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Aus der Asche geboren

von Mathilda Grace (Autor:in)
400 Seiten
Reihe: Chicago - Reihe, Band 3

Zusammenfassung

Als aus einer romantischen Nacht in seinem Club eine Vergewaltigung wird, bricht für Darren Walker eine Welt zusammen, denn er kennt Opfer und Täter und er hatte Pläne für den jungen Mann, der erst wenige Wochen zuvor unberührt ins »Black Shine« kam und nach einem erfahrenen Partner für sein erstes Mal suchte. Doch Darrens Hoffnung, Adrian für sich zu gewinnen, scheint nach dieser Nacht ebenso zerstört, wie seine Freundschaft zu Connor Alexander, der nicht darüber hinwegkommt, was er Adrian angetan hat. Und dass dieser nicht einmal Anzeige erstatten will – Darren ist hin- und hergerissen zwischen seinen wachsenden Gefühlen für Adrian und der Wut auf Connor, mit dem ihn eine Vergangenheit verbindet, die es Darren schlichtweg unmöglich macht, ihre langjährige Freundschaft einfach kampflos aufzugeben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

Darren

 

 

 

 

Connor ist ein gottverdammter Glückspilz.

Ich kann mich heute Nacht wieder nicht entscheiden, ob ich neidisch sein, mich für meinen besten Freund freuen oder ihn nicht besser niederschlagen und mich danach selbst um Adrian kümmern soll, als die beiden schließlich nach hinten in eins der Privatzimmer des Clubs verschwinden, um dort mit Sicherheit viele unanständige Dinge zu tun, wie bereits seit Wochen. Dass sie zufrieden grinsen und augenscheinlich in bester Stimmung sind, macht es mir noch schwerer, meine Finger stillzuhalten und an der Bar zu bleiben, wo ich als Besitzer des 'Black Shine' hingehöre, falls ich nicht gerade Papierkram zu erledigen habe oder mich bewusst unter die Gäste mische, um zu hören, ob es irgendwo Probleme oder Sorgen gibt.

Aber danach steht mir derzeit wirklich nicht der Sinn. Mit einem Seufzen trinke ich ein Schluck von dem Bier, das Danny mir ungefragt hingestellt hat, und bemitleide mich nebenbei heimlich selbst.

Was würde ich nicht darum geben, hätte Adrian Macintosh sich bei seinem Einstand bei uns, ein Einstand, der im Übrigen einer Atombombe gleich kam und den keiner meiner Tops und Doms hier im 'Black Shine' jemals vergessen dürfte, anstatt für Connor für mich entschieden. Aber der süße Blondschopf war sich vom ersten Augenblick an hundertprozentig sicher, wen er für sein erstes Mal als Partner will, und in meinem Club haben seit jeher die Subs und Unberührten das letzte Wort.

Wie gesagt, gottverdammter Glückspilz.

Aus dem Augenwinkel sehe ich ein heiteres Grinsen hinter der Bar und werfe dem Übeltäter sofort einen tadelnden Blick zu, der Danny jedoch nicht sonderlich beeindruckt. Er gehört zu meinen Barkeepern und hat irgendwie nichts Besseres mehr zu tun, als mich mit meiner heimlichen Schwärmerei wegen Adrian aufzuziehen, seit er mich zufällig dabei ertappt hat, wie ich dem süßen Blondschopf etwas zu lange nachgestarrt habe.

»Soweit ich weiß, bist du zum Arbeiten hier«, grolle ich, als er leise lacht und nebenbei zwei Bier öffnet und sie zu weiteren Gläsern mit Whisky und einem Cocktail auf ein Tablett stellt, das vor ihm steht.

Danny gluckst, bis Ben, der auf die Bestellung gewartet hat, mit einem ebenso breiten Grinsen verduftet ist, bevor er sich zu mir lehnt, zwinkert und dann verführerisch raunt: »Soweit ich weiß, bist du ein anbetungswürdiger Kerl, und wärst du nicht mein Boss und ich nicht vergeben, würde ich dem Kleinen hier und jetzt mal richtig zeigen, was er verpasst, wenn er statt dir lieber Connor küsst.«

»Der Kleine heißt Adrian Macintosh«, murmle ich und als Dannys Grinsen daraufhin noch breiter wird, ist mir klar, dass ich ihm in die Falle gegangen bin. »Lass das.«

Er gießt ein Glas Chardonnay ein und reicht es an Maxwell Stone weiter, einem Stammgast, der uns bereits die ganze Zeit beobachtet und sich jetzt, weil Danny ans andere Ende der Bar gewinkt wird, zu mir dreht.

»So so, der große, böse Darren Walker hat sich also verliebt. Wie man so hört, hat der heiße Blondschopf dir für immer und ewig den Kopf verdreht und all die kleinen, niedlichen Subs in deinem Club weinen dir bereits Krokodilstränen nach, weil sie ahnen, dass du sie nie mehr in deinen Kerker sperren wirst.«

Genau so etwas habe ich befürchtet. Danny ist ein wirklich toller Barkeeper, aber er kann einfach nichts für sich behalten. Schon gar nicht, wenn es dabei um große Liebe, Gefühle, Herz und Schmerz und ein tolles Happy End geht. Wie ein Kerl wie er, der so sehr an die wahre Liebe glaubt, mit diesem kalten, gefühllosen Fisch, den er seinen derzeitigen Freund schimpft, zusammenleben kann, ist mir ein Rätsel, aber nun ja, die Liebe fällt nun mal dahin, wo sie hinfallen will.

Was auch für Maxwell gilt, der bereits allein ist, seit er das erste Mal ins 'Black Shine' kam, um sich hemmungslos an der Bar zu besaufen. Ich weiß bis heute nicht, was ihn in der Nacht hertrieb, aber mittlerweile ist er einer der Doms mit tadellosen Ruf und sehr beliebt bei den Subs, die hier ein- und ausgehen. Und dennoch bleibt er meistens lieber für sich, abgesehen von wenigen Sessions, die er ab und zu in einem der Privatzimmer genießt. Ich kenne ihn im Grunde kaum, aber ich vertraue ihm, sonst wäre er kein Mitglied meines Clubs, und ich weiß, dass er Ehrlichkeit zu schätzen weiß, deshalb wird er nicht weniger von mir bekommen.

»Und wenn es so wäre?«

Maxwells Augen weiten sich verblüfft, dann fängt er an zu lächeln und klopft mir wohlwollend auf die Schulter. »Du bist so ein Glückspilz. Ich beneide dich jetzt schon.« Er runzelt die Stirn. »Aber wieso hast du dann nicht …?«

»Weil er sich Connor ausgesucht hat«, nehme ich Maxwell die Frage aus dem Mund, denn Adrian ist hier im 'Black Shine' nicht nur mir aufgefallen.

Maxwell nickt. »Hart, aber fair. So kenne ich dich. Weißt du schon, wie du es anfang...?«

Er bricht mitten im Wort ab, als der Pieper an meiner Hose plötzlich mit einem schrillen Pfeifton losgeht. Ach du Scheiße. Das ist der Notruf für die Privatzimmer. Und heute Abend ist nur ein einziges Paar dort.

Ich bin schon auf halben Weg nach hinten, als Niko sich mir im Eilschritt anschließt. Er ist mein bester Türsteher, breit und hoch wie ein Kleiderschrank, und jederzeit bereit, seine Fäuste zu benutzen, wenn sich jemand im Club danebenbenimmt.

Wir erreichen Zimmer 3 zeitgleich mit Evan, ebenfalls einer meiner Türsteher und noch dazu ausgebildeter Sanitäter – für den Fall der Fälle.

»Oh mein Gott«, flüstert Niko schockiert, als wir durch die Tür sind und mir ein einziger Blick auf das Durcheinander von Dildos, Gleitgel und total zerwühlter Bettwäsche ausreicht, um zu wissen, was in diesem Raum gerade passiert ist, und wovor sich jeder gute Dom, Top oder Master insgeheim fürchtet.

Das Blut auf Adrians Körper, der seitlich auf dem Bett liegt, und seine geweiteten Augen sprechen eine ebenso eindeutige Sprache, wie der Schock auf Connors Gesicht, der am anderen Ende des Zimmers nackt auf dem Boden sitzt und nicht fassen kann, was er getan hat. Mein erster Gedanke ist, ihn zu packen und grün und blau zu schlagen. Mein zweiter gilt Adrian, und dem gebe ich dann auch nach, während Niko sich um Connor kümmert. Evan folgt mir und wir zucken beide genauso heftig zusammen wie Adrian, als ich ihn an der Schulter berühre.

»Adrian?« Es dauert einige Zeit, bis er blinzelt und zu mir hochsieht. »Evan ist Sanitäter, er wird dich untersuchen, okay? Er tut dir nichts, versprochen. Ich rufe die Polizei an und einen Krankenwagen.«

»Nein.«

Ich stutze irritiert. »Was?«

Adrian schüttelt leicht den Kopf. »Keine Anzeige, kein Arzt … Ich will keine Polizei.«

Was zur Hölle …? Das kann doch nicht sein Ernst sein. Ich tausche einen Blick mit Evan, der nur die Schultern zuckt, da er durch seinen Beruf natürlich genau weiß, was das bedeutet. In diesem Zimmer wurde soeben jemand vergewaltigt, aber wenn Adrian das weder zur Anzeige bringt noch dazu bereit ist, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen, geschweige denn später gegen Connor auszusagen, wird kein Anwalt auf der Welt eine entsprechende Klage einreichen. Von einer Verurteilung ganz zu schweigen. Und das ist nicht richtig, egal, ob Connor mein bester Freund ist, für den ich im Moment ohnehin nur noch pure Verachtung empfinde.

Ich muss versuchen, Adrian zu überzeugen, gegen Connor vorzugehen. »Adrian, das ist nicht richtig, das weißt du.«

Er nickt, lächelt schwach. »Ich weiß, aber ich bin genauso schuldig wie Connor.«

Herrgott, ausgerechnet dieses Argument bringt er? Ich bin sprachlos und gleichzeitig werde ich langsam stinksauer, denn er ist hier das Opfer, verdammt noch mal. Er ist an gar nichts schuld. Kein Vergewaltigungsopfer, ganz gleich ob Mann, Frau oder Kind ist schuld, wenn sich ihnen jemand aufdrängt. Es ist schlimm genug, dass es selbst in der heutigen Zeit immer noch Menschen gibt, die Frauen in kurzen Kleidern sagen, sie hätten die Tat ja schließlich herausgefordert. Ich werde nicht zulassen, dass Adrian irgendeine Schuld auf sich nimmt, nur weil mein bester Freund nicht fähig war, sich zu beherrschen.

Ruhig bleiben, ermahne ich mich daher selbst, denn es bringt nichts, ihn anzuschreien. »Adrian ...«

»Nein«, unterbricht er mich sofort, sieht zu Evan, schluckt und schließt danach mit einem gequälten Gesichtsausdruck die Augen. »Er darf es sich ansehen. Aber keiner sonst. Und dann will ich nach Hause.«

Nein! Verflucht! Das darf er nicht tun.

Evan sieht mich fragend an und schüttelt sofort den Kopf, als ich den Mund öffne, um Adrian zu widersprechen. Ich will das leise und eindringliche »Das ist allein seine Entscheidung.« von Evan ignorieren, aber ich kann nicht, weil Evan recht hat. Ich lebe nach der Maxime schließlich schon mein halbes Leben lang und ich kann sie nicht einfach infrage stellen, nur weil mir gegen den Strich geht, wie Adrian sie gerade auslegt.

Ob es mir nun gefällt oder nicht, und in diesem Fall gefällt es mir überhaupt nicht, am Ende hat der Sub das Sagen.

Immer.

 

Eine halbe Stunde später ist Adrian mit Niko, der ihn fährt, auf dem Weg nach Hause. Ich habe Niko angewiesen, dafür zu sorgen, dass Adrian in seiner Wohnung ankommt, und so wie ich Nikos Beschützerinstinkt einschätze, wird er Adrian bis in dessen Wohnung begleiten und sich um ihn kümmern, bis der Kleine sicher und behütet im Bett liegt und schläft. Sofern er in dieser Nacht schlafen kann. Aber bestimmt findet Niko auch dafür eine Lösung, ich vertraue ihm.

Mir selbst vertraue ich im Augenblick allerdings überhaupt nicht, darum halte ich einen sicheren Abstand, als Evan wenig später mit Connor in mein Büro tritt, das ich direkt über dem Clubraum habe und wo ich durch eine Fensterfront hinunter auf die Tanzfläche sehen kann. Ich habe hier oben schon einige Männer vernascht und manchmal hat Connor, ein Glas Whisky in der Hand, schweigend in der Ecke gesessen und mir dabei zugesehen. Doch dazu wird es nie wieder kommen.

Connor sieht furchtbar aus, trotz der Dusche, zu der Evan ihn zuvor verdonnert hat, und er trägt andere Kleidung als die, mit der er hergekommen ist. Mit Sicherheit auch eine Idee von Evan, der als Sanitäter schon mit vielen Opfern zu tun hatte.

Für mich ist es allerdings das erste Mal.

Eine Vergewaltigung in meinem Club – ich bin immer noch vollkommen fassungslos.

Evan sieht mich besorgt an, geht aber wortlos, nachdem ich mit dem Kopf zur Tür deute. Ich warte, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, erst dann suche ich Connors Blick, der zu Boden starrt. Doch so leicht wird er mir nicht davonkommen, denn Connor wusste vom ersten Tag an, dass mir Adrian etwas bedeutet. Ich bin so wütend, dass ich kaum noch klar denken kann, und es nur mit Mühe schaffe, meine Hände jetzt nicht zu Fäusten zu ballen und ihn …

Ich atme tief durch. »Sieh mich an!«

Sein Kopf ruckt sofort zu mir hoch und sein Blick ist mehr als eindeutig. Er hat Angst vor dem, was ich jetzt sagen werde, und diese Angst ist auch berechtigt.

Wir sind Freunde. Beste Freunde sogar.

Oder besser gesagt, wir waren es, denn nach dem, was er in der letzten Stunde getan hat, weiß ich absolut nicht, ob ich ihn je wieder ansehen kann, ohne ihn verprügeln zu wollen. Ohne ihn für das zu hassen, was er Adrian angetan an. Selbst wenn ich es wollte, was ich nicht tue, kann ich nicht erlauben, dass er ab sofort noch mal einen Fuß in meinen Club setzt. Das Ganze wird sich herumsprechen und ich würde jedes in mich gesetzte Vertrauen verlieren, würde ich ihm erlauben, weiter im 'Black Shine' Gast zu sein.

Connor und ich, wir haben beide bereits Fehler gemacht im Leben, aber ich hätte nie erwartet, dass einer von uns fähig ist, einen so unentschuldbaren Fehler zu begehen. Connor hätte es besser wissen müssen. Er hätte sich beherrschen müssen. Ganz egal, wie sehr Adrian ihn bedrängt hat, mit ihm zu schlafen, und ich weiß, dass der Kleine genau das getan hat, weil es im 'Black Shine' nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal passiert ist – es ändert nichts. Als Top war es Connors Aufgabe, Adrian zu bremsen und so lange abzuwarten, bis der wirklich zu mehr bereit ist. Doch er hat versagt und darauf gibt es nur eine Antwort.

»Du bist hier nicht mehr willkommen.«

Connors Atem stockt kurz. »Es tut mir ...«

»Sag das Adrian, nicht mir«, unterbreche ich ihn eisig. »Du bist lang genug dabei, um zu wissen, worauf es ankommt. Du weißt, wie sie sein können. Männer, ohne jede Erfahrung sind gefährlich für uns, wenn wir nicht gut auf sie aufpassen. Wie oft hast du mir das selbst gepredigt, Connor? Wie oft?«

Er wird noch blasser, als er ohnehin schon ist. »Darren ...«

Connor verstummt abrupt, als ich zur Tür deute, rührt sich aber nicht, also muss ich wohl deutlicher werden. »Raus hier!«

Sein Entsetzen ist fast mit den Händen greifbar. »Darren ...«

»Halt den Mund!«

Ich lasse ihn nicht ausreden. Ich will seine Entschuldigung einfach nicht hören. Ich kann sie nicht hören. Er hat den Mann vergewaltigt, für den ich Gefühle habe, und er wusste das ganz genau. Er wusste, was Adrian mir hätte bedeuten können, was er für mich hätte werden können. Er wusste, wie vorsichtig wir Erfahrenen mit den Unschuldigen umgehen müssen, um eben genau das zu verhindern, was vorhin geschehen ist.

Er wusste all das. Trotzdem ist es passiert.

Mein bester Freund hat den Mann vergewaltigt, den ich …

Nein, ich will keine Erklärung, keine Entschuldigung, keine Bitten um Vergebung. Ich will nichts davon hören. Nicht heute, nicht morgen, niemals. Ich will nur noch, dass er verschwindet, weil ich ihn wirklich schlagen werde, wenn er es nicht tut, und weil ich nicht sicher bin, ob ich damit wieder aufhören könnte, sobald ich erst einmal angefangen habe.

»Geh, Connor!«

Seine Augen füllen sich mit Tränen. »Verzeih mir.«

Eher friert die Hölle zu, als dass ich ihm diese Tat vergebe. Ich wende Connor den Rücken zu. »Verschwinde aus meinem Club und komm nie wieder her!«

 

 

 

Kapitel 1

Adrian

 

 

 

1 Jahr später

 

Ich muss verrückt sein wieder hierherzukommen, aber ich kann einfach nicht länger fortbleiben.

Nicht nach sechs Monaten Therapie und der Einsicht, dass ich möglicherweise eine enge Freundschaft für immer zerstört habe, nur weil ich unbedingt etwas wollte, wofür ich eigentlich noch gar nicht bereit war.

Niko würde jetzt mit Sicherheit die Augen verdrehen, aber ich weiß tief in mir drin, dass das, was ich vorhabe, richtig ist. Und ich bin mittlerweile wieder gefestigt genug, um es zu tun. Auch etwas, das ich nur Nikos Sturkopf verdanke, der sich in all der Zeit, anfangs sogar ohne Darren davon zu erzählen, um mich gekümmert hat. Der jederzeit für mich da war, als meine Tage immer länger und meine Nächte zugleich immer kürzer wurden, weil ich Nacht für Nacht furchtbare Albträume hatte, bis ich mich am Ende kaum noch traute, überhaupt die Augen zu schließen.

Doch Niko hat den Augenblick erkannt, als es mir zu viel wurde und ich kurz davor stand, mich aufzugeben. An jenem Abend, als ich mit einer Flasche Alkohol und einer vollen Dose Tabletten auf meinem Bett saß, kam er vorbei. Mit leckerem Essen, seiner Gesellschaft, seiner Schulter, als ich schließlich in Tränen ausbrach und dann eine halbe Ewigkeit nicht aufhören konnte zu weinen, und der Telefonnummer eines Therapeuten, der ihm noch einen Gefallen schuldig war. Er hat mein Leben gerettet und das werde ich Niko niemals vergessen.

Ich weiß heute, dass ich an meiner Vergewaltigung damals nicht schuld bin, aber ich bin auch ehrlich genug zu mir selbst, um zu wissen, dass mein kindisches Verhalten schlussendlich dazu führte, dass Connor Alexander die Beherrschung verlor. Ja, es hätte niemals passieren dürfen, auch das weiß ich, aber ich kann nicht einfach alle Schuld auf Connor abschieben, wie Darren es getan hat, bevor er seinen besten Freund aus seinem Club und damit auch aus seinem Leben verbannt hat.

Darren Walker, dieser faszinierende Mann.

Hochgewachsen, sportlich, ein Selfmade-Millionär, der mit Immobilien innerhalb weniger Jahre ein gewaltiges Vermögen angehäuft hat und seit Jahren unzählige Wohltätigkeitsvereine und soziale Projekte für Obdachlose, Ausreißer und überhaupt arme Leute unterstützt.

Mich zum Beispiel, denn er hat meine Therapie bezahlt, die ich mir selbst nie hätte leisten können. Wie auch, wenn ich mir trotz zweier Jobs kaum meine Wohnung leisten konnte. Aber in Chicago gibt es nichts umsonst, für niemanden, und für arme, traumatisierte Studenten schon mal gar nicht. Mein Studium habe ich mittlerweile hingeworfen, worüber Niko not amused war, um es einmal so salopp auszudrücken, aber ich hatte im vergangenen halben Jahr einfach genug damit zu tun, die Kraft zu finden, mich nicht von der nächsten Brücke zu stürzen, und mit jetzt 23 Jahren habe ich noch genug Zeit, eines Tages einen neuen Versuch zu wagen.

Allerdings werde ich definitiv nicht weiter BWL studieren. Das habe ich ohnehin nur meinen Eltern zuliebe getan, weil sie der Meinung waren, mit BWL kann man beruflich so gut wie alles erreichen. Damit haben sie nicht einmal unrecht, aber es ist mein Leben, nicht ihres, und unsere Beziehung ist schwierig geworden, seit sie wissen, dass ich schwul bin. Ich liebe sie, das werde ich immer tun, aber wir haben uns schon ziemlich lange nicht mehr viel zu sagen.

Doch Darren Walker habe ich heute einiges zu sagen, auch wenn ich mich insgeheim davor fürchte, aber es muss sein – für mich selbst, für Darren und vor allem auch für Connor, zu dem ich hinterher gehen werde.

Tief durchatmend halte ich an der Ecke und sehe zum Club hinüber, der auf der anderen Straßenseite liegt. Er ist natürlich noch geschlossen, ich habe mich extra am frühen Nachmittag auf den Weg gemacht, da ich mit Menschenmassen noch nicht gut zurechtkomme, aber ich weiß, dass Niko auf mich wartet und mir öffnen wird, sobald ich ihm die verabredete Nachricht aufs Handy schicke.

Wie aufs Stichwort piept mein Handy und ich ziehe es aus der Tasche, um die Nachricht zu lesen.

Na? Stehst du draußen und traust dich nicht?

Woher weiß er das immer? Ich muss grinsen und verdrehe gleichzeitig die Augen, während ich ihm zurückschreibe, dass er aufhören soll, meine Gedanken zu lesen und mir stattdessen lieber die Tür öffnen. Das macht er danach auch innerhalb der nächsten Minute, während ich die Straße überquere und meine schweißnassen Hände an der Jeans abwische. Ich bin wirklich furchtbar nervös und Niko sieht es mir sofort an, denn er wirft mir das sanfte Lächeln zu, das er irgendwie für mich reserviert zu haben scheint, bevor er mir aufmunternd zunickt und kurz über meinen Handrücken streicht.

Auch etwas, das ich nur dank meiner Therapie inzwischen wieder zulassen kann – leichte Berührungen. Es klappt zwar noch nicht immer, aber es wird besser.

»Ist er schon da?«, frage ich leise und rücke näher an Niko heran, als er Anstalten macht zurückzutreten. Sofort kommt er wieder zu mir und bleibt an meiner Seite, denn er weiß, dass er der Einzige ist, dem ich das derzeit überhaupt erlaube.

»Ja. Brütet im Büro über Papierkram.« Jetzt löst er sich doch von mir und sieht mich prüfend an. »Wie geht’s dir heute? Sei ehrlich, Adrian.«

»Ich habe Angst«, gebe ich mit einem schiefen Grinsen zu, das ihn nicken lässt. »Ja, ich weiß, ich muss keine haben. Schon gar nicht vor Darren Walker, aber sag das mal meinem Kopf.«

Niko tippt mir neckend gegen die Stirn. »Keine Sorge, bald wird er aufhören, große Kerle als Feinde anzusehen. Lass ihm aber ruhig noch ein bisschen Zeit dafür.«

»Du hättest Psychologe werden sollen«, murmle ich, nicht zum ersten Mal übrigens, aber davon will er nichts wissen.

Niko winkt ab. »Ich bleibe lieber ein dummer Russe.«

»Du bist nicht dumm.«

»Stimmt«, sagt er und schmunzelt. »Aber es macht Spaß, es die Leute denken zu lassen. Vor allem die reichen Weißen, die ihre gepuderten oder operierten Näschen so weit oben tragen, dass es beim nächsten Sturm in ihre leeren Köpfe regnet.«

Ich muss ungewollt lachen und boxe ihm spielerisch gegen den Oberarm. Er kann so böse sein, wenn er es will, und leider hat er damit sogar oft recht, ich habe es unzählige Male erlebt, wenn ich mit ihm unterwegs war. Die Menschen sehen in ihm immer nur einen grobschlächtigen Russen mit Akzent, der als Türsteher arbeiten muss, weil er keinen Schulabschluss hat. Sie halten ihn für ungebildet, nur weil er anders aussieht und sich ihre Sprache aus seinem Mund etwas fremdartig anhört. Dabei ist Niko der sanfteste Mensch, den ich kenne, und zudem ist er unglaublich klug und gewitzt. Ich kenne jedenfalls niemanden sonst, der sich in einem Satz über die aktuelle Politik drüben in Washington ärgert und im zweiten darüber schwadroniert, ob Barack Obama es wirklich schaffen wird, das Gefangenenlager Guantanamo zu schließen. Der Mann weiß über alles Mögliche Bescheid, das bei mir nicht mal dann ankommt, wenn ich mir ganz bewusst die aktuellen Nachrichten anschaue.

»Komm schon, Tiger, ich weiß, du schaffst das«, muntert er mich auf und zieht mich ins 'Black Shine', zurück in das diffuse Licht, das ich früher unglaublich erregend fand, weil ich dabei so gut meine Fantasie spielen lassen konnte, während ich mir vorstellte, was ich an diesem Ort noch alles erleben will.

Gott, ich war so jung. So dumm.

Kopfschüttelnd schiebe ich die Erinnerungen zur Seite und halte mich dicht bei Niko, auch wenn überhaupt niemand hier zu sein scheint. Aber die Dunkelheit macht mich einfach noch nervöser, als ich es ohnehin schon bin, und erst im Durchgang, der zu der Treppe führt, die mich nach oben zu Darrens Büro bringt, werde ich ruhiger. An den Wänden leuchten unzählige kleine Lampen, die ein warmes Licht werfen und es damit den gefährlichen Schatten in den Ecken, die mich monatelang fast jede Nacht wachhielten, schwer machen.

»Eins, Eins, Null, Fünf.«

Ich sehe Niko verdattert an. »Was?«

»Der Code für das Türschloss«, antwortet er, umarmt mich ganz kurz und gibt mir danach einen leichten Klaps, der mich auf die unterste Stufe befördert. Ich sehe ihn empört an, aber er grinst nur. »Ihr seid ungestört, ich werde die Getränkelieferung annehmen, die in einer Stunde kommt. Danach wirbelt unsere Putztruppe durchs Haus und wann wir öffnen, weißt du ja. Ich fahre dich nach Hause, wenn du fertig bist.«

»Niko ...«

»Keine Widerrede«, unterbricht er mich und mustert mich einen Moment, ehe er seufzt. »Ich fahre dich auch zu Connor, du unverbesserlicher Sturkopf.«

»Woher …?«

Niko wendet sich lachend ab, ehe ich fragen kann, woher er das schon wieder weiß. Herrgott, wie macht er das? Ich meine, das frage ich mich schon seit Monaten, aber mal ehrlich, das ist doch nicht normal. Kann er wirklich so gut in Menschen lesen, wie ich den Eindruck habe? Oder klappt das nur bei mir, weil ich ein offenes Buch bin? Kopfschüttelnd gehe ich die Treppe nach oben, meinem Verderben entgegen. Ja, das ist übertrieben und völlig theatralisch, ich weiß, aber es fühlt sich gerade so an und mein Therapeut hat mir gesagt, dass es niemals falsch ist, unsinnige Gedanken zuzulassen, solange man sich darüber im Klaren ist, dass sie das auch sind.

Und mir ist grundsätzlich sehr wohl bewusst, dass Darren Walker mich weder fressen noch mir sonst etwas antun wird. Das hätte er nämlich bequemer haben können, indem er nicht meine Therapie bezahlt, sondern einfach nur abgewartet hätte, dass ich mich umbringe. Ich verziehe das Gesicht. Zynischer geht es nun wirklich nicht. Darren hat Niko, nachdem der ihm von meinen Geldproblemen erzählt hatte, regelmäßig nach mir gefragt, um auf dem Laufenden darüber zu bleiben, wie es mir geht, also ist das Mindeste, was ich diesem Mann schulde, ein verdammt großes Dankeschön. Und ich hoffe, er nimmt es mir nicht übel, dass ich vorhabe, ihm gleich nach dem Dankeschön ins Gewissen zu reden, was Connor angeht.

Ich stoße zitternd die Luft aus, als mir auffällt, dass ich vor der Tür stehe und mich nicht ins Büro traue, und tippe danach kurzerhand den Code in das eckige Ziffernkästchen neben der Tür, bevor ich es mir anders überlegen und flüchten kann. Ich flüchte schon viel zu lange. Ein Jahr, um genau zu sein. Damit ist ab heute ein für allemal Schluss.

Darren Walker sieht gut aus hinter seinem Schreibtisch. Es ist so ein großes Stück aus dunklem Holz. Hat vermutlich ein Vermögen gekostet, aber er kann es sich leisten und es passt zu ihm. Ich kann ihn mir jedenfalls nicht an einem Schreibtisch von Ikea vorstellen. Dieser Gedanke bringt mich zum Grinsen und ihn zum Stutzen, als er sich seufzend nach hinten lehnt und dabei feststellt, dass er nicht mehr allein im Raum ist, weil ich beim Eintreten kein Geräusch gemacht habe.

»Ähm … Adrian?«

»Hallo, Mister Walker.«

Er blinzelt verdattert, legt den Kugelschreiber zur Seite und erhebt sich, wobei er instinktiv das weiße Hemd glatt streicht, das ihm wie angegossen passt, was auch für die dunkelblaue Stoffhose gilt. Über der Lehne hängt ein gleichfarbiges Jackett, nach dem er jetzt greift, innehält und dann leise lacht, bevor er es loslässt und mir ein schiefes Grinsen schenkt.

»Entschuldige. Ich bin irgendwie noch bei den Bilanzen, im Übrigen das Langweiligste, was es im Leben eines modernen Geschäftsmannes gibt, finde ich, aber wer fragt mich bitte nach meiner Meinung?«

»Die tausend Leute, die für Sie arbeiten?«

Er gluckst schulterzuckend. »So viele sind es nicht, aber ja, vielleicht hast du recht. Wie kann ich dir …? Moment mal, wie kommst du überhaupt hier rein?«

»Niko hat mir den Code gesagt«, antworte ich und schiebe nervös die Hände in die Taschen meiner abgehalfterten Jeans, die ihre beste Zeit längst hinter sich hat, da ich ihm auf keinen Fall die Hand geben will. Das schaffe ich heute noch nicht und irgendwie spürt Darren Walker das und hält auf dem Weg zu mir abrupt inne, um sich danach stattdessen mit dem Hintern gegen seinen Schreibtisch zu lehnen.

»Ich verhaue ihn später dafür«, grollt er und zwinkert mir dabei zu, was mich kurz grinsen lässt. »Also? Wie kann ich dir helfen? Und sag bitte Darren, nicht Mister Walker, okay?«

Himmel, die Sache ist schwerer als ich gedacht habe, dabei ist er nett und freundlich und offenbar sehr daran interessiert, was ich zu sagen habe, wenn ich seinen Blick richtig deute. Es fällt mir trotzdem unsagbar schwer, ruhig zu bleiben und nicht rückwärts aus dem Raum zu flüchten, weil mich seine Statur einschüchtert, dabei ist oder war, das weiß ich ja nicht, Connor größer und breiter als er. Ihre ganze Art ist allerdings dieselbe und ich schätze, dass vor allem die das eigentliche Problem ist. Seltsam nur, dass ich vor Niko keine Angst habe, denn der hat noch mehr Muskelmasse zu bieten als Connor oder Darren.

»Ich bin gekommen, um mich zu bedanken«, bringe ich am Ende schließlich doch noch heraus und muss anschließend ein paar Mal tief durchatmen, weil mir schlecht wird. »Wegen der Therapie. Weil Sie … Weil du sie bezahlt hast.«

Darren schüttelt den Kopf. »Du musst dich nicht bedanken, Adrian. Du hast Hilfe gebraucht und nachdem, was dir hier im Club passiert ist ...«

»Also hast du es nur aus Schuldgefühlen getan?«, frage ich ruppig und wundere mich im selben Moment, als Darren mich überrascht ansieht, wo meine Abneigung dagegen herkommt, dass er es wirklich nur aus diesem Grund getan haben könnte. Und warum habe ich darüber eigentlich nicht schon viel früher nachgedacht, immerhin ist es logisch. Das 'Black Shine' ist sein Club und Connor sein Freund. Es geht um seinen Ruf und den will Darren natürlich nicht beschädigt wissen. Also nicht mehr, als es unbedingt nötig ist.

»Nein, Adrian«, antwortet Darren ernst und macht es jetzt mir nach, indem er seine Hände ebenfalls in den Hosentaschen verschwinden lässt. »Ich habe es getan, weil du dringend Hilfe brauchtest. Hilfe, die weder ich, Niko oder Connor dir je hätten geben können.« Er schnaubt kurz. »Er hätte dir wahrscheinlich einen Sonderpreis gemacht.«

Ich weiß genau, wen er meint und mir gefällt absolut nicht, wie finster er jetzt dreinschaut, während er an Connor denkt. »Hör auf damit«, fordere ich daher und schüttle den Kopf, weil er mir widersprechen will. »Nein, Darren Walker, das wirst du nicht tun. Du wirst ihm keine neuen Vorwürfe machen und du wirst mir auch nicht sagen, was ich zu denken habe. Ich hatte ein Jahr Zeit, mir darüber klarzuwerden, was ich denke. Ja, die Sache lief aus dem Ruder. Ja, ich wurde vergewaltigt. Nein, ich gebe Connor nicht komplett die Schuld daran.«

»Adrian!«

»Nein!«, brause ich genauso auf wie Darren, obwohl es mir Angst macht, als er sich vom Schreibtisch abstößt und mit den Händen durchs Haar fährt, dabei wild den Kopf schüttelnd, so als könne er nicht glauben, dass ich mir immer noch die Schuld gebe. Zumindest einen Teil der Schuld. »Es ist einzig und allein meine Entscheidung.«

»Wieso?«, zischt er und sieht mich finster an. »Wieso willst du ihn nicht anzeigen? Er hätte es verdient.«

»Er ist dein Freund.«

»Nicht mehr.«

»Macht eine Anzeige irgendetwas besser, Darren?«, will ich wissen und nicke, weil er verärgert schnaubt. »Eben, das tut es nämlich nicht. Es ändert nichts. Schon gar nicht bei Schwulen … Oder willst du mir jetzt wirklich weismachen, dass du noch nie mitbekommen hast, wie man männliche Opfer behandelt? Und wenn die dann auch noch schwul sind und in einen Club wie deinen gehen ...« Ich breche ab, als er plötzlich blass wird. »Das war nicht der Hauptgrund für meine Weigerung, aber es hat mich in meiner Entscheidung nur bestärkt. Ich wollte nicht, dass in einer Akte mein Name steht. Ich wollte nicht, dass das Ganze durch einen Prozess vielleicht publik wird und Connor einfach alles verliert, was er sich aufgebaut hat. Du weißt, wo er arbeitet und was er dort in Zukunft alles erreichen kann. Ich hatte ihn wirklich gern, Darren, und irgendwie ist das immer noch so. Vielleicht bin ich nicht ganz dicht, mag sein, aber er ist mir wichtig, genauso wie Niko oder du oder Danny. Ich war so gerne in deinem Club, behaupte jetzt ja nicht, dass du das nicht gewusst hast.«

»Natürlich wusste ich das«, flüstert er und sinkt mit einem tiefen Seufzen zurück gegen den Schreibtisch. »Du hast ständig gelacht und bist förmlich aufgeblüht. Jedes Mal habe ich euch zusammen beobachtet und mir gesagt, der Junge wird zu den Glücklichen gehören, die ein perfektes, erstes Mal erleben, weil ich wusste, wie Connor zu seinen Partnern ist, und ich war so neidisch auf ihn, als du ihn erwählt hast. Gott, der ganze Club ist vor Neid gestorben, als du Connor gewählt hast. Und dann hat er …« Darren bricht ab und fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich kann einfach nicht … Wie konnte er dir das antun? Ausgerechnet er, der ganz genau weiß, wie wichtig das gegenseitige Einvernehmen beim Sex ist. Das werde ich diesem Mistkerl niemals verzeihen.«

Er tut mir so leid, weil er sich genauso quält, wie Connor es vermutlich seit jener Nacht tut, aber auch seine harschen Worte werden nicht das Geringste an meiner Entscheidung ändern. Und ich hoffe sehr, dass er mit der Zeit erkennt, dass das, was er tut, verkehrt ist. Nicht nur wegen Connor, nein, vor allem seinetwegen. Wütend zu sein ist das Eine, aber sich so sehr auf seine Wut zu versteifen, ohne dabei auch nur ansatzweise mal zu hinterfragen, wie es dazu kommen konnte, das ist definitiv nicht gesund für die Psyche. Der Meinung ist im Übrigen nicht nur mein Therapeut, der es schließlich wissen muss. Niko sieht das genauso und der hat Darren immerhin tagtäglich praktisch direkt vor der Nase.

»Tja«, sage ich leise, wohl wissend, welche sprichwörtliche Bombe ich gleich hochgehen lasse, aber ich bin weiter fest dazu entschlossen, »dann werde wohl ich derjenige sein, der das mit dem Verzeihen übernehmen muss.«

Darren erstarrt und nimmt abrupt die Hände vom Gesicht, um mich ungläubig anzustarren. »Du willst bitte was tun?«

»Darum bin ich hergekommen. Um mich zu bedanken und dir das zu erzählen«, erkläre ich ihm ruhig, obwohl in meinem Inneren ein wahrer Aufruhr herrscht. »Ich kann so nicht länger leben. Ich will nicht länger vor mir selbst davonlaufen. Und ich will nicht, dass er sich ewig schuldig fühlt. Ich kann ihn nicht dafür hassen oder ihm die Freundschaft aufkündigen, wie du es vor einem Jahr getan hast. So bin ich nicht. So will ich auch niemals sein. Darum wird Niko mich gleich zu Connor fahren, damit ich ihm dasselbe sagen kann wie dir.« Ein letztes Mal tief durchatmen, dann sehe ich ihn ernst an. »Ich verzeihe dir, was mir in deinem Club widerfahren ist und wogegen du nicht das Geringste hättest tun können.«

Darren klappt völlig fassungslos die Kinnlade runter, aber ich werde nicht warten, bis er seine Stimme wiederfindet. Nach einem kurzen Lächeln in seine Richtung mache ich kehrt und verlasse sein Büro ohne ein weiteres Wort. Ich habe getan, was ich hier unbedingt tun wollte, und wenn es mir nachher noch gelingt, dasselbe bei Connor zu tun, kann ich wirklich endlich anfangen loszulassen und nach vorn zu schauen. Ein Jahr habe ich gebraucht, um zu lernen, mit jener Nacht, die anfangs so wunderbar war und dann zu einem wahren Horrortrip wurde, umzugehen, und ab morgen werde ich mir in Ruhe überlegen, wie mein zukünftiges Leben aussehen soll.

 

 

 

Kapitel 2

Darren

 

 

 

 

Am späten Abend steht Niko pünktlich an seinem Platz vor der Tür und verhindert damit effektiv, dass ich ihn mir greife und erwürge.

Was hat er sich bloß dabei gedacht, Adrian diesen Floh mit der Vergebung in den sturen Kopf zu setzen und diesen dann auch noch auf Connor auszuweiten? Als hätte der Kleine nicht schon genug durchgemacht. Wie kann mein bester Türsteher und irgendwie auch Freund, sofern er mir nicht gerade wieder den letzten Nerv raubt, es wagen und …?

Knurrig mache ich kehrt, als mir klar wird, dass ich schon wieder, das dritte Mal mittlerweile, auf dem Weg zur Tür bin, um mir Niko vorzuknöpfen. Mein Weg an der Bar vorbei wird mit mehrfachem Kopfschütteln und besorgten Blicken meiner Barkeeper begleitet und ich sehe noch aus dem Augenwinkel, wie Danny mit einem Kollegen zu tuscheln beginnt. Aber nein, ich will es nicht wissen. Ich will nur eins wissen, und zwar, wie ich an Niko herankomme, um ihm den verräterischen Hals ein Stück umzudrehen, weil er nicht weniger verdient hat. Und im Anschluss daran, wenn ich seinen Hals wieder zurückgedreht habe, wird er mir gefälligst haarklein erzählen, wie er Adrian zu Connor gebracht hat und was dort vorgefallen ist.

Nun ja, sofern er das überhaupt weiß. Andererseits ist Niko durchaus zuzutrauen, dass er behauptet, von nichts zu wissen, obwohl er mit beiden gesprochen hat. Wenn der sture Russe nicht reden will, dann will er nicht reden. Schon gar nicht mit mir. Da kann ich sein Boss sein, soviel ich will.

Schlecht gelaunt kehre ich in mein Büro zurück, um mich endlich weiter um den anliegenden Papierkram zu kümmern, aber ich kann mich nicht konzentrieren und gebe ruckzuck auf, um stattdessen durch die Fenster nach unten auf die randvolle Tanzfläche zu schauen. Für einen normalen Wochentag ist viel los heute, aber morgen und am Wochenende, wenn wir wieder unsere beliebten Themennächte anbieten, wird noch viel mehr los sein. Die Nude-Night ist jeden Monat ein Renner, bei Jung und Alt gleichermaßen, denn wann gibt es schon mehr nackte Haut zu bewundern als an einem Abend, der höchstens Hose und Schuhe erlaubt, und selbst das gilt bei den Stammgästen mittlerweile als verpönt. Die meisten kommen in knappen und nicht viel der Fantasie überlassenden Strings, was allerdings so manches Mal nicht wirklich hübsch anzuschauen ist. Aber ich muss ja nicht hinsehen. Im 'Black Shine' ist jeder willkommen, egal wie perfekt oder unperfekt seine Figur ist, egal wie alt er ist, egal welche Spielarten er bevorzugt.

Ich runzle die Stirn, als ein Paar auf der Tanzfläche in einen Streit gerät, aber bevor ich nach meinem Handy greifen kann, sind bereits Ty und Garrett vor Ort, zwei weitere Jungs meiner Securitytruppe, und sie bekommen ruckzuck neue Arbeit, als ein Gast ein paar Meter weiter Ben entschieden zu nahe kommt und der sich das vehement verbittet.

Wenig später tanzt das Paar, als wäre nichts gewesen, und der aufdringliche Gast ist vor die Tür gesetzt. Sehr gut. Mein Team ist wirklich erstklassig und ich sollte ihnen vielleicht mal wieder einen kleinen Bonus gönnen. Geld habe ich schließlich genug, was mich ein weiteres Mal daran erinnert, dass sich auf meinem Schreibtisch die Arbeit stapelt.

Seufzend wende ich mich wieder den Papieren zu, um nach fünf Minuten erneut frustriert aufzugeben. Was interessieren mich Marktanalysen, Gewinnprognosen und Ausschüttungen an den Vorstand des Immobilienunternehmens, das ich gerade aufkaufen will, wenn meine gesamte Konzentration auf einem süßen Blondschopf liegt, der mir vorhin so kräftig die Leviten gelesen hat, dass ich selbst jetzt noch schwanke, ob ich deshalb sauer auf ihn sein oder ihn dafür bewundern soll. Zumindest sollte ich ihm kräftig den Arsch versohlen. Stolz kann ich dann ja immer noch auf ihn sein.

Herrgott, ich muss wirklich damit aufhören, mir Adrian an meiner Seite vorzustellen. Das mache ich jetzt seit einem Jahr, und was hat es mir, außer jeder Menge Frust im Bett, weil ich mittlerweile nicht mal mehr Lust auf einen One-Night-Stand oder eine kleine Session habe, eingebracht? Nichts.

Dabei würde er so perfekt an meine Seite passen. Ich hätte endlich meine Ruhe vor den ständigen Verehrern, männlichen wie weiblichen, dabei habe ich aus meiner Homosexualität nie einen Hehl gemacht, seit ich reich geworden bin und mir am sprichwörtlichen Arsch vorbeigeht, was andere Menschen über mich denken. Trotzdem versuchen immer wieder Frauen bei mir zu landen, die einen reichen Ehemann suchen, während es bei den Männern eher die jungen Hüpfer sind, die auf einen älteren Sugardaddy aus sind. Gegen letzteres habe ich nicht mal etwas einzuwenden, aber ich will Exklusivität und ich will einen Partner, der zu mir passt und der mich nicht nur wegen meines Geldes will.

Adrian wäre der Richtige, das weiß ich einfach, nur wie soll ich ihn von mir überzeugen? Und soll ich es überhaupt? Oder wäre es besser abzuwarten, bis es ihm wieder besser geht? Bis er sein Leben allein auf die Reihe bekommen hat? Er ist mir nie wie einer dieser Jungs vorgekommen, die einen Master suchen, der ihr Leben plant, aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, könnte es genau so sein. Ich habe Adrian heute das erste Mal seit einem Jahr wiedergesehen, und davor kannte ich ihn auch nur wenige Wochen. Ich erinnere mich, dass Connor mir von einem Studium erzählte, das Adrian angefangen hat, aber ob er das weitergeführt hat, weiß ich ebenso wenig, wie ich über die Schwere seiner Geldprobleme Bescheid weiß, die Niko mal in einem Nebensatz erwähnt hat, kurz nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, Adrians Therapie zu bezahlen, weil er keine Krankenversicherung hat und trotz mehrerer Jobs kaum über die Runden kam.

Im 'Black Shine' und in meiner Firma gibt es das nicht, ich habe für sämtliche meiner Mitarbeiter Krankenversicherungen abgeschlossen, weil mir das wichtig ist und weil ich will, dass jeder, der für mich arbeitet, in der Hinsicht abgesichert ist.

Ein Räuspern hinter mir lässt mich zusammenzucken, ehe ich herumfahre und resigniert aufstöhne, weil Niko mich beim Träumen erwischt hat und mir mit einem missbilligenden Blick gerade sehr deutlich zeigt, was er davon hält, weil er natürlich weiß, wer das Objekt meiner Träumerei mit offenen Augen war und er sich wahrscheinlich nicht scheuen wird, mir eiskalt die Faust ins Gesicht zu schlagen, sollte ich es jemals wagen, mich Adrian gegenüber nicht anständig zu benehmen, was natürlich ebenfalls voraussetzt, dass der heiße Blondschopf eines Tages das ist, von dem ich mir schon wünsche, dass er es wird, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe – mein Ehemann.

Ich straffe die Schultern, da ich meinem eigenen Türsteher nicht gegenübertreten werde wie ein beleidigter Teenager, den man beim Diebstahl von Kaugummi erwischt hat. »Ja, Niko?«

»Lass den Scheiß«, murrt er, verschränkt seine muskulösen Arme vor der Brust und lehnt sich hinterher mit dem Rücken gegen die Tür. »Wir müssen reden, Boss.«

Boss? So nennt er mich normalerweise nur, wenn es Ärger gibt. Ich runzle die Stirn. »Okay? Ich bin ganz Ohr, wenn mein bester Mann mir ...«

»Verdammt, hör endlich mit diesem Tonfall auf, Darren!«, fährt Niko mir abrupt über den Mund und ich bin davon so überrascht, dass ich ihn sprachlos anstarre, woraufhin er leise seufzt. »Boss, ernsthaft, hör gefälligst damit auf, uns von oben herab zu behandeln. Das kannst du mit diesen Anzugtypen in deinen Versammlungen machen, wenn du wieder losziehst um irgendwas Großes zu kaufen, aber nicht hier. Nicht im 'Black Shine'. Das bist nämlich nicht du und ich werde nicht zulassen, dass dieser Vorfall vom letzten Jahr dich in einen ganz anderen Menschen verwandelt … Du hörst mir jetzt zu!«, braust er auf, als ich ihm widersprechen will. »Ich verstehe dich. Ja, das tue ich wirklich. Das tut jeder hier im Club, da jeder von uns nach dieser Nacht monatelang stinksauer auf Connor war. Doch mit der Zeit lässt das nach und das muss es auch, weil alles andere einen irgendwann kaputt macht. Ich wollte Connor genauso an die nächste Wand klatschen wie du, aber nach einer Weile habe ich angefangen hinzusehen. Genau hinzusehen. Und zwar bei Adrian. Wir kannten ihn ein paar Wochen, ehe alles schiefging, ich kenne ihn mittlerweile seit Monaten und glaub mir, wenn ich sage, der Kerl könnte sogar einen Heiligen verführen, wenn er es darauf anlegen würde. Er hat dieses Unschuldige, das ihn so anziehend macht. Du weißt genau, wovon ich rede, leugne es ja nicht.«

Ja, da hat er recht. Ich nicke. »Ich weiß, was du meinst. Man sieht ihn nur an und will ihn sofort und für immer vor allem Unheil auf der Welt beschützen.«

Niko nickt zufrieden. »Ja. Und das hat sich noch gesteigert seit letztem Jahr, auch wenn Adrian das selbst wirklich absolut nicht bewusst ist. Dafür hat er im Moment viel zu viel Angst. Doch damals gab es diese Angst bei ihm nicht und ja, Connor hätte es besser wissen müssen, da gebe ich dir recht, da gibt dir jeder recht, nur kann ich mittlerweile verstehen, warum er die Beherrschung verloren hat, weil ich gesehen habe, was Adrian nur mit einem Lächeln bei anderen anrichten kann. Ein Junge wie er«, Niko grinst mich schief an und zuckt anschließend die Schultern, »Jungfrauen und Heilige, weißt du noch?«

Ich muss ungewollt grinsen, weil ich weiß, worauf er damit anspielt. Das kam ursprünglich mal von Connor, als wir vor einigen Jahren ernsthaft darüber diskutierten, warum schwule, junge Männer, die noch nie geküsst worden waren und zudem noch nie Sex hatten, auf uns Ältere oft so verführerisch wären, wie die Heilige Jungfrau für die Kirche und ihre Gläubigen. In der Hinsicht ist verführerisch vielleicht nicht das richtige Wort, aber es trifft bei uns definitiv zu, denn ich erinnere mich noch verdammt gut daran, wie viele Kerle sich Adrian förmlich an den Hals warfen, als er das erste Mal ins 'Black Shine' kam. Er hätte jeden Abend an jedem Finger einen neuen Mann für eine Nacht oder auch mehr haben können und doch hat er sich nur für einen entschieden – Connor.

»Ich soll Connor also einfach verzeihen, was er getan hat, nur weil er sich nicht beherrschen konnte, und anschließend so tun, als wäre nie etwas passiert?«

»Nein, du Idiot«, grollt Niko und verdreht die Augen. »Du sollst mit ihm reden. Dir seine Seite anhören. Genauso wie du dir früher oder später Adrians anhören solltest. Sie haben das zusammen verbockt, Darren. Ich rede dabei auch gar nicht von vergeben und vergessen, ich spreche nur vom Verstehen. Er ist dein bester Freund und du vermisst ihn, ganz gleich, wie sehr du seit Monaten über ihn schimpfst. Und wo wir hier gerade so offen und ehrlich zueinander sind, du gehst deinen eigenen Leuten mittlerweile furchtbar auf die Nerven.«

»Bitte?«, frage ich empört und Niko lacht, bevor er sich von der Tür abstößt und sie öffnet, um mich stehenzulassen. »Jetzt warte doch mal. Du kannst nicht einfach ...«

»Frag Danny, der wird es dir bestätigen. Deine Laune ist an manchen Tagen jenseits von Gut und Böse, und das fällt längst nicht mehr nur uns auf. Oder ist dir entgangen, dass Stone seit fast einem Monat keinen Fuß mehr in den Club gesetzt hat?«

Nein, das ist mir keineswegs entgangen und ich stand kurz davor, bei ihm anzurufen und zu fragen, ob es ihm gut geht, da es völlig untypisch für Maxwell ist, so lange nicht in den Club zu kommen. Dass seine Abwesenheit aber offensichtlich an mir liegt, damit habe ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet. Ich runzle die Stirn und Niko betrachtet mich nachdenklich, die Hand am Türgriff.

»Adrian tut das Richtige, indem er Connor verzeiht und dann neu anfängt, Darren.« Er hebt warnend eine Hand, als ich den Mund öffne. »Nein! Es reicht. Du bist nur so verbohrt, weil du in den Kleinen verliebt bist, aber er braucht keinen Ritter in einer schimmernden Rüstung, der ihn vor der Welt beschützt, sondern einen Freund, der ihn versteht und für ihn da ist, denn auch wenn es dir möglicherweise nicht aufgefallen ist, Adrian hat Angst vor dir. Seit letztem Jahr fürchtet er sich vor dunklen Räumen, vor Schatten, vor Menschen, vor lauten Stimmen und besonders vor großen, starken Männern, wie wir das nun mal sind. Männer wie Connor. Und deine unterschwellige Wut auf Connor macht Adrian erst recht Angst, obwohl er versucht hat, sich das heute nicht anmerken zu lassen. Er mag Kerle wie uns und Connor ist ihm wichtig. Du bist ihm im Übrigen auch sehr wichtig, obwohl sein Verstand sich derzeit noch weigert, sich näher mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen. Und bevor du danach fragst, das weiß ich von seinem Therapeuten, der mir etwas schuldig war.« 

Moment mal, wie bitte? Ich starre Niko wütend an. »Dir ist doch hoffentlich klar, dass Gespräche zwischen Therapeut und Patient vertraulich sind?«

Niko grinst frech. »Ja. Genauso klar wie dir ist, dass du den seit Monaten im Selbstmitleid badenden Kerl vermisst, der mal dein bester Freund war.« Als ich nur schnaube, wird er sofort wieder ernst. »Ich war einige Male bei ihm in den vergangenen Wochen. Er weiß nichts davon, weil ich ihn nur aus der Ferne beobachtet habe, aber was ich dort sah, hat mich erschreckt, Darren.«

»Wie ist das gemeint?«, frage ich beunruhigt, weil mir sein besorgter Blick nicht gefällt. Niko ist kein Mann, der übertreibt oder Dinge aufbauscht. Wenn er sich so unübersehbar Sorgen um jemanden macht, dann gibt es dafür immer einen verflucht guten Grund.

»Fahr zu ihm.«

Ich schüttle störrisch den Kopf und da tritt Niko dicht vor mich und tippt mir auf die Brust, in der Höhe meines Herzens. »Du kannst bockig sein, soviel du willst. Du kannst ihn auch anschreien, soviel du willst. Von mir aus fahr hin und hau ihm eine runter, wenn du dich dann besser fühlst. Verdient hätte er es ohnehin. Egal, was du tust, Hauptsache, du fährst hin. Und tu es bald, Darren. Denn wenn du nicht endlich deinen feigen Hintern hoch bekommst, wird er Patrick folgen.«

»Feiger Hintern? Du … Moment, was?«

Ich atme scharf ein. Was hat er eben gesagt? Nein. Das kann nicht sein. Nikos Blick ist allerdings unmissverständlich, als ich erneut den Kopf schüttle, und anschließend läuft es mir eiskalt den Rücken runter, bei der Vorstellung, dass Connor vielleicht sterben könnte. Dass er denselben endgültigen Weg wählt, wie sein Bruder es damals getan hat. Großer Gott. Nein! Das werde ich nicht zulassen. So wütend ich auf ihn auch bin, er wird sich nicht einfach aus dem Leben davonstehlen, das kommt auf gar keinen Fall infrage.

»Hast du noch den Schlüssel zu seinem Haus?«, fragt Niko, während ich hin- und hergerissen bin, ob ich alles stehen- und liegenlassen soll, um noch heute zu Connor zu fahren, oder ob es nicht besser wäre, bis morgen zu warten. Aber seine Frage nach dem Schlüssel ist eindeutig, Niko will nicht abwarten und ich schätze, das ist mein Stichwort.

»Ja.«

Er geht zur Tür und zieht sie auf. »Na los. Wir kommen für den Rest des Abends auch ohne dich klar.«

Ich halte das für keine gute Idee, bei meiner Laune, sobald ich nur an Connor denke. »Niko, das ist ...«

»Und du wirst dich bei deinen Mitarbeitern für dein mieses Benehmen in den letzten Wochen entschuldigen«, fällt er mir ungerührt ins Wort und deutet dann mit strengem Blick in den Flur. »Komm mir jetzt ja nicht mit der Ausrede, dass das keine gute Idee ist, weil du gerade sauer auf ihn bist. Du bist von uns immerhin derjenige gewesen, der ihm letztes Jahr vorgeworfen hat, sich bei Adrian nicht beherrscht zu haben. Tja, mit gutem Beispiel voran, nicht wahr?«

Er nutzt meine eigenen Argumente gegen mich? Also jetzt schlägt´s aber gleich dreizehn. »Niko!«

»Boss!«

Ich ziehe unwillkürlich den Kopf ein. Den Tonfall kenne ich und es ist besser, jetzt nicht weiter mit Niko zu streiten, weil es sonst unschön wird. »Ich gehe ja schon«, nörgle ich daher und trete an ihm vorbei in den Flur. »Allerdings will ich, dass im schriftlichen Protokoll mit Rotstift vermerkt wird, dass ich mit deinem herrischen Befehlston nicht einverstanden bin.«

»Wir sind nicht bei Star Trek, hier gibt es kein Protokoll!«, kontert Niko eisig und wirft mir dann kurzerhand die Tür vor der Nase zu, bevor ich reagieren kann.

Ist das zu fassen? Ich stemme entrüstet beide Hände in die Seiten. »Das ist immer noch mein Büro!«

»Du bekommst es wieder, wenn du brav warst und deinem Freund verziehen hast.«

Also das ist doch wohl … »Niko!«

Die Tür wird mit einem unüberhörbaren Klicken verriegelt. »Abmarsch, Boss!«

Er sperrt mich aus meinem eigenen Büro aus, gibt es denn so was? Der Kerl ist Türsteher, verdammt noch mal, nicht mein schlechtes Gewissen. Wobei er mir das gerade sehr erfolgreich eingeredet hat, das muss ich ihm lassen. Russischer Mistkerl. Mit einem wüsten Fluch auf den Lippen mache ich kehrt, eile die Treppe runter und aus dem Club. Den Ersatzschlüssel für Connors Haus muss ich erst aus meinem Apartment holen und das wird eine Weile dauern. Hoffentlich reicht die Zeit aus, um mich innerlich ein bisschen abzukühlen, sonst dürfte das Erste, was Connor von mir sieht, wirklich eine Faust sein, die auf sein Gesicht zurast.

 

 

Kapitel 3

Adrian

 

 

 

 

Vielleicht hätte ich Niko doch bitten sollen zu bleiben, denn er hätte es problemlos geschafft, Connor ins obere Stockwerk in sein Schlafzimmer zu bringen und dafür zu sorgen, dass er ins Bett kommt. Stattdessen liegt der Mann, der mir vor einem Jahr so große Schmerzen beschert hat, jetzt auf seiner Couch im Wohnzimmer und schläft dort seinen Rausch aus, da ich, selbst wenn ich mich im Laufe des Abends dazu hätte durchringen können, Connor anzufassen, körperlich nie und nimmer in der Lage wäre, ihn die Treppe hochzuschaffen.

Ich hätte nicht so lange warten dürfen.

Ich hätte viel früher herkommen und verhindern müssen, dass er sich fast zu Tode trinkt.

Kopfschüttelnd sammle ich im gesamten Zimmer nach und nach insgesamt vierzehn leere Bierflaschen ein, ziehe hinterher unter dem Couchtisch eine leere Wodkaflasche hervor, dicht gefolgt von einer Whiskyflasche, deren Inhalt sich zum Teil auf den Teppich ergossen hat, und stelle alle Flaschen neben einen vermutlich seit Tagen überquellenden Mülleimer, der in einer riesigen Küche steht, die Connor früher vermutlich gerne zum Kochen benutzt hat, wenn ich mir das hohe Gewürzregal, die vertrockneten Kräuter in ihren farbenfrohen Töpfen auf dem Fensterbrett und den breiten Messerblock so ansehe, doch jetzt ist der ganze Raum nur noch eine einzige Müllhalde, voll mit leeren Essensverpackungen vom Chinesen, an dem wir auf dem Weg hierher vorbeigekommen sind, und Pizzaschachteln von diversen Lieferdiensten.

Seufzend begutachte ich das Chaos, entscheide mich jedoch dagegen, es gleich aufzuräumen. Stattdessen gehe ich zurück in den Flur und finde nach kurzem Suchen einen Vorratsraum oder eher Hauswirtschaftsraum, in dem neben Waschmaschine und Trockner auch Putzzeug zu finden ist, und das brauche ich jetzt, um das ekelhaft stinkende Erbrochene wegzuwischen, an dem Connor vorhin fast erstickt wäre, während er gleichzeitig vor lauter Tränen kaum reden konnte.

Gott im Himmel, er tut mir so leid. Dabei sollte ich wütend auf ihn sein. Ich sollte ihn schlagen und anschreien, aber nichts davon habe ich getan, weil ich den Ausdruck in seinen Augen nicht mehr aus dem Kopf bekomme, als er erkannte, wer da an seiner Haustür geklingelt hat.

In einem Moment hat er mich mit blutunterlaufenen Augen und aufgedunsenem Gesicht angestarrt, im nächsten lag er vor mir auf dem Boden und weinte, während er versuchte Worte zu bilden und sich bei mir zu entschuldigen. Immer wieder und wieder, bis mir schließlich klar wurde, dass er kurz davor stand, vollends die Nerven zu verlieren. Und da habe ich alles vergessen, was ich Connor hatte sagen wollen, und stattdessen seine Hand genommen und ihm wiederholt versichert, dass ich weiß, dass es ihm leidtut und dass ich ihm verzeihe. Es hat ewig gedauert zu ihm durchzudringen und noch viel länger, um ihn dann auf die wackligen Beine und ins Wohnzimmer zu bringen. Es wäre besser gewesen, ihn ins Bad zu schaffen, aber hinterher ist man ja bekanntlich immer klüger.

Die ganze Zeit betont durch den Mund atmend, säubere ich notdürftig den Eingangsbereich und werfe danach alles in eine Waschmaschine, die ich gerne einschalten würde, aber ich habe so ein modernes Teil noch nie gesehen und bevor ich sie kaputt mache, lasse ich lieber die Finger davon.

Und was mache ich jetzt?

Ich kann ihn auf keinen Fall alleinlassen, wer weiß, was er anstellt, wenn er wach wird und merkt, dass ich nicht mehr da bin. Vielleicht glaubt er dann, nur geträumt zu haben, und ich will wirklich nicht dafür verantwortlich sein, dass das Connor noch mehr zusetzt. Er sieht jetzt schon schlimm aus und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch ein bisschen Angst, dass er sich etwas antut. Niemand, der noch bei klarem Verstand ist, säuft sich so die Hucke zu. Von dem verdreckten Haus mal ganz zu schweigen. Ich habe den Eindruck, dass es ihm heute so geht, wie mir vor einem halben Jahr, ehe ich mit der Therapie anfing, nachdem ich durch Nikos Unterstützung endlich eingesehen hatte, dass ich es allein nicht schaffe.

Ich gehe langsam zurück ins Wohnzimmer, um einen Blick auf Connor zu werfen und mich zu vergewissern, dass es ihm gut geht, aber er schläft immer noch, Gott sei Dank, und mein Weg führt mich weiter in die Küche. Sie ist ein wahrer Traum und nicht viel kleiner, wie meine gesamte Wohnung. Dazu der offene Durchgang in den Essbereich, an den sich ebenso offen das Wohnzimmer anschließt. Die Küche hat sogar eine Tür, die auf die Terrasse führt. Unglaublich. Da kann meine Bruchbude von Ein-Zimmer-Wohnung nicht mal ansatzweise mithalten.

»Himmel, das stinkt«, murmle ich angewidert und ziehe im nächsten Moment, obwohl es mitten in der Nacht ist, die Tür zur Terrasse auf, um frische Luft reinzulassen.

Und danach schiebe ich die Ärmel meines Shirts hoch und mache mich an die Arbeit. Irgendwas muss ich tun, während ich darauf warte, dass Connor aufwacht, also kann ich genauso gut ein bisschen aufräumen. Aber zuerst bekommen die armen Pflanzen im Haus etwas Wasser. Für die Küchenkräuter kann ich nichts mehr tun, aber die kleinen Bäumchen und Palmen in der Küche und im Wohnzimmer erholen sich vielleicht.

Nach kurzem Zögern sehe ich auch im Obergeschoss nach und gieße dort ebenfalls die wenigen Pflanzen, öffne Fenster, staple dreckige Wäsche zu mehreren Bergen direkt neben der Waschmaschine auf und mache mich zum Schluss an die mehr als eklige Küche. Allein um den Abfall rauszuschaffen, brauche ich ganze vier Müllbeutel, die leeren Flaschen lasse ich jedoch stehen. Connor soll sehen, wie viel er in letzter Zeit getrunken hat. Hoffentlich schockiert ihn das so sehr, dass er in Zukunft die Finger vom Alkohol lässt. Es wäre das Beste für ihn, sofern er vorhat, je wieder in seinem Beruf zu arbeiten. Ich frage mich ohnehin, was er in den vergangenen Monaten so getrieben hat, denn als Therapeut war er in seinem Zustand ganz sicher nicht tätig. Seine Patienten wären vor ihm davongerannt.

Aber das geht mich im Grunde ja überhaupt nichts an und ich werde mich hüten, ihn danach zu fragen. Ich sollte mir viel eher mal überlegen, was ich in nächster Zeit beruflich tue, weil das Haus hier definitiv ein Ort wäre, an dem ich mich richtig wohlfühlen könnte. Es ist Utopie, ich weiß, so viel Geld werde ich nie verdienen, um mir so etwas leisten zu können, aber es sollte doch wenigstens für mehr reichen, als für eine beengte, zugige Bruchbude, bei der meine Mutter vermutlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde, wüsste sie, wie ich seit Jahren hause. Aber mein Studium war nun mal nicht billig, trotz Stipendium, und meine Eltern einfache Leute. Sie haben immer alles getan, um mir so viel es geht zu ermöglichen, aber Chicago ist nun mal keine Kleinstadt, wo man mit weniger als tausend Dollar im Monat auskommen kann, sofern man keine Familie zu versorgen hat.

Ich brauche einen Job. Einen richtigen. Kein Einräumen von Kisten, kein Abwaschen von Tellern oder Sitzen an der Kasse. Verdammt, ich habe doch kein Stipendium erhalten, weil ich so dumm war. Im Gegenteil. Ich habe die Highschool als einer der Besten abgeschlossen, aber wahrscheinlich hätte ich mich von Anfang an gegen BWL entscheiden sollen. Vielleicht hätte ich schon damals das tun sollen, was ich eigentlich immer wollte – nämlich etwas mit Werbung. Ich wollte diese bunten Anzeigen erstellen, mit denen Unternehmen werben. Ich wollte helfen, Geschäfte nach außen hin möglichst gut aussehen zu lassen. Ich wollte die Firmeninhaber darin unterstützen, sich langsam, aber stetig einen guten Ruf aufzubauen.

Und dabei ging es mir nicht um die riesigen Unternehmen, denen es nur ums Geld scheffeln geht, sondern um die kleinen Leute. Um Menschen mit Ideen, eigenen Läden, Künstlern, all jenen, die eben kein sechsstelliges Budget für Werbung haben und um jeden Kunden kämpfen müssen.

Aber ich wusste ja, dass ich nicht von Luft und Liebe leben kann, deshalb habe ich angefangen, BWL zu studieren. Für ein paar Jahre einen ungeliebten Job in einer der größeren Firmen machen, genug Geld verdienen und danach langsam anfangen meinen Traum zu leben, das wollte ich tun. Mir erst mal selbst einen Ruf erarbeiten, bevor ich mich oute, weil ich nie vorhatte, meine sexuelle Orientierung zu verheimlichen, und ich dachte, Chicago wäre dafür die perfekte Stadt.

Tja, Pustekuchen.

Stattdessen habe ich in den vergangenen Monaten beinahe jeden noch so miesen Job genauso schnell verloren, wie ich ihn angefangen habe, lebe momentan von der Hand in den Mund, esse so oft ich kann in Armenküchen und klaue, wenn es gar nicht mehr anders geht, auch die weggeworfenen Lebensmittel oder nicht verkaufte Kleidung aus den Mülltonnen hinter den Supermärkten, und sobald Niko das erfährt, wird er verdammt wütend auf mich werden, weil ich ihm nämlich erzählt habe, dass ich derzeit im Supermarkt um die Ecke Regale auffülle, dabei bin ich den Job schon seit drei Wochen los und das heißt, ich werde spätestens in einer, vielleicht auch in zwei Wochen auf der Straße sitzen, weil ich weder meine fällige Miete noch die bereits offenen Rückstände bezahlen kann.

Den Traum eines bezahlbaren Wohnraums, der nach etwas aussieht, kann ich mir jedenfalls die nächste Zeit abschminken. Unter der Brücke oder in einem Obdachlosenasyl will ich aber auch nicht schlafen müssen.

Tief seufzend wende ich mich wieder der Arbeitsplatte zu, die längst blitzt und blinkt, weil ich sie schon dreimal gewischt habe. Vielleicht sollte ich mir einen Job als Putze suchen. Und mir dieses Mal mehr Mühe geben, ihn auch für längere Zeit zu behalten. Und vielleicht sollte ich einfach meinen letzten Rest an Mut zusammenkratzen und Niko meine Situation beichten. Er hat mir so oft geholfen, vielleicht hat er einen Tipp für mich. Oder kennt jemanden, der jemanden kennt, der offene Stellen für ungelernte, traumatisierte Studenten anbietet.

Ich halte verdutzt inne, als ich ein Kratzen an der Tür höre. Was …? Da, schon wieder. Ich tausche den Lappen gegen eine der von mir eben erst abgewaschenen Pfannen und schleiche in den Flur, wo aus dem Kratzen jetzt ein Schließen im Türschloss wird. Entweder hat Connor jemandem einen Schlüssel für das Haus gegeben oder es bricht gerade jemand bei ihm ein. Meine Gedanken überschlagen sich. Was soll ich tun? Connor auf die Füße zu zerren und zu flüchten, scheitert allein schon an seiner Statur und einfach abhauen kommt nicht infrage. Ich kann ihn hier nicht seinem Schicksal überlassen, falls derjenige vor der Tür wirklich ein Einbrecher ist.

Aber ich kann es ihm so schwer wie nur möglich machen, entscheide ich spontan und verstecke mich daher kurzerhand im Hauswirtschaftsraum direkt neben der Haustür. Von wegen einen kranken Mann schamlos überfallen, dem Dieb werde ich zeigen, was ich von so etwas halte.

Es schabt erneut im Schloss, dann geht die Tür auf und das Licht wird eingeschaltet. Ich höre ein resigniertes Seufzen, bin mir aber nicht sicher, was ich davon halten soll, deshalb bleibe ich in meinem Versteck und warte, bis das Deckenlicht einen Schatten in den Hauswirtschaftsraum wirft, der riesig ist. Mein schöner Plan wird gerade zu einem Albtraum, denn ich habe eigentlich nicht vor, mich mit dem Hulk anzulegen, auch wenn der Einbrecher Schrägstrich Besucher nicht ganz so breit ist. Er wirkt zumindest schlanker als der Hulk, aber die Größe scheint zu passen. Gott, wenn ich den Kerl mit der Pfanne k. o. hauen will, brauche ich wahrscheinlich zehn Versuche, und ob er mir so viele zugesteht, das wage ich doch zu bezweifeln.

»Was tue ich hier eigentlich?«, fragt der Mann im Flur und diese Stimme würde ich unter tausenden wiedererkennen. Mit einem Schnauben trete ich aus meinem Versteck.

»Sie?«

»Du?«, kontert er verblüfft, entdeckt die Pfanne in meiner Hand und fängt an zu grinsen. »Jetzt sag nicht, du hast ihn mit dem Ding niedergeschlagen?«

Ich schnaube. »Ich wollte Sie damit niederschlagen, weil ich dachte, Sie wären ein Einbrecher.«

»Du.«

»Was?«, frage ich irritiert.

»Du. Nicht Sie. Das hatten wir doch schon geklärt, dachte ich«, erklärt mir Darren Walker gelassen, während er sich aus seinem teuren Jackett schält und es aufhängt, bevor er aus den Schuhen schlüpft und im nächsten Moment stutzt. »Warum ist der Boden feucht?«

Ich seufze leise. »Weil Connor mir vorhin fast auf die Füße gekotzt hat, nachdem er völlig ausgeflippt ist und sich immer wieder bei mir entschuldigt hat.« Ich deute zum Wohnzimmer. »Er liegt auf der Couch und schläft. Es hat ewig gedauert, bis ich ihn dazu bekommen hatte aufzustehen und sich aufs Sofa zu legen. Weck ihn bitte nicht. Und ignorier lieber den Geruch, der vom Teppich ausgeht.«

Darren runzelt die Stirn. »Geruch?«

»Sieh in der Küche nach«, fordere ich ihn auf und er tut es. Ich folge ihm, als ich ihn scharf einatmen höre, und finde ihn vor der Ansammlung leerer Bier- und Schnapsflaschen. »Er hat die letzten Wochen nur von Fertigfraß und Lieferservice gelebt. Ich habe vier Müllsäcke gebraucht, um hier wieder klar Schiff zu machen.«

Darren sieht mich erstaunt an. »Bist du etwa schon hier, seit Niko dich bei ihm abgesetzt hat?« Ich nicke und er sieht auf die teure Uhr an seinem Handgelenk. »Mein Gott«, murmelt er, als ihm aufgeht, dass ich bereits seit über sechs Stunden auf seinen besten Freund aufpasse und nebenbei dessen Haus wieder auf Vordermann bringe. Nun ja, zumindest die Küche. Der Rest ist Connors Aufgabe, sobald er wieder stehen kann und nüchtern genug dafür ist.

Und vielleicht sollte ich den Staffelstab für die übrige Nacht an Darren weitergeben. Ich werde vermutlich die halbe Nacht brauchen, um nach Hause zu kommen, da mir das Geld für ein Bus- oder Bahnticket fehlt, aber was soll´s. Ich bin gut zu Fuß und ich brauche ohnehin Abstand. Sowohl von Darren Walker als auch von Connor Alexander. Mit den beiden zusammen in einem Haus zu sein, macht mich nervös, da kann Connor noch so tief schlafen.

Ich lege die Pfanne zurück ins Abtropfgitter und deute zum Flur. »Ich geh dann mal.«

Darren wirkt sichtlich überrumpelt und so habe ich bereits meine Schuhe angezogen, als er im Flur auftaucht und mir mit gerunzelter Stirn zusieht, wie ich nach meiner Jacke greife. »Ich kann dich fahren.«

Das fehlte mir heute Abend noch. Kopfschüttelnd lehne ich sein Angebot ab. »Er kann nicht allein bleiben und ich glaube, es ist besser, wenn du hier bleibst. Ich kriege ihn nicht ins Bett und da gehört er hin.« Ich winke ab, als er widersprechen will. »Keine Sorge, ich finde schon nach Hause.«

»Ich rufe dir ein Taxi.«

»Nein, passt schon.«

»Aber ...«

»Danke für das Angebot, aber nein danke«, unterbreche ich Darren und ziehe die Tür auf. »Pass gut auf ihn auf, okay?«

Ich warte gar nicht erst auf seine Antwort, sondern verlasse das Haus und schon wenig später auch die Straße, um mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Die Gegend hier ist voller teurer Einfamilienhäuser, also dürfte es nicht allzu schwer werden, in der Nähe eine Haltestelle zu finden, die mir verrät, wo ich bin und wie ich am besten nach Hause komme.

Oder ich nehme einfach mein Handy und rufe Niko an. Ich weiß, dass er kommen wird, das tut er immer, aber er wird mir dann die Frage stellen, vor der ich mich fürchte, obwohl er mit Sicherheit der Letzte ist, der mich wegen meiner Geldprobleme schief ansehen würde. Aber wenn ich die Büchse der Pandora öffne, dann muss ich ihm auch erzählen, dass ich seit Monaten keinen Job behalten kann, dass ich aktuell Kleidung trage, die ich aus der Mülltonne geklaut habe, dass ich in Suppenküchen esse und dass ich bald obdachlos bin. Und er hat mir schon so oft geholfen. Ich kann ihn unmöglich um mehr bitten, aber ich will wirklich nicht unter einer Brücke schlafen müssen.

Obdachlos zu sein ist das Eine, aber obdachlos zu sein und dabei blonde Haare, tiefblaue Augen und einen für Kerle eher zierlichen Körperbau zu haben, ist etwas ganz Anderes. Mir wird schon bei der Vorstellung Angst und Bange, was mir alles passieren könnte, nur weil ich aussehe wie ich aussehe. Ich bin schließlich nicht blind, ich bemerke die Blicke, die mir immer wieder zugeworfen werden, wenn ich draußen unterwegs bin. Früher dachte ich mal, es könnte von Vorteil sein, ein hübscher Mann zu sein, mittlerweile halte ich es für einen Fluch, gerade in meiner aktuellen Situation.

Und ich möchte wirklich nicht als neueste Fallakte auf dem Schreibtisch eines überarbeiteten Detective vom Morddezernat enden, weil ich den Fehler gemacht habe, die Nacht unter einer Brücke schlafen zu wollen, die schon jemand anderem gehört, der dann meinen Körper als Bezahlung einfordert. Von solchen Mordfällen hört man ständig in den Nachrichten und vielleicht sollte ich meinen Stolz jetzt lieber zur Seite schieben und damit sicherstellen, dass ich meinen nächsten Geburtstag erlebe.

Mein Handy piept und ich ziehe es aus der Hosentasche, wobei mir siedendheiß einfällt, dass ich auch dafür die nächste Rechnung nicht mehr bezahlen kann. Scheiße. Mein Leben ist total im Arsch. Mir steigen die Tränen in die Augen, als ich die Nachricht lese, die Niko mir geschickt hat. Er will, dass ich ihn anrufe und mir derweil ein Café oder Ähnliches suche, in dem ich sicher aufgehoben bin, bis er mich abholen kommt. Dieser russische Dickschädel. Ich suche seine Nummer heraus und er hebt bereits nach dem ersten Klingeln ab.

»Das kannst du nicht machen.«

»Sicher kann ich das.«

»Niko, du hast einen Job. Du kannst nicht ständig abhauen, um mich einzusammeln, als wäre ich ein verloren gegangenes Vogelküken. Ich komme allein nach Hause.«

»Das glaube ich dir sogar, Adrian, aber du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich mir Sorgen mache, wenn ein guter Freund von mir mitten in der Nacht zu Fuß durch Chicago läuft, weil er kein Geld für Bus und Bahn hat, denn genau das ist derzeit dein Problem, nicht wahr?«

Ich bleibe total sprachlos vor der vielfältigen Auslage eines Buchladens stehen und frage mich erstens, woher er das weiß, und zweitens, wann ich eigentlich zum letzten Mal ein Buch in der Hand hatte, das ich mir selbst kaufen konnte. Oh Gott, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, und die Bücher, die ich für mein Studium lesen musste, zählen für mich nicht.

»Darren hat mich gerade angerufen und mir erzählt, dass du sein Angebot, dich heimzufahren, abgelehnt hast«, beginnt Niko auf einmal zu erzählen. »Er fand das merkwürdig, als du auch kein Taxi nehmen wolltest, und da ist mir dann endlich ein Licht aufgegangen. Ich ahne schon eine ganze Weile, dass du Probleme hast, die du vor mir geheim hältst, und das ist im Grunde genommen auch dein gutes Recht, Adrian, aber mitten in der Nacht zu Fuß quer durch Chicago zu laufen und dabei so auszusehen wie du … Das kann gefährlich werden.«

»Ich weiß«, sage ich niedergeschlagen und muss dabei ein Gähnen unterdrücken, weil ich auf einmal furchtbar müde bin.

Scheiß auf meinen Stolz.

Scheiß auf mein Leben, das ich trotz meiner gut laufenden Therapie ja offenbar nicht allein auf die Reihe bekomme.

Ich kann also genauso gut alle Karten auf den Tisch packen und Niko die ganze unschöne Wahrheit erzählen. Ich brauche Hilfe. Wieder einmal. Und ich vertraue ihm. Im Moment ist er der einzige Mensch auf der Welt, dem ich noch ansatzweise so etwas wie Vertrauen entgegenbringe.

»Adrian?«

»Ja?«, frage ich leise und lege meine Hand auf die Scheibe des Ladens. Was würde ich nicht darum geben, mir eins dieser Bücher kaufen zu können. Ein Leben ohne ewige Geldsorgen, das wäre das Schönste. Ich will nicht reich sein, das würde mir nur wieder Angst machen. Aber ich möchte wenigstens einmal im Leben in ein Geschäft gehen und mir etwas kaufen können, was ich nicht unbedingt brauche, so wie Kleidung oder Essen, sondern was ich einfach nur haben möchte, weil es mir gefällt. Wie ein Buch zum Beispiel.

»Wie schlimm ist es?«

Meine Schultern sacken nach unten. »Ich sitze in spätestens zwei Wochen auf der Straße, weil ich meine Miete nicht mehr bezahlen kann. Ich esse seit Wochen in Suppenküchen und ich klaue meine Klamotten mittlerweile aus Mülltonnen, damit ich wenigstens das Handy weiter finanzieren konnte. Aber das hat sich im nächsten Monat auch erledigt, weil ich den angeblichen Job im Supermarkt schon vor drei Wochen verloren habe.«

»Adrian!«

»Tut mir leid«, nuschle ich beschämt und Niko flucht laut auf russisch. Ich verstehe kein Wort, dann höre ich ihn etwas zu jemandem sagen, kann aber erneut nichts verstehen. Er hat vermutlich eine Hand über sein Handy gelegt. Wenig später ist er wieder dran.

»Such die nächste Bushaltestelle und sag mir, wo du bist.«

»Niko ...«

»Nein«, fährt er mir ruppig über den Mund. »Ich helfe dir, weil du mein Freund bist und weil du dasselbe andersherum auch für mich tun würdest. Also? Wo bist du, Adrian?«

 

 

Kapitel 4

Darren

 

 

 

 

Ich brauche bis nach Mitternacht, um sämtliche Fenster im Haus zu schließen, es notdürftig aufzuräumen und mehrere Ladungen der dreckigen Wäsche zu waschen und hinterher in den Trockner zu werfen, die Adrian schon sortiert hatte, bevor ich das erste Lebenszeichen von der Couch her bekomme.

Connor wird nicht gleich wach, so wie sonst eigentlich, und ich betrachte ihn stirnrunzelnd, wie er sich langsam rührt, das Gesicht verzieht, als hätte er starke Schmerzen und schließlich unzählige Male mit den Augen blinzelt und es offenbar nicht schafft, richtig zu fokussieren – mein Gott, hat er etwa Drogen genommen? Der Gedanke setzt sich so schnell in meinem Kopf fest, dass ich nicht mal ein fassungsloses nach Luft schnappen schaffe, denn dass er jemals so dämlich sein könnte, hätte ich nie und nimmer erwartet.

Nein. Stopp. Keine Vorverurteilung.

Vielleicht irre ich mich ja auch.

Ich muss ihn erst mal richtig wach kriegen, ihm die Leviten lesen und danach dafür sorgen, dass er ein paar Tage Zeit hat, um sich zu erholen. Hoffentlich war er wenigstens klug genug, in seiner Klinik Urlaub zu beantragen oder sich krankschreiben zu lassen, sonst dürfte er seinen Job wohl mittlerweile los sein. Aber alles zu seiner Zeit.

»Hallo, Connor.«

Er stutzt und blutunterlaufene Augen, die von kaum Schlaf und zu vielen Sorgen herrühren, starren mir aus einem seltsam aufgedunsenem Gesicht entgegen. Er hat definitiv irgendetwas genommen, doch darum kümmere ich mich, sobald er wieder alle Sinne beisammen hat, und das dürfte noch so einige Zeit dauern, schätze ich. Wer hätte gedacht, dass ich meinen besten Freund mal in einem solchen Zustand vorfinde? Den immer so überkorrekten Doktor Connor Alexander, der seit dem viel zu frühen Tod seines jüngeren Bruders alles versucht, um schwer traumatisierten Menschen zu helfen, denen es ebenso schlimm oder noch schlimmer ergangen ist wie Patrick. Paddy. Ich muss ein Seufzen unterdrücken. Jetzt könnte Connor seinen kleinen Bruder wirklich brauchen, aber da das nicht möglich ist, werde ich diesen Job übernehmen müssen.

»Na? Überlegst du gerade, wer ich bin?«, frage ich in einer Mischung aus Sorge und Belustigung, denn er guckt mich an, als wäre ich ein Geist, und für ihn bin ich das im Moment wohl auch, denn mich mitten in der Nacht in seinem Haus zu sehen, dürfte das Letzte gewesen sein, womit er gerechnet hat.

Und dann fällt der Groschen schließlich doch. Ich kann den Moment genau erkennen, denn auf einmal wird er leichenblass und für einige Sekunden fürchte ich, dass er sich direkt neben der Couch auf den Teppich übergibt. Stattdessen richtet er sich auf, schluckt mehrere Male und muss sich an der Couchkante festhalten, weil ihm offenbar schwindlig ist. Kein Wunder. Wie er aussieht, kann er wahrscheinlich noch froh sein, dass er bei Adrians Eintreffen vorhin nicht tot im Bett lag.

»Darren?«

»Ja, Darren. Dein bester Freund.«

Ich seufze innerlich, als sein Blick vor lauter Angst förmlich zu flackern beginnt, bevor er wegsieht, und in dem Augenblick verschwindet plötzlich meine Wut auf ihn, an der ich schon so lange festgehalten habe. Connor ist mein Freund und das wird er auch für immer bleiben. Ich kann nicht hier stehen und ihn anbrüllen oder schlagen, wo er ohnehin längst am Boden liegt. So ein Kerl bin ich nicht, nie gewesen, und ich will auch nicht, dass Adrian denkt, ich wäre so. Ein Jahr voller Wut ist genug. Wir werden einen neuen Weg für unsere Freundschaft finden müssen, aber das muss warten, bis Connor nüchtern und vor allem wirklich wach genug ist, damit wir reden und das letzte Jahr irgendwie aus der Welt schaffen können.

»Du wirst jetzt aufstehen und duschen gehen«, erkläre ich ihm und ignoriere geflissentlich, dass er bei jedem Wort leicht zusammenzuckt. »Danach werden wir die leeren Schnaps- und Bierflaschen aus der Küche, und alle anderen, die du im Haus hast, entsorgen und zum Schluss wirst du eine Tasche packen, weil du nämlich vorläufig in mein Gästezimmer einziehst. Und nein«, komme ich seinem Widerspruch zuvor, da Connor sich gerade merklich anspannt, »das ist nicht verhandelbar. Du bist Traumatherapeut, sogar einer der Besten in der Stadt, und ich werde nicht zulassen, dass du deine glänzende Karriere wegen eines einzigen Fehlers völlig in den Sand setzt und stattdessen dein Heil im Alkohol suchst. Ist das klar, Connor?«

Er schluckt dreimal, dann nickt er und schiebt anschließend die Decke zur Seite, die über ihm gelegen hat, bevor er wortlos aufsteht, um im Flur die Treppe nach oben zu nehmen.

Gut. Der erste Schritt ist geschafft. Zeit, mich um weitere zu kümmern, während er duscht. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, werfe einen Blick auf die Uhr und entscheide, dass ich es wagen kann, ihn jetzt noch anzurufen. Seine Schicht an der Tür ist zwar schon zu Ende, aber allgemein trinkt Niko gern an der Bar einen Absacker, ehe er nach Hause fährt. Dabei streitet er sich in neun von zehn Abenden irgendwann mit Danny, bis entweder Lappen oder Spülbürsten fliegen, und dann verlässt er mit einem breiten Grinsen das 'Black Shine' – üblicherweise hat er dabei den Arm um einen niedlichen Twink gelegt, den er den Rest der Nacht durch sein Bett scheucht. Oder durch eines der Privatzimmer im Club, da ist er flexibel, so wie wir alle.

Wobei er das schon eine ganze Weile nicht mehr gemacht hat, fällt mir abrupt ein, während ich seine Nummer aus dem Adressbuch heraussuche. Wer weiß, vielleicht hat er jemanden gefunden, den er uns noch nicht vorstellen will. Ich würde es Niko wünschen. Er verdient einen guten Partner und er gehört zu jenen Männern, die ich mir eines Tages gut mit einem Haus, einem weißen Gartenzaun, einem frechen Hund und ein oder zwei Kindern vorstellen kann. Er tut zwar immer gerne so, als wäre er nur ein dummer Russe, aber ich weiß, dass das Ganze reine Fassade ist. Niko gehört mit zu den klügsten Köpfen, die ich kenne, und davon gibt es in meinem Unternehmen einige. Allerdings kann von diesen Bürohengsten, so gut sie in ihrer Arbeit auch sein mögen, keiner Niko auch nur ansatzweise das Wasser reichen.

»Tu mir einen Gefallen«, bitte ich Niko, nachdem er meinen Anruf entgegengenommen hat. »Hol dir morgen früh … besser gesagt heute früh, bei mir meinen Ersatzschlüssel von Connors Haus ab und stell es einmal komplett auf den Kopf. Such nach Alkohol und nach … Drogen.« Niko zieht hörbar die Luft ein, was ich gut verstehen kann. »Ich weiß nicht, ob er tatsächlich Drogen nimmt, aber irgendetwas hat er definitiv eingeworfen, dessen bin ich mir sicher. Darum will ich, dass du dich bei ihm ganz genau umsiehst und alles mitnimmst, was dir irgendwie seltsam vorkommt.«

»Verstanden. Was noch?«

Ich überlege einen Moment. »Der Teppich im Wohnzimmer stinkt nach Alkohol, der muss ersetzt werden und das ganze Haus gründlich gereinigt. Lebensmittel kontrollieren, Blumen gießen, Wäsche aus dem Trockner holen und die Post sortieren, was bitte du persönlich übernimmst … Alles, was dazu gehört und was dir sonst noch einfällt. Normalerweise würde ich ihn das selbst machen lassen, aber bis er dazu in der Lage ist, wird es noch dauern. Frag unsere Putztruppe, ob sie Zeit haben, und wenn sie den Job übernehmen, erwarte ich hundertprozentige Diskretion. Dafür bin ich bereit, ihnen das Doppelte wie üblich zu zahlen. Du wirst mir deine Arbeitszeit ebenfalls vernünftig in Rechnung stellen.«

»Darren ...«

»Keine Widerrede«, würge ich ihn sofort ab, weil er sonst anfangen wird zu feilschen, ich kenne ihn. »Ich weiß, wie groß sein Haus ist und wie gründlich du bist. Falls du jemanden zur Unterstützung mitnimmst, wird der- oder werden diejenigen ebenfalls dafür bezahlt, haben wir uns verstanden?«

»Ja, Boss.«

Ich lege knurrend auf, weil das Feixen in seiner Stimme für mich nicht zu überhören war. Irgendwann trete ich ihm dafür in den Hintern, dass er mich nach all den Jahren immer wieder Boss nennt, sobald er …

»Darren?«

Ich fahre herum, sehe zum offenen Durchgang, der in den Flur führt, und stecke mein Handy wieder ein, als ich Connor dort stehen sehe. Er ist immer noch blass wie eine Leiche und außerdem zu dünn, das ist mir vorhin schon aufgefallen, aber zumindest sieht er nach der Dusche nicht mehr wie ein Zombie aus. Ich deute in die Küche.

»Kaffee? Tee? Vielleicht willst du ja etwas essen, bevor wir uns um deine schlechten Trinkgewohnheiten kümmern?«

Wieder zuckt er zusammen und da schelte ich mich selbst einen Idioten. Ich muss mit diesen unterschwelligen Spitzen in seine Richtung aufhören. Das bringt einfach nichts und verletzt Connor nur noch mehr. Wir müssen hier raus. Zu mir. Oder wo auch immer er hin will, Hauptsache, er kommt für eine Weile aus seinem Haus und auf andere Gedanken. Ich erinnere mich kurz an die Flaschen in der Küche und entscheide mich danach kurzerhand um. Niko wird sich um den Alkohol kümmern, er ist für derartige Dinge ohnehin besser geeignet als jemand wie ich, weil er Verstecke findet, an die ich nicht einmal im Traum denken würde. Das muss er auch können als Türsteher.

»Okay, lassen wir das«, erkläre ich und gehe zu Connor an den Durchgang. Dass er sich dabei merklich anspannt, sagt mir alles. »Ich habe nicht vor, dir eine runterzuhauen, obwohl du es verdient hast. Allein schon für das Chaos, das du in deinem eigenen Haus veranstaltet hast, aber nein, ich will nur, dass du jetzt nach oben gehst und ein paar Sachen einpackst, sofern du überhaupt noch saubere Klamotten in deinem Kleiderschrank findest. Falls nicht, musst du mit meinen vorliebnehmen. Und sobald du gepackt hast, fahren wir zu mir. Wir werden nicht über das letzte Jahr reden, jedenfalls nicht mehr heute Nacht. Du brauchst dringend Schlaf und ein paar Tage Ruhe, und ich muss mich erst mal um andere Dinge kümmern, die den Club betreffen. Aber wir werden darüber reden und wir werden uns dafür Zeit nehmen. Du wirst nicht heimlich verschwinden, um dich zu drücken, genauso wenig wie ich mich drücken werde. Ach ja, falls du trotzdem versuchst zu verduften, hetze ich dir Niko auf den Hals.«

»War er wirklich vorhin hier?«, fragt Connor plötzlich, was mich überrascht, bis mir klar wird, wen er meint.

»Ja, Adrian war hier.«

»Ich dachte, ich hätte das nur geträumt«, flüstert er, schaut mich an und bricht in Tränen aus.

Scheiße.

Gott sei Dank spreche ich das nicht laut aus, wer weiß, wie er darauf reagiert hätte. Es reicht schon, dass er sich die ersten paar Sekunden heftig gegen mich wehrt, als ich auf ihn zutrete und ihn in meine Arme ziehe. Er will es vielleicht nicht, aber er braucht meine Umarmung. Und ich brauche sie auch. Himmel noch mal, Connor war viele Jahre mein bester Freund und ich will, dass er das wieder wird. Aber dafür muss er aufhören zu trinken, er muss aufhören, im Selbstmitleid zu baden und vor allem muss er aufhören, sein Leben zu ruinieren.

Und wo wir schon dabei sind, was er alles tun muss, muss ich im Gegenzug sofort damit aufhören, ihn aus meinem Leben fernzuhalten. Ich kann nicht nur Connor diverse Forderungen an den Kopf werfen, ich muss auch selbst den feigen Hintern hochkriegen, wie Niko es so wundervoll formuliert hat.

»Es tut mir so leid, Darren«, nuschelt er an meinem Hemd und ich seufze stumm, während ich mit der Hand beruhigend über seinen Rücken streichle.

Ich weiß, dass es ihm leidtut. Das wusste ich sofort in jener Nacht, die so sehr aus dem Ruder gelaufen ist. Verflucht, wieso hat Niko eigentlich in solchen Dingen immer recht? Ich muss Connor verzeihen, sonst zerbricht unsere Freundschaft früher oder später endgültig. Falls das nicht schon geschehen ist. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Es hat vielleicht ein ganzes Jahr Zeit, einen verdammt sturen Russen und den Zusammenbruch gebraucht, in den Connor sich gerade hineinsteigert, während er anfängt zu zittern und sein Weinen immer heftiger wird, um mir begreiflich zu machen, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber jetzt weiß ich das und ich kann gegensteuern.

»Sieh mich an!« Er zuckt zusammen, hebt aber den Kopf. »Wir kriegen das hin. Ich weiß, dass es dir leidtut, denn mir tut es nicht weniger leid, dass ich ein Jahr gebraucht habe, um aus meinem Loch rauszuklettern und herzukommen, aber jetzt bin ich hier, genauso wie Adrian hier war. Wenn er dir verzeihen kann, kannst du dir selbst auch verzeihen. Nein!«, verhindere ich energisch, dass Connor etwas sagt. »Nicht heute. Geh und pack eine Tasche zusammen. Wir werden reden, versprochen, aber nicht heute und auch noch nicht morgen. Du wohnst bei mir, bis wir soweit sind, und jetzt Abmarsch … Nein, Connor, hör auf mich. Geh packen! Jetzt!«

 

 

Kapitel 5

Adrian

 

 

 

 

Niko sorgt für einige überraschte und auch nervöse Blicke, als er knapp zwei Stunden später das kleine 24/7 Diner betritt, das wir als Treffpunkt ausgemacht haben, weil der Kaffee hier billig ist und sich die müde Bedienung nicht daran gestört hat, dass ich mit der Bestellung warten wollte, bis meine Begleitung hier ist. Ganz im Gegenteil, ich hatte sogar das Gefühl, dass die junge Frau froh war, nicht gleich wieder jemanden bedienen zu müssen und dadurch die Gelegenheit bekam, eine kurze Pause zu machen und vor der Tür eine zu rauchen.

Außer Niko und mir sind aktuell nur noch drei Kunden im Diner, von denen einer aussieht, als würde er gleich über dem Teller voller Rührei und Toast einschlafen, während die beiden anderen, zwei Biker in Lederklamotten, die ich seltsamerweise recht anziehend finde, sich an Saftgläsern festhalten und Niko in einer Mischung aus Neugierde und Misstrauen mustern. Er bemerkt ihre Blicke schnell, betrachtet sie einmal von Kopf bis Fuß, grinst und schüttelt dann den Kopf.

Ich höre das tiefe, enttäuschte Seufzen von Biker Nummer eins bis in meine Ecke, in der ich mich so klein wie irgendwie möglich mache, und betrachte den blonden Mann immer noch ziemlich verdattert, als Niko auch schon mir gegenüber auf die freie Bank rutscht.

»Die sind nichts für dich, Kleiner.«

Ich schrecke auf und werde knallrot, als Niko leise gluckst und nach der Karte greift. »Ich sterbe vor Hunger. Möchtest du auch was?«

Mein Kopfschütteln ist mittlerweile reiner Automatismus, um ja keinen Cent zu viel auszugeben. Mein Magen hat jedoch andere Pläne, denn er knurrt laut und verräterisch, woraufhin Niko sich auf der Bank zurücklehnt, seine Arme vor der Brust verschränkt und mich so lange schweigend anstarrt, bis ich mir vorkomme, wie eine Probe unter einem Labormikroskop.

»Ein Burger vielleicht?«, schlage ich leise vor, um des lieben Friedens willen, und scheinbar funktioniert es, denn Niko nickt und winkt der Bedienung, um kurz darauf zwei ganze Menüs, Kaffee für sich und Cola für mich zu ordern. Auf meine Frage hin, wer das alles essen soll, bestellt er gleich noch Muffins als Nachtisch dazu und grinst mich so herausfordernd an, dass ich es nicht wage, erneut Einspruch zu erheben. Wer weiß, was er dann noch alles bestellt.

 

Eine Dreiviertelstunde später ist mein armer Magen so voll wie lange nicht mehr und ich muss heimlich unter dem Tisch den obersten Knopf meiner Jeans öffnen.

Aber es war echt köstlich, das hätte ich nicht erwartet, und so wie Niko sich gerade genießerisch die Finger leckt, hat ihm sein Nachtisch definitiv geschmeckt. Den kriege ich allerdings auf gar keinen Fall mehr runter, sonst platze ich, und deshalb schiebe ich den Muffin über den Tisch zu ihm und mein edler Spender zuckt nach einem kurzen Blick auf seine eben erst von der Schokolade gesäuberten Finger die Schultern und macht sich anschließend ungeniert über das Gebäck her.

Wir haben übrigens nicht nur gegessen, auch wenn mir erst ziemlich verspätet aufgefallen ist, wie geschickt Niko mich die ganze Zeit beim Essen ausgefragt hat.

»Du hattest also ein Stipendium«, sagt er mit vollem Mund und pfeift hinterher anerkennend durch die Zähne. »Bist wohl ein kleines Genie, was?«

Ich zucke die Schultern. »Nein, nur ein Kleinstadtjunge mit total normalen, aber armen Eltern, der die Highschool mit dem besten Notendurchschnitt aller Zeiten abgeschlossen hat.«

Nikos verblüffter Blick ist mir unangenehm, aber plötzlich schmunzelt er und reckt einen Daumen in die Höhe. »Wow, du kannst stolz auf dich sein.«

Ja, das haben meine Eltern damals auch gesagt, aber mir ist das suspekt. Ich meine, es war einfach den Schulstoff zu lernen und gute Noten zu kriegen. Und wenn ich mal etwas nicht von Anfang an verstanden habe, habe ich eben nachgelesen, um die Antworten zu finden, die ich brauchte. Warum man darum so ein Theater machen muss, ist mir bis heute unbegreiflich. Aber ich gehörte auch nie zu den Schülern, die sich ständig daneben benahmen und so taten, als wüssten sie alles. Dabei konnte ein Teil von ihnen nicht mal die einfachsten Matheaufgaben lösen, geschweige denn einen ganzen Aufsatz schreiben. Ich konnte beides und es hat mir Spaß gemacht. Vor allem aber wusste ich schon sehr früh, wie wichtig es ist, etwas zu lernen, wenn man im Leben etwas erreichen will. Das haben mir meine Eltern von Kindesbeinen an beigebracht, weil sie selbst nie viel besaßen und genau deshalb immer wollten, dass ich es eines Tages mal besser habe. Sie waren so stolz wegen des Stipendiums, daran erinnere ich mich noch.

Niko spült den Muffin mit dem letzten Rest Kaffee runter und nimmt dann tatsächlich eine Serviette, um sich die Finger zu säubern. Mein leises und ziemlich freches »Braver Junge.« kommentiert er mit einem sehr breiten Grinsen, doch bevor er etwas sagen kann, klingelt sein Handy.

»Entschuldige«, murmelt er und zieht es aus der Tasche. Er wirft einen Blick aufs Display und runzelt überrascht die Stirn. »Das ist Darren«, sagt er und nimmt den Anruf an. Er lauscht kurz und zieht dann hörbar die Luft ein. Was auch immer er von seinem Boss gerade gesagt bekommt, gefällt ihm gar nicht. »Verstanden. Was noch?«, fragt Niko schließlich und hört dann erneut eine Weile zu. »Darren ...«, nörgelt er hörbar resigniert und verdreht die Augen, um wenig später amüsiert zu grinsen. »Ja, Boss.« Meinen fragenden Blick, nachdem er aufgelegt und das Handy wieder eingesteckt hat, kommentiert er mit einem Schmunzeln. »Ein kleiner Nebenjob. Darum kümmere ich mich morgen. Wo waren wir?«

»Meiner Zukunft, die du schamlos verplanst?«, schlage ich vor und muss mir ein Stöhnen verkneifen, weil Niko daraufhin nur wieder grinst. »Was frage ich überhaupt?«

Niko lacht heiter, dann wird er ernst. »Das Wichtigste sind also ein guter Job, der dich auch anspricht, damit du ihn halten kannst, und eine neue Bleibe.«

Ich nicke nur und Niko schürzt überlegend die Lippen, ehe er ebenfalls nickt und anschließend kurzerhand einen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber aus seiner Jacke zieht, die neben ihm auf der Bank liegt.

»Für den Job habe ich vielleicht eine Idee, aber da muss ich erst mal nachfragen und dann … Egal. Das machen wir später. Vorher wäre jetzt aber noch etwas anderes zu klären.«

»Und was?«, frage ich misstrauisch.

»Du bleibst bei deiner Entscheidung, keine Anzeige gegen Connor zu erstatten?« Niko verdreht die Augen, als ich ihn nur anstarre. »Das dachte ich mir und darum stelle ich dir jetzt eine Frage … Und ich will eine ehrliche Antwort von dir hören, ist das klar?« Ich nicke schweigend. »Wieso, zum Teufel noch mal, schlägst du kein Kapital aus der Sache?«

Ich runzle irritiert die Stirn. »Ich soll was machen?«

Niko stutzt kurz, dann gluckst er und fährt sich nebenbei mit einer Hand übers Gesicht. »Hätte ich mir eigentlich denken können. Du bist so ehrlich, dass es fast schon wehtut. Adrian, ernsthaft, denk nach … Du hattest ein Studium, eine Wohnung, zwei Jobs – dein Leben war vielleicht nicht leicht, aber es lief in geordneten Bahnen, bevor diese Nacht passierte, korrekt?« Er wartet nur mein Nicken ab, ehe er mit dem Stift in der anderen Hand auf mich deutet. »Und was ist heute? Du hältst keinen Job mehr durch, hast dein BWL-Studium geschmissen und bist im Grunde bereits obdachlos. Wessen Schuld ist das denn?«

Na danke. Will er mir noch mehr Schuldgefühle einreden, als ich eh schon habe? »Meine?«

Niko stöhnt auf. »Nein, Adrian, es ist Connors Schuld, weil es nie dazu gekommen wäre, dass du ohne einen Cent auf der Straße stehst, hätte er sich beherrscht und es richtig gemacht. Ja, du hast ihn angetörnt und herausgefordert, das weiß ich, es ändert aber nichts daran, dass dein Leben erst nach der Nacht den Bach runterging. Und darum meine Frage, warum du kein Kapital für dich aus der Sache schlägst?«

»Was?«, frage ich ratlos, weil ich absolut nicht verstehe, was Niko mit seiner Frage bezweckt.

»Sagt dir der Begriff Entschädigung etwas?«

Ja, sicher. Opfer von Überfällen, Angriffen oder Ähnlichem bekommen bei Gerichtsverhandlungen oft eine Entschädigung für ihre körperlichen oder psychischen Folgen, die das Ganze für sie hatte, zugesprochen, aber dafür müssen sie klagen, was ich nicht vorhabe und mir sowieso nicht leisten könnte.

Ich schnaube abfällig. »Wovon sollte ich bitte einen Anwalt bezahlen, um mir eine Entschädigung zu erstreiten?«

»Ah, du weißt also grundsätzlich Bescheid. Sehr gut.« Niko nickt zufrieden. »Dafür ist übrigens nicht unbedingt ein teurer Anwalt nötig. Außergerichtliche Einigungen haben heutzutage Hochkonjunktur und was du forderst, können wir auch alleine zusammenrechnen. Beziffern wir das Stipendium doch einfach mal mit 5.000 Dollar.« Er notiert sich die Zahl, während ich ihn mit offenem Mund angaffe, da ich kaum glauben kann, dass er das wirklich macht. »Dazu ein volles Jahr Verdienstausfall, den wir großzügig mit 25.000 Dollar berechnen.«

Ist er völlig verrückt geworden? So viel hätte ich nicht mal mit drei Jobs nebenher verdient. »25.000 Dollar?«

»Ich sagte 'großzügig'«, kontert er amüsiert und zwinkert mir neckend zu, weil ich nach Luft schnappe. »Dazu kommen etwaige Außenstände für fällige Rechnungen oder noch offene Mietrückstände … Was auch immer. Ich rechne einfach mal mit weiteren 20.000 Dollar.«

»Hey!«, empöre ich mich, weil das nun wirklich viel zu viel ist, was Niko sofort lachen lässt, ehe er abwinkt.

»Der Wichtigste und damit größte Posten ist allerdings eine angemessene Entschädigung für die Vergewaltigung und die daraus resultierenden Probleme, die du jetzt hast.« Als ich das Gesicht verziehe, sieht er mich verständnisvoll an. »Auch wenn es wehtut, nenn es so, Adrian, denn genau das ist dir letztes Jahr passiert. Daran gibt es einfach nichts zu beschönigen und Connor, als Täter, hat dafür zu bezahlen. Punkt. Aus. Ende.«

Das sehe ich anders und ich fühle mich dabei auch mehr als unwohl. Wie kann er nur so über Connor reden? Die zwei sind befreundet, zumindest hat Niko mir das erzählt, und jetzt sitzt er hier mit mir in einem billigen Diner am Tisch und rechnet riesige Geldbeträge zusammen, die sein Freund mir angeblich schuldig ist, während ich mich insgeheim frage, was das wohl aus ihrer Freundschaft macht, sobald Connor diese Rechnung auf den Tisch bekommt. Das ist einfach nicht richtig.

»Er ist dein Freund, Niko, du kannst doch nicht ...«

»Über ihn reden, als wäre er ein Verbrecher? Doch, Adrian, das kann ich, weil er genau das ist. Trotzdem ist er immer noch mein Freund und wird es bleiben. Du verdienst das und er hat sogar noch Glück, dass du es außergerichtlich regelst, statt ihn vor einen Richter zu zerren, denn dann könnte er sich seine ach so tolle Karriere als Traumatherapeut abschminken.«

»Ich würde nie ...«

»Deswegen übernehme ich das ja auch für dich«, fällt Niko mir ins Wort, als könne er Gedanken lesen, was er in dem Fall nicht mal muss, denn er hat ja gerade erst erlebt, dass ich nicht einmal auf die Idee gekommen war, über eine Entschädigung oder Ähnliches nachzudenken.

»Woher weißt du solche Sachen eigentlich? Ich meine, hast du heimlich Jura studiert?«, frage ich beleidigt und greife nach meiner Cola, weil ich irgendwas brauche, um meine Finger zu beschäftigen.

»Ich lese viel«, antwortet Niko salopp und deutet dabei auf den Block. »Also … Was denkst du über 100.000 Dollar?«

Moment, was? Gleich falle ich ohnmächtig vom Stuhl. Das kann nicht sein Ernst sein. Welcher Mensch hat bitte 100.000 Dollar? Ich schüttle fassungslos den Kopf. »So viel Geld hat er nicht … Oder?«

Niko grinst. »Weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass Darren so viel Geld hat und Connor kann ihn um einen Kredit bitten, den Darren ihm geben wird, verlass dich darauf, denn er fühlt sich ebenso schuldig wegen dem, was dir passiert ist, wie Connor.«

»Das ist doch viel zu viel«, werfe ich schockiert ein und da wird Niko auf einmal sehr ernst.

»Nein, Adrian, ist es nicht. Vor Gerichten bekommen Opfer mitunter unzählige Millionen an Entschädigung zugesprochen. Natürlich gehen die Täter dagegen in Widerspruch, ganz egal, wie reich sie sind, aber am Ende einigt man sich dann auf eine Summe, die oftmals immer noch weit über dem liegt, was hier auf meinem Zettel steht. Diese 100.000 Dollar sichern dir deine Zukunft und sie geben dir damit auch die Chance, einen Beruf zu ergreifen, ohne Druck dahinter, denn sonst verlierst du ihn genauso schnell wie alle anderen Jobs in den letzten Monaten, da Druck derzeit das Letzte ist, was du brauchst. Und bevor du fragst, nein, ich bin auch kein heimlicher Psychologe, ich kenne nur einen, der mir solche Dinge erklärt, und ich lese viel. Denn das interessiert mich genauso wie Jura oder Biologie oder sonst was.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich bin schließlich bloß ein dummer Russe, schon vergessen?«

»Niko!«

Er lacht und greift dann über den Tisch nach meiner Hand, die sich eiskalt anfühlt. Er drückt aufmunternd meine Finger, dann nimmt er seinen Stift, streicht die 100.000 Dollar feixend durch und notiert eine neue Summe gleich darunter, die er mir anschließend zeigt.

Okay, damit ist es amtlich. Jetzt hat er wirklich vollkommen seinen Verstand verloren. »Nein!«

»Doch.«

»Niko, das sind insgesamt eine Viertelmillion Dollar.«

»Und immer noch viel zu wenig.«

»Die 100.000 Dollar wären ...«

»Gerade so ausreichend. Wir nehmen die Viertelmillion als Verhandlungsbasis und sehen, was passiert, sobald wir Connor die Summe nennen.«

Oh, ich weiß genau, was passieren wird. Das würde jedem so gehen, der mit einer solchen, total wahnsinnigen Forderung konfrontiert wird. »Er wird diese Zahl sehen und tot umfallen, das wird passieren.«

Niko gluckst heiter. »Keine Sorge, er überlebt das schon. So, kommen wir zu deiner prekären Wohnsituation ...«

»Prewas?«

»Problematisch«, erklärt er und schürzt danach überlegend die Lippen. »Also? Hast du noch etwas Zeit oder steigt dir dein Vermieter schon aufs Dach, was die Miete angeht?«

Also langsam wird es wirklich peinlich, wie ich vor ihm die Hosen runterlasse. Ich trinke betont langsam den Rest meiner Cola aus, um mir ein wenig Zeit zu schinden, aber irgendwie habe ich bei Nikos nachsichtigem Lächeln das Gefühl, dass er genau weiß, was in mir vorgeht und deshalb nichts mehr sagt, sondern einfach geduldig wartet, bis ich bereit bin, weiter mit ihm zu reden.

»Ich würde lieber selbst für meinen Unterhalt aufkommen, als mich bezahlen zu lassen, verstehst du«, sage ich schließlich kaum hörbar und schäme mich für meine Schwäche und meine ganzen Fehler in Grund und Boden.

»Das wirst du auch bald wieder können … Adrian?« Niko wartet, bis ich ihn ansehe und deutet danach auf seinen Block. »Das hier steht dir zu. Diese Summe ist nicht als 'Bezahlung', sondern als Entschuldigung zu verstehen. Du hängst jetzt seit einem Jahr in der Luft und das muss endlich aufhören, ehe du überhaupt keinen festen Boden mehr unter den Füßen findest. Es ist Geld, das dir Sicherheit gibt und vor allem Ruhe in dein Leben bringen wird. Nimm es an, such dir eine Wohnung, die dir gefällt, und dann kauf dir für einen bestimmten Betrag, den du dir vorher überlegst, irgendeinen Kram, den du schon ewig haben wolltest, dir aber nicht leisten konntest. Gönn dir einen langen Shoppingtrip und dann fängst du von vorn an. Komm wieder zu uns in den Club. Bring Connor mit, denn ich glaube, die Freundschaft zwischen Darren und Connor zu kitten, ist dir wichtig, aber vor allem würde es beiden guttun. Setzt euch zusammen an einen Tisch und sprecht über diese Nacht. Tut es einmal, bringt dabei alles auf den Tisch, und danach klappt ihr diese Akte endgültig zu, um es mal so auszudrücken.« Niko schmunzelt kurz. »Und sobald ihr das geschafft habt, kannst du anfangen dich zu fragen, was du an Darren Walker derartig faszinierend findest.«

Ich werde prompt knallrot und begreife das genauso wenig wie ich verstehe, wieso Niko ausgerechnet jetzt davon anfängt. Woher weiß er überhaupt, dass ich Darren Walker faszinierend finde, mir das aber gleichzeitig große Angst macht. Es ist nicht so, als hätte ich Angst, er würde mir etwas antun, aber er hat irgendetwas an sich, das mich jedes Mal tierisch nervös macht, sobald er mir zu nahe kommt. Bei Connor reagiere ich auch so, aber da kenne ich den Grund. Doch Darren hat mir nie etwas getan. Das ist einfach komisch. Ich bin komisch. Und offenbar gestörter als ich dachte, wenn ich mich sogar vor einem Mann fürchte, den ich im Grunde nicht mal kenne.

Niko sieht ziemlich zufrieden mit sich selbst aus, während er den Block zuklappt und wegsteckt. Ich betrachte ihn in einer Mischung aus Überraschung und etwas, das ich nicht mal mit einem Wort benennen kann. Keine Ahnung, was es ist, aber ich mag ihn mit jedem Mal mehr, wenn wir uns sehen. Da ist kein Flattern in der Magengegend oder ein schnelleres Schlagen des Herzens, das darauf schließen würde, dass ich in ihn verknallt bin, wie ich es vom ersten Augenblick an in Connor war, aber ich habe Niko wirklich sehr gern.

»Bist du dir wirklich sicher, dass du kein Anwalt bist? Du klingst nämlich wie einer.«

»Erschreckend, oder?«, neckt er mich und grinst frech, weil ich ungewollt lachen muss, bevor er mit den Schultern zuckt. »Wie gesagt, ich lese viel. Und jetzt verduften wir von hier und ich mache dir mein Gästezimmer fertig. Du schläfst nämlich ab sofort bei mir. Morgen kläre ich mit Connor und Darren alles für deine Abfindung und danach räumen wir deine Bude aus, bezahlen deine offenen Rechnungen und lagern ein, was du im Moment nicht brauchst, aber vielleicht später wieder benutzen willst – den Studienkram zum Beispiel.«

»Äh ...« Weiter komme ich nicht.

»Du bleibst bei mir, bist du etwas Neues gefunden hast, das dir wirklich gefällt und wo du dich wohlfühlst.«

»Aber ...«

»Die anderen Alternativen wären Connor und Darren, weil ich definitiv nicht vorhabe, dich auch nur eine weitere Nacht in dieser Bruchbude schlafen zu lassen, die du aktuell noch deine Wohnung schimpfst.«

Mir wird ganz anders bei der Vorstellung, bei Connor oder Darren wohnen zu müssen, und ich schüttle schnell den Kopf. Niko nickt, als hätte er damit gerechnet, und erhebt sich, um die Rechnung bezahlen zu gehen, bevor er mich wenig später in einen großen, schwarzen SUV verfrachtet, der mit Sicherheit mehr gekostet hat, als ich bei all meinen Nebenjob je verdient habe, und in dem wir dann, während leise gestellte Musik aus dem Radio uns berieselt, meinem Schicksal entgegensteuern.

Hoffentlich ist das eine gute Idee. Andererseits habe ich eh nichts mehr zu verlieren und ich weiß zumindest eines sicher, nämlich dass Niko ein anständiger Kerl ist. Bei ihm werde ich in Sicherheit sein und ich fange langsam an zu glauben, dass ich dieses Gefühl sehr viel dringender brauche, als täglich eine warme Mahlzeit oder eine volle Brieftasche.

Es ist einen Versuch wert und vielleicht kann ich mir eines Tages wirklich wieder ein Buch kaufen, nur weil es mir gefällt.

 

 

Kapitel 6

Darren

 

 

 

 

»Wie geht es ihm?«

Niko schürzt die Lippen und wiegt überlegend den Kopf, ehe er antwortet. »Ich bin nicht sicher. Ich glaube, er fragt sich insgeheim noch, ob er träumt. Er traut sich kaum, sich auf die Couch zu setzen oder mal die Küche zu benutzen. Als hätte er Angst, irgendwo einen Schmutzfleck zu hinterlassen.«

Das wundert mich leider überhaupt nicht, seit ich Niko vor zwei Tagen dabei geholfen habe, Adrians Mietrückstände und andere offene Rechnungen zu begleichen und dabei gleich die Wohnung an den Vermieter zurückzugeben. Diese Wohnung war ein Loch, nicht mehr, nicht weniger. Zugig, kalt und mich hätte nicht überrascht, in den Ecken Schimmel und hinter den Möbeln Rattenkot zu finden. Aber in der Hinsicht gab es Gott sei Dank nichts zu bemängeln und mein Auftauchen in einem fünftausend Dollar Anzug von Hugo Boss hat dafür gesorgt, dass Adrians Vermieter, ein schmieriger, alter Mann, ohne ein Widerwort sowohl die Wohnungsschlüssel als auch das Geld annahm, das Adrian ihm noch schuldig war.

Niko hat Adrian diesbezüglich die Wahrheit gesagt, darum war der auch nicht dabei und er ist auch heute nicht mit zu mir gekommen, um Connor wiederzusehen, der sich mittlerweile wieder ins Gästezimmer verzogen hat, wo er die meiste Zeit ist und vor sich hin brütet. Noch lasse ich ihn, da ich wissen will, wie schlimm es wird. Aber wenigstens hat er keine auffälligen Entzugserscheinungen entwickelt, die auf Drogenmissbrauch hingedeutet hätten.

»Es ist erst der dritte Tag. Lass ihm Zeit«, schlage ich Niko vor und halte die Kaffeekanne hoch, als er nickt. »Soll ich noch eine Kanne aufsetzen?«

Wieder nickt er und ich erhebe mich, um in die Küche zu gehen und die Kaffeemaschine zu füllen. Wir haben uns vorhin auf der schmalen Terrasse niedergelassen, die direkt an meine offene Küche anschließt, weil es viel zu schön draußen ist, um an einem Sonntagmorgen drinnen zu sitzen. Darum habe ich Niko auch zu mir zum Frühstück eingeladen. Einerseits hatte ich gehofft, er würde es schaffen Adrian zu überreden, ihn zu begleiten, und andererseits weiß ich, dass er etwas Wichtiges mit mir und Connor besprechen will. Die Mappe, die er vorhin mitgebracht hat, liegt ungeöffnet auf meiner Arbeitsplatte und während ich darauf warte, dass der Kaffee durchläuft, nehme ich sie schließlich mit nach draußen.

Er schmunzelt, als er sie in meiner Hand entdeckt. »Soll ich Connor an den Haaren herschleifen?«

Ich lache leise und setze mich wieder. »Nein. Es ist Sonntag und an Sonntagen sind wir nett.« Ich wedle mit der Mappe in der Luft herum. »Also? Was ist das?«

»Ein Vertrag.«

Ich lege die Mappe völlig verdattert in meinen Schoß. »Sag mir jetzt bitte nicht, dass du kündigst.«

»Warum sollte ich kündigen?«, wundert er sich, woraufhin ich mit dem Finger auf die Mappe tippe. »Ein Vertrag ist keine Kündigung, jedenfalls meines Wissens nach«, erklärt Niko mir im nächsten Moment belustigt und streckt genüsslich die Beine aus. »Der Vertrag in der Mappe ist für Connor, aber ich schätze mal, er wird ihn ohnehin dir geben und dich um einen Kredit bitten, weil er so viel Geld kaum haben dürfte.«

Jetzt runzle ich dir Stirn. »Geld?«

»Eine Entschädigung für Adrian. Plus Schuldentilgung und Verdienstausfall. Er war dagegen. Sogar sehr.« Niko wirft mir einen ernsten Blick zu. »Aber ich war dafür, denn ohne kommt er nicht auf die Füße. Er braucht Sicherheit und mit dem Geld bekommt er sie. Außerdem braucht er einen guten Job, den du ihm beschaffen wirst.«

»Werde ich?«

»Willst du ihn in deiner Nähe haben oder nicht?«

Gutes Argument. Ich verbeiße mir ein Grinsen, doch Niko sieht mir die Belustigung trotzdem an, denn er nickt amüsiert und sein leises »Dachte ich mir.« habe ich einfach nicht gehört. Stattdessen löse ich den Gummi von den Rändern der Mappe und schlage sie auf.

Die Summe entlockt mir keinerlei Regung, weil sie Peanuts gegen die Summen ist, mit denen ich im Allgemeinen bei den wöchentlichen Besprechungen in meiner Firma jongliere. Dass Adrian bei der Summe ruhig geblieben ist, bezweifle ich jedoch und ich kann mir gut vorstellen, wie Connor darauf reagieren wird. Ich werde ihm einen Kredit geben, denn so viel Geld hat er nicht. Zu einem Zinssatz, der ihn nicht ruiniert, und mit einer entsprechend langen Laufzeit. Ich hätte nicht einmal was dagegen, es ihm zu schenken, doch den Versuch mache ich gar nicht erst. Aber das kläre ich später persönlich mit ihm. Mein Blick wandert über die einzelnen Posten, denn Niko hat alles akribisch aufgelistet und die bereits geleisteten Zahlungen am Ende von der großen Hauptsumme abgezogen. Ins Auge sticht mir schlussendlich allerdings Adrians Stipendium.

»Was hat er noch mal studiert?«

»BWL. Seinen Eltern zuliebe. Er will in die Werbung gehen. Selbstständigen, Künstlern und kleinen Unternehmen helfen, sich mit schlauer Werbung einen Ruf aufzubauen und Kunden anzulocken … Also genau das, was das 'Black Shine' braucht.«

Mein Kopf ruckt nach oben, doch Nikos Blick ist gelassen und verrät nichts. »Ach so?«

»Er braucht Berufserfahrung, wenn er sich später mit einem eigenen Namen selbstständig machen will.«

Und die kann er im Club reichlich sammeln. Alleine für die regelmäßigen Themennächte, die wir bisher vorrangig durch Mundpropaganda und bedruckte Zettel verbreiten, könnte ich dringend jemanden brauchen, der mir diese Arbeit abnimmt und der vor allem etwas mehr Fantasie hat als das, was ich in wenigen Minuten am PC zusammenschreibe. Werbezettel sind zwar praktisch, aber sie sind mir auch ein Dorn im Auge, weil sie einfach langweilig sind und weil ich immer öfter in anderen Clubs bunte Klappflyer, Poster an den Wänden, die auf baldige Ereignisse aufmerksam machen, und kunstvolle Webseiten im Internet entdecke, die verschiedene Locations vorstellen.

All das, was dem 'Black Shine' derzeit fehlt. Das ist zwar im Grunde kein Problem, weil der gute Name einiges wettmacht, aber wenn ich nicht langsam anfange, mit der Zeit zu gehen, verliert der Club den Anschluss an die moderne Entwicklung, die sich mehr und mehr auf das Internet konzentriert, und das will ich nicht. Wenn sich die Gesetze wirklich in naher Zukunft dahingehend verändern, dass die gesamte LGBT-Community mehr Rechte zugesprochen bekommt, und das wird sie, dessen bin ich mir sicher, werden immer mehr Menschen den Weg ins Outing wagen und diese Menschen sind potenzielle Gäste und damit mögliche Kundschaft. Doch wenn diese Kundschaft von meinem Club nichts weiß …

Ich sehe zu Niko. »Hat er schon irgendwas in der Richtung gemacht?« Niko grinst so zufrieden, dass ich ihm die Mappe am liebsten um die Ohren hauen würde. »Lass das! Also?«

»Blätter weiter.«

Ich blättere weiter, während er aufsteht und ins Apartment geht, um den Kaffee zu holen, der mittlerweile durchgelaufen sein müsste. Wenig später füllt er unsere Tassen auf und lacht leise, was ich gut verstehen kann, denn mein erstaunter Blick ist auf ein paar Skizzen gerichtet, die ich hinter dem Vertrag in der Mappe entdeckt habe. Einige sind mit Bleistiften gemacht, andere eindeutig am Computer entstanden. Es sind zwei Flyer, die das 'Black Shine' allgemein vorstellen, eine Einladung zur nächsten Nude-Night und der Entwurf einer Webseite, für die er ein paar Fotos verwendet hat, die vermutlich Niko gemacht hat, denn auf ihnen sind der Eingangsbereich vom Club und ein paar Innenaufnahmen aus den Spielzimmern zu sehen. Die Seite ist schlicht, man findet alle wichtigen Informationen auf einen Blick, genau das, was mir gefällt.

»Hast du ihm Tipps gegeben?«

Niko schüttelt den Kopf. »Ich habe ihm gesagt, du magst es schlicht und chic, und er hat die Bilder von mir, weil er meinte, dass das Auge immer mitisst und potenzielle Besucher wissen wollen, was sie im Club erwartet.« Niko deutet auf die Skizzen. »Das da ist das Ergebnis eines einzigen Nachmittags.« Er wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu. »Was glaubst du, wie gut er werden wird, wenn er erst mal einen eigenen Computer, die richtigen Designprogramme und ein vernünftiges Budget hat, mit dem er arbeiten kann?«

Dem kann ich nicht widersprechen, aber ich will vorher die Meinung von den Leuten hören, die in meiner Firma für diesen Kram zuständig sind. Wenn die mir sagen, dass Adrian so gut ist, wie ich glaube, werde ich ihm einen Job anbieten.

Ich blättere zurück zum Vertrag, suche kurz und schaue zu Niko, als ich nicht fündig werde. »Hat er kein Konto? Ich kann ihm die Entschädigung schlecht bar in die Hand drücken.«

Nikos Blick verdüstert sich. »Nicht mehr. Er hat in letzter Zeit alles bar erledigt, wegen seiner Schulden. Ich sorge dafür, dass er sich gleich morgen auf meine Adresse ummeldet, damit er eine aktuelle Anschrift und meine Telefonnummer angeben kann. Einen Führerschein hat er nämlich nicht, ergo, auch kein anderes Ausweispapier, und die Sozialversicherungsnummer hat er noch nicht wiedergefunden. Er besitzt zwar kaum etwas, aber in seinen Unterlagen herrscht derzeit das reinste Chaos.«

»E-Mail-Adresse?«

Niko deutet auf den Vertrag. »Letzte Seite.«

Ich blättere um und nicke, als ich sie entdecke. »Gut. Damit können wir arbeiten, sobald ich mir eine weitere Meinung über seine Skizzen eingeholt habe.« Mir kommt ein Gedanke. »Lass mich das mit dem Konto erledigen, ich kenne da jemanden, der mir gute Konditionen machen wird. Ich kümmere mich um die Entschädigung und lasse ihn für Online-Banking freischalten. Was ist mit Kreditkarten? Braucht er ein Limit?«

Niko schnaubt. »Der Junge dreht jeden Cent dreimal um … Nein, er braucht kein Limit, weil er nie zu viel ausgeben wird, dessen kannst du dir sicher sein.«

Ich werde mich auf Niko verlassen, er kennt Adrian derzeit einfach besser als ich. »Dann werde ich die Entschädigung für Adrian sicher anlegen, mit Zugriff auf eine feste Summe jeden Monat. So bekommt er wenigstens gute Zinsen für sein Geld.« Mir fällt noch etwas ein. »Was ist mit einer neuen Wohnung? Hat er sich schon umgeschaut?«

»Nein. Das will er erst machen, wenn er wirklich Geld hat.« Niko schmunzelt. »Er traut dem Braten nicht.«

Ich muss ungewollt lachen, denn das kann ich ziemlich gut verstehen. Man bekommt ja nicht jeden Tag eine Viertelmillion Dollar in Aussicht gestellt, und als ich damals meine allererste Million verdient hatte, habe ich meinen Kontoauszug fast eine Woche lang jeden Tag angesehen, da ich einfach nicht glauben konnte, dass mir tatsächlich so viel Geld gehört. Heute bin ich es gewohnt, dass auf meinem Konto eine Summe steht, die die meisten Menschen in ihrem Leben nicht verdienen werden.

Was mich daran erinnert, dass ich bald wieder den vielen Jugendhäusern, Obdachlosenheimen und auch all den anderen Wohltätigkeitsorganisationen einen Besuch abstatten muss, um zu sehen, was sie aus meinen Spenden machen. Vielen mag das egal sein, die sich mit Spenden sozial engagieren, aber ich will wissen, was aus meinem Geld wird, denn ich lasse mich nicht betrügen und ich gehe rigoros gerichtlich gegen jeden vor, der das versucht. Und es waren anfangs durchaus einige Häuser, wo Spendengeld dann irgendwo in tiefen Löchern versickerte und weder den Obdachlosen noch Jugendlichen zu gute kam, für die es gedacht war.

Als ich davon erfuhr, habe ich mein Anwaltsteam auf diese Häuser angesetzt und ein Jahr später waren zwei Häuser unter neuer Leitung neu eröffnet, acht Betrüger saßen im Knast und drei hohe Tiere im Jugendamt wurden überraschenderweise in den Vorruhestand oder anderweitig versetzt, wo sie keinerlei Schaden mehr anrichten konnten.

Ich helfe gern und auch viel, aber ich lasse mich dabei nicht bescheißen. Schon gar nicht von geldgierigen Arschlöchern, die dann ausgerechnet diejenigen in unserer Gesellschaft beklauen müssen, die ohnehin schon nichts mehr besitzen.

»Wow, wen erwürgst du gerade in Gedanken?«, reißt mich Nikos belustigte Frage aus meinen Erinnerungen.

»Den Mistkerl, der sich damals die Spendengelder für mein neues Obdachlosenasyl abzweigen wollte.«

»Ah«, macht Niko verstehend, der die Geschichte aus erster Hand kennt, weil ich stinksauer war, als mein Team schließlich dahinterkam, wer das Geld geklaut hat, und schnaubt abfällig. »Drecksack. Ich hoffe, er verrottet im Knast.«

»Von wem redet ihr?«

Ich sehe zur offenen Terrassentür und deute einladend zum Tisch, der immer noch mit den Resten des Frühstücks gedeckt ist. »Hol dir ein Gedeck. Hast du Hunger?«

Connor nickt nach kurzem Zögern und Niko steht auf, um einen dritten Stuhl zu holen, denn üblicherweise habe ich hier nur zwei zu stehen, weil es sonst auf Dauer zu eng wäre. Aber für ein Frühstück wird es gehen. Neben Connor hält Niko inne, wirft ihm ein Lächeln zu und dann …

»Der ist für dich«, erklärt er und drückt Connor einen Kuss auf die Wange. »Soll ich dir von Adrian geben.«

Connor starrt Niko vollkommen verdattert nach, als der ins Apartment verschwindet, jedoch nicht ohne mir zuzuzwinkern und danach zu grinsen. Frecher Russe. Ich weiß genau, dass er sich mit dem Stuhl holen jetzt Zeit lassen wird, damit ich kurz mit Connor reden kann, also sollte ich die Zeit gut nutzen.

»Setz dich«, bitte ich ihn daher und reiche ihm die Mappe, sobald er Platz genommen hat. »Das ist ebenfalls für dich.«

Er öffnet die Mappe ohne ein weiteres Wort, liest und dann weiten sich seine Augen, ehe er mir einen fassungslosen Blick zuwirft. Mit der Reaktion habe ich gerechnet und warte daher ab, was noch kommt, doch erst mal richtet sich Connors Blick zurück auf die Papiere und er fängt an sie durchzublättern, bis er schließlich bei den Skizzen ankommt. Da. Ein Lächeln. Das erste, ehrliche Lächeln seit … Gott, ich kann mich nicht daran erinnern, wann Connor das letzte Mal so gelächelt hat.

»Ich wusste, dass er gut ist«, murmelt er und sieht zu mir auf. »Stellst du ihn ein?«

»Wahrscheinlich.«

Connor nickt und ist zufrieden, denn er blättert zurück auf den Vertrag. »Er verdient das Doppelte, wenn nicht mehr.«

»Wir können die Summe verändern, aber dann stotterst du den Rest deines Lebens den Kredit ab, den du für diese Summe aufnehmen musst.«

»Keine Bank gibt mir über so eine Summe einen Kredit.«

»Wie praktisch für dich, dass es Privatkredite zu günstigen Konditionen gibt«, halte ich ruhig dagegen und diesmal dauert es länger, bis Connor mich wieder ansieht. »Ja«, komme ich der Frage zuvor, die ich in seinen Augen sehen kann. »Ich gebe dir den Kredit und wir klären die Konditionen unter uns, denn ich werde dir nicht erlauben, die ganze Summe zu bezahlen.«

»Darren ...«

»Nein. Es ist mein Club, ich fühle mich verantwortlich, also übernehme ich einen Teil der Kosten.« Ich deute auf den Tisch. »Iss etwas. Wenigstens einen Toast. Mir zuliebe«, bitte ich, weil sein angewiderter Blick Bände spricht. Dann sehe ich zur Tür. »Niko? Setz Teewasser auf!«

»Du besitzt so was profanes wie einen Teebeutel?«, kommt hörbar erstaunt zurück und sorgt bei Connor für ein Kichern, während ich die Augen verdrehe.

»Ja, ich besitze tatsächlich einige Teebeutel. Oben rechts im Küchenschrank. Wofür habe ich wohl sonst bitteschön einen Wasserkocher?«

»Das will ich gar nicht wissen«, kontert Niko rotzfrech und ich knurre erbost. Ich sollte ihn wirklich dringend mal wieder ans Andreaskreuz im Club fesseln und ihm dann den frechen Arsch versohlen.

Es ist schon eine Weile her, dass wir solche Spiele gespielt haben und schon damals musste ich ihn immer zärtlich dazu überreden. Wobei 'zärtlich' in den Fällen gleichbedeutend war mit Zuckerbrot und Peitsche, letzteres üblicherweise sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Niko liebt es nämlich genauso sehr sich fallenzulassen, wie er seinen Partner dazu bringen kann, sich bei ihm fallenzulassen, aber er ist einfach zu sehr ein Dom, als dass er es öfter tut. Ich hoffe wirklich, dass er irgendwann den einen Partner für sich findet, bei dem er regelmäßig beide Seiten ausleben kann.

Aber zurück zum Thema. »Teewasser, Niko! Sonst landest du noch heute Abend am Andreaskreuz.«

Ich höre das leise Lachen in meiner Küche sehr wohl, aber ich werde es großzügig ignorieren, wie meistens, da wir beide doch eigentlich längst wissen, dass diese Zeiten vorbei sind. Es hat Spaß gemacht, gar keine Frage, vor allem weil Niko zu den wenigen Männern in meinem Schlafzimmer gehörte, die mich nicht nur psychisch, sondern vor allem körperlich teils bis aufs Äußerste gefordert haben. Doch alles im Leben hat seine Zeit und unsere ist vorüber, während meine mit Adrian noch nicht einmal begonnen hat.

Und das wird sie auch nie, wenn ich nicht endlich anfange, die Risse zu kitten, die sich durch meine alte Freundschaft mit Connor ziehen, damit der anschließend in der Lage ist, sich mit Adrian auseinanderzusetzen. Und danach, wenn alles gut läuft und ich das Glück habe, dass Adrian mich möglicherweise so anziehend findet, wie im letzten Jahr Connor … Nun, das wird sich zeigen. Jetzt steht erst mal ein anderes Problem an, das ich vorhabe zu lösen, und zwar gleich.

Mein Blick sucht Connors, dann deute ich erneut zum Toast und er seufzt tief auf, bevor er endlich nachgibt und sich wenig später etwas Marmelade auf eine Toastscheibe schmiert. Er ist nicht gerade begeistert davon, etwas zu essen, das sehe ich ihm deutlich an, aber als Niko schließlich mit einer Tasse Früchtetee und einem weiteren Stuhl zu uns stößt, entspannt Connor sich ein wenig und nimmt nach kurzem Zögern sogar das gekochte Ei von mir an, das ich vorhin übrig gelassen habe.

Die nächste halbe Stunde vergeht ruhig, weil jeder von uns seinen Gedanken nachhängt. Das haben wir früher oft gemacht und manchmal war sogar Danny dabei. Aber das hat ziemlich nachgelassen, seit er mit diesem Typen zusammen ist, der nicht zu ihm passt. Nur ist das leider nicht meine Entscheidung und er wird schon irgendetwas an diesem Mann finden.

Egal. Für heute bin ich vollauf damit zufrieden, dass wir zu dritt sind und dass Connor sich gerade einen zweiten Toast mit Käse belegt, während er nebenbei unentschlossen das restliche Rührei auf Nikos Teller beäugt.

Er isst. Freiwillig.

Wenn das kein guter Anfang ist, was dann?

 

 

Kapitel 7

Adrian

 

 

 

 

Am Montag macht Niko seine Drohung vom Wochenende tatsächlich wahr und sorgt dafür, dass ich mich offiziell bei den hiesigen Behörden auf seine Adresse ummelde. Hinterher fährt er, nach einem kurzen Anruf bei Darren, mit mir zu einer Bank, wo wir freudestrahlend von einer jungen Dame im knielangen Rock und viel zu enger Bluse in Empfang genommen werden, die uns scheinbar erwartet.

Oder anders gesagt, sie erwartet nur mich, weil ich hier seit Neuestem ein Bankkonto mit sicherer Anlage, hohen Zinsen und einer Kreditkarte ohne jedes Limit habe, plus Zugang zum Online-Banking, und nur der liebe Gott weiß, was ich in dieser Bank plötzlich sonst noch alles besitze. Alles ist ordentlich auf meinen Namen angemeldet, samt meiner neuen Anschrift und einem monatlichen, festen Betrag zu meiner freien Verfügung, bei dem mir prompt schwindlig wird. Und als wäre das nicht schon genug, fällt der netten Dame, ihr Name ist Sarah, mitten in ihren Erklärungen ein, dass ein Mister Walker ja noch etwas für mich dagelassen hat. Sie eilt los, um es zu holen, während mir immer noch der Kopf schwirrt.

»Was …? Hat er …? Hast du …? Er hat wirklich …?«

Ich starre Niko entsetzt an, deute gleichzeitig mit der Hand hilflos in der Luft herum, und wie so oft in den letzten Tagen, schenkt er mir ein mitfühlendes Lächeln und nimmt hinterher meine Hand in seine.

»Darren Walker hält sein Wort, wenn er es einmal gibt, was im Übrigen auch für Connor gilt. Du hast freien Zugriff auf das Konto, denn es ist deines. Ich weiß allerdings nicht, was er dir noch alles organisiert hat.« Er schürzt kurz die Lippen. »Wenn ich so darüber nachdenke, es könnte von einem Handy bis hin zu einer Eigentumswohnung alles sein.«

Was? Mir wird schlecht. »Oh mein Gott.«

»So, da haben wir ihn schon.« Sarah kommt wieder in das kleine, aber geschmackvoll eingerichtete Büro, reicht mir einen dicken, braunen Umschlag und lächelt. »Mister Walker bat uns darum, Ihnen ein wenig Privatsphäre zu geben, bevor Sie den Umschlag öffnen.« Sie sieht zu Niko. »Hätten Sie nicht Lust auf einen Kaffee, Mister …?«

»Markow. Nikolaj Markow.«

Die junge Frau lächelt, als hätte sie soeben einen Sechser im Lotto gewonnen und ich beobachte die beiden überrascht und belustigt zugleich, denn offenbar ist Niko interessiert. Und ich dachte, er steht ausschließlich auf Männer. Wie sehr man sich täuschen kann. Ich warte sprachlos ab, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat, und selbst dann brauche ich noch einige Minuten Zeit, um genügend Mut zu sammeln, den Umschlag auch zu öffnen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739499765
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Drama Freundschaft schwul Romance Dark Romance Liebesroman

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Aus der Asche geboren