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Schmetterlinge im Himmel

Liebesroman

von Lotte R. Wöss (Autor:in)
204 Seiten

Zusammenfassung

Für Krankenschwester Lila stürzt der Himmel ein. Ihr drittes Kind kommt tot zur Welt, ihr Ehemann verlässt sie, weil seine Freundin ein Kind erwartet. Lila zieht mit ihren beiden kleinen Töchtern von Hamburg zurück nach Bayern in ihr Heimatdorf. Die Begegnung mit dem Gemeindearzt bringt eine Überraschung: Es ist Doktor Martin Stern, jener Mann, den Lila mit einem peinlichen Vorfall aus ihrer Ausbildungszeit im Krankenhaus verbindet. Trotzdem nimmt sie den Job als seine Assistentin an. Es kommt zu hitzigen Wortgefechten, die Lila jedoch aus ihrer Trauer reißen. Martin hat Lasten aus seiner Vergangenheit aufzuarbeiten und gibt sich Lila gegenüber grob und unsensibel. Lila entwickelt, abseits von ihrem dominanten Ehemann und den kalten Schwiegereltern unerwartete Stärke. Bald empfindet sie mehr für Martin und sie kommen sich näher. Aber ist Martin der Richtige um Lila bei ihrer Trauer zu helfen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

6

Und die Erde steht still 7

Trümmerhaufen 17

Zerbrochene Brücken 21

Ein neuer Weg 27

Ankunft in der Vergangenheit 35

Fieber 40

Bettruhe 49

Hund und Katze 54

Unwillkommene Erinnerungen 59

Am Anfang steht das Wollen 62

Ein neuer Weg ist oft versteckt 68

Zwei Schritte vor, einer zurück 72

Schlaflos und mehr 74

Alles neu 77

Martins Verlust 83

Bewährungsprobe 86

Die andere Seite 92

Ein Seelsorger in Sorge 94

Abendliches Picknick 98

Ein Antrag 103

Die Abmachung 108

Der erste Schritt der Verführung 114

Mit allen Sinnen 116

Gibt es Schuld? 120

Romantik im Regen 122

Überraschungen 126

Kein Zurück 133

Ein Notfall 138

Zwei Schmetterlinge für Martin 144

Müll von gestern 150

Rückblicke 153

November 159

Einmal Berlin und retour 164

Ein verführerisches Angebot 170

Ein Schock 177

Einsicht 180

Böse Überraschung am Heiligen Abend 184

Ein wahres Wort 193

Ein Anfang 195

Schmetterlinge im Himmel 198

WORTE AM SCHLUSS 200

Buchempfehlungen: 201

Zwei Seelen für immer 203

0.0.1 204

204

204

 

Und die Erde steht still

Lass ein Wunder geschehen! Atme! Öffne die Augen! Nur ein einziges Mal. Blödsinn! Du willst, dass sie lebt, länger als einen kurzen Moment. …

Im Kleinformat war alles vorhanden. Federleicht lag das Bündel in Lilas Armen. Der Knoten im Hals wuchs ins Unendliche.

Du darfst nicht weinen! Später.

Sie wollte ihre Tochter klar sehen, ohne Tränen. Denn die Zeit zerrann unerbittlich. Jedes Blinzeln kostete sie eine Zehntelsekunde mit ihrem Kind.

Schau dir das Gesichtchen genau an, du siehst sie nie wieder!

Die weiße, durchsichtig scheinende Haut gab ihr ein engelhaftes, ätherisches Aussehen.

Vielleicht schläft sie nur? Bitte wach auf!

Lila hob das Tuch, in welches das Baby eingewickelt war, streichelte über den Bauch und legte den Zeigefinger unter die schlaffen Händchen. Die Finger waren vollzählig und würden trotzdem niemals zugreifen.

Warum?

Lilas Kopf dröhnte. Ihre Arme verkrampften sich.

Keine Tränen!

Sie kämpfte dagegen an, bis das Bild vor ihr zerbarst.

Durchhalten! Gleich nimmt man sie dir weg …

Sie war allein. Ihr Mann Patrick war hinausgegangen, er wollte diese kurze Zeit mit ihrem totgeborenen Kind nicht teilen.

Er hat sie abgelehnt.

Im Mutterleib verstorben, ehe sie leben durfte. Im Zeitraffer wirbelten die letzten Monate durch Lilas Gedanken. Der positive Schwangerschaftstest, die Hoffnung ihres Mannes, dass diesmal der ersehnte Sohn käme. Die erste Ultraschalluntersuchung, und Patricks Enttäuschung, dass die dritte Tochter in ihr heranwuchs. An diesem Tag war ihre Ehe zu einer leeren Hülle geworden.

Mach dir nichts vor. Es hat schon vorher Krisen gegeben.

Stimmen vor der Türe.

Nein.

Klacken der Türklinke, Schritte, eine Person in weißem Arbeitsgewand. »Frau Dirkenreith, ich muss ihr Engelchen jetzt mitnehmen.« Sanft versuchte die Schwester, ihr das leblose Kind abzunehmen.

Es ist zu früh!

Lila drückte das Baby an sich. In Sekunden war ihre Sicht durch einen dichten Tränenschleier getrübt. Engelchen! Wie konnte nur jemand auf so einen Ausdruck kommen? Lila wollte kein »Engelchen«, sie wollte ein warmes, lebendiges Kind. Ein wenig Geduld und sie würde vielleicht doch noch atmen!

Jeder ist fähig zu atmen, man muss nicht einmal denken und tut es trotzdem.

Niemand durfte ihr Marie wegnehmen.

Die Zeit ist zu kurz, bitte, mehr Zeit!

Sie war nicht imstande gewesen, sich alles einzuprägen.

Es gibt keine Wunder!

Maries Brustkorb sollte sich heben und senken, ihr Herz schlagen und ihre Augen sich öffnen.

»Lila, die Schwester muss es jetzt mitnehmen«, hörte sie Patrick dumpf durch das Tosen in ihren Ohren, mit ungeduldig scharfem Unterton sprechen. Er war offenbar mit der Krankenschwester hereingekommen. Es fehlte jegliche Wärme, Lila fror.

Verdammt, sie ist kein »ES«.

»Sie heißt Marie«, flüsterte sie erstickt. »Marie, Marie, Marie …« wiederholte sie ein paar Mal wie ein Mantra. Der Schwester gelang es endlich, ihr das Bündel mit sanftem Nachdruck aus den Armen zu winden. Lilas mühsam aufrechterhaltene Stärke schrumpfte zu einem heftigen Schluchzen zusammen.

Warum trifft es ausgerechnet Marie?

»Möchten Sie eine Beerdigung?«, erkundigte sich die Krankenschwester, bereits auf dem Weg zur Tür, während sie das weiße Tuch über das Gesicht des Babys zog. Lila spürte deutlich, wie Patrick zögerte.

»Ist das so üblich?«, kam es unschlüssig von ihm. »Ich meine, ohne Taufe ...«

Das darf nicht wahr sein!

Lila sprang auf. »Ich will ein Grab für sie. Willst du sie etwa zum Krankenhausmüll geben? Sie ist unsere Tochter,« ihre Stimme überschlug sich. Patrick umarmte sie plötzlich und zog sie zum Bett zurück. Die Krankenschwester verließ rasch den Raum.

»Beruhige dich.« Patrick drückte Lila fest an sich. Erschöpft ließ sie sich in seine Umarmung fallen. »Ich werde ihr ein Grab besorgen«, fuhr er fort.

»Ich will eine Beerdigung«, flüsterte sie erstickt. »Ich muss von ihr Abschied nehmen können, und einen Ort haben, wo …«

Was eigentlich? Ihre Seele ist doch schon fort!

Patrick hörte nicht auf ihre gestammelten Worte. Er wirkte abwesend. »Wir werden sie beerdigen«, meinte er sanft, als wolle er ein Kind beschwichtigen. »Aber ich muss mit dir reden.« Patricks eigenartige Stimmung riss Lila aus ihrer Verzweiflung über Maries Tod. Das Rauschen in ihren Ohren versiegte langsam.

»Ist etwas mit den Kindern?« Ihre zwei Töchter waren bei ihrer Freundin untergebracht.

»Sie sind noch bei Regine. Soweit ich weiß, ist alles in Ordnung.« Er rückte von ihr ab und Lila bemühte sich, sein Gesicht zu fixieren, sah es durch die Tränen jedoch nur verschwommen. »Es geht um uns, Lila. Ich habe bis zu … na ja, bis heute gewartet, denn ich wollte dich vor der Geburt nicht aufregen. Das hier war schließlich nicht vorauszusehen.«

»Das hier« nennt er Maries Tod?

Lila versteifte sich. Sie schlüpfte aus seinen Armen und rutschte auf dem Bett um einen möglichst großen Abstand von ihm zu schaffen. Patrick sprach unbeirrt weiter, ohne sie anzusehen. »Du weißt doch, dass ich mir einen Sohn gewünscht habe. Offenbar können wir miteinander nur Mädchen haben, das wäre schon das dritte gewesen.«

Das dritte Mädchen ist tot. Möchte er sofort ein neues Baby zeugen?

Lilas Gedanken fuhren Achterbahn. »Ich will noch nicht …«

Vielleicht nie mehr!

»Nein, nicht du …« Patricks Stimme erstarb und er musste schlucken.

Urplötzlich war es totenstill.

Du hast doch schon lange vermutet, dass er eine andere hat.

Sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Lila starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Kurzfristig bekam sie keine Luft, ehe Übelkeit sie flutwellenartig überschwemmte.

Hast du gehofft, die Entfremdung der letzten Monate wäre nur eine Episode?

Patrick legte die Hände auf ihre Schultern. »Hör mir zu, Lila. Ich habe mich damals auf der Intensivstation in dich verliebt. Du warst mein Anker in dieser schweren Zeit! Ich wollte dich als Mutter meiner Kinder. Und ich habe mir gewünscht, dass wir einen Sohn bekommen, der unsere Situation hätte retten können, aber dann war es wieder nur ein Mädchen.«

Was gab es denn zu retten?

Lila starrte ihn an: »Welche Situation …?«, brachte sie heraus. »Marie ist tot …«, ihr versagte die Stimme.

Patrick ließ ihr keine Zeit, die Gedanken zu ordnen. »Na ja, wir wussten doch schon länger, dass du ein drittes Mädchen bekommst. Es gibt Paare, die nur Töchter kriegen. Das ist manchmal so, muss wohl mit den Genen zu tun haben,« seine Stimme vibrierte, er strich durch die blonden Haare und fuhr hektisch mit der Zunge über seine Lippen, »aber mit einer anderen Frau,« er zog, die Hände von ihren Schultern und senkte den Kopf. »Lila, nimm das nicht persönlich, aber ich habe mit Vicky …« Er brach ab und wartete, bis die Information durchsickerte.

Nicht persönlich?

Vicky war die Tochter eines einflussreichen Geschäftspartners von Patricks Vater und außerdem seine Exfreundin.

Offenbar ist das »Ex« Geschichte.

Lila erstarrte bis ins Innerste, unfähig zu sprechen. Vor kurzer Zeit war Lila ihr totes Baby weggenommen worden und sie vermisste schmerzlich einen Menschen, der mit ihr trauerte.

So fühlt sich das an. Wie ein Messer durch den ganzen Körper.

Patrick senkte den Kopf. »Ich weiß, es ist jetzt nicht unbedingt der günstigste Zeitpunkt. Aber dass das Kind nicht gelebt hat, vereinfacht die Sache, nicht wahr?«

Fragt sich, wen er damit meint.

Zorn pumpte die nötige Portion Adrenalin in Lilas Körper und ihr gelang es, zu antworten. »Die Sache? Die Tatsache, dass du mich betrogen hast? Uns verlässt? Besser eine Frau mit zwei Kindern zu den Akten zu legen, als eine mit drei? Bedeuten dir Sophie und Anna nichts?«

»Natürlich«, versicherte ihr Patrick hastig. »Aber es sind Mädchen und ich brauche …«

»... einen Sohn um jeden Preis? Das habe ich begriffen. Wann ist das bei dir zur Obsession geworden? Wer sagt denn, dass diese Vicky erfolgreich sein wird? Wie viele Chancen hat sie? Ebenfalls drei?«

»Ich weiß es bereits.«

Oh.

Lilas Glieder fühlten sich taub an. Patrick senkte den Kopf. »Vicky ist schwanger und auf dem Ultraschallbild sieht man das, was unsere Kinder nicht hatten.«

Man erkennt schon das Geschlecht?

Vicky musste mindestens im vierten Monat sein, damit dies ersichtlich war. »Du hast nicht lange gewartet, ehe du mit einer anderen,« sie konnte nicht weitersprechen.

Patrick seufzte. »Es tut mir leid, Lila! Ich hätte unseren Sohn lieber mit dir bekommen.«

Soll das jetzt ein Trost sein?

Er stand auf und drehte Lila den Rücken zu. »Die Ultraschalluntersuchung hat alles meine Hoffnungen zerstört. Es war nicht beabsichtigt, aber an diesem Tag habe ich Vicky wiedergetroffen und – na ja, es ist passiert. Dass sie gleich schwanger wurde, ist «, er brach kurz ab, wandte sich wieder um, hielt jedoch die Augen gesenkt. »Ein Wink des Schicksals. Ich möchte einen Sohn und nun … Es ist wie ein Gottesurteil!«

Er soll verschwinden! Du willst nichts mehr hören.

»Heute habe ich es erfahren! Vicky erwartet einen Sohn, meinen Sohn. Das ist wie ein Geschenk, gerade an diesem Tag!«

Er ist am Todestag seiner Tochter glücklich darüber, dass er einen Sohn mit einer anderen Frau bekommt. Das ist … unbeschreiblich!

Wie konnte er von einem »Geschenk« sprechen? Für Lila war heute die Welt zusammengebrochen.

Hau endlich ab.

»Mir ist schlecht.« Lila schleppte sich ins Bad. Sie fühlte sich schwach von der Geburt und Patricks gnadenlose Eröffnung hatte ihr Übriges getan. Im Badezimmer musste sie heftig würgen. Schließlich sank sie neben die Toilette und begann zu weinen. Patrick kam zögernd herein und versuchte ihr aufzuhelfen. »Brauchst du ein Glas Wasser? Es tut mir weh, dich so zu sehen.«

Das ist zu viel!

»Es tut dir weh?«, kreischte sie ihn an. »Du freust dich am Todestag von Marie? Ich habe mich auf unsere Tochter gefreut, ich habe sie geliebt und du bist froh über ihren Tod! Hauptsache du bekommst bald deinen ersehnten Sohn!« Sie lachte hysterisch. »Geh und komm am besten nie wieder!« Lila war durch ihr Schreien hochrot geworden und bekam kaum noch Luft, weil sie während ihres Ausbruchs vergessen hatte, zu atmen. Patrick zögerte wenige Sekunden, ehe er aus dem Zimmer floh.

Feigling!

Sie hörte die Türe klappen.

Schlafen und nie mehr aufwachen!

 

Lila verlor jegliches Zeitgefühl. Ihr fehlte die Antriebskraft, vom Boden aufzustehen. Von Weinkrämpfen geschüttelt hatte sie sich zu einem Ball zusammengerollt. Eine Krankenschwester fand sie zehn Minuten später.

»Frau Dirkenreith!« Sie half ihr hoch und führte Lila zum Bett zurück. »Ich werde Ihnen eine Tasse heißen Tee bringen, damit Sie schlafen können.« Die Stimme der Schwester klang mitfühlend und sanft. Lila wünschte sie zum Teufel, auch wenn es ungerecht war. Niemand wusste besser als sie, dass der Alltag für Pflegekräfte im Krankenhaus alles andere als ein Erholungsurlaub war. Und es gab hundert Schicksale, die erschütternder als ihres waren.

Obwohl dir im Moment keines einfällt.

Lila ließ sich in die Kissen sinken. Doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr stumm die Tränen über die Wangen liefen.

Dein Baby ist tot. Es ist endgültig!

»Frau Dirkenreith denken Sie an Ihre Kinder, die zu Hause auf Sie warten. Die beiden werden Ihnen Kraft geben.«

Lila wollte allein sein und sich nochmals in Gedanken Maries Gesichtchen in Erinnerung rufen.

Endgültig vorbei!

»Ich habe nicht einmal ein Bild von ihr.« Lila schluchzte auf. »Ich kann sie nicht im Gedächtnis behalten.«

»Wir haben ein Foto von Ihrem Baby gemacht. Sie bekommen einen Abzug.«

Das Klicken der Türe ließ Lilas Tränenfluss jäh stoppen, Kälte breitete sich in ihr aus.

Du willst einschlafen und beim Aufwachen feststellen, dass alles in Ordnung ist.

Jemand betrat das Zimmer.

»Frau Dirkenreith?« Eine männliche Stimme, Lila bewegte sich nicht. »Ich bin Bruder Gerold, der Krankenhausseelsorger.«

Was kann der schon ausrichten?

Sie drehte widerwillig den Kopf und sah einen Mann mittleren Alters vor sich stehen. Er trug eine braune Mönchskutte, hatte zerzauste blonde Haare und tiefblaue Augen.

+ Er soll verschwinden!

»Ich bin nicht katholisch.«

»Das spielt keine Rolle.« Der Seelsorger holte einen Stuhl und ließ sich darauf nieder. Tatsächlich war er förmlich gerannt, als er den Familiennamen der jungen Frau vernommen hatte. Dirkenreith – noch immer empfand er Schmerz und Trauer. Dies könnte das Zeichen sein, auf das er so lange gewartet hatte.

»Ich möchte keinen Rosenkranz beten oder mit Weihwasser übergossen werden.« Lila wischte über ihre Augen.

»Ich habe beides nicht im Angebot.«

Er kapiert es nicht.

»Mein Kind ist tot. Lassen Sie mich in Ruhe.«

Der Pater behielt seinen beruhigenden Tonfall bei. »Das werde ich nicht tun. Niemand sollte in dieser Situation sich selbst überlassen sein.«

Er hat doch keine Ahnung!

»Ich schon!« Ihre Stimme kippte. »Oder können Sie mir mein Baby zurückgeben?«

»Wenn ich Menschen lebendig machen könnte, dann würde ich es tun. Diese Fähigkeit hatte nur Jesus …«

»Ich will keine Bibelstunde!«, wehrte Lila ab. »Ich weiß, Sie werden mir einreden wollen, dass meine Tochter im Himmel ist. Ein Engel. Dass ihr ein elendes Leben auf der Welt erspart geblieben ist, aber …« Sie unterbrach sich, als der Mann den Kopf schüttelte. »Nein? Wollten Sie etwas anderes erzählen?«

»Zu meinem Bedauern kann keinen Trost anbieten, der Ihnen im Moment hilft.« Die sanfte Stimme drang durch ihre Haut. Und schmerzte. Dabei tat ohnehin schon alles weh.

Der fromme Klosterbruder soll gehen.

Er vermochte ihr nicht zu helfen. Niemand konnte die vergangenen Stunden ungeschehen machen. Schon gar nicht ein Rosenkranz-Fetischist.

Warum trauert Patrick nicht mit?

Patrick war erleichtert, dass er künftig kein drittes unnützes weibliches Geschöpf großziehen musste. Lila fror. Sie spürte eine sanfte Berührung ihrer Hände, der unerwünschte Seelsorger fuhr darüber. »Kann ich jemanden für Sie anrufen? Ihren Mann vielleicht?«

Den schon gar nicht!

»Mann? Ich habe keinen Mann mehr!« Hysterisches Gelächter schüttelte sie, welches in einem Hustenanfall endete, an dem sie fast erstickte. Gerold sprang auf und half ihr, sich aufzurichten. Der Pater schien zu überlegen. Vermutlich würde er gleich nach der Schwester läuten! Stattdessen schlang er plötzlich die Arme um sie. Ihre Weinkrämpfe wurden stärker und schüttelten ihren Körper durch. Die Tränen sickerten in seine Kutte, aber er hielt sie weiterhin fest gedrückt.

Eine Ewigkeit verging, ehe die Krämpfe nachließen. Lila löste sich von ihm. Er reichte ihr ein Taschentuch vom Nachttisch und sie putzte sich die Nase.

Was tut er noch da?

Und dann sprudelten die Worte aus ihr heraus. »Patrick, mein Ehemann, er ist froh, dass Marie tot ist. Er wollte einen Sohn und seine Geliebte erwartet schon einen.«

Gerold zuckte zusammen, wirkte betroffen. Schweigend zog er sie nochmals in seine Arme und sie kroch förmlich in ihn hinein.

Lila hatte nicht gewusst, wie ausgehungert sie nach Wärme und Zuspruch war, auch wenn diese von einem wildfremden Menschen kamen. Stockend fuhr sie fort. »Von dem Tag an, als im Ultraschallbild das Geschlecht ersichtlich war, hat Patrick sich von mir entfernt. Ich wollte es nicht wahrhaben. Er hat heute erfahren, dass seine Geliebte mit seinem Sohn schwanger ist. Und er ist glücklich darüber. Wie kann er das sein, obwohl Marie tot ist?« Sie begann erneut zu schluchzen, Gerold hielt sie in seiner warmen Umarmung.

»Zum Teufel mit diesem Mann!«, sagte er schließlich heftig.

Lila musste lachen. »Dürfen Sie als Mönch jemanden zum Teufel wünschen?«

»Nein, eigentlich nicht. Verraten Sie mich nicht meinem irdischen Chef, der himmlische, hat Verständnis dafür.«

Er ist ein ganz und gar untypischer Pater.

»Frau Dirkenreith, ich weiß, dass Sie momentan vor einem Scherbenhaufen stehen. Aber Sie sind stärker, als Sie glauben mögen. Jedes Ende ist gleichzeitig ein Anfang. Ihr Mann weiß nicht, was er an Ihnen und seinen Töchtern verliert, wenn er Sie gehen lässt. Sie sind reif dafür, sich von einem Partner, der so ein Idiot ist, zu lösen.«

Er spricht von Trennung. Daran hast du noch gar nicht gedacht.

Seine Worte kamen bei ihr teilweise an. Sie löste sich verlegen aus der Umarmung und nahm zum ersten Mal ihre Umgebung wieder wahr. Sophie und Anna warteten auf sie, es gab einen Grund für sie, weiterzuleben.

Ich muss für die beiden stark sein.

Bruder Gerold erkannte offenbar an ihrer Miene, dass die Krise überstanden war. Er holte eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche, sie war leicht zerknittert. »Ich möchte, dass Sie mich anrufen, wenn Sie reden wollen. Tag und Nacht.«

Der Einzige, den du hier haben wolltest, hat dich verlassen.

Sie nahm die Karte an sich, ihre Augen waren bereits wieder tränenblind. »Danke«, quälte sie sich, zu sagen.

Ich werde nicht anrufen. Was soll ich mit einem katholischen Priester?

»Auf Wiedersehen, Frau Dirkenreith. Ich würde gerne Kontakt zu Ihnen halten.« Sie nickte, bereits wieder mit Tränen kämpfend. Gerold zögerte kurz, doch dann verließ er sie. Lila blickte ihm nach, bis sich die Türe hinter ihm schloss, ehe sie die Karte auf das Nachtkästchen legte.

Das Gespräch hat dir wirklich gutgetan.

Dankbar ließ sie sich ins vorübergehende Vergessen fallen.

 

Gerold verließ Lila Dirkenreiths Zimmer und lehnte sich für ein paar Minuten aufatmend an die Wand. Er hatte gewusst, dass das Kapitel Dirkenreith noch nicht abgeschlossen war. Die Wunde schmerzte so heftig, als wäre es gestern passiert. Sieben Jahre, neun Wochen und drei Tage – er zählte schon viel zu lange. Und er sah den Mann deutlich vor sich, als wäre es gestern gewesen: mit dem leicht zerzausten Haar, dem etwas schelmischen Lächeln und seinem Tatendrang. Auch er hätte einen Sohn zeugen sollen.

Trümmerhaufen

Die kommenden zwei Tage verbrachte Lila in einer Traumwelt. Sie saß in einem Kokon und verkroch sich darin. Es gelang ihr, eine Illusion zu schaffen, in der das Baby noch in ihrem Bauch strampelte. Ihr Körper funktionierte irgendwie und hielt die äußere Fassade aufrecht, innerlich komplett erstarrt. Sie widmete sich Sophie und Anna, erzählte ihnen, dass Marie im Himmel wäre, spielte mit ihnen, las ihnen vor und kochte Mahlzeiten. Lila erlebte alles mit, hatte aber das Gefühl, neben sich zu stehen, umhüllt von einem dicken Schleier. Patrick ging ihr aus dem Weg, kam spät heim und verschwand möglichst früh. Da es Wochenende war, vermutete ihn Lila bei seiner Geliebten.

Die mit seinem Sohn schwanger ist.

 

Am Montagabend stand er schließlich plötzlich vor Lila. Sie hatte die Kinder zu Bett gebracht und schloss die Türe zum Kinderzimmer. »Wir beide müssen in Ruhe reden.«

Was meint er mit »Ruhe«? So wie »Ewige Ruhe«?

Lila biss sich auf die Lippen.

Ich will nicht hören, dass ihm Maries Tod gleichgültig ist.

»Setzen wir uns.« Patrick gab sich sichtlich Mühe, freundlich zu sein. Er goss zwei Gläser Branntwein ein, stellte eines vor Lila hin und leerte das andere in einem Zug. »Du möchtest eine Beerdigung und ein Grab für das Kind«, begann er.

Du … das bedeutet, er will es nicht. Das Kind, als ob es irgendeines gewesen wäre ...

Lila zuckte zusammen. »Sie heißt Marie.« Niemals würde sie nur an »das Kind« denken.

»Ja, natürlich.« Patrick schenkte nach und setzte sich Lila gegenüber. »Ich organisiere eine kurze Bestattungsfeier im Familienkreis und ein Grab. Für dich.«

Der Mann, der dir gegenübersitzt, kann nicht derselbe sein, den du geheiratet hast.

»Du sprichst von deiner Tochter.« Ihre Stimme erstickte.

»Sie hat nie gelebt, weißt du?« Patricks Worte klangen schroff.

Nie gelebt?

Lila hätte ihm am liebsten den Inhalt des Glases ins Gesicht geschüttet. »Sie hat acht Monate in meinen Bauch gestrampelt, ihr Herz hat geschlagen und ich habe sie gespürt …« Ihr Panzer zersprang und sie begann zu weinen. Patrick trat zu ihr und umschlang sie von hinten.

»Schon gut, Lila! Ich weiß, dass das für dich schwer ist. Für mich war sie nicht real wie für dich. Bitte versteh mich.«

Und sie war nur ein Mädchen!

Mit Gewalt befreite sich Lila und stellte ihr Glas mit Schwung auf dem Wohnzimmertisch ab. Dann trat sie ans Fenster und blickte in den von weißem Frost überzogenen Garten. Tränen liefen lautlos über ihre Wangen.

Alles ist tot. Marie wird nicht erwachen …

Patrick schüttete den Branntwein förmlich in sich hinein, wie sie im spiegelnden Fensterglas erkennen konnte. »Sie bekommt ein Grab, versprochen. Aber wir beide müssen über uns sprechen.«

Es gibt kein »uns« mehr.

Sie drehte sich um. Patrick sah sie nicht an, als er weitersprach. »Das Haus ist groß. Ich möchte, dass du mit den Mädchen hier wohnen bleibst. Vicky kann in die zwei ungenutzten Räume im oberen Stock ziehen. Das Gästezimmer und …«, er zögerte. »… das andere.«

Maries Zimmer. Sie braucht es schließlich nicht.

Lila schaute ihn entgeistert an. »Du erwartest, dass ich hier zusammen mit deiner Neuen …«

Nie im Leben!

Patrick verzog das Gesicht. »Ich versuche, das Ganze, so gut es geht, zu managen und euch beiden gerecht zu werden.«

Lilas Bedürfnis zu brüllen und um sich zu schlagen wuchs. Sie setzte sich wieder hin und ballte die Fäuste. Minutenlang herrschte Schweigen.

»Das wäre für Sophie und Anna die ideale Lösung. Sie sind meine Kinder. Und dich will ich auch nicht verlieren …!«

Auch? Für ihn ist Maries Tod kein Verlust!

Hatte Patrick ernsthaft vorgeschlagen, künftig in einer Art Dreiecksbeziehung zu leben? Sein nächster Satz schuf Gewissheit. »Wir bilden eine Patchwork-Familie …«

Er spinnt komplett!

»Ich habe es nicht geplant, weißt du!« Patricks Stimme klang sanft, als spräche er zu einer Verrückten, die etwas Vernünftiges nicht begreifen will. »Aber Vicky ist mit meinem Sohn schwanger! Es ist wie ein glücklicher Fingerzeig von oben. Wenn du weniger emotional denkst, wirst du das einsehen.«

Das ist das zweite Mal. Das erste Mal war schon zu viel!

Lila weigerte sich, länger zuzuhören. Gerne wäre sie an einen Ort geflohen, an dem es keine toten Kinder und untreuen Ehemänner gab.

Warum sitzt du noch hier?

»Soll ich dir Absolution erteilen? Das kann ich nicht. Es tut weh, Patrick. Mein Baby ist tot und du lässt mich im Stich.«

Patrick sah sie verständnislos an. »Es ist auch für mich schwer!«

Tatsächlich?

Rasch fuhr er fort, verhaspelte sich fast. »Du befasst dich nicht einmal mit der Sache! Versuch es zumindest und es kann funktionieren, Lila. Wir zusammen - eine große Familie! Anna und Sophie könnten mit ihrem Bruder aufwachsen!«

Er ist ernsthaft überzeugt davon.

Lila hatte das Gefühl, dass die Welt um sie herum in Millionen Splitter zerfiel. Eine Liebe. Eine Traumhochzeit. Kurzes, viel zu kurzes Glück.

Es ist zu Ende. Du musst hier weg.

»Ich werde mit den Mädchen ausziehen.« Es kam wie ein Hauch. Dennoch war sie stolz auf sich, die Kraft aufzubringen, eine solche Entscheidung zu treffen.

»Du reagierst dramatisch! Wo willst du hin? Du hast den Luxus genossen, streite es nicht ab. Möchtest du wieder im Krankenhaus arbeiten? Als einfache Schwester?« Patrick lachte. Wie konnte er jetzt lachen? Sie auch noch auslachen?

Was spricht dagegen?

Lila rieb sich über die Stirn, Kopfschmerzen kündigten sich an. »Ich möchte meine Zukunft nicht mit dir besprechen!«

Patrick erhob sich. »Am besten du gehst schlafen. Du bist immer noch emotional ein bisschen daneben.«

Vielleicht weil es erst drei Tage her ist, dass du dein totes Kind im Arm gehalten hast? Ist das keine Rechtfertigung für ›ein bisschen daneben‹?

Lila öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Patrick winkte ab. »Ich verstehe dich, Lila. Du brauchst Zeit. Ich arrangiere die Beerdigung in den kommenden Tagen. Überstürze nichts! Versuch auch meine Seite zu begreifen! Ich verdiene schon lange einen Posten im leitenden Bereich. Vater hat mir versprochen, dass ich ihn bekomme, sobald ich ihm einen männlichen Erben bringe.« Damit verließ er das Zimmer.

Eine Beförderung für einen Sohn?

Lila sah ihm schockiert nach. Gabriel Dirkenreith hatte über seinen Sohn verfügt, ihn manipuliert und ihm keinerlei Kompetenzen in der Firma überlassen wollen. Aber ein Managerposten als Preis für einen Enkel?

Das geht entschieden zu weit!

Wie konnte Patrick nur annehmen, dass sie mit seiner Geliebten unter einem Dach wohnen wollte? Die Ungeheuerlichkeit ließ sie vor Zorn vibrieren, zumindest blieben ihre Augen trocken.

Patrick weiß nicht, dass seine Ignoranz dir Kraft gibt.

Energisch stand sie auf. Sie würde sich einem neuen Leben stellen und ihre Zeit nicht dem Luxus der Trauer überlassen.

Und dann traf sie ihre Entscheidung.

 

 

Zerbrochene Brücken

Lila würde in ihren Heimatort nach Bayern zurückkehren. Ihr Vater hatte nach der Scheidung den Kontakt zu ihr abgebrochen, dennoch hatte er ihr das ehemalige Elternhaus vererbt. Seine Lebensgefährtin hatte zwar das Wohnrecht, das Haus war jedoch groß genug.

In den letzten Tagen hatte Patrick die meiste Zeit außer Haus verbracht, vermutlich bei der zukünftigen Mutter seines Sohnes. Lila hatte ihren Umzug vorbereitet, im Grunde genommen froh über die Ablenkung. Sie wollte der glücklich schwangeren Vicky auf keinen Fall begegnen. Tagsüber hatte sie mit ihrem Anwalt telefoniert, Kartons verpackt und sich um ihre Kinder gekümmert. Nachts hatte sie trotz Erschöpfung Schlaflosigkeit gequält.

An der Beerdigung nahmen außer ihnen nur ihre Schwiegereltern teil. Der Pastor sprach ein paar Worte, von denen Lila nichts mitbekam.

Keiner kann wissen, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren.

Patrick fuhr nach der kurzen Zeremonie mit ihr auf direktem Weg zur Villa Dirkenreith. »Mutter hat Kaffee vorbereitet«, war seine knappe Erklärung.

Vorbereiten lassen trifft es eher, Henriette kann kaum den Knopf der Kaffeemaschine drücken.

Ihre Schwiegermutter war Personal gewöhnt.

»Sollen wir nicht die Mädchen vorher holen?«, fragte Lila.

Dumme Frage!

Die beiden waren wieder bei Regine.

»Nein, Mutter hat jetzt nicht die Nerven für zwei Kleinkinder.«

Wann hatte sie die jemals?

Lila hatte sich in der pompösen Feudalvilla ihrer Schwiegereltern noch nie wohlgefühlt. Die Haushälterin nahm ihnen Jacken und Regenschirme ab. Lila folgte Patrick und seinen Eltern in den mit Antiquitäten überladenen »Tee-Salon«.

Ein Glück, dass Sophie und Anna nicht hier sind.

Die dunkle Kleidung ihrer Schwiegermutter war nicht als Zeichen von Trauer für ihr totes Enkelkind zu bewerten, sondern vielmehr als strikte Einhaltung der Etikette. Henriette Dirkenreiths Selbstdisziplin erlaubte keinerlei Entgleisung in der Öffentlichkeit. Gabriel Dirkenreith nickte Patrick kurz majestätisch zu. Es bedurfte keiner Worte, damit ihm dieser gehorsam ins andere Zimmer folgte. Lila wusste, dass Patrick unter der Dominanz seines Vaters litt. Niemals war es ihm gelungen, sich ernsthaft zu widersetzen oder wenigstens ein einziges Mal eine eigene Idee vorzutragen, geschweige denn durchzubringen. Hoffte Patrick wirklich auf die längst fällige Anerkennung seiner Arbeit, nur weil er einen Sohn gezeugt hatte? Lila drehte sich zwangsläufig zu ihrer Schwiegermutter um.

Das sieht Patrick ähnlich, dich mit Hamburgs größtem Eisblock allein zu lassen.

Ein Hausmädchen goss Kaffee in ihre Tasse und wollte ihr einen der trockenen Teekuchen auf einem Teller servieren. Lila wehrte ab.

»Zwing dich dazu, du bist mager geworden.« Die Stimme ihrer Schwiegermutter war scharf wie ein Messer. Lila schüttelte stumm den Kopf.

Auf keinen Fall, sonst erstickst du!

Missbilligend verzog sich der Mund von Lady Dirkenreith, wie Lila sie heimlich nannte, während sie die Zuckerdose in die Hand nahm. »Ich nehme an, mein Sohn hat dich über die veränderte Situation aufgeklärt. Das Ganze ist gewiss bedauerlich, aber nicht zu ändern. Tatsache ist, dass die Dirkenreith-Dynastie einen männlichen Erben braucht und das hast du nicht zustande gebracht. Töchter sind schön und recht, aber es sind die Jungen, die den Namen weitertragen. Obwohl du jetzt kurze Zeit traurig bist, ist es vermutlich besser, dass euch nicht noch ein drittes Mädchen belastet.«

Hoffentlich ist Gift in der Zuckerdose!

Henriette schaufelte reichlich Zucker in den Kaffee, ehe sie fortfuhr. »Nichtsdestotrotz sind auch Töchter eine Verpflichtung und wir sind bereit, ihnen eine entsprechende Erziehung zukommen zu lassen. Wenn du einverstanden bist, werden wir sie bei uns behalten, unter Aufsicht einer ausgebildeten Fachkraft, versteht sich. Sophie wird sechs, das ist das richtige Alter für ein Mädcheninstitut. Wir haben nichts dagegen, sollten es die Mädchen bis zum Abitur bringen.« Henriette griff nach dem silbernen Milchkännchen. »Aber für einen Platz in der Gesellschaft als unsere Enkelinnen müssen sie sich auf gehobenem Parkett bewegen können. Ich nehme an, du siehst das sein.«

In welchen antiken Film bist du geraten?

Niemals würde sie Sophie und Anna dieser kaltherzigen Frau überlassen und sie zu einem Leben im Gefrierschrank verurteilen. Mit spitzen Fingern aß der alte Eiszapfen einen der Teekuchen und kaute genussvoll, während sie Lila mit ihren Adleraugen durchbohrte.

Sollte sie ersticken, wirst du nicht Erste Hilfe leisten!

»Ich werde mich nicht von meinen Kindern trennen.« Lila verwünschte das Zittern in ihrer Stimme.

Henriette rieb mit der Papierserviette über ihren Mund. »Ich dachte, du wolltest ihnen vielleicht die Möglichkeit bieten, ein Leben zu führen, das dir verschlossen bleiben wird. Es ist bedauerlich, dass du deinen Töchtern jegliche Chance auf eine bessere Zukunft verwehrst.« Sie nippte wiederum an ihrem Kaffee. »Du bist unvorteilhaft blass, nach diesem Beerdigungstheater kein Wunder.«

Du hättest meine Tochter in den Abfall gekehrt!

»Wenn du die Mädchen mitnehmen willst, ist es deine Entscheidung. Schade, wenn du einen Sohn geboren hättest, müssten wir diese Unterhaltung nicht führen. Ich habe sogar zwei bekommen, zum Glück. Mit dem Tod muss man immer rechnen. Ich weiß, was es heißt, ein Kind zu verlieren. Und Jonas hat doch etwas mehr geleistet, als schon vor der Geburt zu sterben.«

Hat diese Frau überhaupt Gefühle?

Lila hatte sich oft gefragt, wie ihre Schwiegermutter den Tod von Patricks Bruder hatte verkraften können. Während Lilas Ehe war selten über den verstorbenen Erstgeborenen gesprochen worden. Lila wusste lediglich, dass beide Brüder vor sieben Jahren beim Schiurlaub in Österreich gemeinsam verunglückt waren. Jonas war sofort tot gewesen, Patrick hatte schwerverletzt überlebt.

»Wir könnten unseren Enkelinnen finanziell wesentlich mehr bieten. Dein Unterhalt wird begrenzt sein. Auf Patrick kannst du nicht bauen, er hätte euren luxuriösen Lebensstil niemals ohne unsere Hilfe aufrechterhalten können. Wenn er wieder heiratet, gilt es noch mehr Personen durchzufüttern. Vielleicht möchte er dann seine Töchter auch zu sich nehmen.«

Wohl kaum!

Lila verstand nicht, warum Henriette glaubte, ihr drohen zu müssen. Sie konnte arbeiten und war nicht auf das Geld dieser Menschen angewiesen. Die Tatsache, dass Patrick sie ohne Reue aus seinem Leben streichen konnte, traf sie mehr.

Du darfst jetzt nicht durchdrehen!

Ein Nervenzusammenbruch würde ihrer Schwiegermutter einen willkommenen Grund liefern, Sophie und Anna in dieses Mausoleum von Haus zu bringen, in dem weder Wärme noch Liebe existierten.

Steh auf und geh. Sie hat keine Macht über dich!

Patrick und sein Vater kamen endlich zurück, beide in gereiztem Zustand. Ihr Schwiegervater tauschte einen Blick mit seiner Frau, die ihn kurz informierte. »Lila zeigt keine Vernunft, sie möchte die Kinder selbst erziehen.«

Du bist unvernünftig, weil du deine Kinder behalten willst?

Lila stand auf. »Wir müssen Sophie und Anna holen, Patrick«, brachte sie mühselig hervor. Vor wenigen Stunden war ihre Tochter beerdigt worden. Sie wollte nach Hause. Der Abschied fiel auf allen Seiten unterkühlt aus.

Nur weg von hier.

Im Auto machte Patrick seinem Ärger Luft. »Dieser elende Bastard!«, wütete er. »Er hat versprochen, dass mir ein männlicher Erbe den Weg in den Vorstand ebnen würde. Und nun denkt er gar nicht daran.« Patrick schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad, sodass der Wagen kurz holperte. »Er soll erst auf die Welt kommen. Was soll das? Das dauert weitere fünfeinhalb Monate. Ich habe lange genug gewartet. Jonas ist seit sieben Jahren tot. Zuerst heißt es: ›Heirate Patrick‹, dann: ›Zeuge Kinder‹, nein: ›Krieg männliche Kinder‹. Was noch? Muss mein Sohn blaue Augen haben, damit ich endlich den Platz erhalte, der mir zusteht?«

Aha, Patrick beginnt, nachzudenken.

»Ist es das wert? Der Sitz im Vorstand? Dass du Sophie und Anna und mich verlässt?«

»Du bist es, die fortgeht.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Du weißt, dass ich eine andere Lösung vorgeschlagen habe!«

Lächerlich!

»Hast du mich je geliebt?«

Willst du wirklich eine ehrliche Antwort?

Patrick schlug genervt auf das Lenkrad. »Meine Güte, das ist jetzt sowas von unwichtig! Ich bemühe mich, dass es so leicht wie möglich für euch ist. Wäre Vicky nicht schwanger …«

»… dann hättest du mich immer noch betrogen.«

»Findest du nicht, dass du das bisschen Sex überbewertest? Als Mann braucht man ab und zu ein Vergnügen.«

Hatte er sonst keines?

Lila verstand. »Es war nicht das erste Mal?« Patrick schwieg.

Deine Entscheidung ist goldrichtig! Sag es ihm endlich.

»Ich werde in das Haus meines Vaters ziehen«, sagte sie schonungslos, als sie ihrer Stimme wieder trauen konnte. Patrick stoppte den Wagen auf dem Parkplatz vor Regines Wohnblock, der Motor erstarb. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Nach Bayern? Spinnst du komplett? Wie soll ich dann die Kinder sehen?«

Sie werden ihm kaum fehlen.

»Ich brauche Abstand, Patrick. Ich kann nicht hierbleiben und zusehen, wie du mit Vicky und deinem männlichen Kind glücklich lebst. Ich möchte eine Chance für mich.«

Überraschend wurden Patricks Züge milder. Er beugte sich zu ihr und strich ihr über die Wange. »Ich verstehe dich! Aber das sind hunderte Kilometer!«

Seit wann tut seine Berührung weh?

»Das ist für mich das Beste. Ich kann in ein paar Tagen losfahren und erspare mir das Suchen einer Unterkunft.«

Patrick meinte resigniert. »Ja, vermutlich hast du recht. Vicky war ja auch nicht so begeistert, dass du mit uns im Haus lebst.« Offensichtlich hat die Dame doch ein paar Gehirnzellen.

Patrick lehnte sich zurück. »Ich habe mich gerade an unser erstes Zusammentreffen erinnert. Es hat doch gut angefangen, nicht wahr?«

Lila schloss die Augen. Sie war Krankenschwester gewesen und Patrick ihr Patient auf der Intensivstation. Nach diesem entsetzlichen Unfall in Österreich, bei dem sein Bruder gestorben war. Es war leicht gewesen, sich in diesen blonden Herzensbrecher zu verlieben. »Du warst mein Engel in dieser schrecklichen Zeit nach dem Unfall.«

Damals hast du an ein Märchen geglaubt!

»Warum hast du mich betrogen?«, flüsterte sie. »Ich dachte, du wärst mit mir glücklich gewesen.«

Weshalb fragst du? Die Antwort wird dich quälen.

Patrick sah an ihr vorbei. »Anfangs schrieb ich es deiner Unerfahrenheit zu, doch du bist ein kalter Fisch im Bett. Ein Mann braucht mehr.« Seine Stimme war sanft, die Worte trafen jedoch ihr Ziel scharf wie Messer. Lila erstarrte. Die intime Seite ihrer Ehe war für sie angenehm, aber ohne Höhenflüge verlaufen. Und sie hatte gedacht, er würde auf seine Kosten kommen.

Patrick öffnete die Autotür, sah sie jedoch noch einmal an. »Es tut mir leid, ich wollte dir das nicht so schonungslos sagen. Es gibt Therapien. Vielleicht hilft es dir.«

Er hat nie etwas gesagt. Wahrscheinlich ist Vicky eine Sexgöttin.

Patrick stieg aus, Lila blieb sekundenlang sitzen, bis die Türe auf ihrer Seite aufgerissen wurde. »Beeil dich, ich muss am Abend zu Vicky, ich habe sie heute ohnehin vernachlässigt.«

Wut stieg in ihr hoch.

Maries Beerdigung war ihm nur lästig gewesen.

Lila straffte ihre Schultern. Sophie und Anna brauchten eine starke Mutter.

 

 

Ein neuer Weg

Die Tage glitten vorbei. Lila funktionierte irgendwie. Sie ertappte sich dabei, dass ihre Hände automatisch immer wieder zu ihrem Unterleib fuhren, der flach und leer blieb.

Es besteht keine Hoffnung mehr. Marie kommt nicht zurück.

Der bevorstehende Umzug sorgte für Beschäftigung. Während die Kinder im Kindergarten waren, packte Lila die letzten Kartons, die sie sich nachschicken lassen wollte. Regine half ihr, so oft sie Zeit fand. Lila hatte sich überwunden, die Lebensgefährtin ihres Vaters über ihre Ankunft zu informieren. Zumindest vorübergehend schien ihr der Unterschlupf in ihrem Elternhaus als passende Notlösung. Ein paar Wochen würde sie es mit dieser Hexe aushalten können, die ihre Mutter und sie aus dem Haus getrieben hatte.

Am Telefon hat sie erfreut geklungen! Falsche Schlange.

Lila fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, zu einer wildfremden Frau ziehen zu müssen.

Mutter ist damals weg von Bayern und du kehrst zurück.

Überraschenderweise empfand sie Freude, ihre Heimat wiederzusehen. Und die räumliche Entfernung zu ihrem bisherigen Leben würde ihr den Abstand erleichtern.

Nur in den Nächten plagten sie Zweifel, ob ihre Entscheidung richtig war. Zwischen den viel zu kurzen Schlafphasen ließen sich die Tränen nicht stoppen.

Wie kann dir ein Kind fehlen, das du nie gekannt hast?

 

Am Tag vor der Abreise besuchte sie zum letzten Mal Maries Grab. Drei Wochen waren seit ihrem Tod vergangen. Zu ihrer Überraschung stand ein Klosterbruder in der braunen Mönchskutte davor und sie erkannte den Krankenhausseelsorger.

Was tut der denn da?

»Bruder Gerold!«

Er lächelte. »Sie haben meinen Namen behalten.«

Lila sah die weiße Rose. »Sie haben eine Blume für meine Tochter gebracht.«

Woher kennt er das Grab?

Die blauen Augen zwinkerten kurz, dann zeigte er zum Friedhofseingang. »Dort hinten ist ein Café. Haben Sie Lust auf ein Gespräch? Ich warte auf Sie.«

Wenn du ablehnst, ist es unhöflich.

Sophie und Anna waren ein letztes Mal bei Regine, es würde ihnen nichts ausmachen, wenn sie die beiden später holte. Lila zündete eine Kerze mit einem Engel an.

Wer weiß, wann du wieder herkommen kannst. Aber du nimmst Marie mit, im Herzen, in Gedanken und in der Seele.

Kurze Zeit später fand Lila Bruder Gerold an einem Tisch in einer der hinteren Nischen des kleinen Cafés.

»Sind Sie zufällig hier?«, fragte sie gleich.

Er senkte den Kopf und rührte in seiner Kaffeetasse. »Ihre Geschichte ging mir nicht aus dem Kopf. Heute habe ich herausgefunden, wo Marie begraben wurde. Aber unser Treffen jetzt, das ist Schicksal.«

Er hat sich mit Marie beschäftigt?

Sein Lächeln wurde schief. »Wie geht es Ihnen? Nein, das ist eine dumme Frage, ich nehme an, es wird Ihnen noch lange nicht gut gehen.«

Lila schluckte die erneut aufkommenden Tränen hinunter. »Zum Glück habe ich zwei Kinder und muss für sie stark sein. Wir fahren morgen nach Germaringen, das ist mein Heimatort.«

»Wohin?«

»Das ist ein winziger Ort zwischen München und Stuttgart.« Bruder Gerold nahm einen Schluck, während die Kellnerin Lilas Bestellung aufnahm. »Mein Mann möchte Platz für seine aktuelle Freundin. Sie ist schwanger und bekommt seinen heißersehnten Sohn.« »Ich erinnere mich.« Er drückte ihre Hand. »Sie wünschen sich weg aus seiner Nähe.«

»Glauben Sie, das ist eine gute Idee?«

Hoffentlich! Denn jetzt kannst du nicht mehr zurück.

»Jede Entscheidung, die gefallen ist, ist die bestmögliche«, erwiderte der Pater zu ihrem Erstaunen. Die Kellnerin stellte den bestellten Cappuccino vor Lila. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Pater Gerold einen Gegenstand aus seiner Kutte zog und ihn in seiner Faust versteckte.

»Ich möchte Ihnen ein Geschenk geben. Hätte ich Sie heute nicht getroffen, hätte ich es Ihnen geschickt.« Er öffnete seine Finger und auf seiner Handfläche lag ein königsblauer Schmetterling aus Plastik mit rosaroten Sprenkeln.

Ein Spielzeug?

Bruder Gerold griff nach Lilas rechter Hand und legte den Schmetterling hinein. »Es ist ein Symbol, eine Krücke, ein Hilfsmittel, wenn Sie wollen. Er steht für Marie, Ihr Baby. Das, was Marie für Sie ist und war. Liebe, Hoffnung, Seele, Licht, Atem – kurzum alles.«

Was meint er damit?

Lila starrte auf das kleine Plastikspielzeug und wieder zu Bruder Gerold. Er schloss ihre Finger um die kleine Figur. »Nehmen Sie den Schmetterling täglich in die Hand. Denken Sie an Marie. Was aus ihr geworden wäre, wie Ihr Leben mit ihr ausgesehen hätte. Wie sie herangewachsen wäre, ob sie Ihnen geglichen hätte. Konzentrieren Sie sich. Vor Ihren Augen soll Marie lebendig werden. Schöpfen Sie Kraft aus diesen Gedanken und Gefühlen. Irgendwann möchte ich, dass Sie diesen Schmetterling fliegen lassen können. Die Zeit wird kommen, auch wenn Sie es jetzt noch nicht glauben.«

Fliegen? Wie stellt er sich das vor?

Gerold verstand offenbar die unausgesprochene Frage. »Fliegen im Sinn von Loslassen. Ein Schmetterling schlüpft aus einer verpuppten Raupe in die Freiheit. Wir Menschen sind in unserem Körper gefangen. Mit dem Tod befreit sich die Seele. Sie konnten die sterbliche Hülle Ihres Kindes beerdigen, das Loslösen passiert erst viel später. Sie allein werden wissen, wann und wo der richtige Zeitpunkt ist. Als Symbol werfen Sie den Schmetterling von einem Berggipfel ins Tal, von einer Brücke in den Fluss oder von einem Schiff in den Ozean. Oder sie deponieren ihn an einer besonders schönen Stelle.«

Lila schloss ihre Faust um ihr Geschenk. »Sie meinen, ich werde vergessen können?«

»Niemals.« Er beugte sich vor. »Ich kann Sie nicht anlügen. Vergessen, das geht nicht. Aber die Trauer verliert an Schärfe. Und irgendwann werden Sie so weit sein, dass Sie Maries Seele freigeben können.«

Das klingt nach Guru! Ist er Mitglied in einer Sekte?

»Wie geht es Ihnen mit Ihrem Mann?«, wechselte er das Thema.

»Er wohnt bei seiner Freundin und freut sich auf seinen Sohn.«

Sophie und Anna sind unwichtig geworden. War deine Ehe nur eine Illusion?

Bruder Gerold straffte seine Schultern. »Ich möchte Ihnen noch etwas erzählen.« Zitterte seine Stimme leicht? »Ich kenne die Familie Dirkenreith aus Erzählungen. Gabriel Dirkenreith hat Henriette von Hellstein geheiratet. Sie brachte einen bekannten Namen und Geld mit. Liebe spielte keine Rolle. Der erste Sohn Jonas kam erst nach über zehn Jahren zur Welt.«

Warum erzählt er dir das alles? Das weißt du doch schon!

»Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine Frau über dreißig Jahren Kinder bekommt.«

»Heute, ja. In den sechziger Jahren galt man ab 28 als alte Erstgebärende. Henriette musste sich aus medizinischen Gründen schon Wochen vor den Entbindungen im Krankenhaus aufhalten. Obwohl sie einiges für die Geburten auf sich genommen hatte, war ihr Interesse an den Kindern minimal. Zuerst waren Kindermädchen da und im Alter von sechs Jahren wurden sie ins Internat gesteckt.«

Das ist bekannt! Aber woher weiß er das?

Gerold fixierte einen imaginären Punkt an der Wand ihr gegenüber. »Sohn Jonas galt als würdiger Nachfolger in der Firma. Aber sein Vater wollte ihm keine Kompetenzen übertragen. Er litt darunter, dass sein Vater oft seine Urteile in Frage stellte und Ideen von ihm abwürgte. Ich weiß, wie verzweifelt Jonas oft war und dass er sich mit dem Gedanken trug, die Firma zu wechseln.«

»Woher wissen Sie das alles?«

Gerold schluckte. »Ich war mit ihm zusammen«, gab er zu.

Der Pater und Patricks Bruder?

»Wir haben uns vier Jahre vor seinem Tod kennengelernt und ineinander verliebt. Und dann starb er. Bei einem mysteriösen Unfall.«

Mysteriös? Bist du jetzt in einem Krimi gelandet?

»Es war ein Absturz in den Bergen.« Lila hatte mit steigendem Interesse den Ausführungen des Seelsorgers zugehört. »Ich habe Patrick direkt danach kennengelernt. Er lag schwerverletzt auf meiner Station.«

»Und er kann sich bis heute nicht erinnern, was passiert ist, nicht wahr?« Lila runzelte die Stirn. Tatsächlich hatte sie diesem Detail nie besondere Bedeutung beigemessen. Über den Unfall, der zum Tod seines Bruders geführt hatte, sprach Patrick selten. Er konnte sich nur erinnern, dass sie den alljährlichen Skiausflug nach Lech am Arlberg unternommen hatten. Während einer Geburtstagsfeier auf der Berghütte am Kriegerhorn waren die Brüder, laut Gabriels Erzählungen, zur Abkühlung ins Freie gegangen. Sie hätten betrunken nahe an einem Steilhang gestanden, und das Gleichgewicht verloren. Die Sicht war durch Nebel sowie durch die einbrechende Dämmerung eingeschränkt. Nur Gabriel hatte den Absturz seiner Söhne beobachtet.

Was war da noch?

»Laut Erzählungen seines Vaters, hätten beide Männer fahrlässig gehandelt.«

Warum hast du dich nie näher dafür interessiert?

»Gabriel war der einzige Zeuge in mindestens hundert Meter Entfernung am späten Nachmittag mit dichtem Nebel.«

So hast du das noch nie betrachtet!

»Danach ist Patrick in die Firma eingestiegen.«

Gerold nickte. »Er hat sich gut entwickelt.« Dann fügte er, ohne Übergang hinzu. »Lila wollen wir uns duzen? Beinahe wären wir Schwager und Schwägerin geworden, oder zumindest nahe dran …«

Lila musste lachen. »Das glaube ich nicht.«

»Weil ich schwul bin?«

»Nein«, wehrte sie ab. »Ich meine, weil ich Patrick niemals kennengelernt hätte, wäre er nicht nach diesem Unfall im Krankenhaus gelegen.« Gerolds Miene wurde traurig und Lila lenkte rasch ab. »Wenn wir uns duzen, dann mit einem Glas Prosecco, darf ich Sie einladen?«

»Auf keinen Fall. Ich lade dich ein!« Gerold winkte der Kellnerin und gab die Bestellung auf. Dann nahm er wieder ihre Hände. »Es ist gut, dass du in deine Heimat zurückkehrst. Fang nochmals von vorne an. Irgendwie scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Henriette Dirkenreith konnte zehn Jahre lang kein Kind bekommen, ich nehme an, das war für die Dynastie Dirkenreith eine Tragödie. Und ich bezweifle ...« Der Sekt wurde gebracht. Gerold sprach den Satz nicht mehr zu Ende und hob stattdessen sein Glas. »Ich freue mich, dich kennen gelernt zu haben.«

Lila stieß mit ihrem Glas an. »Du wirst mir fehlen.«

Das stimmt tatsächlich! Obwohl du ihn erst das zweite Mal getroffen hast.

»Wir werden in Kontakt bleiben, es gibt Videotelefonieren. Versprich mir, dass du dich meldest und mit mir redest. Vor allem, wenn du traurig wirst.«

Lila spürte, wie Tränen in ihre Augen traten. »Du vermisst Jonas noch immer, nicht wahr? Hättet ihr beide eine Zukunft gehabt?«

Er räusperte sich. »Wir wollten zusammenziehen. Ich wäre aus dem Kloster ausgetreten. Jonas hatte die Absicht, bei diesem Skiurlaub mit seinem Vater in entspannter Atmosphäre zu reden. Er hat versucht, mich am Abend des Unfalls anzurufen und mir auf die Mobilbox gesprochen. Aber ich habe ein letztes Mal an Exerzitien teilgenommen und war nicht erreichbar.«

Was für ein Pech!

»Was hat sich am Berg zugetragen? Ich kann einfach nicht abschließen, dieses Warum quält mich. Du hast recht, ich habe es bis heute nicht verwunden. Immer noch hoffe ich, Jonas kommt plötzlich durch diese Türe dort.«

Dabei ist es sieben Jahre her!

»Wie hat dein Prior die Sache aufgenommen?«

»Er weiß es bis heute nicht. Ich habe nach Jonas' Tod nur mit einem einzigen gesprochen, Bruder Heinrich. Wir sind Freunde seit unserer Jugend und gemeinsam ins Kloster eingetreten.« Gerold rieb über seine Stirn. »Prior Nessezius hätte wahrscheinlich versucht, mir ins Gewissen zu reden. Niemand ist begeistert, wenn ein Klosterbruder ausscheidet, wir sind eine großartige Gemeinschaft und es ist faszinierend, wie viel wir miteinander erschaffen. Doch Liebe ist ein Geschenk und ich wusste, dass ich meinem Herzen folgen musste. Mein Freund Heinrich war mir Stütze und Trost in den ersten Wochen nach Jonas‹ Tod. Aber er sah es als Fingerzeig Gottes, dass mein Ziel im Kloster liegt.«

Glaubt er daran?

Gerold holte Luft. »Ich glaube nicht daran, dass Gott mich mit Jonas' Tod strafen wollte. Ein rachsüchtiger Gott hat in meinen Vorstellungen keinen Platz. Wie man sein Leben gestaltet, muss jeder für sich entscheiden.« Er winkte der Kellnerin. »Nimm den Schmetterling jeden Tag für fünf Minuten auf deine Handfläche. Denk an dein Baby und erzähle ihr von deinem Tag. Nimm dir diese Zeit, täglich, nicht länger und nicht kürzer.« Er strich über ihre Wange. »Dein Mädchen bleibt in deinem Herzen und irgendwann kannst du loslassen. Wie und in welcher Form du das machst, das ergibt sich von selbst.«

»Und wenn ich es niemals schaffe?«

So wie er? Er hat Jonas offenbar bis heute nicht freigeben können.

»Gib dir Zeit, Lila.« Seine Finger umschlossen die ihren und sie spürte den Plastikschmetterling, den sie noch in ihrer Hand hielt.

Wenn er kurz flattern würde! Als Symbol dafür, dass Marie irgendwo lebt.

Gerold löste sich, als die Kellnerin mit der Rechnung kam. Er bezahlte, zog Lila hoch und umarmte sie spontan. Als er sich löste, sah sie Tränen in seinen Augen glänzen. »Ich wünsche dir einen guten Start in Bayern. Vergiss nicht, du kannst mich jederzeit anrufen.« Dann zwinkerte er schelmisch. »Ich hoffe, du tust das bald und oft!«

Bestimmt.

Lila nickte. Die Geschichte von Jonas ging ihr zu Herzen. Der unbekannte Schwager, der so jung hatte sterben müssen, war bis jetzt nur ein Schatten in ihren Gedanken gewesen. Nun hatte er an Substanz gewonnen.

Hat Patrick gewusst, dass sein Bruder schwul gewesen war? Und kann er sich wirklich an nichts mehr erinnern? Warum lässt er sich dermaßen von seinem Vater manipulieren?

 

»Weil er ein Weichei ist!« Regine schüttelte energisch den Kopf, als Lila ihr später alles berichtete. »Patrick ist selbst schuld, dass er nur die Marionette seines Vaters ist. Ein Grashalm hat mehr Rückgrat als er.«

Könnte stimmen.

„Wie auch immer.“ Regine schien es gleichgültig. „Du wirst mir entsetzlich fehlen, versprich mit, dass wir oft telefonieren oder skypen.“

Die Zeit des Abschieds ist gekommen.

 

Ankunft in der Vergangenheit

Du hast dich übernommen!

Sie waren erst am späten Vormittag von Hamburg weggekommen. Die Kinder hatten sich noch von ihrem Papa verabschieden wollen, der spät aufgetaucht war. Die Fahrt mit zwei kleinen Kindern und einem vollgepackten Auto war anstrengend und Lila hatte keine Übernachtung eingeplant. Das war ein Fehler, denn mehrere Baustellen und ein zweistündiger Stau nach einem Unfall sorgten für Verzögerungen. Außerdem wurden die Kinder quengelig und unruhig. Lila hatte die Fahrtstrecke von knapp 800 Kilometern unterschätzt. Ihr Körper hatte sich nicht ausreichend von den Nachwirkungen der Geburt erholt, vermutlich auch, weil sie auf Grund der Ereignisse nicht wirklich Zeit gehabt hatte, sich zu schonen. Die letzte Stunde musste sie ausschließlich über Landstraßen fahren, die gegen Ende ihrer Reise immer schmäler wurden. Kurz nach Mitternacht passierte sie endlich das Ortsschild von Germaringen.

Zum Glück sind Anna und Sophie eingeschlafen.

Der Ort lag still vor ihr. In einigen Häusern brannte zwar Licht, dennoch wirkten die schmalen Gassen ausgestorben. Achtzehn Jahre war sie nicht mehr hier gewesen.

Trotzdem ist vieles vertraut.

Sie durchquerte die Ortschaft, denn das große Haus ihrer Kindheit lag außerhalb des Ortskerns.

Nur noch einmal links abbiegen!

Ein eigenartiges Gefühl stieg ihre Kehle hinauf.

Warum wollte Papa nichts mehr von dir wissen?

Fast hätte sie die Einfahrt verpasst, sie riss das Lenkrad herum und sah mit Entsetzen, dass ein Wagen ihr genau entgegenkam. Sie bremste hart, aber wenn nicht der Fahrer des anderen Fahrzeugs ebenfalls gestoppt hätte, wäre es zu einem Zusammenstoß gekommen.

Das war knapp!

Die Türe auf ihrer Seite wurde aufgerissen. »Alles in Ordnung?«, fragte eine männliche Stimme. Sie wollte sich schon entschuldigen, da schrie der Mann sie an. »Was denken Sie sich eigentlich, ohne zu schauen abzubiegen? Haben Sie die Lichter von meinem Wagen nicht gesehen?«

Eine Standpauke! Genau das, was du nach zwölf Stunden Autofahrt brauchst.

Die scharfe Erwiderung blieb ihr jedoch im Hals stecken.

Das ist unmöglich! Ist das wirklich Martin Stern?

Auch ihm verschlug es für einen Moment die Sprache. »Oh, das ist aber eine Überraschung.« Seine Stimme dehnte sich wie Kaugummi. »Was zieht Sie denn in diesen illustren Ort? Die Partys? Oh, nein das sicher nicht. Sie haben ja dergleichen immer abgelehnt.«

Er hat sich nicht verändert!

Der Herr Doktor klang genauso spöttisch und herablassend, wie sie es in Erinnerung hatte. Zumindest nach diesem unseligen Vorfall.

Sag etwas Gescheites!

Doch immer schon hatte sie es verwünscht, dass ihre Schlagfertigkeit im Umgang mit diesem Mann auf der Strecke blieb. Das war damals schon vor einer gewissen Peinlichkeit so gewesen, aber danach umso schlimmer. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Auch das hatte sich nicht geändert.

Du hast gehofft, dass du ihn nie mehr wiedersehen musst.

»Also darf man fragen, was Sie hier machen?«

Er ist immer noch ein arrogantes A …

Zorn stieg in ihr auf und mobilisierte den letzten Rest von Stolz. »Das geht Sie nichts an!« Mit einem Ruck zog sie die Autotür zu, sodass er gerade die Finger zurückziehen konnte, und gab Gas.

Dr. Martin Stern. Ausgerechnet!

Unwillkommene Bilder schlichen sich in ihre Gedanken: Eine Wäschekammer, zwei verschlungene Körper und die Bestätigung, dass alle Gerüchte, die sie jemals über den jungen Arzt gehört hatte, der Wahrheit entsprochen hatten.

Was tut ein Frauenheld in diesem kleinen Ort?

Lila erinnerte sich, als ob es gestern gewesen wäre. Es war während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester in der Berliner Charité. Lila musste frische Bettbezüge holen. Und da platzte sie in die Szene: Dr. Stern mit einer Kollegin.

An der Wand stehend.

Sekundenlang hatte sie das Geschehen wie gelähmt verfolgt. Lange genug, dass Dr. Stern sie hatte erkennen können. Dann war sie geflüchtet. Und sie hatte es niemals jemandem erzählen können. Plötzlich war sie im Mittelpunkt seiner unwillkommenen Aufmerksamkeit gewesen.

Er hat sich über dich lustig gemacht.

»Kleine Nonne«, hatte er sie genannt. Sie hatte sich betont um Höflichkeit bemüht, doch er hatte ihre Verlegenheit ausgenützt.

Was tut er ausgerechnet in Germaringen?

»Sind wir schon da, Mama?«, hörte sie Sophie hinter sich fragen.

»Gleich, Spatz.«

Zügig fuhr sie zu der alten Villa weiter. Sie parkte im großen Innenhof und stieg aus. Ihr Blick glitt an der Außenfassade des Gebäudes hoch. Das Haus machte einen gepflegten Eindruck und der Balkon war mit Blumen geschmückt. Mit Sophie auf dem Arm drückte sie auf den Klingelknopf. Nun würde Lila auf die Frau treffen, die ihr Vater und Heimat gestohlen hatte.

Geschieht der Plastikbusen-Dame recht, dass sie aufgeweckt wird!

Sie klingelte ein zweites Mal. Das Haus blieb dunkel. Aus dem Auto erklang Wimmern, Anna war aufgewacht. Lila probierte es ein drittes Mal, hastete danach zum Wagen zurück, um auch Anna aus dem Wagen zu holen.

»Pst, Schätzchen, wir sind da. Jetzt kannst du gleich in ein warmes Bett.« Für Ende März war es ungewöhnlich kalt. Lila stellte Sophie auf den Boden und hüllte Anna notdürftig in eine Decke. Ein Fenster wurde geöffnet und eine Frau sah herunter. »Was ist los?«

Die Hexe. Versuch, höflich zu sein, sonst lässt sie dich womöglich draußen stehen.

»Guten Abend ich bin Lila Dirkenreith. Wir haben telefoniert. Es tut mir leid, dass wir so spät kommen«, Lilas Stimme klang eher widerwillig, denn reuig. Ein kleiner Teil von ihr freute sich, dass sie dem Miststück Unannehmlichkeiten bereitete. Das Fenster wurde zugeschlagen und kurz darauf sperrte die Frau die Türe auf. Sie entpuppte sich nicht als das vollbusige Sexhäschen, von dem ihre Mutter gesprochen hatte. Vielmehr präsentierte sich eine in die Jahre gekommene mollige Frau. Ihr Gesichtsausdruck wirkte zu Lilas Erstaunen freundlich, ihre Stimme klang eindeutig entgegenkommend. »Herzlich willkommen; Lila! Ich darf Sie doch so nennen? Toni hat mir viel aus Ihrer Kindheit erzählt! Ich wusste ja nicht, dass Sie so spät kommen – oh Gott, die Kinder werden müde sein.« Sie bückte sich, um Sophie besser sehen zu können.

Finger weg von den Kindern!

»Ich bin Frau Dirkenreith.« Lila zog Sophie zurück, ehe die Schlampe sie berühren konnte. Mehr als formale Höflichkeit würde sie ihr nicht entgegenbringen können. »Zeigen Sie uns, wo wir schlafen können. Mehr brauche ich nicht.«

Das Gesicht der Frau verlor die Fröhlichkeit. »Ja, natürlich«, meinte sie.

Sie klingt beleidigt? Gut.

Hatte sie erwartet, Lila hätte vergessen, dass ihr Vater sie wegen dieser Frau aus seinem Leben verbannt hatte?

»Ich bin müde, Mama«, quengelte Sophie.

»Ich habe Ihr ehemaliges Zimmer und das daneben für Sie vorbereitet.« Die Hexe hatte sich wieder gefasst.

»Das Haus ist groß genug, sodass wir einander aus dem Weg gehen können«, schnappte Lila.

»Nennen Sie mich Grete!« Sie blieb trotz Lilas offenkundiger Unhöflichkeit ruhig.

Anna jammerte und Sophie klammerte sich an ihr Bein. Lila hatte das Bedürfnis mitzuweinen, sie war entsetzlich müde und verspürte steigende Kopfschmerzen. Sie hielt sich am Türstock fest, um den Schwindel zu vertreiben. Mühevoll trug sie die beiden Mädchen die Treppe hinauf. Zu ihrer Überraschung präsentierte sich ihr altes Kinderzimmer unverändert, bis auf ein größeres Bett. Es war bezogen und breit genug für beide Mädchen. Erleichtert setzte sie die Kinder auf das Bett und deckte es auf. Das kostete Kraft und am liebsten hätte sie sich einfach fallengelassen und selbst unter der Decke verkrochen.

Die lange Autofahrt in einem Stück war keine gute Idee.

»Wir schlafen ohne Pyjama?«, fragte Sophie und hüpfte auf und ab. Hoffentlich war sie nicht komplett aufgedreht und konnte rasch wieder einschlafen!

Lila gab ihren Mädchen je einen Kuss und zog die Decke über die beiden. »Nur heute, Spatz.«

»Wo schläfst du, Mama?«

»Im Nebenzimmer. Ich muss noch ein paar Sachen aus dem Wagen heraufbringen. Schlaft gut.«

Himmel, warum dreht sich auf einmal alles?

Lila quälte sich hinunter um das Nötigste aus dem Auto zu holen. Vor ihren Augen verschwammen die Konturen. Sie schaffte es kaum, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, um das Auto zu verschließen. Die Mädchen schliefen bereits fest, als sie nochmals nach ihnen sah. Im Nachbarzimmer stand ebenfalls ein bezogenes Bett. Lila zwang sich, ihr Nachthemd anzuziehen, danach fiel sie förmlich auf das Bett. Die Fahrt hatte sie komplett ausgelaugt.

Es ist heiß!

Aus dem Kinderzimmer scheint Licht. Warum schlafen die Mädchen nicht? Lila steht auf und folgt dem Schein … der Weg ist furchtbar lang ... woher kommt das Babygeschrei? Anna und Sophie rühren sich nicht, aber in der Ecke steht ein Gitterbett. Es ist eiskalt! Lilas Füße werden schwer, dennoch zieht es sie unweigerlich dorthin. Sie beugt sich über den Rand und fährt zurück. Marie liegt darin, sie lebt und zappelt mit Armen und Beinen. Ihr schneeweißes Gesicht verzieht sich voll Abscheu, ihre Augen leuchten rot.

»Du hast mich eingegraben«, schreit sie.

»Nein, nein«, Lila wird von heftigem Schluchzen geschüttelt. »Ein Junge wäre nicht tot«, Maries Mund bildet ein O. Lilas

Hände greifen ins Leere. »Marie!«, ruft sie verzweifelt.

»Das kommt davon, weil du auf einem Namen bestanden hast!«, durchschneidet Patricks scharfe Stimme die Luft. »Mädchen brauchen keine Namen.« Lila wird kalt und ihre Finger sind zu steif um das Baby zu halten, das immer durchsichtiger wird.

»Du wolltest mich ohnehin nicht«, klagt die Kinderstimme.

»Das stimmt nicht … Marie, bleib da!« Lila versucht sie hochzunehmen, aber sie schafft es nicht. Sie weint.

 

Fieber

Grete war überrascht, dass sie innerhalb von zehn Minuten keinerlei Geräusche mehr vom oberen Stock vernahm. Die junge Frau hatte schrecklich blass ausgesehen. Dünn und zerbrechlich. Grete wusste nichts über sie. Warum tauchte sie jetzt mit den Kindern auf und beanspruchte ihr Erbe? Nach Gretes Informationen war Lila mit einem reichen Mann verheiratet, von Millionen war die Rede gewesen. Toni hatte nie den Mut besessen, mit seiner Tochter reinen Tisch zu machen.

Lila wirkte verbittert und traurig.

Grete erwachte von Kinderweinen, ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es erst kurz vor sechs war. Das Weinen wurde lauter. Grete zögerte, ihre Hilfe würde nicht willkommen sein, dennoch erhob sie sich seufzend und ging die Treppe hinauf.

Die beiden kleinen Mädchen hockten am Boden und beugten sich über ihre bewegungslose Mutter. Grete stürzte hinzu. Lila murmelte vor sich hin, dabei fiel immer wieder der Name »Marie«. Die Kinder schluchzten. Sekundenlang war Grete überfordert. Erst lotste sie beide Kinder ins Wohnzimmer und knipste den Fernsehapparat an, sie wusste sich keinen anderen Rat. Dann wählte sie die Nummer des einzigen Arztes im Ort. Er war bereits wach und versprach sofort zu kommen. Grete deckte Lila mit der Wolldecke zu. Dann telefonierte sie mit ihrer Freundin und Nachbarin Ruth. Diese kam trotz der frühen Uhrzeit, noch vor dem Arzt.

»Wem gehören die Kinder?«

»Tonis Tochter.«

»Mit der er sich nicht mehr aussöhnen konnte?«

»Leider nein«, bestätigte Grete. Ruth beugte sich zu den Mädchen. »Na, ihr zwei! Ich bin die Tante Ruth und koche den besten Kakao der Welt, was meint ihr?«

»Was ist mit Mama?«, fragte Sophie.

»Eure Oma Grete hat den Onkel Doktor gerufen, der macht sie mit einem Plopp gesund!« Ruth schnippte mit den Fingern, um ihre Worte zu unterstreichen. Grete war erleichtert. Durch elf Enkel hatte Ruth viel Erfahrung mit Kindern, so fassten die beiden rasch Zutrauen und folgten ihr in die Küche.

 

Grete eilte zu Lila zurück und kühlte mit einem nassen Tuch deren Gesicht. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, als es endlich läutete.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752117882
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Liebesroman Verlust eines Kindes Betrug Neustart Romantik Trauerarbeit Scheidung Zärtliche Liebe

Autor

  • Lotte R. Wöss (Autor:in)

Lotte R. Wöss schreibt, seit sie denken kann, an eine Veröffentlichung traute sie sich erst im reiferen Alter. In ihrem Debütroman „Schmetterlinge im Himmel“ versucht eine Frau über den Tod ihres Babys und das herzlose Verhalten ihres Ehemannes hinwegzukommen. Er folgte die „Für immer“-Reihe, Liebesromane mit Tiefgang. Nach „Kaltblütige Abrechnung“ ist „Todesläuten“ der zweite Graz-Krimi mit dem kauzigen Chefinspektor Wakolbinger und seiner frechen Assistentin Panzenböck.