf achtete Beckett, schließlich war er ein Polizist, der durchaus mal einem Flüchtigen zu Fuß nachjagen musste, aber mit Fords Aussehen konnte er nicht mithalten, der ihm sogar mit seinen heute einundvierzig Jahren eindeutig um einiges voraus war.

»Wir ziehen es vor, erst den Fundort der Leiche genauer in Augenschein zu nehmen«, widersprach Ford ruhig und nach diesen Worten musste Beckett sich wirklich bemühen, um ihm nicht einfach die Faust ins Gesicht zu rammen.

Wie konnte dieser Mistkerl es wagen …?

Beckett wandte den Männern den Rücken zu. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können … Das tust du ja sowieso immer, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Beckett ...«

»Fick dich!«, zischte Beckett impulsiv und raste kurz darauf in einem halsbrecherischen Tempo den Waldweg entlang, sich selbst dabei immer wieder verfluchend. Warum hatte er nicht einfach seinen dummen Mund gehalten? Dieser Nachsatz war dermaßen überflüssig gewesen. »Fuck!«, brüllte er wütend und schlug mit der Faust rabiat gegen das Lenkrad.

Ausgerechnet Ford. Warum hatte das FBI niemand anderen mit diesem Fall betreuen können?

Warum Ford?

Scheiße.

 

 

6

 

 

 

 

»Wusstest du, dass er …?«

»Nein«, unterbrach Ford Brixton, während er immer noch auf die Stelle starrte, an der Becketts dreckiger Geländewagen zuvor gestanden hatte.

Vielleicht hätten sie vor ihrer Herfahrt doch einen längeren Blick auf die übrigen Beamten im Büro von Sheriff Brackstone werfen sollen, anstatt das ausgedruckte Blatt lieblos in die Akte zu stopfen und danach zu vergessen, was vorrangig daran lag, dass weder Ford noch Brixton gut auf den Sheriff zu sprechen waren, seit sie sich mit William Donaldson unterhalten hatten. Brackstone hatte den Witwer unmöglich behandelt und mit seinen Fragen bei Donaldson sogar den Eindruck erweckt, dass sein Mann eine Mitschuld an seiner Ermordung trug.

Captain Mercer war sprichwörtlich an die Decke gegangen, als Ford ihn deswegen angerufen hatte, und nicht nur aus diesem Grund hatte Ford vor, ein paar ernste Worte mit Colt Brackstone zu reden. Adrian Donaldson war ermordet worden und ob er schwul, bisexuell oder ein Transmann war, hatte bei polizeilichen Ermittlungen keine Rolle zu spielen.

Was für Ford allerdings eine verdammt große Rolle spielte, war Becketts Anwesenheit. Sein Beckett lebte in Sanford Grove. Nach so langer Zeit und so vielen Träumen, guten genauso wie schlechten, die er seit ihrer Trennung gehabt hatte, wusste er endlich, wohin es Beckett verschlagen hatte. Zehn Jahre. Eine Ewigkeit in seinen Augen, doch jetzt bekam Ford durch eine glückliche Fügung des Schicksals vielleicht eine zweite Chance. Die Möglichkeit auf einen Neuanfang, wenn er es klug anfing und dabei nicht dieselben Fehler machte wie damals.

Allerdings sollte er sich dafür besser einen grandiosen Plan zurechtlegen und vor allem nicht vergessen, dass sie vorrangig hier waren, um einen Serienmörder zu finden.

Ford atmete tief durch und richtete seinen Blick zurück auf das Flussufer und den Matsch zu seinen Füßen, der ihm schon auf den ersten Blick verraten hatte, dass jeder Versuch, hier ein Beweisstück oder überhaupt eine Spur zu finden, sinnlos war. Aber er hatte es wenigstens versuchen wollen. Für Donaldson. Der Witwer verdiente ihre Hilfe genauso wie die Ermordeten, von denen das FBI mittlerweile der Überzeugung war, dass es weit mehr als die bislang gefundenen drei gab. Die Spuren von Fesseln, die im Rachen der Opfer zurückgelassenen Libellen – aus echtem Gold, aber leider auch eine Massenware und daher unmöglich zu einem Käufer zurückzuverfolgen – und die Zeit, die Adrian Donaldson in Gefangenschaft verbracht hatte, um dort langsam und qualvoll zu verhungern; das alles sprach für die Profiler in Quantico, denen sie den Fall vor ihrer Abreise vorgelegt hatten, um einen ersten Eindruck zu bekommen, für einen hochgradig organisierten und sehr erfahrenen Täter, der irgendwo einen Raum oder ein Haus besitzen musste, wo er seine Opfer gefangen hielt.

Sie mussten diesen Täter so schnell wie möglich finden, um zu verhindern, dass es weitere Opfer gab, denn eine Quersuche in und um Chicago herum hatte ergeben, dass allein in den letzten fünf Jahren sieben Männer im Alter des letzten Opfers – in allen Fällen waren es Ausreißer oder Obdachlose gewesen, die niemand vermisste – spurlos verschwunden und nie wieder aufgetaucht waren.

Was Ford wieder zu der Frage führte, warum es auf einmal drei Leichen gab. Eine solche Änderung der Vorgehensweise geschah niemals ohne Grund. Vielleicht wurde der Täter durch die Tatsache, dass man ihn über eine so lange Zeit hinweg nicht erwischt hatte, unvorsichtig oder sogar übermütig. Eine Vermutung, nicht besser oder schlechter als alles, was sie im Moment vorzuweisen hatten, und das war immer noch viel zu wenig. Sie mussten unbedingt mit Sheriff Brackstone und dem Leichenbeschauer sprechen. Sie brauchten den Autopsiebericht und sie brauchten einen Ort, an dem sie alle bisherigen Fakten sortieren und in Ruhe durcharbeiten konnten.

»Hier werden wir nichts mehr finden, Ford«, sagte Brixton und trat neben ihn. »Diese Stümper haben alles falsch gemacht, was man bei einer Mordermittlung falsch machen kann, und er wird damit klarkommen, dass du hier bist.«

»Um Beckett mache ich mir da weniger Sorgen«, murmelte Ford und verfluchte sich gleich darauf, dass er das überhaupt gesagt hatte, dabei war es die Wahrheit. Beckett war immer der Stärkere von ihnen gewesen. Der, der sein Herz auf der Zunge trug und sich nicht scheute, einfach mit seiner Meinung, selbst wenn der Augenblick dafür unpassend war, herauszuplatzen. Er hatte es gerade wieder erlebt, mit diesem Nachsatz in seine Richtung, der Ford verdammt viel darüber verraten hatte, wie verletzt Beckett nach all der Zeit immer noch war. Sonderlich überrascht war er davon nicht. Alles andere wäre einfach nicht Becketts Art gewesen.

Aber nicht alles ist wie damals, dachte Ford und konnte ein Stirnrunzeln nicht unterdrücken, bei der Erinnerung daran, wie verbittert Beckett auf ihn gewirkt hatte. So voller Wut und Abwehr, und das nicht nur ihm gegenüber, was er verstanden hätte. Aber es schien beinahe so, als wäre Beckett wütend auf die ganze Welt, aber vor allem auf sich selbst, was hoffentlich nichts mit seinem Äußeren zu tun hatte. Andererseits, Beckett hatte früher penibel darauf geachtet, gut auszusehen, und dass er ein bisschen in die Breite gegangen war und graue Schläfen bekommen hatte, was Ford im Übrigen recht anziehend fand, könnte sein widersprüchliches Verhalten erklären. Zumindest einen kleinen Teil davon.

»Wir könnten diesen Fall abgeben«, schlug Brixton vor und Ford starrte ihn entsetzt an.

»Nein!«

»Ford ...«

»Auf gar keinen Fall!«

»Damit du Urlaub nehmen und mit ihm reden, diese Sache zwischen euch endlich vernünftig klären kannst, du Vollidiot. Lass mich gefälligst ausreden, Templeton!«

Ford schwieg verblüfft. An diese Lösung hatte er in seiner anfänglichen Panik, Beckett zu verlieren, nachdem er ihn eben erst wiedergefunden hatte, überhaupt nicht gedacht, dabei war der Vorschlag wirklich gut und zeugte von sehr viel Mitgefühl, wovon Brixton jede Menge besaß, obwohl er das gerne hinter seinen teuren Anzügen, dem überzogenen Gehabe und einem harmlosen Lächeln versteckte.

Dennoch; Ford entschied sich mit einem Kopfschütteln dagegen. Er wollte diesen Fall nicht abgeben, denn solange er in Sanford Grove ermittelte, konnte er regelmäßig einen Blick auf Beckett werfen und mit ihm reden, ihn dadurch erst mal neu kennenlernen, was ihm hoffentlich eine Idee einbrachte, wie er sich Beckett privat wieder annähern konnte. Es würde viel Zeit brauchen und noch mehr Geduld, Beckett von sich zu überzeugen und ihm eine zweite Chance zu geben, aber wenn Ford eines im Überfluss besaß, dann war es Geduld.

»Reden wir mit Sheriff Brackstone. Danach holen wir uns den Autopsiebericht und richten uns in dem Haus ein, das sie uns zur Verfügung stellen. Und irgendwo etwas essen, wäre auch nicht schlecht. Mir knurrt der Magen.«

Brixton schnaubte kopfschüttelnd. »So willst du das Ganze also handhaben? Indem du ihn ignorierst?«

»Ich werde Beckett nicht ignorieren, aber ich würde es gern ein wenig sacken lassen, dass er hier ist, ehe ich mir überlege, was ich seinetwegen als nächstes tue. Und falls du es vergessen haben solltest, wir sind hier, um einen Serienmörder zu finden, von dem keiner weiß, ob er sich hier, in Chicago oder sonst wo aufhält. Ich wäre dir also sehr verbunden, wenn du das Private privat lassen und dich ab sofort auf unseren Job konzentrieren würdest.«

Brixton sah ihn ernst an. »Du machst einen Fehler.«

»Tja, darin habe ich ja schon ausreichend Erfahrung, nicht wahr?«, konterte Ford trocken und ließ Brixton stehen, als der daraufhin stöhnend die Augen verdrehte und in einer hilflosen Geste die Arme hob.

 

Colt Brackstone war eindeutig nicht erfreut, sie hier im Ort begrüßen zu müssen, obwohl er alles versuchte, diese Tatsache vor ihnen zu verbergen, während er ihnen seine Deputys vorstellte und sich hinterher lang und breit darüber ausließ, dass er es nicht schätzte, übergangen zu werden, und was sie bitte am Flussufer zu suchen hatten, schließlich wäre der Fundort der Leiche längst wieder freigegeben.

Und so weiter und so fort. Ford ließ den Mann reden, denn das tat der offenbar gerne, und ließ seinen Blick stattdessen unauffällig durch das Sheriffbüro schweifen. Ein großer Raum mit mehreren Schreibtischen, ein Einzelbüro im hinteren Teil, das mit Sicherheit allein dem Sheriff vorbehalten war, dazu ein weiterer, kleiner Raum, in dem eine ältere Dame ein Telefon zu bewachen schien. Die Zentrale für alle eingehenden Anrufe, vermutete Ford, und sein Blick blieb auf einer geschlossenen Tür hängen, die vermutlich zu den Zellen und Toiletten führte. In Kleinstädten waren Reviere oftmals auch das Gefängnis, in dem die Verbrecher saßen, bis ein Richter über eine mögliche Anklage entschied.

Irgendwann wurde es Ford allerdings zu dumm. »Sheriff Brackstone«, fuhr er dem Mann ins Wort, als der damit anfing, über die sich in der Stadt aufhaltenden Touristen zu reden, die von den Ermittlungen gefälligst nicht behelligt werden sollten, »entschuldigen Sie meine Unterbrechung, aber fürs Erste habe ich genug gehört und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns den Schlüssel für das Haus übergeben, damit wir uns dort einrichten und hinterher etwas essen gehen können.«

»Ich hoffe, Sie haben Kleidung mitgebracht, die … nun ja, unauffälliger ist.«

Langsam wurde es wirklich lächerlich. Hatte dieser Sheriff keine anderen Probleme, als die Touristen im Ort? Es mochte ja sein, dass kleine Ortschaften vom Tourismus lebten, aber ein Serienmörder konnte auch für die ach so wertvollen Besucher in der Stadt zur Gefahr werden, nur schien Sheriff Brackstone das entweder nicht bewusst zu sein oder aber es war ihm egal. Ford hoffte auf Ersteres, denn die andere Möglichkeit wäre ein Armutszeugnis für den Charakter dieses Mannes, von dem er ohnehin schon nicht viel hielt.

»Wie bitte?«, fragte Ford scharf und zumindest die Deputys hatten den Anstand rot anzulaufen, während Brackstone sich keiner Schuld bewusst schien. Unglaublich.

Brixton neben ihm murmelte auf französisch eine ironische Bemerkung über dumme Menschen, was Ford zustimmend nicken ließ, bis er Becketts eisigen Blick auffing.

Nicht hier, nicht jetzt, wies er sich innerlich zurecht, denn er hatte weder vor, Beckett oder sich selbst vor Colt Brackstone zu outen, noch sollte dieser Mann überhaupt jemals erfahren, dass sie einander von früher kannten. Jedenfalls nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Männer wie Brackstone taten seiner Erfahrung nach alles, um Ermittlungen zu torpedieren, und ein schwuler FBI-Agent, der eine langjährige Beziehung mit einem seiner eigenen Deputys gehabt hatte, würde Sheriff Brackstone die perfekte Gelegenheit geben, sowohl ihn als auch Beckett in Misskredit zu bringen.

»Sheriff Brackstone, wir sind in einer offiziellen Ermittlung wegen dreifachen Mordes hier, was spätestens morgen sowieso in jeder Zeitung von hier bis Chicago auf der Titelseite stehen wird. Sie dürften also schon bald ganz andere Probleme haben, als zwei FBI-Agenten in Anzügen, die ihre Arbeit tun.«

Ford verbot sich ein Grinsen, als Brixton sein beginnendes Lachen hinter einem Hüsteln versteckte, da Sheriff Brackstone sie verärgert ansah, sich allerdings jeden weiteren Kommentar zu ihrer Bekleidung verkniff. Stattdessen ging er in sein Büro und kehrte kurz darauf mit einem Schlüsselbund wieder, das er ihm zuwarf. Ford fing es problemlos auf.

»Peter kann Sie zu Buckys Haus bringen, sobald er hier ist. Wo steckt er überhaupt?«

»Er ist heute Morgen nicht gekommen, Sheriff«, antwortete einer der Deputys, Bookster, wenn Ford den seltsamen Namen richtig im Kopf behalten hatte, was bei Sheriff Brackstone für ein merklich verwundertes Stirnrunzeln sorgte.

»Was soll das heißen? Johns Junge kommt nie zu spät zum Dienst. Hat er sich krank gemeldet?«

»Nein, Sheriff.«

Deputy Bookster war deutlich anzusehen, dass ihm diese Möglichkeit weitaus lieber gewesen wäre, und da war es Ford, der irritiert die Stirn runzelte, bevor er einen kurzen Blick mit Brixton tauschte, der misstrauisch dreinschaute. Offenbar war dieser Peter ein sehr zuverlässiger Deputy. Ford beschlich eine ungute Ahnung.

»Ich rufe bei den Wilsons an. Beckett, Sie zeigen den beiden Gentleman das Haus und bringen sie danach zum Diner oder ins Restaurant, damit sie etwas essen können.«

Gerade als Brackstone zum Telefon griff, um sich nach dem Verbleib seines Deputys zu erkundigen, wurde die Tür zum Sheriffbüro aufgerissen und ein dürrer Mann mit graublauen Augen, Halbglatze und vor lauter Aufregung tiefroten Wangen stürmte in den Raum. Er war total verdreckt, hatte Blut an den Händen und auf der Kleidung, und schien komplett neben sich zu stehen. Ford war sofort in Alarmbereitschaft und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Brixton instinktiv eine Hand unter sein Jackett schob, wo sein Partner eine geladene 9mm SIG Sauer bei sich trug. Er selbst hatte ebenfalls schon die Hand an seiner Glock, für den Notfall – der jedoch nicht eintrat, denn der Fremde warf einen panischen Blick auf Sheriff Brackstone und stöhnte dann gequält auf.

»Sheriff … Oh Gott, Brackstone, da ist …« Er deutete nach draußen. »Im Wagen … Mein Gott. Er lag im Kartoffelfeld. Ich habe ihn zu spät gesehen, als ich mit dem Traktor … Sheriff, ich glaube, er lebt noch.«

 

 

7

 

 

 

 

Es gab eine neue Leiche.

Direkt vor dem Sheriffbüro von Chuck Braddock in seinem alten Pick-up abgeliefert, und zwar bei laufendem Motor und mit offenstehender Fahrertür mitten auf der Hauptstraße von Sanford Grove.

Clint Walters konnte sein Glück kaum fassen.

Max McBride, dieser mürrische, alte Quacksalber, der sich gleichzeitig auch Leichenbeschauer schimpfte, hatte das Opfer unter den Augen unzähliger Touristen, die sofort ihre Handys gezückt und Aufnahmen gemacht hatten, und einiger völlig entsetzter Bewohner abtransportiert, und das wiederum würde dafür sorgen, dass spätestens in einer Stunde die gesamte Stadt und auch die umliegenden Ortschaften über den Toten und vor allem die beiden gut aussehenden Fremden Bescheid wussten, die die ganze Aktion mit stoischem Schweigen und unergründlicher Mimik beobachtet hatten und am Ende Deputy McEverett gefolgt waren. Wohin auch immer.

Nun, er würde schon bald herausgefunden haben, wo sich die zwei verkrochen hatten und wer sie waren, und sie danach um ein offizielles Statement bitten. Clint tippte auf FBI und das könnte bedeuten, dass die Sache weitaus größer war, als er vor einer Stunde noch gedacht hatte. Wenn das FBI bei diesem Fall mitmischte und Agenten in ihre gemütliche Kleinstadt schickte, musste einfach mehr an alldem dran sein und er, Clint Walters, engagierter Reporter und zugleich auch Verleger der Sanford Times, würde herausfinden, was es war.

Dieses Mal würde er sich nicht von Sheriff Brackstone und diesem Feigling von Bürgermeister, der jedes Mal den Schwanz einzog, sobald irgendwas in der Stadt passierte, das ihm seine wertvollen Touristen erschrecken könnte und damit eine ernste Gefahr für die erhofften, reichlichen Steuereinnahmen war, den Mund verbieten lassen. Nein, dieses Mal würde er seine Story schreiben, so wie er es wollte, und sie als riesigen Aufmacher direkt auf der Titelseite platzieren.

Morgen früh würde jeder Bewohner in Sanford Grove wissen, dass unter ihnen ein brutaler Mörder umging, der bereits zwei Menschen bestialisch getötet hatte.

 

 

8

 

 

 

 

Wieder einmal trafen sie in der Leichenhalle aufeinander, doch heute war es zu spät für letzte Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hätten hineinfallen können, und so war es nur das grelle Licht der leise summenden Deckenbeleuchtung, das auf den nackten Körper des leider unbekannten Toten – weil eine Abfrage seiner Fingerabdrücke ebenso wenig gebracht hatte, wie ein Zahnabgleich mit den aktuellsten Vermisstenfällen der letzten Wochen – hinunter leuchtete und ihn in ein für Becketts Augen seltsam unwirkliches Licht hüllte, das die helle Haut des Mannes noch bleicher erscheinen ließ.

Es war ihm unmöglich zu schätzen, wie alt der Tote war. Er hätte genauso gut dreißig wie fünfzig sein können, so verlebt und verbraucht, wie er aussah, und Beckett fand es furchtbar, dass sie nicht wussten, wie der Mann hieß und es vermutlich auch niemals erfahren würden.

Wieder ein namenloses Grab mehr, wo auch immer dieser Mensch seine letzte Ruhestätte finden würde.

»Herzinfarkt? Sind Sie sicher?«, fragte Brackstone und riss Beckett aus seinen Gedanken.

McBride sah nicht von dem Körper des Toten auf, nickte jedoch. »Ich bin mir sogar sehr sicher, Sheriff. Obwohl er erste Anzeichen von Verwahrlosung zeigt, was mich vermuten lässt, dass er bereits einige Zeit ohne einen festen Wohnsitz war, ist die Todesursache unverkennbar. Keine Folter, kein anhaltender Entzug von Wasser und Nahrung. Nein, meine Herren, dieser Mann starb schlicht und ergreifend an einem Herzinfarkt und Mister Braddocks Äußerung, er sei noch am Leben … Nun ja, man überfährt nicht jeden Tag einen Menschen, nicht wahr?«

»Dann wurde er aus Versehen von Braddock überfahren?« Brackstone klang triumphierend. »Es könnte also durchaus ein Unfall gewesen sein.«

Ford, zu seiner Rechten, schnaubte leise und selbst Beckett konnte sich nur mühsam einen Einspruch verkneifen. Langsam wurden Sheriff Brackstones Versuche, aus den Morden Unfälle zu machen, wirklich albern. Dabei hatte er nur einen Blick auf den Toten auf der Ladefläche des Pick-ups werfen müssen, um zu wissen, dass sie es auch in diesem Fall mit einem eiskalten Mord zu tun hatten. Oder zumindest mit einer Entführung, die ein neuer Mord geworden wäre, wäre der Mann nicht vorzeitig an einem Herzinfarkt gestorben.

Der Tote hatte sich auf den zweiten Blick nämlich als nicht völlig ausgemergelt und monatelang gefoltert erwiesen, so wie das letzte Opfer, aber auch er wies die unübersehbaren Spuren von Fesseln an beiden Hand- und Fußgelenken auf.

Der Mann war kein Opfer eines Unfalls, ganz im Gegenteil, obwohl Beckett sich keinen Reim darauf machen konnte, wieso die Leiche in einem Kartoffelfeld gelandet war. Zuerst am Fluss und jetzt im Kartoffelfeld? Was sollte das? Und wie passte es mit den ersten zwei Opfern in den Müllcontainern in Chicago zusammen, von denen Brackstone ihnen nach dem Anruf des FBI erzählt hatte? Welcher Serienmörder warf denn zwei seiner Opfer einfach in den Müll und verlegte sich danach auf einen Waldfluss und ein Kartoffelfeld? Beckett war zwar kein Profiler und er verstand auch nichts von psychologischen Profilen und Vorgehensweisen von Serientätern, aber dass hier einiges nicht zusammenpasste, sagte ihm sein Instinkt als erfahrener Polizist und auf den hatte er sich schon immer verlassen können.

»Zu klären, wann und besonders wie der Mann auf Chuck Braddocks Farm gelandet ist, ist Ihre Aufgabe und nicht meine, aber lassen Sie mich noch etwas prüfen.« McBride nahm eine lange Pinzette und öffnete dann den Mund des Toten. Beckett wandte angewidert den Blick ab. »Ah, da ist sie ja. Wie ich es vermutet habe.« Als Beckett seinen Blick wieder auf den Toten richtete, hielt der Leichenbeschauer mit einem milden Lächeln die Pinzette hoch, in deren Greifern eine ihm nur zu bekannte, goldene Libelle hing. »Soviel zu Ihrer Theorie, dass der arme Mann das Opfer eines Unfalls wurde, Sheriff.«

Das unbehagliche Schweigen, das auf McBrides Worte hin eintrat, da alle damit beschäftigt waren die Libelle anzustarren, denn jedem in diesem Raum war klar, was ihr Fund bedeutete, wurde bereits nach kurzer Zeit von Bookster gebrochen, der in die Leichenhalle platzte, das Handy immer noch am Ohr.

»Ja, ich sage es ihm, Mister Wilson«, sprach er in das kleine Gerät und legte anschließend auf, um Sheriff Brackstones Blick zu suchen. »Peter ist verschwunden.«

Brackstone erstarrte förmlich. »Was?«

»Er wollte gestern Abend in die Pizzeria und war dort auch zwei Stunden, ich war eben da und habe nachgefragt. Bis kurz vor elf Uhr abends hat er mit Freunden zusammengesessen, die ihn zuletzt gesehen haben, als er in seinen Wagen stieg, um nach Hause zu fahren. Dort kam er aber nie an. Sein Vater sagt, Peters Bett wäre unberührt und sein Auto steht nicht vor dem Haus. Seit er gestern Abend die Pizzeria verlassen hat, hat ihn keiner mehr gesehen, Sheriff.«

»Haben Sie ihn schon angerufen, Bookster?«

»Natürlich. Es klingelt, aber niemand geht ran«, antwortete Bookster hörbar unruhig und das war der Moment, wo Beckett ernsthaft anfing, sich Sorgen zu machen.

Peter Wilson war jung, anständig und verdammt korrekt, er würde nie auswärts übernachten, ohne seinen Eltern Bescheid zu sagen, weil er ganz genau wusste, dass sie sich dann Sorgen machten. Beckett sah zu Ford und dessen Partner, der bereits ein Handy am Ohr hatte und nicht weniger besorgt ausschaute wie Bookster.

»Geben Sie mir die Nummer Ihres Deputys«, befahl Special Agent Eastmore im nächsten Moment und Beckett rasselte sie herunter, ohne überhaupt darüber nachzudenken. »Danke … Hast du gehört? … Ja, ich bleibe dran.«

»Sie können doch nicht einfach ...«

»Wir können!«, fuhr Ford Brackstone brüsk über den Mund und Beckett war ihm insgeheim dankbar dafür. Es ging hier schließlich um Peter und wenn er vermisst war, hieß das, dass er möglicherweise dem gesuchten Serienmörder in die Hände gefallen war. »Und wenn Sie nicht endlich damit aufhören, uns bei unserer Ermittlung Steine in den Weg zu legen, werde ich dafür sorgen, dass es die letzte Ermittlung ist, die Sie jemals als Polizist begleiten dürfen.«

Ford hob mit eisigem Blick die Hand, als Sheriff Brackstone empört nach Luft schnappte, während Beckett Ford schockiert anstarrte. Was war denn nun los?

»Mir ist völlig schleierhaft, wie Sie es mit sich vereinbaren können, Ihre Touristen als wichtiger zu erachten als die Suche nach einem Serienmörder, der Ihnen bereits zwei Leichen vor die Tür gelegt hat. Aber dass Ihnen sogar ein möglicherweise vermisster Deputy am Arsch vorbeigeht, ist wirklich der Gipfel der Frechheit. Ab sofort wird Deputy Beckett uns bei unseren Ermittlungen unterstützen, da er sich im Ort bestens auskennt und sich um seinen Kollegen ganz offensichtlich mehr Sorgen macht als Sie das tun. Deputy Bookster?«

Bookster erstarrte. »Sir?«

»Tun Sie mir einen Gefallen?«

»Äh, ja, Sir?«

Ford holte das dicke Schlüsselbund von Buckys Haus aus der Hosentasche, löste einen der Schlüssel vom Ring und warf ihn Bookster zu, der ihn geschickt auffing. »Würden Sie bitte sämtliche Schriftstücke zu diesem Fall, inklusive der fertigen Autopsieberichte, die uns Doktor McBride freundlicherweise zur Verfügung stellt, dafür danke ich Ihnen erneut«, McBride nickte nur, »zu Mister Buckys Haus bringen? Wir werden uns dort einrichten und bis auf Weiteres auf die ohnehin nicht vorhandene Mithilfe von Sheriff Brackstone verzichten.«

Beckett zuckte heftig zusammen, während er sich zugleich fragte, ob Ford jetzt vollkommen den Verstand verloren hatte. Anders konnte er sich diese Ansprache wirklich nicht erklären, denn das würde Ärger geben, und zwar nicht zu knapp. Auch wenn Ford mit seinen Vorwürfen Brackstone gegenüber nicht einmal falsch lag, der Mann war immer noch Sheriff in Sanford Grove und Beckett hatte nicht vor, sich selbst oder einen seiner Kollegen zum Spielball zwischen Brackstone und Ford machen zu lassen. Was auch immer Ford sich dabei gedacht hatte, mit der Keule zum Rundumschlag auszuholen, er dachte nicht im Traum daran, das kommentarlos hinzunehmen.

»Alles klar, danke. Schick mir die Daten aufs Handy«, sagte Eastmore plötzlich und ging zu Bookster hinüber, um ihm sein Telefon zu zeigen. »Wir konnten Deputy Wilsons Handy orten. Wissen Sie, wo das ist?«

»Ja, sicher«, antwortete Bookster nach kurzem Nachdenken und schaute zu Brackstone. »Einige Meilen nördlich hinter der Aticott-Farm.«

Brackstone nickte. »Fahren wir. Deputy Beckett, Sie haben gehört, was Agent Templeton gesagt hat, und da Bookster mich zur Farm begleiten wird, übernehmen Sie es, die Akten raus in Buckys Haus zu bringen. Ich rufe an, sobald wir Peter oder das Handy gefunden haben. McBride, danke für Ihre Hilfe.«

»Immer wieder gern, Sheriff«, murmelte der Arzt merklich beunruhigt und das konnte Beckett gut verstehen.

Die Stimmung im Raum als explosiv zu bezeichnen, wäre eine harmlose Untertreibung gewesen, und er war heilfroh, als Brackstone sie ohne ein weiteres Wort zurückließ und sich auf den Weg machte. Hoffentlich war er erfolgreich, auch wenn Beckett das ungute Gefühl hatte, dass dem nicht so sein würde.

Ausgerechnet Peter.

Verdammt.

Bookster folgte Brackstone nach einem fragenden Blick in seine Richtung, den Beckett mit einem leichten Kopfschütteln beantwortete; sie würden später darüber reden müssen; bevor er sich Doktor McBride zuwandte, der ihm kommentarlos zwei dünne Aktenordner reichte.

»Der Autopsiebericht des aktuellen Toten ist vorläufig nur handschriftlich. Rufen Sie an, wenn Sie etwas nicht verstehen oder nicht lesen können. Meine Nummer steht auf der letzten Seite. Ich werde das Original in den Computer übertragen und für die Agents ausdrucken, sobald ich hier fertig bin.«

»Danke«, sagte Beckett und fing einen mitfühlenden Blick von McBride auf. Der Mann war einfühlsamer als gedacht, soviel stand fest. Beckett nickte ihm noch mal freundlich zu und wandte sich an Ford und Agent Eastmore. »Wir sollten zuerst die Akten aus dem Büro holen und anschließend Lebensmittel für Sie besorgen, sofern Sie nicht vorhaben, die gesamte Zeit Ihres Aufenthalts hier in Sanford Grove auswärts zu essen. Das Lebensmittelgeschäft von Augustus liegt auf direktem Weg zu Buckys Haus.«

»Gibt es hier eine Reinigung?«

Beckett verbot sich jede Gefühlsregung, als er Max McBride hinter sich leise lachen hörte. »Nein.«

»Was?«, fragte Agent Eastmore vollkommen entsetzt und da konnte Beckett sein Grinsen nicht länger zurückhalten. Vor allem nicht, als ihn gleich darauf ein finsterer Blick traf.

»Sie haben Glück, Agent Eastmore, unser kleines Städtchen besitzt sogar eine Reinigung. Sie finden sie im Einkaufscenter, am Südende der Stadt, einfach die letzte Straße links, bevor Sie Sanford Grove verlassen.« Beckett feixte, als Eastmore beleidigt die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich weiß aber nicht, ob sie Ihren teuren Ansprüchen genügt, wir sind schließlich nicht in Chicago. Notfalls müssen Sie wohl selbst bügeln.«

»Ich soll was?«, fragte Eastmore pikiert und Beckett verließ amüsiert die Leichenhalle, während er Eastmore hinter sich auf französisch schimpfen hörte.

 

Bereits eine halbe Stunde später kam der befürchtete Anruf, und während er Ford und Agent Eastmore dabei zusah, wie sie die Akten auf dem Esstisch ausbreiteten und nach einem ihm unverständlichen System sortierten, hörte Beckett schweigend Booksters Bericht zu, dass sie Peters Auto und sein Handy plus Geldbörse im Handschuhfach gefunden hatten, aber keinerlei Spur von Peter selbst. Er war nicht ausgeraubt worden und es gab kein Blut am oder im Wagen.

Was das hieß, musste Beckett niemand erklären, und nicht einmal Sheriff Brackstone glaubte jetzt noch an einen Zufall. Dafür war ihm Peter zu wichtig, obwohl Ford ihm vorhin das Gegenteil unterstellt hatte. Beckett dankte Bookster, steckte das Telefon ein und sah sich gleich darauf zwei deutlich besorgten Augenpaaren gegenüber.

»Dasselbe wie bei Adrian Donaldson. Seine Geldbörse und das Handy sind noch da, sein Auto unberührt. Keine Spur von Peter. Kein Blut. Nichts.«

»Merde«, murmelte Eastmore hörbar betroffen und Beckett betrachtete den Mann etwas genauer, den er bis eben für einen gefühllosen Snob im Maßanzug gehalten hatte. Aber vielleicht hatte er sich ja getäuscht. Und vielleicht wäre es nur fair, dem Agent erst mal eine echte Chance zu geben, bevor er ihn in eine Schublade steckte.

Ford war eine andere Geschichte, aber dafür konnte Agent Eastmore schließlich nichts. Es ist einen Versuch wert, entschied Beckett und trat näher an den Esstisch heran, auf dem jetzt ein Wust an Papieren ausgebreitet war. Ein eng beschriebenes Blatt auf dem in Großbuchstaben und fett gedruckt 'Vorläufiges Täterprofil' stand, weckte seine Aufmerksamkeit und er griff danach, um die ersten Stichpunkte zu lesen.

Kein Psychopath.

Sadistische Tendenzen erkennbar. Vermutung: eine gezielte Auslebung von Sadismus.

Zweck des Wasser- und Nahrungsentzugs herausfinden.

Auslöser der Taten?

Beckett runzelte die Stirn. »Er ist kein Psychopath, aber ein Sadist? Wo ist der Unterschied? Mörder ist Mörder.«

»Bei weitem nicht«, widersprach Eastmore, während Ford sich an den Tisch setzte, und trat neben ihn, um auf ein weiteres Blatt zu deuten. Es war die erste Seite des Autopsieberichts von Adrian Donaldson. »Er wurde drei Monate gefangengehalten und ist in dieser Zeit langsam verhungert. Niemand hält einen Menschen für eine so lange Zeit fest, wenn er das nicht genießt. Für einen Psychopathen ist das Zufügen von Schmerzen oft nur ein Mittel zum Zweck. Ein Sadist hingegen genießt es, sein Opfer zu quälen, und je länger er es tun kann, umso größer ist die Befriedigung, die er daraus zieht. Natürlich gibt es immer Überschneidungen und kein Mörder gleicht dem anderen oder lässt sich in eine bestimmte Schublade pressen, aber mit dem Profil bekommen wir wichtige Anhaltspunkte, mit denen wir arbeiten und auf die wir aufbauen können. Noch wissen wir zwar nicht genug, um wirklich sagen zu können, was unseren Täter antreibt, aber wir wissen zumindest etwas, nämlich dass er einen speziellen Opfertypus zu haben scheint. Und zwar männlich und jung, denn alle Opfer, die wir bislang fanden, was im Übrigen auch auf Deputy Wilson zutrifft, passten in dieses Schema.«

Beckett bekam eine Gänsehaut, doch er riss sich zusammen und sah Eastmore an. »Ist Peter noch am Leben?«

Der Agent ließ sich Zeit mit seiner Antwort, doch am Ende nickte er. »Ich glaube ja. Adrian Donaldson und die beiden Toten, die in den Müllcontainern gefunden wurden, waren alle für mehrere Monate in der Hand des Täters, und darum stehen die Chancen für Deputy Wilson gut, dass das auch für ihn gilt. Was wiederum verdammt gut für uns ist, denn durch diese Zeitspanne haben wir eine sehr reelle Chance, ihn lebend nach Hause zu holen.« Eastmore nahm ihm das Blatt ab und legte es zurück auf den Tisch. »Und jetzt fahre ich zu dieser Reinigung, von der Sie gesprochen haben, und bringe auf dem Rückweg etwas zum Abendessen mit. Wollen Sie sich uns anschließen, Deputy McEverett?«

Beckett unterdrückte ein Schaudern bei dem Angebot, denn es war nicht ehrlich gemeint, das wusste er genauso wie Agent Eastmore, der wohl einfach höflich sein wollte. Gott sei Dank wartete nebenan Cooper auf sein Abendessen und eine lange Gassirunde, und bot ihm damit die perfekte Ausrede, sich aus dem Staub zu machen, sobald er Ford ein paar Takte zu dessen Benehmen Brackstone gegenüber erzählt hatte.

»Nein, danke. Mein Hund wartet zu Hause auf mich.«

Eastmore nickte nur und verabschiedete sich kurz darauf. Beckett wartete genau so lange, bis er ihn draußen wegfahren hörte, bevor er die Arme vor der Brust verschränkte und Ford einen verärgerten Blick zuwarf.

»Bist du noch ganz dicht?«

Ford sah verblüfft zu ihm auf. »Wie bitte?«

»Stell dich nicht dümmer als du bist, ich rede von deinem Auftritt in der Leichenhalle. Du hast Colt Brackstone vor mir, Bookster und McBride völlig auflaufen lassen. Er mag ein Idiot sein, was diesen Fall betrifft, das streite ich nicht mal ab, aber er ist seit über zwanzig Jahren der Sheriff hier im Ort. Er kennt jeden, oft seit ihren gemeinsamen Kindertagen, und weiß sehr viel mehr über die Bewohner, als beispielsweise ich jemals in Erfahrung bringen könnte, weil die Menschen ihm vertrauen. Du hättest dich lieber irgendwie mit ihm arrangieren sollen, denn du wirst ihn früher oder später brauchen, darauf gebe ich dir Brief und Siegel.«

»Ich brauche keinen homophoben Spinner, dem Touristen wichtiger sind als vier Leichen.«

»Er ist der Sheriff, Ford!«, brauste Beckett auf und ballte die Hände zu Fäusten. »Lernt man beim FBI nicht, diplomatisch zu sein? Ich finde sein Verhalten auch unmöglich, aber ich arbeite trotzdem für ihn und mit ihm, denn, und ich wiederhole mich gern noch drei- oder viermal, bis du es kapierst, Brackstone ist der Sheriff und Sanford Grove eine Kleinstadt. Wenn du dich nicht mit ihm gut stellst, werden sich sämtliche Türen hier im Ort für euch beide schließen und dann geht die nächste Leiche auf dein Konto.« Beckett atmete tief durch. »Gnade dir Gott, wenn das Peter ist.«

»Das war schon deine zweite Drohung heute. Langsam gibt mir das zu denken«, meinte Ford trocken, nachdem er ihn eine Weile ziemlich nachdenklich angesehen hatte, und Beckett zog ein finsteres Gesicht.

»Ich werde noch ganz andere Sachen mit dir anstellen, falls Peter deinetwegen ermordet wird.«

Das war eine leere Drohung, aber Beckett war so verärgert über Fords Benehmen, dass er sich einfach nicht hatte beherrschen können. Wofür hielt Ford sich eigentlich? Er hatte zwar schon gehört, dass die hiesigen Polizeibehörden nicht gut mit dem FBI auskamen, deren Agenten sich oft Fälle unter den Nagel rissen, um die Lorbeeren einzuheimsen, obwohl es die normale Polizeiarbeit war, die zum Täter geführt hatte, aber er hätte nie gedacht, dass Ford dieses Vorurteil, denn für mehr hatte Beckett es bislang nicht gehalten, auch noch bestätigen würde.

»Meinetwegen?«, ging Ford abrupt in die Luft und Beckett wich eilig zwei Schritte zurück, als sein Ex aufsprang und um den Tisch herumkam, ihn dabei stinksauer musterte. »Ich habe niemanden drei Monate gefangengehalten und ihn langsam verhungern lassen, Beckett, und allein dein Vergleich mit diesem Täter ist eine Frechheit. Brackstone würde Adrian Donaldson und das vierte Opfer, das noch nicht mal einen Namen hat, am liebsten unter den Teppich kehren, nur um seine Touristen nicht zu erschrecken, was sich nach dem neuesten Leichenfund ohnehin erledigt haben dürfte. Hätte ich sein widerwärtiges Verhalten etwa ignorieren sollen?«

»Ja!«, fuhr Beckett Ford ungehalten an. »Genau das hättest du tun sollen. Lass ihn einfach reden und ermittle nebenbei. Halt ihn auf dem Laufenden, soweit es notwendig ist, und weis ihn meinetwegen in seinem Büro zurecht, hinter geschlossener Tür, aber um Himmels willen nicht vor Zeugen. Damit bringst du mich und Bookster in Teufels Küche, ist dir das überhaupt klar? Oder geht dir das genauso am Arsch vorbei wie Sheriff Brackstone die beiden Mordopfer? Denn falls ja, bist du keinen Deut besser als er.«

Zuerst schien Ford ihm lautstark widersprechen zu wollen, doch er tat es nicht. Stattdessen starrte er ihn lange mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an, bevor er schlussendlich nickte und sich wieder an den Tisch setzte.

»Ich entschuldige mich für mein Verhalten und die Lage, in die ich Sie damit gebracht habe, Deputy McEverett, und bitte Sie auf diesem Wege erneut und diesmal ganz offiziell um Ihre Mitarbeit.«

Beckett fühlte sich im ersten Augenblick wie vor den Kopf geschlagen. Eine Ansprache mit Dienstrang und Nachnamen, obwohl sie unter sich waren? Ernsthaft? Was ging nur in Fords Kopf vor? Nein, er wollte es nicht wissen. Es war mit Sicherheit sogar das Beste, wenn er gar nicht erst anfing, genauer darüber nachzudenken. Sie hatten jetzt für eine begrenzte Zeit beruflich miteinander zu tun und anschließend würde Ford zurück in sein neues Leben nach Quantico verschwinden, und Beckett tat gut daran, das nicht zu vergessen.

»Wie Sie wünschen«, erklärte er kühl, tippte sich grüßend an die Stirn und machte auf dem Fuße kehrt. »Ich bin nebenan, falls Sie einen Laufburschen brauchen.«

»Nebenan?«, fragte Ford irritiert.

»Ich wohne nebenan, Special Agent Templeton.«

Ford atmete scharf ein. »Shit. Beckett, ich wollte nicht ...«

»Wir sehen uns morgen, Special Agent«, unterbrach Beckett ihn eisig und zog kurz darauf die Haustür hinter sich zu.

 

 

9

 

 

 

 

Kleinstädte besaßen wirklich einen eigenen Kosmos.

Brixton war gleichermaßen amüsiert wie fasziniert, weil die Blicke der neugierigen Bewohner ihm auf Schritt und Tritt erst durch das Einkaufscenter, das seinen Namen nicht verdiente, wenn er daran dachte, wie viele unterschiedliche Geschäfte es in jenen Shoppingmeilen gab, die er kannte, und anschließend in die Pizzeria folgten, weil er heute Abend Lust auf Italienisch hatte und wusste, dass Ford einer leckeren Pizza oder Pasta nie abgeneigt war.

Er grinste bei dem Gedanken daran, wie seine Mutter wohl auf sein heutiges Abendessen reagiert hätte, denn unter einer Sterneküche ging bei ihr nichts. Sie war nicht arrogant oder von oben herab, wie einige ihrer sogenannten Freunde, aber sie hatte sich nach ihrer Hochzeit mit seinem Vater an den Lebensstil gewöhnt, den er ihr bot, und schätzte seither eine edle Flasche Wein und ein gutes Steak genauso wie er und Ford eine Pizza oder einen Hotdog. Sein Bruder Carnes war ihr ähnlich, während er nach seinem Vater schlug. Ja, seine Familie war stinkreich und lebte auch so, aber sie hatten nicht vergessen, wo ihre Vorfahren hergekommen waren, und falls sich im letzten Jahr nichts Frappierendes geändert hatte, was er mit Sicherheit längst erfahren hätte, spendeten seine Eltern noch immer Millionen an Waisenheime, für gute, medizinische Versorgung von Obdachlosen und für diese Suppenküche ein paar Blocks von ihrem Lieblingsrestaurant in New York City entfernt.

Er könnte Carnes mal wieder anrufen. Sie hatten sich schon lange nicht mehr gesehen, da er selbst über Weihnachten nach einem Drogenbaron gesucht hatte und sein Bruder an Silvester schon wieder auf dem Weg nach Australien gewesen war, wo er einige Ausgrabungen finanzierte und zum Spaß Skelette von Dinosauriern ausbuddelte. Sein Zwilling, der Paläontologe. Er konnte es selbst nach all den Jahren manchmal nicht glauben, dass Carnes jahrelang studiert hatte, um jetzt die meiste Zeit des Jahres in Löchern zu graben, deren Entstehung er oft selbst bezahlt hatte, weil Forscher und Museen auf der ganzen Welt chronisch pleite zu sein schienen.

Brixton suchte sich einen ruhigen Tisch, um auf sein Essen zu warten, breitete seine Einkäufe auf der Tischplatte aus und griff anschließend nach seinem Handy. Er hatte keine Ahnung, wie spät es gerade in Down Under war, aber Carnes würde so oder so rangehen. Das tat er immer, auch wenn er ihn dann erst einmal anmaulte, weil Brixton ihn aus einer schlüpfrigen Vergnügung mit einer heißen Kollegin oder einem noch viel heißeren Kollegen gerissen hatte, denn sein Bruder hatte es vorgezogen, sich, ganz im Gegensatz zu ihm, niemals auf ein Geschlecht festzulegen. Sehr zur Belustigung ihrer Mutter, die sich schon seit Jahren einen Spaß daraus machte, die Liste von Carnes' Verflossenen präzise nach Männlein und Weiblein zu sortieren.

Was im Übrigen meine Idee gewesen ist, erinnerte sich Brixton amüsiert und gluckste, als im nächsten Augenblick ein genervtes Murren aus dem Hörer drang.

»Ich hatte mich gerade erst hingelegt, um die Mittagshitze ohne geistigen Schaden zu überstehen, weil es hier seit Tagen heißer ist als in der Hölle, und natürlich musst du mich dabei stören.«

»Es könnte helfen, die weibliche oder männliche Bettdecke abzustreifen, um dich ein wenig abzukühlen.«

Carnes lachte leise. »Sag ja nichts gegen meine muskulöse und äußerst verführerische Bettdecke. Er hat nämlich viel mehr Muskeln als du und ein noch loseres Mundwerk.«

Brixton hörte im Hintergrund jemanden lachen, es folgten gemurmelte Worte, erneutes Lachen, nasse Kussgeräusche und kurz darauf klappte eine Tür.

»Er ist duschen gegangen. Und zwar allein, was eine wahre Schande ist, möchte ich dir hiermit verkünden.«

»Ich liebe dich auch, Bruderherz.«

»Wo treibst du dich denn gerade rum?«, fragte Carnes und Brixton konnte hören, wie er sich eine Zigarette anzündete und nach einem tiefen Zug genießerisch die Luft ausstieß. Ekelhaft. Brixton konnte schon den Geruch von Zigaretten nicht leiden, aber sein Bruder war alt genug, um selbst zu entscheiden, ob er sich weiterhin die Lunge mit Teer verklebte, darum verkniff er sich jeden Kommentar dazu.

»Sanford Grove. Ein kleines Nest westlich von Chicago.«

»Schlimmer Fall?«

Brixton nickte. »Sehr schlimm.«

»Pass auf dich auf«, bat Carnes und Brixton hörte die Sorge aus seinen Worten deutlich heraus, was er verstehen konnte. Es war zwar meist Ford, der bei ihnen die Kugeln abbekam, aber seine Familie liebte seinen Partner wie einen dritten Sohn, und sie hatten Angst um sie beide. Carnes' Job war in der Hinsicht ungefährlicher, aber Brixton hatte sich nie zu einem Studium, egal in welchem Fach, durchringen können.

Er hatte immer Menschen helfen wollen, da war es nur logisch erschienen, zum FBI zu gehen. Obwohl das anfänglich zu einigen lautstarken Streits daheim geführt hatte. Gott sei Dank war er nie so verrückt gewesen, sich einen Ehemann zu suchen und damit angreifbar zu machen. Das mit Ford war etwas anderes. Sein Partner konnte sich verteidigen, wenn ein Verbrecher ihn auf den Kieker nahm, und seine Familie hatte seit Jahren Beschützer an ihrer Seite. Und sollte er sich eines Tages tatsächlich an jemanden binden, also ernsthaft binden, mit Ring, Nachname, großem Haus, vielleicht sogar Kindern, einfach mit allem Drum und Dran, würde Brixton denjenigen rund um die Uhr bewachen lassen, damit ihm nichts passierte.

»Tue ich das nicht immer?«, konterte er trocken und fragte sich gleichzeitig, ob Carnes' verführerische Bettdecke wohl sein aktueller Bodyguard war. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Männer, die auf ihn aufpassen sollten, in Carnes' Bett landeten, und es würde auch nicht das letzte Mal sein, denn sein Bruder behielt seine Bettgefährten nie lange. Was das betraf, waren sie sich erschreckend ähnlich.

Nun ja, abgesehen von Ford. Den behielt Brixton nun schon seit sechs Jahren in seinem Schlafzimmer, aber das wussten weder Carnes noch seine Eltern, und sofern es nach ihm ging, würde sich daran nichts ändern, denn Brixton liebte Ford zwar, er wusste aber auch, und das nicht erst seit gestern, dass er gegen Beckett McEverett nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatte.

»Oh ja. Sogar so gut, dass Ford sich mal wieder eine Kugel für dich eingefangen hat.«

Brixton stöhnte laut auf. »Möchte ich wissen, woher du das schon wieder weißt?«

Sein Bruder lachte. »Dad. Er war mit deinem Captain letzte Woche Golf spielen.«

Brixton blinzelte irritiert. »Captain Mercer spielt Golf?«

Carnes lachte. »Nein. Aber er liebt ein gutes Steak und Dad hat ihn als Entschädigung zum Essen eingeladen, nachdem er sich eine Stunde bei deinem Boss darüber beschwert hat, dass du nie zurückrufst und unsere Mutter Angst hat, du lägst tot unter einer Brücke und keiner würde ihr das erzählen.«

»Oh mein Gott«, murmelte Brixton und Carnes prustete los. »Und Mercer ist wirklich darauf hereingefallen?«

»Es gab Steak vom Kobe-Rind.«

»Das dürfte sofort funktioniert haben.«

»Hat es«, feixte Carnes. »Natürlich hat dein Boss keinerlei Interna ausgeplaudert, aber er hat Dad versichert, dass weder Ford noch du tot unter einer Brücke liegen. Daraufhin hat Dad natürlich mich angerufen, um sich zu erkundigen, ob ich tot in einem Loch liege. Die nächsten Monate dürften wir daher vor fürsorglichen Anrufen sicher sein.«

»Wie geht’s ihm und Mum?«

»Sie planen gerade irgendeine Wohltätigkeitsveranstaltung in L. A., frag mich nicht. Dad hat geredet und geredet, ich habe irgendwann auf Durchzug geschaltet, sonst wäre ich vor lauter Langeweile eingeschlafen. Ich weiß wirklich nicht, wie sie das immer aushalten. Diese ganzen Leute, die da kommen und den teuren Champagner schlürfen, sind so dämlich ...«

»Sie sind eben stinkreich und sie geben sich nach außen hin gern menschenfreundlich, das ist alles, was Mum interessiert«, meinte Brixton, verdrehte aber gleichzeitig die Augen. Carnes und er hatten als Teenager genug von diesen Veranstaltungen mitbekommen, um zu wissen, dass es acht von zehn Reichen vollkommen egal war, wie es den Armen ging, aber sie zückten bereitwillig ihr Scheckbuch, um so zu tun als ob. Und eben das wussten seine Eltern gut für sich und ihre Projekte zu nutzen.

Brixton fing drei Tische weiter den Blick einer jungen Frau auf, die so hohe Stöckelschuhe trug, dass er sich unwillkürlich fragte, ober sie für diese Dinger einen Waffenschein hatte, und schauderte innerlich, als ihm auffiel, dass ihre Haare genauso falsch waren wie ihre Fingernägel.

Wieso Frauen sich so etwas freiwillig antaten, war ihm ein Rätsel. Nun gut, um der schnöden Wahrheit die Ehre zu geben, war ihm das weibliche Geschlecht im Allgemeinen ein Rätsel. Bei Ford wusste er wenigstens woran er war. Männer waren in fast allem leicht zu durchschauen und zu verstehen.

Sofern sie nicht hochintelligente Serienkiller sind, schränkte er ein und schaute aus dem Fenster, als die Frau ihm ein Lächeln schenkte, mit dem er nichts anfangen konnte.

»Und wie geht’s dir?«, wollte er wissen und lachte leise, als Carnes genießerisch seufzte. »So gut? Ist deine Bettdecke etwa mit dem Duschen fertig?«

»Oh ja ...« Sein Bruder schnurrte fast.

»Lass mich raten, er hat vergessen, sich ein Handtuch mit ins Badezimmer zu nehmen?«, fragte Brixton amüsiert, obwohl er die Antwort darauf längst kannte.

»Du sagst es, und deswegen werde ich ihm jetzt, höflicher Mensch, der ich nun mal bin, eines reichen und ihm natürlich auch beim Abtrocknen zur Hand gehen.«

»Und mehr will ich gar nicht wissen.«

»Mehr hätte ich dir auch nicht verraten«, konterte Carnes trocken und nach einer kurzen Verabschiedung steckte Brixton sein Handy wieder ein, bevor er dasselbe mit seinen Einkäufen tat und sich einmal in der Pizzeria umsah, woraufhin sämtliche Gäste plötzlich schwer beschäftigt wirkten.

Kleinstädter. Durchschaubar wie eine Glasscherbe.

Brixton verkniff sich ein Lachen.

Ford und er waren noch keine zwölf Stunden in der Stadt und schon das Gesprächsthema Nummer eins. Er schnappte gemurmelte Wortfetzen wie »FBI« und »Serienmörder« hinter sich auf und fragte sich kurz, welcher der Deputys sie verraten hatte, aber im Grunde war es unwichtig. Bei vier Leichen geriet alles in den Hintergrund, besonders ein tratschender Polizist aus einem Hinterwäldlersheriffbüro, der seinen Mund nicht halten konnte.

Bei Sheriff Brackstone sah die Sache hingegen anders aus, aber darüber würde er mit Ford noch reden. Sein Partner hatte ihnen mit dem Auftritt in der Leichenhalle keinen Gefallen getan, obwohl Brixton verstand, wieso Ford vorhin der Kragen geplatzt war. Dieser Sheriff war unmöglich. Deputy McEverett hingegen – es würde sich zeigen, ob dieser Kerl wirklich etwas auf dem Kasten hatte oder auch nur ein Schaumschläger war. Andererseits würde Ford keinem Mann jahrelang nachtrauern, der ihm intellektuell unterlegen war.

Brixton würde sich ein eigenes Bild von Beckett McEverett machen, und zwar schon bei der nächsten Gelegenheit.

Er fing einen Wink von einem Mitarbeiter auf und verließ eine Minute später, mit einer Tüte köstlich riechendem Essen in einer und den Schlüsseln für den SUV in der anderen Hand, die Pizzeria und ließ dabei den Blick aus purer Gewohnheit zu beiden Seiten der Straße entlang schweifen. Die Leichenhalle lag nur ein paar Häuser weiter zu seiner Linken und direkt gegenüber befand sich ein verwahrlostes Waldstück. Zu seiner Rechten gab es im Augenblick nicht viel zu sehen, obwohl er wusste, dass sich einige Straßen weiter ein Restaurant und das hiesige Diner befanden. Doch um diese späte Uhrzeit wirkten die Straßen wie ausgestorben und der Hauptteil aller Geschäfte lag ohnehin in der Sanford Road, der Hauptstraße, die einmal von Nord nach Süd durch die gesamte Stadt führte.

Das Pendant dazu war die Wilson Street, in der er gerade stand und sich auf einmal beobachtet fühlte. Brixton spürte es an seinen sich aufrichtenden Nackenhaaren und dem Instinkt, der ihm schon mehrere Male das Leben gerettet hatte und der ihm jetzt eindringlich riet, vorsichtig zu sein. Er ließ sich nichts anmerken, während er die Wagentür entriegelte und die zwei Tüten mit seinen Einkäufen und dem Essen im Fußraum hinter dem Rücksitz verstaute.

Im Waldstück gegenüber raschelte es und Brixton reagierte umgehend. Das Ziehen und Entsichern seiner geladenen SIG Sauer passierte fast gleichzeitig mit dem Zuwerfen der Autotür und einem Sprint über die Straße, während er nebenbei mit einer Tastenkombination an seinem Handy einen SOS-Ruf an Ford absetzte. Ein Notsignal, das sie sich eingerichtet hatten, für den Fall, dass sie getrennt wurden, und Brixton wusste, dass Ford umgehend sein Handy orten und ihm folgen würde.

Dass er keine Taschenlampe dabei hatte und das Waldstück verständlicherweise unbeleuchtet war, fiel Brixton allerdings erst auf, als er bereits zwischen nackten Bäumen und trostlosen Büschen verschwunden war. Verrottetes Herbstlaub und tote Äste knackten unter seinen Schuhen, während er sich, seine Waffe mit beiden Händen haltend, langsam vorwärtsbewegte. Er konnte kaum etwas sehen, musste sich vollständig auf sein Gehör und seine Erfahrung verlassen, darum lauschte Brixton, dafür immer wieder kurz innehaltend, in die eindeutig zu stille Dunkelheit und blieb abrupt stehen, als ihm klar wurde, dass er entweder bereits in die Falle gegangen war oder kurz davor stand. Kein Waldstück, nicht mal eines, das von Wohnhäusern umgeben mitten in einer Stadt lag, war so ruhig.

Es hätte Geräusche geben müssen – ein Eichhörnchen oder Mäuse, ein Igel, Hasen, verschiedene Vögel, irgendetwas. Doch die Natur schien verstummt zu sein und das tat sie nur, wenn Gefahr im Verzug war. Brixton wartete, bis er hinter sich in der Entfernung ein Auto hörte und dann das Zuknallen einer Tür. Seine Verstärkung war eingetroffen, deswegen ging er langsam weiter, versuchte sich so lautlos wie möglich zu bewegen und stand wenig später vor einem mannshohen Holzzaun. Wo kam der denn auf einmal her?

Brixton rief sich den Stadtplan in Erinnerung, den er zuvor im Einkaufscenter gekauft und während seines Telefonats mit Carnes studiert hatte.

Max McBride, der Arzt, hatte in der Querstraße gegenüber der Pizzeria ein Haus und seine Praxis. Er stand offensichtlich vor dem Garten des Leichenbeschauers und wenn jemand über diesen Zaun geklettert war, hätte er das unter Garantie gehört. Brixton lauschte erneut in die Dunkelheit und entspannte sich, als plötzlich der Ruf einer Eule zu hören war, dicht gefolgt von dem Trappeln kleiner Füße und einem Rascheln im alten Laub vom letzten Jahr. Die Natur war zurück und wer auch immer ihn beobachtet hatte, hatte sich aus dem Staub gemacht.

Ein Pfiff durchdrang die Nacht und sorgte erneut für Stille unter den Tieren, doch Brixton entlockte das Geräusch nur ein zufriedenes Nicken, bevor er ebenfalls pfiff, dabei seine Waffe sicherte und sie ins Holster zurückschob.

Wenig später tauchte Ford bei ihm auf, eine Taschenlampe in der Hand, mit der er dann irritiert auf den Zaun leuchtete.

Brixton winkte ab. »Laut Stadtplan ist das das Grundstück von McBride.«

Ford nickte und sah sich um. »Was war los?«

Brixton erzählte es ihm und anschließend nahmen sie das Waldstück noch einmal gemeinsam unter die Lupe. Sie stießen auf frisch abgebrochene Äste in Höhe von Brixtons Brust und verschiedene Abdrücke von Männerstiefeln. Die Profilrillen in ihnen waren jedoch vollständig mit Wasser gefüllt, was darauf schließen ließ, dass die Abdrücke bereits älter, damit nicht als frische Spur ihres Täters zu sehen und somit auch nicht verwertbar waren.

»Merkwürdig«, murmelte Ford und runzelte die Stirn. »Sie haben seit Wochen ständig Dauerregen und Stürme, der Boden ist überall aufgeweicht, aber es gibt keine frischen Fußspuren? Am Flussufer verstehe ich es, weil die Deputys alles breit getreten haben, aber hier?« Ford sah auf. »Bist du dir sicher?«

Brixton nickte. »Du kennst meinen Instinkt. Irgendjemand war im Waldstück, hat mich beobachtet, als ich mit unserem Abendessen aus der Pizzeria kam, und ist dann geflüchtet. Wer immer es war, kennt sich hier ganz genau aus und weiß, wo er hintreten muss. Leuchte mal nach rechts.«

Ford tat es und wenig später entdeckten sie, was Brixton vorhin ein paar Mal unter seinen Schuhen gefühlt hatte. Alte Holzlatten und Steinplatten, wie von einem Gehweg oder einer Einfahrt. Das Gelände musste früher bebaut gewesen sein, was das Fehlen frischer Spuren erklärte.

»So hat er es gemacht«, meinte Ford und leuchtete wieder zu dem Abdruck des Stiefels zurück, den sie zuletzt angesehen hatten. »Größe 10 oder vielleicht 11, würde ich schätzen.«

»Der bringt uns nicht weiter. Die Hälfte aller Männer in der Stadt dürfte diese Schuhgröße haben. Dich eingeschlossen.«

»Ich habe 12.«

»Nur in deinen Träumen«, neckte Brixton ihn und lachte, als Ford ihn böse ansah. »Was? Ich habe 12 und meine Schuhe passen dir nicht. Das haben wir schon mal ausprobiert, als du letztes Jahr in L. A. unbedingt diesem Doppelmörder vom Pier nachspringen musstet. Du hättest einfach genug Kleidung zum Wechseln einpacken sollen, Schuhe inklusive.« Brixton zuckte gelassen mit den Schultern. »Außerdem warst du selbst schuld. Ich hatte dir schließlich geraten, ihm ins Bein zu schießen.«

»Ich habe ihm ins Bein geschossen!«, knurrte Ford empört. »Er ist trotzdem weiter gerannt.«

»Er hatte zwei Beine.«

»Brixton!«

Hinter ihnen quietschte es laut.

»Ach du meine Güte.«

Doktor McBride sah sie oder besser gesagt ihre Waffen, die sowohl er als auch Ford noch in den Drehungen zum Geräusch hin gezogen hatten, erschrocken an. Brixton sicherte seine SIG, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Mann allein in einer schmalen Tür stand, die durch den Zaun auf sein Grundstück führte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Arzt hörbar beunruhigt und entspannte sich sichtlich, als sie ihre Waffen wegsteckten. »Ich wollte mich nicht anschleichen, aber mir war, als hätte ich Stimmen gehört und die Jugendlichen trinken und grillen recht gerne in dem Wäldchen. Im letzten Sommer haben sie es dabei fast abgebrannt. Teenager.« McBride seufzte resigniert. »Haben Sie Kinder?«

»Nein«, antwortete Brixton für sie beide und McBride warf ihm ein Schmunzeln zu.

»Seien Sie froh. Nun denn, ich störe Sie nicht länger. Oh, ich habe gar nicht gefragt … Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

»Nein, danke«, wehrte Ford ab und trat über die alte Spur hinweg auf McBride zu. »Wir wollten uns bloß umsehen und mit der Stadt ein bisschen genauer bekannt machen.«

»Und dafür laufen Sie im Dunkeln über ein verwahrlostes Grundstück, das die Stadt schon seit Jahren verfallen lässt, weil sich kein Käufer findet?«

Ford lachte leise. »Erwischt. Wir waren in der Pizzeria und gerade auf dem Rückweg zum Haus von Mister Bucky, als wir etwas gehört haben. So wie Sie.«

»Ah, verstehe.« McBride nickte. »Sie sind vom FBI, da geht man seltsamen Geräuschen natürlich nach.« Er sah sich nervös nach allen Seiten um. »Besonders mit einem Serienkiller in der Stadt.«

»Gehen Sie zurück ins Haus«, sagte Ford und tippte gegen das Holster, in dem seine Glock steckte. »Wir warten hier, bis Sie sicher drinnen sind. Und abschließen nicht vergessen.«

»Natürlich, natürlich. Gute Nacht«, murmelte McBride und zog nach einem letzten misstrauischen Blick in die Dunkelheit die Tür hinter sich zu.

Sie lauschten, bis eine weitere Tür geschlossen und gleich darauf ein Schlüssel zweimal im Schloss herumgedreht wurde, erst danach schaltete Ford die Taschenlampe aus, sodass sie im Dunkeln standen.

»Hast du seine Schuhe gesehen?«, fragte Brixton, der genau wusste, warum sein Partner keinerlei Anstalten machte, zurück zu den Autos zu gehen.

»Mokassins. Kaum Profil. Wir haben ihn nicht gehört, bis er auf einmal hinter uns stand.«

Das war Brixton nicht entgangen und es gefiel ihm absolut nicht. Die meisten Menschen hörte man selbst im Dunkeln und sogar auf nackten Füßen oder Socken meterweit, gerade auf so unwirtlichem Gelände, wie einem Waldstück voller trockenem Laub und abgebrochenen Ästen am Boden. Doch McBride war es gelungen, bis auf wenige Schritte vollkommen lautlos an sie heranzukommen. Allerdings konnten sie den Mann ja schlecht wegen seiner Schuhe verhaften oder weil er besser schleichen konnte als der Durchschnittsbürger. Vielleicht hatte er es bei der Armee gelernt, war passionierter Jäger oder bewegte sich von Natur aus leise.

»Mokassins zu tragen und sich leise bewegen zu können ist kein Beweis dafür, ein Serienkiller zu sein«, meinte Brixton daher, obwohl ihm das Gegenteil lieber gewesen wäre, denn je eher sie ihren Täter fassten, desto größer war die Überlebenschance für den entführten Deputy.

»Habe ich auch nicht behauptet. Aber es dürfte garantiert nicht schaden, sich zumindest über McBride zu erkundigen.« Ford schwieg kurz. »Obwohl es ihm schwerfallen dürfte, einen Mann wie Adrian Donaldson einfach zu überrumpeln. Wie alt ist er? Etwa Sechzig?«

»Serienmörder sind nicht zwangsläufig durchtrainiert oder jung oder beides«, wandte Brixton ein, während er versuchte sich vorzustellen, wie Max McBride eine oder mehrere Leichen herumwuchtete. Als Leichenbeschauer hatte er darin zwar eine mitunter jahrzehntelange Erfahrung, aber auch diese Tatsache machte ihn nicht automatisch zu einem Serienmörder. »Hältst du ihn für verdächtig?«

Ford dachte eine ganze Weile schweigend über seine Frage nach, ehe er antwortete. »Ich halte jeden in dieser Stadt für verdächtig, solange wir nicht mehr über den Täter wissen. Allerdings passt McBride schon aufgrund seines Alters überhaupt nicht ins Profil. Was nichts heißen muss. Erinnerst du dich an den Boston-Würger? Der war über Fünfzig, als wir ihn endlich schnappen konnten.«

Und das war ihnen nur gelungen, weil der Mann im Knast mit seiner ersten Tat geprahlt hatte, die man ihm zu jener Zeit überhaupt nicht zugeschrieben hatte. Erst durch die Aussage eines Zellengenossen des Täters hatte das FBI angefangen, sich genauer mit mehreren ungelösten Fällen durch Erwürgen zu befassen und schlussendlich war es Fords Idee gewesen, weiter in die Vergangenheit zurückzugehen und dabei grenzübergreifend zwischen den Bundesstaaten zu ermitteln. Das hatte sie auf die richtige Spur gebracht – gerade noch rechtzeitig, um einer jungen Frau das Leben zu retten.

»Lassen wir ihn gründlich überprüfen. Nur für alle Fälle«, entschied Brixton und stand kurz darauf reichlich verblüfft vor einem von vorn bis hinten verdreckten Geländewagen, der ihm auf den zweiten Blick plötzlich sehr bekannt vorkam. »Ist das McEveretts Wagen?«

»Ja.« Ford grinste schief. »Er wohnt nebenan und war nicht zu Hause, als dein Notruf kam. Also habe ich ihm eine kurze Nachricht an die Haustür geklebt, nachdem ich eingebrochen war, um seinen Wagenschlüssel zu klauen. Du weißt doch, wie schlecht ich im Knacken von Autos bin.«

Brixton begann schallend zu lachen.

Zehn Minuten später grinste er immer noch, nachdem Ford mit einigen sehr interessanten Kraftausdrücken lautstark der Kopf gewaschen worden war, ehe Deputy McEverett ihm den Schlüssel abgenommen und nach Cooper gerufen hatte, einem schwarzen Irgendwas-Mischlingsrüden, der Brixton kaum von den Beinen gewichen war, nachdem er festgestellt hatte, dass der ihn sehr gerne streichelte und Hunde mochte. Und das tat Brixton wirklich, obwohl er es sich bereits vor Jahren verboten hatte, über einen eigenen Hund auch nur nachzudenken. Nicht bei seinem Job, der ihn ständig quer durchs Land führte.

Mittlerweile war ihr Essen natürlich kalt, aber es schmeckte trotzdem, und während Ford anschließend ihr mitgebrachtes Tablet mit dem FBI-Server verband, um Doktor Max McBride zu überprüfen, ging Brixton unter die Dusche. Wo er allerdings nicht lange allein blieb.

»Sag nicht, du hast das Tablet kaputt gemacht«, sagte er mit geschlossenen Augen, um nichts von der Haarwäsche in seine Augen zu bekommen, als er auf einmal Fords kräftige Hände über seinen Körper gleiten fühlte.

»Das war einmal und außerdem dein Fehler«, grollte Ford prompt, was sogar stimmte, immerhin hatte er seinen Partner an jenem Abend ziemlich abgelenkt, bis dem aus Versehen das Tablet aus der Hand und vom Balkon seines Apartmenthauses gefallen war. Das hatte das Gerät nicht überlebt und natürlich war sich Captain Mercer nicht zu fein gewesen, Ford das Tablet in Rechnung zu stellen. Bezahlt hatte es am Ende zwar Brixton, aber erst, nachdem er dafür eine Entschädigung in Form von Naturalien verlangt und bekommen hatte.

Brixton fiel etwas ein. »Vergiss nicht deinen alten Laptop.« Ford knurrte, was ihn lachen ließ. »Hey, du hast ein Loch in die Festplatte geschossen, nicht ich.«

»Ich hatte auf die verdammte Ratte gezielt und ich hätte sie auch getroffen, hättest du dich nicht dazwischen geworfen, um dem Vieh das Leben zu retten.«

»Ratten sind sehr intelligente Tiere«, fing Brixton an, weiter kam er allerdings nicht.

»Wenn sie in mein Apartment einbrechen, erschieße ich sie, basta.«

»Bezeichne diese Bruchbude nicht als Apartment«, konterte Brixton und spülte sich die Haare aus. »Du hättest damals bei mir einziehen sollen, bis du deine Wohnung gefunden hattest. Ich bete heute noch jede Woche einmal den Rosenkranz, weil es garantiert der heilige Geist war, der verhindert hat, dass ich mich in dieser verseuchten Bude mit einer tödlichen Krankheit infizierte und qualvoll dahinschied.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739477497
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Thriller schwul Serienmörder Krimi Liebe Romanze Trilogie Ermittler Psychothriller Liebesroman

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Das Spiel der Libelle