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Kaffee ins Herz

von Mathilda Grace (Autor:in)
240 Seiten
Reihe: Boston Hearts, Band 2

Zusammenfassung

Dare Richards braucht seine morgendliche Dosis Kaffee genauso dringend wie die Luft zum Atmen. Allerdings bevorzugt er den Kaffee normalerweise in einem Becher und nicht auf seiner Uniform. Wirklich böse sein kann er dem süßen Blondschopf, der für das Malheur verantwortlich ist, aber auch nicht, denn die kleine Lilly findet ihn nett und das beruht vom ersten Augenblick an auf Gegenseitigkeit. Schade nur, dass ihr Vater, ein brummiger Glatzkopf, offenbar so gar nichts für einen kaffeesüchtigen Cop übrig hat.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Das »Boston Hearts« ist ein privat geführtes LGBT-Zentrum für obdachlose und anderweitig gefährdete Jugendliche in Boston, eröffnet von dem Anwalt Maximilian Endercott vor über fünfundzwanzig Jahren. Heute betreiben er und sein Ehemann Elias, der gleichzeitig Arzt des Zentrums ist, das »Bostons Hearts« gemeinsam und haben seit der Gründung nach und nach acht teils schwer missbrauchte und traumatisierte Jugendliche als Ziehkinder angenommen und sie mit viel Liebe und Geduld großgezogen.

 

Diese Männer erzählen in der »Boston Hearts Reihe« ihre Geschichten.

 

 

Dare Richards braucht seine morgendliche Dosis Kaffee genauso dringend wie die Luft zum Atmen. Allerdings bevorzugt er den Kaffee normalerweise in einem Becher und nicht auf seiner Uniform. Wirklich böse sein kann er dem süßen Blondschopf, der für das Malheur verantwortlich ist, aber auch nicht, denn die kleine Lilly findet ihn nett und das beruht vom ersten Augenblick an auf Gegenseitigkeit. Schade nur, dass ihr Vater, ein brummiger Glatzkopf, offenbar so gar nichts für einen kaffeesüchtigen Cop übrig hat.

 

 

Prolog

Dare

 

 

 

 

Eine Prügelei rettete Dare Richards das Leben.

Mit dreizehn Jahren, halb verhungert und seelisch sowie körperlich komplett gebrochen, versuchte er, das Fahrrad eines reichen Jungen zu klauen, um es zu verkaufen und sich von dem Geld seinen goldenen Schuss zu besorgen.

Er war fertig gewesen. Mit allem.

Dem Leben, das ihn schon gefickt hatte, als er noch nicht mal sprechen konnte, und auch mit seinen Erzeugern, die ihn am Ende für einhundert Dollar an einen Perversen verkauften, während Dare an jenem Tag glaubte, der nette, alte Mann mit den schlohweißen Haaren und einem buschigen Bart, der ihm einen Lutscher schenkte, wäre gekommen, um ihn zu retten.

Zwei Tage später wusste er es besser.

Zwei Wochen später wehrte er sich immer noch mit aller Kraft, wenn sie ihn stundenweise kauften, um mit ihm Spiele zu spielen, die er niemals spielen wollte.

Zwei Monate später hörte er auf zu kämpfen.

Zwei Jahre später war er zu alt, um dem Mann weiterhin genug Geld zu bringen, doch bevor der ihn umbringen konnte, so wie ein paar der anderen Jungen, die in diesen zwei Jahren gekommen und gegangen waren, kämpfte Dare ein letztes Mal um sein Leben und lief davon.

Er landete in einer kalten, grausamen Welt, in der es keine Heizung, keine wärmende Kleidung, kein frisches Wasser und nichts zu essen gab, sodass er am Ende gezwungen war, doch wieder mit Männern zu spielen, um nicht zu verhungern.

Irgendwann gab Dare auf und entschied, dass dieses Leben es nicht wert war, weiter gelebt zu werden.

Aber um es zu beenden, brauchte er Geld. Das dunkelblaue Fahrrad, mit den wehenden, bunten Fahnen am Lenker, würde ihm hoffentlich genügend davon einbringen, denn es stand vor einem riesigen Haus und war mit Sicherheit einiges wert.

Doch der Junge, dem es gehörte, wollte es nicht ohne einen Kampf hergeben, und seine Väter, zwei freundliche Männer, die nicht mit ihm spielen wollten, die sogar stinksauer wurden, als er ihnen das Angebot machte, wenn sie ihm dafür den Stoff besorgten, den er so dringend brauchte, damit das alles endlich aufhörte, wollten ihn dann nicht aufgeben.

Also kämpften sie um ihn.

Das allererste Mal in seinem so jungen und dennoch schon vollkommen verkorksten Leben tat jemand etwas für ihn und wollte nichts dafür haben.

Sie hielten ihn am Leben.

Sie holten ihn sogar zweimal in selbiges zurück, als er erst im Krankenhaus und dann in diesem Zentrum für Kinder und Jugendliche, das ihnen gehörte, trotzdem versuchte, sich über Nacht davonzustehlen. Sie schimpften laut mit ihm, während sie weinten und gleichzeitig versuchten, die starken Blutungen an seinen Unterarmen zu stillen.

Sie blieben bei ihm, als er im Krankenhaus wieder zu sich kam, mit Gurten an Händen und Füßen ans Bett gefesselt, um zu verhindern, dass er es erneut versuchte.

Sie blieben bei ihm, als er sie dafür, und weil sie ihm keinen Stoff besorgten, immer wieder anschrie, was sie stumm über sich ergehen ließen und stattdessen weinten.

Sie blieben bei ihm, als er bettelte und schlussendlich flehte, damit sie ihn gehenließen, was sie nicht taten.

Sie blieben sogar bei ihm, als er irgendwann verstummte, fest entschlossen, nie mehr auch nur ein Wort zu sagen.

Sie blieben. Einfach so.

Und sie brachten diesen anderen Jungen mit den strahlend blauen Augen mit, der ihn in den ersten Wochen trotzig ansah, um dann sein Bruder zu werden.

Sie brachten Dare in ihr Haus, ein riesiges Schloss mit drei langen Schornsteinen, gewaltigen Anbauten auf beiden Seiten, schwarzen Fensterläden, einem blühenden Garten, mehreren Angestellten und gefühlt eintausend Zimmern, von denen sie eines ihm überließen, bevor sie ihm ein eigenes Fahrrad, eigene Kleidung und Bücher kauften, und dann, als sie herausfanden, dass er weder lesen noch schreiben oder rechnen konnte, eine junge Frau engagierten, die es ihm beibrachte.

Er wurde ein Teil ihres Lebens und er ließ zu, dass sie auch ein Teil seines Lebens wurden.

Mit dreizehn war er bereit gewesen zu sterben.

Mit vierzehn hatte er einen Bruder und lernte langsam seinen Namen zu schreiben.

Mit fünfzehn rief er das allererste Mal »Dad.« quer durchs Haus, nachdem er ans Telefon gegangen war und eine höfliche Frau Doktor Elias Endercott zu sprechen wünschte, nur um im nächsten Augenblick beinahe einen Nervenzusammenbruch zu bekommen, als sein Vater in Tränen ausbrach.

Mit achtzehn hatte er bereits drei weitere Brüder, allesamt aus den schlimmsten Verhältnissen geholt und von Maximilian und Elias Endercott gerettet.

Und sie waren alle bei ihm, als er nur einige Monate später seinen Schulabschluss feierte und dann die Aufnahmeprüfung der Polizeiakademie absolvierte, um ein Cop zu werden.

 

 

Kapitel 1

Dare

 

 

 

 

Dare Richards fuhr geistesabwesend über die blasse Narbe an seinem linken Unterarm, weil sie schon den ganzen Morgen über störend juckte, während er gleichzeitig geduldig auf seine Kaffeebestellung wartete.

Er war ein bisschen spät dran heute, aber dafür konnte sein Captain ihm keinen Vorwurf machen. Wer auch immer auf die glorreiche Idee gekommen war, die Schichten umzustellen und damit seinen gesamten Tagesrhythmus umzuwerfen, brauchte sich hinterher auch nicht zu wundern, wenn er nicht pünktlich aus dem Bett kam. Dare kam sich vor, als litte er an Jetlag, und er wusste aus Erfahrung, dass er noch mindestens den Rest der Woche brauchen würde, um sich von seiner üblichen Spät- auf die Frühschicht umzustellen.

»Interne Anweisung«, hatte Captain Bolder ihm mit seinem typisch verärgerten Blick erklärt, der darüber hinwegtäuschte, dass der Mann ein großartiger Vorgesetzter war, der jederzeit dazu bereit war, für seine Männer und Frauen durchs Feuer zu gehen und der absolut nichts auf sie kommen ließ. Das hatte er bereits am Tag seiner Einstellung sehr eindrucksvoll bewiesen, als einer der alt eingesessenen Kollegen sich hinterrücks über Dares Homosexualität lustig gemacht hatte.

Ein langes, und laut ihrer internen Gerüchteküche mit der unmissverständlichen Drohung auf Aberkennung seiner Rente wegen ungebührlichen Verhaltens, unter vier Augen geführtes Gespräch später hatte Dares Kollege ihn bis zum Ruhestand, den er vor zwei Jahren ganze drei Tage hatte genießen können, ehe er bei einem Raubüberfall aus Versehen erschossen worden war, nie wieder angesehen oder auch nur ein einziges Wort mit ihm gewechselt und Dare war das ganz recht gewesen.

Er war schon immer mehr ein Einzelgänger und hatte nicht vor, daran etwas zu ändern. Wozu auch? Für Dare war es das größte, wenn er allein auf der Straße unterwegs war, in seinem üblichen Revier, wo man ihn kannte und wo vor allem die Kids wussten, dass sie ihn jederzeit um Hilfe bitten konnten, sobald es Ärger gab. Dare hatte Jahre und einige Undercovereinsätze gebraucht, um sich in der Gegend einen guten Ruf zu machen, und dank dieses Rufs und dem Wissen, wer seine Väter waren, war es ihm bereits mehr als einmal gelungen, obdachlose Kids von den Straßen zu holen.

Jonathan Price war so ein Fall.

Ein riesiges Talent auf der Sandbahn, und wenn der Junge so weitermachte, würde er in naher Zukunft mit Sicherheit den einen oder anderen Rekord brechen. Er ging seit letztem Jahr auf eine öffentliche Highschool und war dort mittlerweile einer der besten im Sportteam. Dare hätte nicht stolzer auf Jonathan sein können, wäre der Junge sein Sohn gewesen, und er freute sich immer, sobald er ins Zentrum kam und es Neuigkeiten zu berichten gab. Jonathan wollte unbedingt an den Olympischen Spielen teilnehmen und Dare war felsenfest davon überzeugt, dass er es eines Tages dorthin schaffen würde.

»Dare, dein Kaffee ist fertig«, rief Liam ihm vom Tresen aus zu und lachte leise, als Dare genießerisch stöhnte. »Würdest du doch bloß mal für mich so stöhnen.«

Die Umstehenden kicherten und Dare griff sich mit einer theatralischen Geste an die Brust, denn die lockere Flirterei mit Liam Grant, dem Besitzer vom »Café Sugar« und zugleich sein bester Freund, war hier fast schon legendär, auch wenn sowohl Liam als auch Dare wussten, dass sie niemals zu etwas führen würde. Dafür waren ihre Lebenspläne einfach zu verschieden, und das wusste Dare, da Liam und er sich in einer lauwarmen Nacht vor ein paar Jahren, daran konnte er sich trotz eines Mordskaters, den er am nächsten Tag gehabt hatte, leider noch genau erinnern, gegenseitig ihre Herzen ausgeschüttet hatten, was betrügerische Lover anging, nachdem Liam überraschend von seinem Freund sitzengelassen worden war.

Seit damals waren sie beste Freunde und damit hatte Liam für Dare praktisch den Bruderstatus, denn er hatte sonst keine Freunde und war auch nicht sonderlich scharf darauf, welche zu finden. Ihm reichte seine Familie. Und Liam, der ihn gerade frech angrinste.

»Baby, du weißt doch, ich lebe nur dafür, dir persönlich zu Diensten zu sein …« Dare machte eine künstlerische Pause und erwiderte hinterher das Grinsen. »Das gilt aber nur, solange du deine Klamotten anbehältst, da ich dich sonst ruckzuck wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhafte.«

Die übrigen Kunden im Café grölten vor Lachen, während Dare sich verbeugte und dann von Liam, der ebenfalls lachte, aber dennoch die Zeit hatte, ihm eine Kusshand zuzuwerfen, seinen Kaffee entgegennahm, den er dringend brauchte. Ohne einen heißen, starken Kaffee konnte ein Tag nicht gut werden, schon gar nicht, wenn er so früh begann wie dieser.

Dare gönnte sich vorsichtig den ersten Schluck und genoss die herrliche Wärme, die daraufhin durch seinen Körper floss, in vollen Zügen, während er zurück an den runden Stehtisch trat, an dem er bereits zuvor gewartet hatte, um nach seinem Handy zu greifen und einen Blick auf die Uhr zu werfen. Fünf Minuten Kaffeepause würde er sich jetzt einfach noch gönnen, denn im Café war es mollig warm, ganz im Gegensatz zu der Eiseskälte draußen von der Tür, die von geschätzt einem Meter Schnee begleitet wurde.

Und das im April. Einen dermaßen späten Wintereinbruch gab es in Boston auch nicht alle Tage.

Sein Handy begann zu klingeln und nach einem Blick aufs Display fing Dare umgehend an zu grinsen. Der frühe Morgen wurde gerade um Längen besser. »Du solltest dich in die Ecke stellen und mindestens die nächsten zwölf Stunden schämen, dass du es wagst, mich bei der geilsten Morgenbeschäftigung zu stören, die sich ein Mann im Leben gönnen kann.«

»Die gönnst du dir besser erst wieder, wenn du verheiratet bist«, grollte eine tiefe und von Dare über alles geliebte Stimme an sein Ohr und brachte ihn zum Lachen.

»Vergiss es, Grandpa, du bist ertappt. Cole ist vielleicht auf dich reingefallen. Mich kriegst du in diesem Jahrhundert nicht vor den Altar. Und bevor du wieder fragst: Nein, ich habe mir meinen Bart immer noch nicht abrasiert.«

»Frecher Bursche. Wo treibst du dich rum?«

»Im Sugar. Ohne Kaffee ist der Tag nicht lebenswert. Schon gar nicht bei dieser Kälte. Es hat letzte Nacht wieder geschneit, was du vermutlich längst weißt. Wieso ein Mann deines Alters immer mitten in der Nacht aufstehen muss, und das auch noch freiwillig, ist mir ein Rätsel, aber bitte. Jedem seine verrückten Hobbys.« Sein Großvater, Adrian Endercott, lachte dröhnend, Dare grinste zufrieden und dabei kam ihm ein Gedanke, der ihn abrupt und heftig schaudern ließ. »Sag mal, wer fährt Dad heute eigentlich ins Zentrum?«

»Maximilian bringt ihn, keine Sorge.« Adrian feixte hörbar. »Emma hat deinem Vater nämlich vor drei Tagen, nachdem der erste Schnee gefallen war, lang und breit erklärt, welche Strafe ihn erwartet, sollte er noch ein einziges Mal zulassen, dass sich Elias hinter das Steuer eines Wagens setzt, nach dem Desaster im letzten Jahr.« Adrian seufzte hörbar. »Nur weil Derrick jetzt Coles Protzkiste fahren darf, heißt das noch lange nicht, dass Elias plötzlich ein dezentes Talent hinter dem Steuer entwickelt hätte. Aber hört dein Vater auf mich, wenn ich ihm sage, dass es eine ganz blöde Idee ist, es Elias ruhig noch mal versuchen zu lassen? Nein. Und was hatten wir anschließend davon? Ein demoliertes Garagentor. Der schöne Lexus.«

Dare prustete los. »Ich glaube, Dad war die riesige Beule an Elias' Stirn bedeutend wichtiger als die Delle in seinem Auto.«

»Er hätte ihn übers Knie legen sollen.«

»Das würde Dad nie tun, das weißt du genau. Verrate mir lieber, aus welchem Grund du mich um diese Unzeit anrufst. Mein köstlicher Kaffee wird langsam kalt und ich muss gleich zum Dienst. Eigentlich bin ich sogar schon zu spät.«

Adrian schnaubte. »Ich finde es immer noch unerhört, dass man dich von jetzt auf gleich in die Frühschicht stecken kann. Was denken sich diese Kretins bei dir in der Personalabteilung eigentlich? Wir haben dich schon kaum zu Gesicht bekommen, als du Spätschicht hattest und in Zukunft müssen wir Termine ausmachen, um unseren Enkel wenigstens zwei- oder dreimal pro Jahr in die Arme nehmen zu dürfen oder wie stellen die sich das vor? Deine Großmutter vermisst dich ganz furchtbar.«

Von wegen, dachte Dare belustigt und schüttelte, sich dabei ein Lachen verkneifend, den Kopf. Der einzige, der seine Enkel ständig vermisste, schimpfte ihm gerade ins Ohr, denn wenn Emma Endercott eines nicht war, dann anhänglich. Außerdem riefen Dare und seine Brüder sie regelmäßig an oder schickten ihr Nachrichten aufs Handy, WhatsApp sei Dank.

Er ließ seinen Großvater wettern und gönnte sich erst mal einen weiteren Schluck Kaffee. Jetzt war er perfekt temperiert. Dare genoss noch einen Schluck und bemerkte mehr aus dem Augenwinkel das Öffnen der Tür vom Café, dicht gefolgt von einem hellen Lachen und zwei strohblonden Zöpfen, die von rosafarbenen Haargummis gehalten wurden.

Dare schmunzelte, als ein kleines Mädchen, er schätzte sie auf vielleicht vier bis fünf Jahre, rückwärts ins Café tanzte und mit ausschweifenden Gesten auf einen Mann einredete, der ihr folgte. Er hörte ein empörtes »Daddy!«, als der Mann etwas zu ihr sagte, und Dare grinste darüber, während sein neugieriger Blick über alte und klobig aussehende Winterstiefel, eine blaue Jeans und darüber einen dick gefütterten Mantel wanderte, die einen äußerst ansprechenden Männerkörper bedeckten, sofern Dare nach den kräftigen Oberschenkelmuskeln ging, die dank des engen Jeansstoffs gut zur Geltung kamen.

Als sein Blick schließlich beim Gesicht des Mannes ankam, stockte Dare allerdings irritiert, denn er hatte einiges erwartet, doch mit Sicherheit keinen Glatzkopf im mittleren Alter, der im ersten Moment auf ihn wirkte, als wäre er gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden.

Plötzlich sahen ihn graue Augen mürrisch an und nach den ersten Sekunden schlich sich ein resigniertes Erkennen in den Gesichtsausdruck des Fremden. Offensichtlich hatte Dare seine Mimik nicht so gut unter Kontrolle wie sonst immer, denn dass der Mann ihn jetzt als Polizisten voller Vorurteile abstempelte, war für ihn unübersehbar. Das wollte er auf gar keinen Fall auf sich sitzen lassen. Dare war ein Cop geworden, um Menschen zu helfen und nicht, um sich schweigend vorwerfen zu lassen, andere Leute sofort in Schubladen zu stecken, nur weil sie eine Glatze hatten.

»Grandpa, ich rufe dich später zurück.«

Er wartete gar nicht auf eine Reaktion, sondern steckte sein Handy ein, nahm den Kaffee und setzte sich in Bewegung, um zu dem Mann hinüberzuschlendern, der mit Ärger rechnete, so wie er seine Tochter halb hinter seine Beine zog, die ungerührt weiter auf ihn einsprach und nicht bemerkte, was los war.

Mit Liam hatte er allerdings nicht so viel Glück, doch Dare schüttelte schweigend den Kopf, als er dessen fragenden Blick auf sich spürte. Und weil er außerdem nicht vorhatte, heute als erste Tat eines noch folgenden, langen Arbeitstages ein kleines Mädchen zu erschrecken, das wie ein süßer Engel aussah, ging er einen Schritt vor Vater und Tochter in die Hocke und setzte dabei ein freches Grinsen auf.

»Hallo.« Jetzt bemerkte ihn die Kleine und kicherte, als er ihr höflich die Hand hinstreckte. »Ich bin Dare, und du?«

»Lilly«, antwortete sie und nahm seine Hand, nachdem sie sich mit einem Blick nach oben versichert hatte, dass ihr Vater damit einverstanden war. Schlaues Mädchen.

»Hi, Lilly. Hast du was dagegen, wenn ich kurz mit deinem Dad rede? Er ist doch dein Dad, oder?« Dare riss übertrieben die Augen auf. »Oder ist er dein Bodyguard? Haut er mich um, weil ich mit dir flirte?«

Das Mädchen gluckste heiter und schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Zöpfe flogen. »Daddy haut doch nicht.« Sie sah wieder hoch. »Darf ich zu Liam?«

»Natürlich, mein Schatz«, brummte es über ihm und Dare zwinkerte Lilly neckend zu, bevor er sich erhob und wartete, bis sie am Tresen angekommen war, wo Liam schon zur Stelle war und sie hochhob. Offenbar waren die beiden hier genauso Stammgast wie Dare selbst. Er schaute zurück zu seinem jetzt ziemlich finster dreinblickenden Gegenüber und streckte ein weiteres Mal die Hand aus. »Officer Dare Richards. Und nein, ich halte dich nicht für einen Verbrecher. Ich war bloß mächtig überrascht.«

Es dauerte eine Weile, bis er eine Antwort bekam, während seine Hand ignoriert wurde. »Warum?«

Dare trank erneut von seinem Kaffee und entschied dabei, ehrlich zu bleiben, denn damit kam man immer am weitesten. »Weil deine Tochter ein süßer Engel ist und du nicht in meine Vorstellung eines Superdaddys gepasst hast. Aber das ist mein Problem und nicht deines.«

Die erste Reaktion war ein enorm unentschlossenes »Hm.«, aber weil Dare nicht im Traum daran dachte, sein freundliches Lächeln aufzugeben oder die Hand wegzunehmen, überzeugte das den misstrauischen Fremden wohl schlussendlich, denn es folgte ein fester Händedruck, bevor sich der Mann ein bisschen entspannte. Es war zwar nicht genug, dass Dare gesagt hätte, sein Gegenüber würde sich in seiner Gegenwart wohlfühlen, aber zumindest schien er nicht mehr jede Sekunde nach seiner Tochter rufen und vor ihm weglaufen zu wollen.

Als Cop rief er solche Reaktionen oft hervor, besonders bei Leuten, die vorbestraft waren oder schlechte Erfahrungen mit Polizisten gemacht hatten. Leider nahm vor allem Letzteres in den letzten Jahren zu, seit ein paar schießwütige Cops im Land es innerhalb kürzester Zeit geschafft hatten, seine komplette Berufssparte in Verruf zu bringen, und das machte seinen Job nicht gerade leichter, dafür aber um einiges gefährlicher.

Dare machte den Menschen keinen Vorwurf, weil sie Angst hatten. Er hatte einen dunkelhäutigen Bruder und wusste, wie tief der Rassismus in den USA dank ihres rechtsradikalen und homophoben Präsidenten mittlerweile wieder in der Mitte der Gesellschaft verankert war. Und er wusste leider auch, dass er in einigen Straßen von Boston heute vorsichtiger sein musste, als noch vor fünf Jahren, und falls seine Väter jemals erfuhren, wie nah er vor ein paar Wochen dran gewesen war, von einem Drogendealer erstochen zu werden – nein, er wollte besser gar nicht genauer darüber nachdenken, wie das von seiner ständig besorgten Familie aufgenommen werden würde, darum hatte er bislang auch niemandem davon erzählt. Nicht einmal Liam wusste Bescheid.

Seine Narbe begann plötzlich wieder zu jucken. Dare nahm den Kaffeebecher in seine andere Hand und schob den Ärmel hoch, um sich zu kratzen, was er eigentlich nicht tun sollte, das würde die Haut bloß weiter reizen, aber bei dem Wetter hatte er immer Probleme, vor allem mit der Narbe an seinem linken Unterarm. Die am rechten Arm war nicht so empfindlich.

»Daddy, guck mal!«

Dare konnte nicht schnell genug reagieren, als der blonde Engel namens Lilly überraschend neben ihnen auftauchte und dabei aus Versehen einen eben eintretenden Gast erschreckte, der einen Ausfallschritt zur Seite machte und in ihn lief. Heißer Kaffee ergoss sich über seine Uniform und Dare bedankte sich insgeheim bei allen Göttern, die ihm auf die Schnelle einfielen, dass er dank des Wetters so dick angezogen war, sonst wäre er jetzt schon jammernd und fluchend durch die Gegend gehüpft. Dare wusste aus leidlicher Erfahrung zu gut, wie heißer Kaffee schmerzen konnte, und den Fehler, seinen Becher gedankenlos auf das Armaturenbrett des Streifenwagens zu stellen, hatte er in seiner Ausbildung nur ein einziges Mal gemacht.

»Sorry«, murmelte der Gast, sein Handy am Ohr, und ging an ihnen vorbei, ohne sie überhaupt richtig wahrzunehmen.

Dare verdrehte die Augen, ließ sich ansonsten aber nichts anmerken. Solche Leute waren prädestiniert dafür, eines Tages aus Versehen überfahren zu werden, da sie ihre Umwelt völlig ausblendeten – Hauptsache, das Handy war rund um die Uhr in ihrer Reichweite. Furchtbar. Er hatte schon viel zu häufig Fußgänger und Radfahrer tot auf der Straße liegen sehen, weil ihre Aufmerksamkeit nicht auf den Verkehr gerichtet gewesen war, und er würde sich nie daran gewöhnen, an Haustüren zu klopfen und verdatterten Hinterbliebenen erklären zu müssen, dass ein von ihnen geliebter Mensch nur wegen seiner eigenen Unachtsamkeit tot war.

Lillys Aufmerksamkeit galt im Moment jedoch vollständig ihm, als sie sanft an seinem Hosenbein zog, während Dare das Malheur auf der Uniform begutachtete. Der schöne Kaffee. Er hockte sich zu ihr und schenkte ihr ein fröhliches Lächeln, als sie die Unterlippe vorschob, weil er nicht wollte, dass sie sich schuldig fühlte.

»Was ist los, Süße?«

»Entschuldige.« Sie hielt ihm einen dicken Keks hin. »Liam hat mir Schokoladenkekse gemacht. Der ist für dich.«

Normalerweise hätte er abgelehnt, aber Lilly sah so traurig aus und bei Keksen konnte er oft nicht widerstehen, obwohl er es sich immer wieder vornahm, um nicht dick zu werden. Das wäre bei seinem Beruf nicht gerade hilfreich und er wollte auf gar keinen Fall wie ein paar seiner Kollegen mit Übergewicht enden, die man an den Schreibtisch verbannt hatte, da sie zum täglichen Streifendienst nicht mehr zu gebrauchen waren.

Nur machten Liams Backkünste Dare die selbst auferlegte Abstinenz bei Süßigkeiten nicht leicht, denn im »Sugar« gab es die besten Kekse der ganzen Stadt, fand er und beugte sich mit einem Zwinkern zu Lilly hinüber.

»Glaubst du, dein Daddy spendiert mir einen neuen Kaffee, während wir Kekse essen?«, fragte er flüsternd, wohl wissend, dass sie von oben sehr genau belauscht wurden. Das folgende Seufzen sprach eindeutig dafür. »Schwarz, bitte«, schob er laut nach und gluckste heiter, als Mister Unbekannt das mit einem Schnauben kommentierte. »Ich achte auf Lilly, wenn das okay für dich ist?«

»Bleibst du kurz bei Officer Richards, Maus?«

»Okay, Daddy.«

Wenig später wurde ihm ein neuer Becher Kaffee, inklusive einer Rolle Küchenpapier in die Hände gedrückt. »Mit besten Grüßen von Liam. Du sollst gefälligst deine Kaffee-Sauerei auf dem Boden wegwischen, bevor ein Gast darauf ausrutscht, sich ein Bein bricht und das Café verklagt.«

Dare stöhnte und sah zum Tresen. »Danke sehr, Liam.«

Heiteres Lachen war die einzige Antwort, die er erhielt und dann schaute er zurück zu Lilly, die ihn angrinste. »Hey, lachst du etwa über mich?«

»Daddy putzt auch nicht gerne«, verpetzte sie ihren Vater, der das offensichtlich gar nicht amüsant fand, aber davon ließ sich Dare nicht stören. Die Kleine war einfach zu niedlich und er würde sich nicht die gute Laune verderben lassen, nur weil ihr Vater ein maulfauler Glatzkopf mit grauen Augen war. Die er an seine Tochter vererbt hatte, fiel Dare abrupt auf, bevor er leise lachend damit anfing den verschütteten Kaffee so gut es ging von seiner Uniform und dem Fußboden zu wischen. Am Ende half Lilly ihm dabei und hatte, ihrem glücklichen Lachen nach zu urteilen, sogar jede Menge Spaß.

Dare liebte Kinder. Vor allem solche süßen wie Lilly, die mit einem unschuldigen Staunen durch die Welt liefen und sich bis zu einem gewissen Alter um absolut nichts Sorgen machten. Kinder wie sie waren sein täglicher Ausgleich zum Job und zu all dem Grauen, das er im »Boston Hearts« ständig sah. Das er selbst früher so lange erlebt hatte. Darum war er jeden Tag aufs Neue draußen auf den Straßen unterwegs und rettete so viele Kinder, wie er konnte.

»Wir müssen los«, brummte es von oben und Dare reichte Lilly wieder seine Hand, um ihre Finger mit einem neuen Blatt Küchenrolle trocken zu reiben und sich zu verabschieden.

»Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Lilly.«

»Du bist nett, dich mag ich«, erklärte sie entschlossen und schüttelte seine Hand.

»Dankeschön«, murmelte er und konnte nicht verhindern, dass er rot wurde, als Lilly sich einfach vorbeugte und ihm mit einem Kichern einen nassen Kuss auf die Wange drückte. »Oh, auf den werde ich gut aufpassen«, versprach er und erhob sich, um den Blick ihres Vaters zu suchen. »Pass gut auf sie auf.«

Die grauen Augen zogen sich zusammen, so als würde ihr Besitzer überlegen, ob das als Drohung gemeint war, aber dann entspannte sich Lillys Vater ein wenig und nickte, bevor er die Hand seiner Tochter nahm und mit ihr das Café verließ. Lilly winkte ihm von draußen und Dare winkte amüsiert zurück. Er konnte gar nicht anders. Ein tolles Mädchen. Und ganz anders als ihr Vater, der augenscheinlich der ganzen Welt misstraute, aber allen voran jedem, der eine Uniform trug.

»Wow, wer hätte das gedacht.«

Dare sah fragend zu Liam, der in seine Richtung kam und dabei belustigt dreinschaute. »Was?«

»Er kommt seit knapp sechs Monaten mit ihr her und das war das allererste Mal, dass jemand mehr als ein mürrisches Brummen aus ihm herausbekommen hat.« Liam nahm ihm die schmutzigen Küchentücher ab, um sie in den Mülleimer gleich neben der Eingangstür zu werfen. »Die Kleine ist ein richtiger Engel und liebt Kekse, genau wie du.« Liam kicherte. »Aber ihr Vater ist eine echt finstere Type. Zumindest dachte ich das, bis ich einmal zufällig gesehen habe, wie er Lilly anlächelt.« Liam seufzte genüsslich. »Umwerfend, sage ich dir.«

»Wie heißt er eigentlich?«, fragte Dare interessiert, als ihm aufging, dass er das immer noch nicht wusste.

Liam zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Er bestellt sich Kaffee, Lilly bekommt Kekse und ab und zu Kakao, wenn sie mehr Zeit haben, dann gehen sie wieder. Ich schätze, die Süße besucht die Vorschule zwei Straßen weiter.«

Dare nickte zustimmend. Das würde passen und alt genug war Lilly dafür. Sein Funkgerät erwachte mit einem Knacken zum Leben und Dare stöhnte auf, nachdem er der blechernen Stimme gelauscht hatte, die von einer Schlägerei einige Häuser weiter berichtete, der ein kindischer Streit um einen Parkplatz vorangegangen war. Mit einem weinerlichen Jammern drückte er Liam den Kaffeebecher in die Hand, den er jetzt leider nicht mehr würde trinken können, und eilte nach draußen, während hinter ihm schallendes Gelächter zu hören war.

Beste Freunde waren manchmal wirklich die Pest.

 

 

Kapitel 2

Blake

 

 

 

 

Einmal Verbrecher, immer Verbrecher.

Blake Hartley kannte es nicht anders.

Seit er vor sechs Monaten völlig unerwartet auf Bewährung entlassen worden war, nachdem er ein von zwei Jahren wegen Diebstahl abgesessen hatte, und man ihm das vorübergehende Sorgerecht für Lilly übertragen hatte, weil seine Mutter tot war und Lillys leibliche Mutter sich nach ihrer Geburt wortlos aus dem Staub gemacht hatte, wurde er fast jeden Tag schikaniert. Von seinem schmierigen Bewährungshelfer, miesen Bullen, die immer wieder unangemeldet in seinem Apartment auftauchten und es durchsuchten, um eine Möglichkeit zu finden, ihn noch für den Rest der zwei Jahre einbuchten zu können, den Leuten in Lillys Vorschule, einfach von allen.

Ein verurteilter Dieb als Erzieher für so ein süßes Mädchen war in ihren Augen ein Affront ohne Ende, und grundsätzlich gab Blake ihnen darin sogar recht. Er war ein Versager, der im Leben nie etwas auf die Reihe bekommen hatte, bis er besoffen und high Lilly gezeugt hatte. Sein süßes Wunder. Sein ein und alles auf dieser Welt. Für sie hatte er es besser machen wollen und war gescheitert. Wie immer.

Aber jetzt, dank dieser unerwarteten Chance, sich noch mal beweisen zu können, wollte er es endlich richtig machen. Für Lilly, denn es gab sonst niemanden mehr in seinem Leben. Seit seine Mutter kurz vor Weihnachten vollkommen überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war, gab es nur noch Lilly und ihn, und falls Blake sich nicht endlich zusammenriss, würde er daran schuld sein, dass seine lebensfrohe und fröhliche Tochter früher oder später in einem Heim landete.

Ob es das war, was er wollte?

Dass Lilly ohne Familie und ohne Zuhause aufwuchs.

Ohne ihren Vater.

Eine Frau hatte ihm diese Fragen gestellt, als sie letztes Jahr zu ihm in den Knast gekommen war und ihm angeboten hatte, an einem geförderten Resozialisierungsprogramm von Boston teilzunehmen, das speziell Kleinverbrecher wieder ins normale Leben eingliedern wollte. Durch den Tod seiner Mutter und als Vater von Lilly hätte er die perfekten Voraussetzungen, in dem Programm aufgenommen zu werden, und wenn er nicht wolle, dass seine Tochter bei Fremden lebte, sollte er gefälligst endlich den Arsch hoch und sein Leben auf die Reihe kriegen.

Linda Miller, die für Lillys Fall zuständige Mitarbeiterin im Jugendamt, war, abgesehen von seiner Mutter, die einzige, die je an ihn geglaubt hatte, und sie tat es immer noch, denn diese Frau war der felsenfesten Überzeugung, dass jeder eine zweite Chance verdiente, besonders wenn er ein so großartiger Vater war wie Blake. Das war jedenfalls ihre Meinung und zu dieser Meinung stand sie jedes Mal, wenn sie Lilly und ihn besuchte, obwohl sie damit auf weiter Flur wohl ziemlich allein war.

Blake rechnete indes jeden Tag damit, erneut verhaftet und für den Rest der zwei Jahre weggesperrt zu werden, nachdem man ihm etwas untergeschoben hatte. Das hatten diese miesen Cops bisher nicht gemacht, sobald sie seine Wohnung auf den Kopf stellten, aber was nicht ist, das würde bald werden. Blake gab sich da keinerlei Illusionen hin. Früher oder später würden sie ihm etwas anhängen, seit er sich geweigert hatte, für seinen korrupten Bewährungshelfer ein Ding zu drehen, und das war es dann mit seinem Versuch, Lilly ein guter Vater zu sein.

Blake hatte darüber nachgedacht, Linda zu erzählen, was in dem Haus des Bewährungshelfers vor sich ging, der Zimmer an seine Klienten vermietete, wenn sie keine Wohnung fanden, aber ohne einen Beweis – wer würde einem verurteilten Dieb wie ihm schon glauben? Selbst wenn Lillys Bearbeiterin es tat, wovon er ausging, was brachte ihm das am Ende? Nichts. Er hätte einen guten Anwalt gebraucht, der sich für ihn einsetzte, keinen Pflichtverteidiger, der Leute wie ihn als Störfaktor oder Sprungbrett für eine bessere Karriere ansah.

Aber einen Anwalt, der für ihn kämpfte, konnte sich Blake von dem bisschen Geld, das er für das Einräumen von Regalen bekam, nun mal nicht leisten und die finanzielle Unterstützung aus dem Resozialisierungsprogramm gab er für Lilly aus, denn für sie war das Geld schließlich gedacht.

Nein, ihm würde keiner helfen und Blake konnte den Kopf nur so bedeckt wie möglich halten, in der Hoffnung, dass der Arsch von Bewährungshelfer bald einen anderen Ex-Häftling fand, den er für seine Diebestouren einspannen konnte.

Er hatte bereits sechs Monate durchgehalten. Wenn er noch ein weiteres halbes Jahr schaffte, war er frei und konnte Lilly nehmen und Boston hinter sich lassen. Irgendwo weit weg auf dem Land ganz neu anfangen, wo niemand wusste, dass er ein Ex-Knacki war. Sich einen guten Job suchen, ein kleines Haus mit Garten für Lilly. Vielleicht ein Hund. Sie sprach immer mal wieder davon, einen Welpen haben zu wollen, und Blake fand, dass es schön wäre, ein Haustier zu haben. Und eben besagten Garten, in dem sie dann ein bisschen Obst und Gemüse für den eigenen Bedarf anpflanzen konnten.

Kleine Träume, mehr hatte Blake nie gehabt, doch ob er sie sich je würde erfüllen können, stand in den Sternen. Besonders seit er diese korrupten Bullen an der Backe zu kleben hatte, die alles tun würden, um ihn ein weiteres Mal scheitern zu sehen, und dieses Mal würde es auch das letzte Mal sein. Er hatte zig Anzeigen in seiner Akte, von denen zwei zu einer Verurteilung geführt hatten. Die dritte würde ihm wahrscheinlich zwanzig oder sogar noch mehr Jahre in einem Gefängnis weit weg von Boston einbringen, und sobald es dazu kam, würde er Lilly nie wiedersehen.

Vielleicht sollte er es einfach tun. Ein paar kleine Einbrüche für seinen Bewährungshelfer, damit er Ruhe hatte. Er wusste von anderen im Haus, dass der Kerl zwar ein mieses Arschloch war, aber die Leute am Ende laufen ließ, wenn sie taten, was er wollte, es sei denn, sie wurden dabei von den Bullen erwischt. Dann ließ er sie fallen wie eine heiße Kartoffel, weil er genau wusste, dass niemand es wagen würde, gegen ihn auszusagen.

Blakes Problem war nur, dass er Linda versprochen hatte, in Zukunft nicht mal mehr daran zu denken, irgendwo etwas zu stehlen – für Lilly. Damit sein kleines Mädchen die Chance auf ein gutes Leben hatte. Denn das war sein Job als Vater und er hatte ohnehin viel zu lange gebraucht, um das zu erkennen. Gott sei Dank war Lilly ein Sonnenschein und liebte ihn über alles, obwohl er sie die ersten Jahre ihres Lebens meistens bei seiner Mutter geparkt hatte, um auf Tour zu gehen.

»Es tut mir so leid, Mum«, flüsterte Blake in die Stille des Lagers hinein, in dem er seit Stunden beschäftigt war, die neu gelieferten Waren auszupacken, die anschließend in die Regale im Laden geräumt werden mussten.

Lilly hatte eine ganze Menge von ihrer Großmutter geerbt, besonders ihr immer fröhliches Gemüt, und dass seine Mutter erst hatte sterben müssen, um ihm begreiflich zu machen, was für ein egoistischer Nichtsnutz er eigentlich war, würde Blake sich niemals verzeihen. Doch für Trauer hatte er keine Zeit. Der Job machte sich nicht von allein und nach Feierabend warteten mit Sicherheit bereits wieder fies grinsende Bullen vor seiner Tür, um sein Apartment in einen Saustall zu verwandeln, den er dann hektisch aufräumen musste, bis es Zeit war, Lilly von der Vorschule abzuholen, ihr bei ihren Hausaufgaben zu helfen und danach gemeinsam Essen zu machen. Wenn es doch nur mehr Cops geben würde, wie den von heute Morgen.

Blake war sich zwar immer noch nicht sicher, ob dieser Kerl seine Höflichkeit nicht nur gespielt hatte, aber so wie Officer Richards mit Lilly umgegangen war – nein, so was konnte man nicht spielen, das war echt gewesen. Dare Richards hatte seine Tochter vom ersten Moment an ins Herz geschlossen und Lilly war es nicht anders gegangen. Das sprach eindeutig für diesen Mann, mit den wunderschönsten braunen Augen, die Blake je zuvor gesehen hatte.

Früher hätte er ihn schamlos angebaggert, weil dieser Kerl genau seinem Beuteschema entsprach, heute jedoch würde er tunlichst die Finger von ihm lassen. Dabei war Dare Richards wirklich umwerfend mit diesem kantigen Gesicht, seinem Bart und einem Körper, der verriet, dass er sich fit hielt. Er kannte Cops, die das nicht taten und dementsprechend aussahen, aber Officer Richards war heißer als die sprichwörtliche Hölle.

Und ein Bulle.

Eine Tatsache, die Blake besser nicht vergaß, denn wenn er in den letzten Monaten eines gelernt hatte, dann das man Cops einfach nicht trauen durfte.

Andererseits, wie viele Cops kannte er, die eine Narbe von einem Selbstmordversuch am linken Unterarm hatten? Er war sicher, dass Richards sein erstaunter Blick heute Morgen nicht aufgefallen war, als er sich an der blassen Narbe gekratzt hatte, und darüber war er heilfroh, denn er hatte kaum den Blick von ihr nehmen können. Es verwunderte ihn, dass man den Mann überhaupt als Cop arbeiten ließ, aber die Narbe hatte auf Blake alt gewirkt, so verblasst wie sie war, also musste das, was auch immer Officer Richards vor vielen Jahren dazu getrieben hatte, sich umbringen zu wollen, wahrscheinlich lange vor seiner Zeit als Polizist geschehen sein.

Zudem ging es Blake ja auch nichts an. Dass die Polizei in dieser Stadt und überhaupt hoffnungslos unterbesetzt war und dadurch überall der Korruption und Bestechung Tür und Tor geöffnet war, erlebte er schließlich seit Monaten mehrmals pro Woche am eigenen Leib, und selbst wenn Richards tatsächlich einer von den Guten war, würde er es wohl nicht lange bleiben, wenn er mitbekam, wie viele seiner ach so tollen Kollegen die Hand aufhielten und sich mithilfe von Ex-Knackies wie Blake ein Leben finanzierten, für das ihr mageres, städtisches Gehalt niemals ausreichte.

»Hey, Hartley, was ist mit dem Thunfisch? Die Regale sind leer«, riss ihn die Stimme eines Kollegen – er hatte sich nicht die Mühe gemacht, deren Namen zu behalten, nachdem Blake bemerkt hatte, wie schnell die Packer hier drinnen kamen und auch wieder gingen – aus seinen Gedanken und er warf rasch einen Blick auf die Vorratslisten. Mist, der Thunfisch lag noch einige Paletten vor ihm. Er würde sich sofort darum kümmern müssen, sonst gab es Ärger, auch wenn das wieder einmal alles durcheinander brachte.

»Gib mir fünf Minuten«, rief er zurück. »Ich muss erst die Palette mit diesen ekligen Suppenterrinen zu Ende auspacken. Wie kann man das Zeug nur freiwillig essen?«

Gelächter schallte zu ihm. »Alles klar. Danke, Kumpel. Ruf einfach, wenn du ein bisschen Hilfe brauchst, okay?«

»Mache ich.«

Blake hatte nichts dergleichen vor, aber dass man es ihm in diesem Laden wenigstens anbot, war eine nette Geste. Er hatte genug andere Jobs hinter sich und dort war es meistens nicht so freundlich zugegangen. Hier allerdings waren die restlichen Packer höflich zu ihm und kümmerten sich nicht darum, wer er war oder wo er herkam. Blake war sich nicht mal sicher, ob sie es wussten. Er hatte den Job durch Linda Miller bekommen und nicht vor, diese Frau zu enttäuschen, die sich so sehr für ihn einsetzte, selbst wenn das hieß, sich sechs Tage die Woche von ständig genervten Kunden anmaulen zu lassen, weil es in ihren Augen nie schnell genug ging, dabei brachte es garantiert niemanden um, wenn er fünf Minuten auf seine Tiefkühlpizza warten musste.

Blake seufzte und machte sich an die Arbeit. Was hätte er nicht alles für eine pappige Tiefkühlpizza und ein schales Bier aus der Dose gegeben. Doch Fertigessen war tabu, seit er Lilly bei sich hatte. Eine der Regeln von Linda Miller und Blake hielt sich an jede Regel, die sie ihm auferlegt hatte, da er auf keinen Fall das Sorgerecht in Gefahr bringen wollte. Und gesünder zu leben war nun wirklich nicht das Schlechteste, obwohl ihm oft das Geld fehlte, um Lilly eine Freude zu machen.

Ab und zu ein neues Kuscheltier oder Malstifte. Lilly liebte es zu malen und Blake hätte ihr nur zu gerne einen Besuch in diesem Geschäft für Künstlerbedarf ermöglicht, an dem er auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig vorbeikam. Aber das konnte er sich nicht leisten, denn die Miete für das Apartment und die Lebenshaltungskosten fraßen sein Geld beinahe komplett auf. Er hatte nicht mal genug für ein Auto. Das einzige, was er Lilly und sich gönnte, waren die Besuche im »Café Sugar«, denn der Kaffee dort war einfach göttlich und Lilly zudem total vernarrt in den Inhaber Liam, nun ja, wahrscheinlich viel eher in seine Schokoladenkekse, aber das konnte er seiner Tochter schlecht übel nehmen, denn die Kekse waren köstlich.

Und dass Officer Richards offenbar auch ein Genießer war, wenn es um Süßes ging, ließ Blake unwillkürlich schmunzeln, ehe er sich daran machte, den Thunfisch auszupacken. Er hatte noch ein paar Stunden vor sich und jede Menge zu tun.

 

»Hallo, Hartley. Du kommst spät.«

Der von einem hämischen Grinsen begleiteten Begrüßung folgte ein Ausstoß von Zigarettenqualm in seine Richtung, der Blake am späten Nachmittag beinahe husten ließ, aber diesen Triumph wollte er den arroganten Mistkerlen in Uniform nicht gönnen, daher schloss er wortlos die Tür zu seinem Apartment auf und ließ die Cops widerstandslos ins Innere, die sich dann ohne ein weiteres Wort daran machten, seine Wohnung zum zweiten Mal in dieser Woche auf den Kopf zu stellen.

Sie würden nichts finden. Jedenfalls nicht, wenn sie es nicht vorher selbst irgendwo versteckten. Und darauf wartete er. Als verurteilter Verbrecher auf Bewährung hatte er in diesem Land keine Rechte, Blake war längst daran gewöhnt. Die Hauptsache für ihn war, dass Lilly nicht mitbekam, was vor sich ging.

»Hast du es dir überlegt?«

Blake antwortete nicht, weil er nichts zu sagen hatte außer Nein und das wollten sie nicht hören. Sie tauschten einen Blick untereinander und dann flogen die drei Couchkissen genauso auf den Boden wie die Decke, das Teelicht in Form einer Blüte, das zuvor auf dem Couchtisch gestanden hatte, eins von Lillys Malbüchern und die Puppe mit den dicken Zöpfen, die ihr ihre Großmutter ein paar Tage vor ihrem Tod geschenkt hatte.

Danach machten sich die Cops über die schmale Küche her, bedienten sich ungeniert am Bier im Kühlschrank und zerrten hinterher seine Klamotten aus dem Schlafzimmerschrank. Das Badezimmer folgte als nächstes und auch dort landete alles auf dem alten Fliesenboden, was nicht niet- und nagelfest war. Nur Lillys Zimmer ließen sie auch heute unangetastet und darüber war er jedes Mal froh, denn seine Tochter war das Wichtigste in Blakes Leben und sollte alles haben, was sie sich wünschte.

»Glück gehabt, Hartley, du warst brav.«

Blake ignorierte den spöttischen Unterton, während er den korrupten Bullen zusah, wie sie das Bier austranken, die leeren Flaschen dann einfach auf die Couch warfen und anschließend lachend an ihm vorbeiliefen, wobei sie ihm das obligatorische »Du wirst deine Meinung schon noch ändern. Das tun Typen wie du am Ende immer.« mit auf den Weg gaben, bevor seine Wohnungstür mit einem lauten Knall hinter ihnen ins Schloss fiel und Blake sich nach einem tiefen Einatmen daran machte, alles wieder auf Vordermann zu bringen, damit er eine Dusche nehmen konnte, bevor er Lilly abholen würde.

Nur noch sechs Monate.

Normalerweise hätte er längst aufgegeben, aber dieses Mal würde er durchhalten. Für Lilly.

 

»Daddy, Daddy, Daddy!«

Blake grinste, als sie sich in seine Arme warf und dann von ihm herumwirbeln ließ. Gott, wie sehr er dieses kleine Wesen in seinen groben Händen liebte, die wegen des Winterwetters wieder eingepackt war wie eine kleine Mumie, und weil er das immer tat, überprüfte Blake auch jetzt erst mal sehr gründlich, ob ihre Mütze mit bunter Bommel, der Schal und ihre dicken Handschuhe richtig saßen, damit sie nicht fror.

»Hattest du Spaß heute?«, fragte er, nachdem er zufrieden war, und setzte sich Lilly auf seine Hüfte.

»Ja«, antwortete sie lang gezogen und legte heiter kichernd beide Arme um seine Schultern, damit Blake sie besser tragen konnte. »Wir haben Zahlen gemalt. Ich hab sie bunt gemacht, weil Oma bunt immer ganz toll fand. Kann ich heute Nudeln mit roter Soße haben und sie vorher zählen?«

»Wie weit kannst du denn zählen?«, fragte er amüsiert und grinste, als Lilly fünf Finger hochhielt. Er schürzte übertrieben die Lippen. »Das wären aber ziemlich wenig Nudeln. Wirst du denn davon überhaupt richtig satt? Nicht, dass du nachts vor lauter Hunger über den armen Kühlschrank herfällst.«

»Daddy!«

Lachend gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und ignorierte den missbilligenden Blick von Lillys Vorschullehrerin, den sie ihm jedes Mal zuwarf, sobald sie einander vor der Schule über den Weg liefen. Die Frau war eine erstklassige Lehrerin und sie liebte Kinder, aber sie hatte gleichzeitig so viele Vorurteile wie es Sand am Meer gab.

Linda Miller hatte ihm geraten, diese Frau zu ignorieren, so wie er alles ignorieren sollte, ganz gleich wie sehr es ihm gegen den Strich ging, denn nach der Bewährungszeit würde er frei sein und kein Streit der Welt, egal ob er grundsätzlich im Recht war oder nicht, war es am Ende wert, das Sorgerecht für Lilly zu riskieren. Und wenn er eines in den letzten sechs Monaten gelernt hatte, dann dass er gut daran tat, auf Lillys Bearbeiterin vom Jugendamt zu hören, denn so pragmatisch sie meist auch war, sie hatte im Allgemeinen recht.

»Hast du Hausaufgaben auf?«

Lilly nickte. »Noch mal Zahlen malen. Aber diesmal nicht bunt, sondern immer nur eine Farbe.«

Sie erklärte es ihm so ernst, dass Blake fast gelacht hätte. Er hatte einen Goldschatz als Tochter und er wusste schon, wie er sie dazu bringen konnte, mit ihm ein neues Teelicht zu kaufen, denn das andere hatten die Mistkerle vorhin kaputt gemacht, was ihm erst beim Aufräumen aufgefallen war. Darum würde er mit Lilly ein neues besorgen, aber vorher würde er mit ihr in den Park gehen, um einen Schneemann zu bauen.

»Hast du schon Hunger?«, wollte er wissen und als sie den Kopf schüttelte, lächelte er. »Dann lass uns einen Schneemann im Park bauen.« Lilly jubelte und Blake gluckste. »Und danach gehen wir in den Kerzenladen. Wer heute Zahlen gelernt hat, der hat sich als Belohnung ein neues Teelicht verdient.«

»Jaaaa.«

Lillys freudiger Aufschrei war die Überstunden wert, die er würde schieben müssen, um diese ungeplante Ausgabe für sie finanzieren können, denn er hatte nicht vor, ihr eins von diesen Billigteelichtern zu kaufen. Sie hatte zwar erst im kommenden Juni Geburtstag, aber da er bereits ihren letzten Geburtstag im Gefängnis verbracht hatte, war es nur recht und billig, dass sie in diesem Jahr ein bisschen mehr bekam. Und Lilly liebte den Kerzenladen, in dem alles Handarbeit war und es von kleinen Teelichtern in den verschiedensten Farben und Formen, bis hin zu Figurenkerzen, Duftkerzen, Kerzen für Feierlichkeiten und einfach nur Kerzen für den täglichen Gebrauch alles gab.

»Ich hab dich lieb, mein Schatz.«

Lilly strahlte ihn an. »Kuss, Daddy, Kuss.«

»So?«, fragte Blake und spitzte total übertrieben die Lippen, nachdem er sie sich extra feucht geleckt hatte.

Lilly lachte und machte es ihm nach, und einen Augenblick lang fragte sich Blake, wie wohl der heiße Officer Richards auf so einen Kuss reagiert hätte, aber dann fühlte er schon nasse Kinderlippen auf seinen und der Gedanke war vergessen.

 

 

Kapitel 3

Dare

 

 

 

 

Den Rest der Woche bekam Dare weder die niedliche Lilly noch ihren brummigen Vater zu Gesicht.

Durch den späten Wintereinbruch gab es vermehrt Unfälle auf den Straßen und die eisige Kälte vertrieb die obdachlosen Kids, die er in seinem Revier im Auge behielt, von ihren sonst üblichen Schlafplätzen in leer stehende Häuser, die ihnen zwar ein Dach über dem Kopf boten, aber leider nicht ungefährlich waren, denn dort hatte die hiesige Drogenszene das Sagen und Dare wollte möglichst kein weiteres von seinen Kids an selbige verlieren. Gleichzeitig wollte er auch kein weiteres Messer in seinen Rippen riskieren, doch als Beamter allein auf Streife war die Gefahr dafür hoch.

Darum beschränkte er sich in den kommenden Tagen meist darauf, seine üblichen Ecken anzufahren, um Schlafsäcke und Decken zu verteilen und damit zumindest sicherzustellen, dass über Nacht niemand erfror. Und er brachte zwei von den Kids fürs Erste im »Boston Hearts« unter, als sich herausstellte, dass Trevor eine schwere Grippe hatte und sein Freund Brad ihn auf keinen Fall alleinlassen wollte.

Elias versprach ihm, sich um die beiden zu kümmern, und vielleicht konnte sein Vater sie davon überzeugen, wenigstens eine Weile im Zentrum zu bleiben. Sie würden nicht dauerhaft dort bleiben, das wusste er, denn Trevor und Brad gehörten zu denen, die einfach nicht von der Straße weg wollten.

In seiner ersten Zeit auf Streife hatte Dare diese Kids nicht verstanden, da er selbst als Teenager alles getan hätte, nur um nicht länger obdachlos sein zu müssen, aber mittlerweile war er seit über fünfzehn Jahren Polizist und ließ jeden nach seiner Fasson leben, solange derjenige sich ans Gesetz hielt.

Und das taten die zwei jungen Diebe eindeutig nicht, die er mit drei eilig dazu gerufenen Kollegen am Dienstagnachmittag auf frischer Tat in einem kleinen Lebensmittelladen verhaften konnte und sich dafür eine Stunde lang Beleidigungen anhören durfte, bis die vorlauten Rotznasen endlich in einer Zelle saßen und er seine Unterschrift unter den dazugehörigen Papierkram gesetzt hatte.

Da er wegen dieser Verhaftung keine Mittagspause gehabt hatte, machte er einen kurzen Abstecher zu Liam, um sich ein belegtes Sandwich und einen Kaffee zu holen, und hatte eben genüsslich in das extra für ihn doppelt belegte Eier-Schinken-Käse-Sandwich gebissen, als sein Handy klingelte.

Stöhnend kaute er runter und warf einen Blick aufs Handy, um dann ein weiteres Mal zu stöhnen. »Ich esse gerade.«

»Was eine ganz wunderbare Beschäftigung sein kann, aber wie ich dich kenne, hattest du mal wieder kein Mittagsessen, weil du irgendjemandes Held sein musstest. Habe ich recht?«

»Diesmal nicht.« Dare biss erneut von seinem Sandwich ab. »Ich musste ein paar Diebe verhaften«, nuschelte er mit vollem Mund und grinste belustigt, als sein Großvater ihm daraufhin einen Vortrag über Manieren hielt, die er angeblich nicht hatte. Und da Adrian Endercott gerne viele Wörter benutzte, hatte er genug Zeit, das halbe Sandwich zu essen und einige Schlucke Kaffee zu trinken, ehe er wieder zu Wort kam. »Du weißt doch, dass meine Väter mir keine Manieren beigebracht haben.«

»Was eine wahre Schande ist«, grollte sein Großvater und schnaubte, als Dare leise lachte. »Du bist immer noch ein sehr frecher Bursche. Der mich letzte Woche übrigens nicht, obwohl er es zugesagt hatte, zurückgerufen hat. Stattdessen musste ich deine Väter fragen, ob du irgendwo tot in einem Graben liegst und das nahm Elias zum Anlass, mir zu erklären, ich wäre eine furchtbare Glucke, was natürlich völliger Unsinn ist. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Dare Richards?«

Die Wahrheit natürlich, wie immer. Auch wenn sie seinem Großvater nicht gefallen würde. Nur kümmerte das Dare nicht im Geringsten. Wer ihn beim Essen störte, musste mit ein paar Frechheiten leben. »Ich habe vor lauter Arbeit leider vergessen, dass es dich gibt.«

»Dare!«

Dare prustete los.

»Du bist ein furchtbarer Bursche, der dringend übers Knie gelegt gehört«, schimpfte sein Großvater und Dare lachte bloß lauter, weil er diese Drohung allein in diesem Jahr schon circa zwanzig Mal gehört hatte. »Wann kommst du mal wieder bei uns vorbei? Deine Großmutter vermisst dich schrecklich.«

»Und du nicht?«

Adrian schnaubte. »Wieso sollte ich dich denn vermissen? Du bist frech, vorlaut, sprichst mit vollem Mund und rasierst dir nicht diesen furchtbaren Bart ab, mit dem du niemals einen guten Ehemann finden wirst, hör auf meine Worte. Dabei habe ich erst neulich jemanden kennengelernt, der ...«

»Vergiss es, Grandpa.« Dare zuckte heftig zusammen und schauderte merklich. »Hast du vergessen, was Dad dir letztes Jahr dazu gesagt hat? Keine weiteren Verkuppelaktionen mehr. Ich verpetze dich schamlos bei Elias, das weißt du.«

»Frecher Bursche.«

Oh ja, und dieser freche Bursche hatte im Revier noch einen Schreibtisch voller offener Akten abzuarbeiten. Dare räusperte sich. »So sehr ich es genieße, mit dir zu plaudern, ich muss ins Revier. Du erledigst meinen Papierkram ja nicht. Dabei würde ich dich sogar mit Keksen dafür bezahlen.«

Adrian gluckste, der natürlich genau wusste, dass Dare ihn jetzt nur loswerden wollte, um dem Gespräch über potenzielle Ehemänner zu entkommen. »Ich hab dich lieb, mein Junge.«

Dare lächelte. »Ich dich auch, Grandpa.«

»Kauf dir einen Rasierer.«

»Nicht in diesem Leben«, konterte er trocken und beendete ihr Telefonat, während sein Großvater am anderen Ende noch schallend lachte.

 

Eine Stunde später starrte Dare vollkommen verdattert auf das Profil eines großen Mannes, der mit Handschellen gefesselt ein paar Meter vor ihm auf einem Stuhl saß.

Um ihn herum ging es zu wie in einem Bienenstock, denn das völlig überfüllte Großraumbüro seines Reviers beherbergte unzählige Schreibtische, die in den allermeisten Fällen bis zur Tischkante mit dicken Akten vollgepackt waren, während um ihn herum ständig irgendwo ein Telefon klingelte.

Ein typischer Dienstagnachmittag in seinem Revier, bis auf die ihn doch ziemlich erstaunende Tatsache, dass da vorne ein ihm bekannter, mürrischer Glatzkopf saß. Scheinbar verhaftet. Weswegen auch immer. Und dass der Mann ausgerechnet an Kyle Goldmans Schreibtisch saß, einem alt eingesessenen und leider mit jedem dämlichen Vorurteil, das es auf der Welt gab, behafteten Kollegen, stimmte Dare auch nicht fröhlicher.

Noch viel weniger lustig fand er aber Goldmans spöttisches Grinsen und das gewaltige Veilchen im Gesicht des Glatzkopfs, das Dare, nachdem es ihm aufgefallen war, dazu verleitete, an Goldmans Schreibtisch zu treten, seine Arme vor der Brust zu verschränken und seinen Kollegen mit hochgezogenen Brauen anzusehen, bis der genervt stöhnte.

»Ich habe ihn nicht vermöbelt, sieh mich nicht so an. Er hat sich bei der Festnahme gewehrt, nachdem in seiner Wohnung Diebesgut gefunden worden ist, das offenbar zu einer ganzen Serie von Diebstählen gehört, die wir seit Monaten bearbeiten. Du weißt davon, du hast selbst zwei der Taten aufgenommen. Dafür fährt der Kerl hier den Rest seiner Haftstrafe wieder ein und kriegt garantiert noch ein paar Extrajahre obendrauf, Ende der Geschichte.«

Dare erinnerte sich an die Fälle, er wusste auch, dass allein in seinem Revier über fünfzehn Einbrüche mit anschließendem Diebstahl ungelöst waren. Dennoch. Nie im Leben hatte dieser Mann damit zu tun. Dafür hätte er sogar seine Hand ins Feuer gelegt. Der Glatzkopf hatte ein kleines Kind und …

Moment mal. Dare stutzte irritiert. »Wo ist seine Tochter?«

»Woher soll ich das wissen? Eine Frau vom Jugendamt hat sie mitgenommen. Sie war schon vor Ort, als unsere Kollegen seine Wohnung durchsuchten und das Zeug im Bad gefunden haben.« Goldman runzelte verwundert die Stirn. »Hey, woher weißt du denn, dass er eine Tochter hat?«

»Weil ich ihn kenne.« Dare griff nach seinem Handy und wandte sich bereits ab, um ein paar Schritte vom Schreibtisch wegzutreten. »Und ihm jetzt einen guten Anwalt besorge.«

»Fuck, etwa deinen alten Herrn?«, fragte Goldman entsetzt und das war Dare nur recht, denn sein Vater hatte schon mehr als einmal dafür gesorgt, dass ein fälschlich Beschuldigter nicht vor Gericht gelandet war. Es gab immer wieder Cops, die keine Lust hatten, vernünftig zu ermitteln und stattdessen lieber die erstbeste Lösung nahmen, sobald es darum ging, einen lästigen Fall vom Tisch zu bekommen, und obwohl er seinen Glatzkopf bisher nur ein Mal getroffen hatte, war sich Dare sicher, dass es in diesem Fall genauso war.

»Nanu?«, wunderte sich Maximilian Endercott mit einiger Belustigung in der Stimme, was Dare verstehen konnte, denn üblicherweise rief er seinen Vater nicht mitten in der Woche im Büro an, sondern fuhr persönlich bei ihm vorbei, sobald es um eins seiner Kids von der Straße ging.

Nur war Mister Unbekannt keines seiner Kids. »Kannst du bitte auf mein Revier kommen?«

»Was ist passiert?« Maximilian schaltete sofort auf Anwalt um und Dare seufzte hörbar erleichtert, ohne daran zu denken, dass sein Vater ihn hören konnte. »Dare, sollte ich mir Sorgen machen?«

»Nicht um mich. Ein … Freund braucht einen Anwalt. Und zwar den besten, den es gibt.«

»Ich bin in dreißig Minuten da. Er soll auf keinen Fall etwas sagen, bis ich weiß, was los ist.«

Auf seinen Vater war Verlass, wie immer. »Danke, Dad.«

»Jederzeit, das weißt du.«

Sein Vater legte auf und Dare steckte sein Handy ein, bevor er zurück zu Goldman ging und sich auf die Schreibtischkante setzte, um den Glatzkopf anzusehen. »Du sagst kein einziges Wort mehr, bis dein Anwalt hier ist, verstanden?«

Die Antwort war ein Stirnrunzeln, dann nickte Lillys Vater, ohne seinen Blick zu erwidern. Er starrte die ganze Zeit stoisch nach vorn und Dare bekam eine Gänsehaut, weil alles an dem Mann nach Abwehr schrie und ihn damit unglaublich an sich selbst erinnerte. Er war früher genauso gewesen und wenn ein Erwachsener sich so benahm, musste das gute Gründe haben, die er wissen und aus dem Weg räumen wollte, ehe Lilly etwas davon mitbekam. Was leider Utopie war, wenn das Mädchen wirklich in der Obhut des Jugendamtes war und offensichtlich die Verhaftung ihres Vaters mitbekommen hatte.

Dare drehte sich zu Goldman. »Gib mir die Nummer dieser Frau vom Jugendamt, die seine Tochter mitgenommen hat.«

»Wieso?«, fragte Goldman unwillig und Dare verdrehte mit einem Stöhnen die Augen.

»Na gut, dann erklär du meinem Vater, warum er nicht alle Fakten erhält, sobald er da ist, und warum du zulässt, dass ein kleines Kind einfach so in die Obhut des Jugendamtes gegeben wird, ohne dir dort einen Ansprechpartner geben zu lassen. Ich wette, das kommt bei Dad ganz toll an. Du weißt schon, genau wie beim letzten Mal.«

Das letzte Mal hatte darin geendet, dass ein Kollege wegen Vertuschung und Falschaussage entlassen worden war und das hatte auch Goldman nicht vergessen, der jetzt die Akte vor sich zuklappte und sie ihm mit einem Fluch in den Schoß warf.

»Da. Hau ab und nimm den Kerl mit. Ich habe Wichtigeres zu tun, als einen kleinen Dieb einzubuchten. Wenn dir der Fall so wichtig ist, darfst du ihn gerne haben.«

»Wer hat ihn eigentlich verhaftet?«, wollte Dare wissen.

»Brown.«

Rick Brown? Einer der miesesten Polizisten, die er kannte. Unzählige Anzeigen wegen übertriebener Polizeigewalt, die in allen Fällen von verhafteten Wiederholungstätern gekommen waren und deshalb am Ende immer im Sande verlaufen waren. Dare hielt sich von Brown fern und soweit er dank internem Buschfunk wusste, stand Brown hier schon unter Beobachtung, weil Captain Bolder ihm erst vor ein paar Wochen einige sehr deutliche Worte zum Thema Polizeigewalt mitgegeben hatte. Es gab erste Gerüchte, dass Bolder kurz davor stand, Brown zu feuern, aber ob das stimmte, wusste keiner.

Dare ließ sich sein Unbehagen wegen der Mitwirkung von Brown an der Sache nicht anmerken, sondern nickte nur. »Gut. Ich übernehme. Danke, Goldman.«

»Ja, ja, ja.«

Dare warf einen schnellen Blick in die Akte. Blake Hartley. Endlich hatte er einen Namen zu dem Mann, der immer noch stur geradeaus starrte. Er erhob sich vom Schreibtisch, packte Hartley am Arm und war über dessen Zusammenzucken nicht sonderlich überrascht, bevor der Mann aufstand und sich von ihm weiter ins Revier führen ließ, in einen der Verhörräume, wo sie ungestört sein würden.

Er verfrachtete Hartley auf einen Stuhl, überflog schnell die Akte und ging dann zurück in den Flur, um einen Anruf beim Jugendamt zu machen, wo er ziemlich schnell zu Linda Miller durchgestellt wurde, die ihm in knappen Worten erklärte, was passiert war und ihm anschließend versicherte, dass Lilly zwar noch etwas verschreckt war, es ihr aber sonst gut ging und sie erst mal im Jugendamt bleiben würde, nachdem Dare der Frau versichert hatte, dass Blake – der laut ihr niemals der gesuchte Dieb sein konnte, egal ob die zwei Polizisten das behaupteten, die sie übrigens für nicht sonderlich glaubwürdig hielt – einen Anwalt bekommen und schon bald wieder auf freiem Fuß sein würde. Notfalls würde Maximilian sich darum kümmern, dass Lilly für ein, zwei Nächte bei ihnen bleiben konnte, immerhin waren sie weiterhin als Pflegeväter eingetragen.

Nachdem alles zu seiner Zufriedenheit geklärt worden war, kehrte er in den Vernehmungsraum zurück, wo Blake sich kein Stück gerührt hatte und weiterhin seinen Blick mied.

»Linda Miller aus dem Jugendamt singt förmlich Loblieder auf dich.« Keine Reaktion. Nicht, dass es ihn gewundert hätte. Dare verkniff sich ein Seufzen. »Lilly geht es gut. Sie kümmert sich um sie, bis du mit meinem Vater gesprochen hast.« Wieder nichts. Dare hätte Blake am liebsten am Kragen des gerissenen Hemds gepackt und kräftig geschüttelt. »Die buchten dich ein, wenn du nicht erklärst, was wirklich passiert ist, das muss dir doch klar sein.«

»Und?«

»Und?«, echote Dare und stöhnte frustriert, da Blake nicht im Traum daran zu denken schien, ihn endlich mal anzusehen und das ärgerte ihn mittlerweile gewaltig. »Sagst du das auch zu Lilly?«, ätzte er und wusste im gleichen Augenblick, dass er lieber den Mund gehalten hätte, als Blake die breiten Schultern hochzog und jetzt endgültig dichtmachte. »Scheiße. Es tut mir leid, Blake.«

Keine Reaktion. Und daran war er dieses Mal selbst schuld. Dare lehnte sich innerlich seufzend mit dem Rücken gegen die Wand und schwieg, bis irgendwann die Tür aufging und sein Vater eintrat, in Begleitung von Goldman, der allerdings gleich wieder kehrtmachte, was Dare grinsen ließ. Maximilian hatte diese Wirkung auf einige Cops in seinem Revier, besonders auf jene, die am liebsten Dienst nach Vorschrift schoben, und das amüsierte ihn immer wieder.

Er beobachtete, wie sein Vater sich setzte, dabei die langen Beine elegant übereinanderschlug und danach seine schlanken Hände obenauf legte. Maximilian Endercott war unübersehbar in seinem Element und er strahlte immer noch all das aus, was ihn damals als Teenager ziemlich beeindruckt hatte. Nachdem er aufgehört hatte, ihn und Elias für Perverse zu halten. Macht, Geld, Einfluss – das waren die Endercotts. Aber sie waren auch Familie, Zusammenhalt und vor allem Liebe. Dare betrachtete den Ehering, von dem er wusste, dass Maximilian ihn niemals ablegte, und schaute hinterher zu Blake, der jetzt misstrauisch die Stirn runzelte.

»Guten Tag, Mister Hartley. Ich bin Ihr Anwalt.«

Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten. »Ich kann mir keinen Anwalt leisten.«

Maximilian verzog keine Miene. »Da trifft es sich gut, dass ich es liebe, pro bono zu arbeiten. Also? Wollen Sie einen guten Anwalt, dem es ausschließlich um Sie geht? Oder ziehen Sie es vor, Ihr Glück ein weiteres Mal mit einem Pflichtverteidiger zu versuchen, wovon ich Ihnen nach meinem ersten Blick in Ihre Akte allerdings dringend abrate.«

»Warum?«

»Weil Sie sonst mit großer Wahrscheinlichkeit erst aus dem Gefängnis kommen, wenn Ihre Tochter erwachsen ist.«

Das war schonungslos und direkt, aber es half, denn Blake wurde merklich blasser und gab seine völlige Abwehrhaltung zumindest ein Stück weit auf, indem er seinen Vater eine Weile sehr genau betrachtete und schließlich kurz zwischen ihm und Maximilian hin und her blickte, bevor er fragte: »Ist er wirklich Ihr Sohn?«

Sein Vater grinste. »Einer von insgesamt acht.«

»Acht von der Sorte? Du großer Gott«, murmelte Blake und Dare wusste nicht, ob er lachen oder beleidigt sein sollte, weil Maximilian ihm daraufhin einen sehr belustigten Blick zuwarf. »Muss er dabei sein?«

»Das kommt ganz darauf an, ob Sie eine offizielle Aussage machen oder sich mit Ihrem Anwalt persönlich beraten wollen. Letzteres schließt seine Anwesenheit aus.«

»Ich lande eh wieder im Knast«, konterte Blake missmutig und sah Maximilian mürrisch an. »Daran wird auch Ihr toller Anzug nichts ändern.«

»Abwarten«, erklärte sein Vater ruhig, während Dare schon wieder kurz davor stand, Blake am Kragen zu packen. Warum sah der Sturkopf nicht, dass vor ihm gerade seine Rettung saß? Maximilian würde niemals zulassen, dass ein Unschuldiger im Knast landete und Blake war mit Sicherheit kein Dieb. »Haben Sie getan, was man Ihnen vorwirft?«

»Nein.«

»Dann landen Sie auch nicht hinter Gittern.«

Blake lachte humorlos. »Sind Sie wirklich so naiv?«

»Sind Sie wirklich so dämlich, eine Chance nicht zu sehen, selbst wenn man sie Ihnen auf einem Silbertablett serviert?«, schoss Maximilian zurück und das sorgte endlich mal für eine deutliche Reaktion, denn Blake schnaubte abfällig und starrte seinen Vater dabei wütend an, der das jedoch ignorierte. »Also, Blake Hartley? Reden wir Klartext oder nicht?«

Schweigen.

Bis Dare der Kragen platzte. »Mein Gott, jetzt rede endlich mit ihm, du Idiot. Wenn dir einer helfen kann, dann er.«

»Jetzt bin ich also schon ein Idiot?«

»Du bist ein sturköpfiger Blödmann, wenn du glaubst, ich würde dich reinlegen wollen«, schimpfte Dare. »Mein Vater ist der beste Anwalt in dieser Stadt, aber bitte, nur zu. Lilly wird sich bestimmt freuen, dich die nächsten zehn Jahre im Knast zu besuchen. Welches Kind findet das nicht super.«

»Ist er immer so boshaft?«, fragte Blake seinen Vater, als er gerade Luft holte, um weiter zu schimpfen.

»Normalerweise nicht.«

»Dann kann ich mich also geehrt fühlen?«

»Definitiv.«

»Ich glaub, ich bin im falschen Film«, knurrte Dare und sah seinen Vater finster an. »Soll ich euch alleinlassen, damit ihr in aller Ruhe weiter über mich ablästern könnt?«

»Es würde völlig ausreichen, wenn du dich wieder wie der professionelle Polizist benimmst, den ich kenne und liebe.«

Dare zuckte bei Maximilians schneidenden Tonfall ertappt zusammen und da ging ihm dann auch auf, wie er sich gerade aufgeführt hatte. Verdammt. Das würde Ärger geben. Warum hatte er sich nur so hinreißen lassen? Er klappte den Mund zu, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück an die Wand, fest entschlossen, kein Wort mehr zu sagen, bis sein Vater ihm später die Ohren lang zog.

»Danke sehr«, sagte Maximilian und wandte sich wieder an Blake. »Zurück zu Ihnen. Fürs Protokoll und damit wir wissen, wo wir beide stehen … Sind Sie schuldig oder nicht?«

»Ich habe diese Diebstähle nicht begangen.«

Sein Vater nickte zufrieden. »Gut. Damit kann ich arbeiten. Wissen Sie, wer es war?«

Blake schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Warum hat man Diebesgut bei Ihnen gefunden?«

Nach der Frage seines Vaters, dauerte es ein paar Minuten, die Blake abzuwägen schien, ob er wirklich weiterreden sollte oder nicht, aber schließlich entschied er sich mit einem Nicken dafür, Maximilian zu vertrauen, und Dare war erleichtert, dass sein sturer Glatzkopf es tat.

»Der Officer, der mich geschlagen und verhaftet hat, hat es mir untergeschoben. Er arbeitet mit meinem Bewährungshelfer zusammen. Sie zwingen Ex-Knackis, für sie kleinere Dinger zu drehen. Einbrüche, Überfälle, aber vor allem Diebstähle. Nichts Großes, das ist ihnen zu riskant, schätze ich. Sie verkaufen das Diebesgut, über wen, weiß ich nicht. Ich sollte Diebstähle für meinen Bewährungshelfer begehen und habe mich bis zuletzt geweigert, um das Sorgerecht für meine Tochter auf keinen Fall zu gefährden. Darum hat man mir die Sache angehängt.«

Dare war sprachlos. Er hatte Rick Brown nie gemocht, ganz im Gegenteil, aber Korruption? Und dann auch gleich in einem derartigen Ausmaß? Du lieber Himmel.

»Haben Sie für Ihre Anschuldigungen Beweise?«

»Nein.«

»Von wie vielen Polizisten reden wir hier gerade?«, fragte Maximilian und das interessierte Dare ebenfalls brennend.

»Ich weiß von vier, kann aber nicht sagen, ob das alle sind. Dazu mein Bewährungshelfer. Mehr habe ich nie vor oder im Haus gesehen.«

Maximilian erhob sich und sah ihn an. »Du bleibst bei ihm, Dare. Ich rede mit Captain Bolder. Dieser Fall wird vermutlich gleich heute Abend an die Innere Abteilung gehen. Und Sie«, Maximilians Blick traf den von Blake, »werden kein einziges Wort sagen, solange ich nicht an Ihrer Seite bin, haben wir uns verstanden? Wenn wahr ist, was Sie sagen, und als Ihr Anwalt gehe ich davon aus, gibt es allein in diesem Revier mindestens einen Beamten, der Ihnen gern das Maul stopfen würde. Und das ist noch höflich ausgedrückt.«

»Lilly«, fiel Dare ein und Blake erstarrte auf seinem Stuhl, doch auch diesmal hatte sein Vater alles im Griff.

»Ich kümmere mich darum. Ihr bleibt hier, verstanden? Ich mache ein paar Anrufe und sorge dafür, dass die Kleine heute Abend bei uns unterkommt, bis ich Blake freibekomme.«

Weg war er und Dare starrte eine gefühlte Ewigkeit auf die Tür, die sein Vater hinter sich geschlossen hatte, bis ihm abrupt wieder einfiel, dass er nicht allein im Raum war. Er sah zurück zu Blake und wäre vor dem intensiven Blick, den der ihm jetzt schenkte, beinahe zurückgewichen. Stattdessen riss er sich mit Müh und Not zusammen, um zu Blake zu gehen, der jeden seiner Schritte voller Argwohn beäugte und sich unübersehbar anspannte, als Dare zu seinem Gürtel griff.

Kurz darauf landeten die Handschellen mit einem Klirren auf dem Tisch und Dare lehnte sich erneut an die Wand, dieses Mal mit Absicht Blakes Blick meidend.

Dessen leises »Danke.« hörte er kurz darauf trotzdem und es bescherte ihm eine Gänsehaut, weil Blakes raue Stimme wie flüssiger Honig über seine Haut kroch und ihn sich fragen ließ, wie sich Blakes Hände, mit dicken Schwielen an den Fingern, wohl auf seiner nackten Haut anfühlen würden.

 

 

Kapitel 4

Maximilian

 

 

 

 

»Was denkst du?«

Oh, Maximilian dachte eine Menge. Vor allem, da Elias erst vor fünf Minuten nackt aus dem Badezimmer gekommen war und immer noch dabei war sich abzutrocknen, weil er ständig von einer Szene in dem Buch abgelenkt wurde, das er nebenbei las. Es war ein Wunder, dass er noch nicht damit angefangen hatte, seinen E-Book-Reader mit unter die Dusche zu nehmen. Maximilian grinste bei der Vorstellung und räusperte sich, weil er gleich darauf sehr streng angesehen wurde. Ach ja, da war ja noch eine Frage, die er Elias beantworten musste.

»Er hat resigniert. Er glaubt nicht, dass ich ihm helfen kann, es überhaupt tun will. Er hat panische Angst, seine Tochter für immer zu verlieren, aber er wartet gleichzeitig darauf, dass es genau so passiert. Blake Hartley hat den Glauben an unseren Rechtsstaat, vor allem an die Menschen im Allgemeinen, völlig verloren. Und ich kann es ihm nicht verübeln, nachdem ich mir seine Akte angesehen hatte.« Maximilian seufzte leise. »Ich will nicht einmal sagen, dass er die Gefängnisstrafen nicht verdient hätte, der Mann hat alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest ist. Aber seit er sich um Lilly kümmert, gibt er alles und will es unbedingt schaffen. Und dann bekommt er ausgerechnet einen Bewährungshelfer zugeteilt, der offensichtlich der Meinung ist, Ex-Häftlinge, die eine neue Chance bekommen haben, für sein privates Vergnügen ausbeuten zu können.«

»Gibt es Beweise?« Elias schlüpfte in einen Slip und brachte danach das Handtuch zurück ins Badezimmer. »Ohne wirst du ihm kaum helfen können, oder?«

»Bislang habe ich nur seine unterschriebene Aussage. Aber die war der Inneren Abteilung zumindest wichtig genug, um dafür zu sorgen, dass Hartley keine zwei Stunden später ohne Kaution entlassen wird, damit er sich um sein Kind kümmern kann. Die Kleine ist wirklich süß, ein richtiger Sonnenschein.« Maximilian schürzte die Lippen. »Ich habe vorhin gleich noch ein paar Telefonate geführt. Die Innere Abteilung lässt einen von den vier Beamten, die Hartley identifiziert hat, bereits seit drei Monaten wegen möglicher Bestechlichkeit und Korruption beobachten und das spricht für dessen Behauptungen.«

»Und Dare?«, fragte sein Ehemann weiter, als er wieder im Zimmer stand, den E-Book-Reader in einer Hand, während er seine andere Hand in die Seite stemmte und sich suchend nach seiner Schlafhose umsah, die Maximilian kurz darauf unter der zurückgeschlagenen Tagesdecke entdeckte. Elias hatte nicht so viel Glück und zog die Stirn in Falten. »Wo ist meine …?«

Maximilian deutete auf das Fußende des Bettes und lachte leise, als Elias die Augen verdrehte. »Ja, ja, das Alter.«

»Sprich nur für dich selbst«, konterte Elias trocken, zog sich die Pyjamahose an und stellte das Fenster auf kipp, bevor er zu ihm ins Bett kam. »Also? Was war nun mit Dare?«

Maximilian gluckste heiter, als er sich an die unerwartete und ziemlich heftige Reaktion seines Sohnes auf Blake Hartley erinnerte, die ihn zuerst gewaltig irritiert hatte. Dare hatte nie zuvor so auf einen Mann reagiert, jedenfalls nicht, soweit er davon wusste. Andererseits hatte ihr Sohn ihnen auch noch nie jemanden vorgestellt, auf den er in solch einer Art und Weise hätte reagieren können, und Blake Hartley gehörte in seinen Augen eindeutig nicht zu dem Typ von Mann, mit dem er sich seinen eigenen Sohn vorstellen konnte.

Aber die Liebe suchte sich bekanntlich die merkwürdigsten Wege und irgendwas musste an Blake Hartley dran sein, sonst hätte Dare nicht so reagiert, wie er eben reagiert hatte. Und vor allem hätte er ihn nicht darum gebeten, Hartley als Anwalt zu vertreten. Normalerweise bat Dare ihn nur bei Teenagern oder Kindern um Hilfe, nicht bei Erwachsenen und schon gar nicht bei verurteilten Dieben, die eine kleine Tochter hatten, um die Dare wirklich besorgt gewesen war.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752133479
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Liebesroman schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Kaffee ins Herz