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Feuerengel

von Mathilda Grace (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

Riley Greene ist ein Träumer, für den die eigene Fantasie so fest zum Leben gehört, wie für andere Menschen das Atmen. Er ist fasziniert von uralten Geschichten und Erzählungen, die er regelmäßig in den Büchern des kleinen Buchladens findet, in dem er arbeitet. Besonders die Legende der Feuerengel hat es ihm angetan, jenen fantastischen Wesen, deren Liebe ewig währt und erst mit dem Tode beginnen soll. Riley hätte zu gern eine Eule als Schutztier, wie es den Feuerengeln nachgesagt wird, doch als aus diesem heimlichen Wunsch plötzlich Wirklichkeit wird, muss Riley erkennen, dass zwischen seiner Fantasie und der Realität tiefe Abgründe liegen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Kapitel 1

 

 

 

 

Die kleine Glocke über der Tür begann hell zu bimmeln, als Riley am Morgen den in einer gemütlichen Seitenstraße in Boston liegenden kleinen Laden aufschloss und sich darüber wunderte, dass Mister Jones, sein Boss und auch der Besitzer des Geschäfts, nebst dem dazugehörigem Haus, noch nicht zu sehen war. Rileys Blick wanderte unwillkürlich zu der uralten Kuckucksuhr an der Wand hinter dem Kassentresen, die ihm verriet, dass er heute sogar pünktlich erschienen war, obwohl er sich letzte Nacht nicht von seinem aktuellen Lesestoff hatte losreißen können.

Werwölfe und Vampire, zerrissen in der Jahrhunderte alten Schlacht um die Welt, vereint durch die Liebe zweier Männer, die es eigentlich nicht geben durfte. Und trotz der schon von ihm gelesenen 800 Seiten war kein Ende in Sicht. Riley liebte Mehrteiler und gleichzeitig hasste er sie, denn bei diesem lagen noch zweimal so viele Seiten vor ihm, bis er vielleicht auf ein Happy End hoffen durfte. Wehe, wenn nicht. Nach allem, was der ruhige Werwolf Marton und der unbändige Vampir Hugh bereits durchgemacht hatten, verdienten sie ein gemeinsames und vor allem glückliches Ende.

Riley schloss lächelnd die Tür hinter sich, in Gedanken bei Marton und Hugh, und stolperte auf dem Weg zum Tresen, wo er seinen Rucksack ablegen wollte, beinahe über einen Stapel Bücher, der vor ihm auf dem Boden lag. Stirnrunzelnd ging er in die Hocke und griff nach dem obersten Buch. Der Herr der Ringe? Auf dem Boden? Seltsam. Riley erhob sich und ließ den Blick langsam an überquellenden Bücherregalen und den zwei durchgesessenen Sesseln für Besucher entlanggleiten, doch auf den ersten Blick sah alles aus wie immer. Keine Spuren eines Einbruchs oder Diebstahls, aber warum lagen dann Bücher auf den dunklen Holzdielen, die dringend gefegt werden mussten, und wo war Mister Jones?

Riley fing an sich Sorgen zu machen. Maximilian Jones war nicht mehr der Jüngste und vielleicht sollte er die Hintertreppe nehmen, die den Laden mit dessen gemütlicher Wohnung im Obergeschoss verband, um nach ihm zu sehen. Es sah Mister Jones einfach nicht ähnlich, zu spät zu kommen.

Riley schloss die Ladentür von innen wieder ab, drehte das 'Geschlossen'-Schild um und eilte zur Treppe. Hoffentlich lag sein Boss nicht tot in seiner Wohnung im Bett. Gestorben an einem Herzinfarkt. Oder überfallen von bösen Geistern, einem Dämon oder einem der gefährlichen Nachtalbe, der ihn seiner Lebenskraft beraubt hatte. Vielleicht hatte sich auch ein Vampir seiner bemächtigt oder ein Seelenfresser. Laut einer sehr alten Legende hatten Seelenfresser früher vor allem Schwangere in den Nächten überfallen, um die reine Seele des Ungeborenen zu stehlen. Heute überfielen sie lieber alte Leute am Ende ihres Lebens, weil es weniger auffiel, wenn diese Menschen starben, als wenn in einer bestimmten Gegend mehrere Frauen auf einmal tote Kinder zur Welt brachten.

»Mister Jones?« 

Riley klopfte an die Tür und lauschte, doch er bekam keine Antwort. Weder auf sein erneutes Rufen noch auf das weitere zweimalige Klopfen, und da schlug seine Sorge in Angst um. Er wollte keine Leiche finden und vor allem wollte er sich nicht nach einem neuen Job umsehen müssen, sollte Mister Jones wirklich den letzten Gang irdischen Lebens gegangen sein. Er liebte den kleinen Buchladen nicht nur, weil sein Boss nichts dagegen hatte, dass er abends Bücher mit nach Hause nahm, um sich mit ihnen die Nacht um die Ohren zu schlagen und in fremde, faszinierende Welten einzutauchen. Riley mochte den verschrobenen Mann, der sich seit Jahren standhaft weigerte in seinem Geschäft eine neuere Kasse einzubauen oder die Leute mit Kreditkarte zahlen zu lassen.

Maximilian Jones hatte für die meisten Errungenschaften der modernen Welt nicht mehr übrig als einen abfälligen Blick oder ein Schnauben. Soweit Riley wusste, besaß er nicht einmal einen Fernseher oder ein Handy. Und einen Computer gab es nur im Ladenbüro, wegen der Buchhaltung und der Bestellung von Büchern.

Apropos Handy …

Riley zog sein eigenes aus der Tasche und hielt dann ratlos inne. Sollte er wirklich die Polizei rufen? Was, wenn sein Boss nur verschlafen hatte? Man würde ihn auslachen und Mister Jones wäre vermutlich wütend, weil er vollkommen überzogen reagiert hatte. Riley steckte das Handy wieder weg und klopfte erneut. Nichts.

Wahrscheinlich war es sinnlos, aber er versuchte sein Glück dennoch und rüttelte am Türknauf. Riley zuckte erschrocken zusammen, als die Tür überraschend aufschwang und ihm den Blick in ein volles Wohnzimmer freigab, das an allen Wänden vom Boden bis hoch zur Decke mit Bücherregalen zugestellt war. Kein Wunder, dass Mister Jones einen Buchladen führte.

Riley trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er fühlte sich augenblicklich wie im Paradies, nachdem seine Augen über die ersten Buchrücken geglitten waren, um ihre Titel zu entziffern. Fantasyromane, wohin er auch schaute. Es mussten hunderte, tausende sein. Dicke Hardcover, Einbände aus blutrotem Samt oder düsterem schwarz. Dazwischen gab es zerfleddertes, altes Papier, gebunden mit einem Stück Schnur. Oder lose Seiten, an den Ecken eingerissen. Und von überall her strömte der starke Duft von Papier in seine Nase.

Du lieber Himmel, waren das Landkarten? Gerolltes Papier, mit Sicherheit sehr alt, und Riley, eine Hand schon begehrlich erhoben, nahm sie schnell wieder herunter, weil er auf einmal fürchtete, das Papier würde bei seiner Berührung umgehend zu Staub zerfallen.

»Gefällt es dir?«

Rileys Herz setzte einen Schlag aus und er fuhr herum, um gleich darauf erleichtert die Luft auszustoßen, weil er Mister Jones gesund und schmunzelnd in der offenen Tür stehen sah, die nur einige Schritte links von der Wohnungstür entfernt lag und bei seinem Eintreten geschlossen gewesen war.

»Es geht Ihnen gut.«

Mister Jones lachte leise und nickte, um gleich darauf heftig zu niesen. Sein Boss war offensichtlich erkältet. Das war also der Grund für dessen Verspätung. Gott sei Dank hatte er nicht die Polizei gerufen.

»Gesundheit«, sagte er und grinste schief, als Mister Jones abwinkte und sich die Nase putzte. »Entschuldigung, dass ich einfach so reingeplatzt bin, aber niemand hat auf mein Klopfen reagiert und ich habe mir Sorgen gemacht. Sie kommen nie zu spät in den Laden.«

»Ich wollte auch heute pünktlich erscheinen und war schon auf dem Weg nach unten, aber die Viren waren der Meinung, ich solle lieber zu Hause bleiben. Möchtest du einen Tee, wo du schon mal hier bist?«

Deswegen war die Wohnungstür unverschlossen gewesen. Riley nickte, deutete dabei aber gleichzeitig nach unten. »Soll ich nicht lieber den Laden aufmachen?«

Sein Boss winkte erneut ab. »Das kannst du auch noch in einer halben Stunde tun. Ich wollte ohnehin mit dir sprechen.«

»Worüber?« Riley schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Oh mein Gott, Sie hören auf, oder? Sie schließen den Laden, gehen in Rente und verbringen Ihr restliches Leben auf einer uralten Burg drüben in Schottland.«

Sein Boss verschwand lachend in den Gang. »Was sollte ich denn in Schottland? Weißt du, wie kalt es da ist? Vor allem auf diesen zugigen Burgen. Meine alten Knochen würden sich bei mir bedanken. Nein, ich habe vor, nach Hawaii zu ziehen, den Rest meiner Tage am Strand zu liegen und hübschen Mädchen beim Hulatanzen zuzusehen.«

»Hulatanzen?«, echote Riley verdattert und wurde prompt dafür ausgelacht. »Sie veralbern mich.«

»Natürlich tue ich das. Und nun komm her. Lass uns einen Tee trinken und dabei erzähle ich dir, was ich wirklich mit dir besprechen wollte«, sagte Mister Jones und nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf die Bücher, folgte Riley ihm durch den schmalen Gang in eine helle, sehr gemütlich eingerichtete und erstaunlicherweise verdammt ordentliche Küche. »Hättest du nicht gedacht, hm?«, fragte sein Boss bei seinem überraschten Blick verschmitzt und Riley nickte nur, um gleich darauf rot anzulaufen.

»Äh ...«

Mister Jones lachte leise und deutete zum Tisch. »Setz dich. Und wehe, du fragst mich, ob du helfen darfst. Ich bin zwar alt, aber noch lange nicht zu tatterig, um für uns Tee zu kochen.«

Während Riley ein Grinsen verbarg, schaute er sich in der Küche ein bisschen genauer um. Sämtliche Möbel waren aus hellem Holz und schon ziemlich alt, aber sie waren gepflegt und gaben der Küche etwas Heimeliges. Es erinnerte ihn an sein Zuhause, an die bunt zusammengewürfelte Küche seiner Eltern, die nicht im Traum daran dachten, sie durch eine Einbauküche aus dem Katalog zu ersetzen. Er sollte sie mal wieder anrufen. Hören, was es an Neuigkeiten gab und was sein Bruder trieb. Also abgesehen von seiner Arbeit auf dem Familienhof, den er vor fünf Jahren übernommen hatte.

Das hielt ihren alten Herrn zwar nicht davon ab, weiter Tag für Tag bei allen anfallenden Arbeiten in den Ställen und auf den Feldern mitzuhelfen, so gut er konnte, aber die allgemeine Leitung überließ er Rowan und soweit Riley wusste, hatte sein Bruder ihrem Landwirtschaftsbetrieb mit neuen, frischen Ideen einen Aufschwung verpasst, der allen gutgetan hatte.

Zudem hatten sie den zusätzlichen Gewinn jedes Jahr gut gebrauchen können, um dringende Renovierungen zu machen und in neue Gerätschaften zu investieren, die ihnen Zeit und damit am Ende wiederum Geld ersparten.

Mit sechsunddreißig Jahren hatte Rowan sein Lebensziel erreicht und war damit rundum glücklich, während Riley selbst die verschlafene Kleinstadt, in der er und Rowan groß geworden waren, gleich nach der Schule verlassen hatte, um fast ans andere Ende von Massachusetts, nach Boston, zu ziehen. Wieso er unbedingt von daheim weggewollt hatte, wusste er bis heute nicht so genau, aber Riley hatte sich einfach nicht vorstellen können, Farmer zu sein, Kühe zu halten und Felder zu bestellen. Da arbeitete er lieber für den Mindestlohn in Mister Jones' kleinem Buchladen, mit einer unbegrenzten und stetig wachsenden Zahl an neuem Lesestoff. Es gab nichts Schöneres in seinen Augen.

»Warum liegen unten eigentlich Bücher auf dem Boden?«, fiel Riley ein und Mister Jones warf ihm mit gerunzelter Stirn einen irritierten Blick zu. »Der Herr der Ringe unter anderem«, holte er weiter aus und da nickte sein Boss.

»Oh, stimmt. Die wollte ich gestern Abend umräumen, nur kam mir ein letzter Kunde dazwischen, nachdem du gegangen warst. Ich muss sie vergessen haben. Räumst du sie später bitte für mich ein?«

»Na klar. In welches Regal sollen sie denn?«

»Zu den Klassikern, neben der Kasse.«

Riley nickte zufrieden. »Mache ich.«

»Und? Wie weit bist du letzte Nacht mit deinen Werwölfen und Vampiren gekommen?«

Mister Jones mochte alt, krank und langsam wohl auch ein wenig gebrechlich sein, aber er wusste immer, welches Buch er aktuell las. Riley stöhnte übertrieben. »Der Alpha von Marton hat sie erwischt und damit war der Band zu Ende. Ich werde gleich heute Abend den nächsten anfangen.«

Sein Boss gluckste heiter und gesellte sich zu ihm, dabei zwei Tassen auf dem Tisch abstellend, aus denen es wunderbar nach Kräutern roch.

»Danke.« Riley legte seine Hände um die Tasse. »Also? Was liegt an?«

Anstatt zu antworten, trank Mister Jones einen Schluck Tee und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Mit einer Hand strich er über die verblasste Wachstischdecke mit einem Blumenmuster und seufzte leise, ehe er nickte, als würde er sich selbst damit Mut machen wollen, und ihn ansah.

»Du hattest gar nicht so unrecht. Ich möchte aufhören.«

Riley schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sein Boss lächelte ihm zu. »Riley, ich bin neunundsiebzig Jahre alt, es ist längst überfällig.«

»Aber Sie lieben Bücher.«

»Natürlich. Das wird sich auch nie ändern, aber ich merke schon seit einigen Jahren, dass ich müde werde, und ich will nicht zu denen gehören, die eines Tages in der Arbeit tot vom Stuhl fallen. Ich möchte in den Ruhestand gehen. Schon länger, ehrlich gesagt. Ich habe es nur so lange vor mir hergeschoben, weil ich nicht wusste, was aus meinem Laden werden soll. Ich will nicht, dass er geschlossen oder eingestampft wird. Darum wollte ich mit dir reden.«

»Mit mir?«, fragte Riley verblüfft.

»Ich möchte, dass du meinen Laden weiterführst.«

Riley blinzelte verdattert. Hatte er sich gerade verhört? Ja, das musste es sein. Er war nämlich ganz sicher kein Mann, der ein Geschäft führte. Wer auf die Idee kam, ihm so eine Aufgabe mit solcher Verantwortung zuzutrauen, musste verrückt sein. Oder alt und verzweifelt, so wie sein Boss.

»Mister Jones ...«

»Nein, sag es nicht«, unterbrach der ihn sofort, als hätte er förmlich auf den Widerstand gewartet. »Buchführung, Steuern, Bestellungen … Man kann alles erlernen, Riley, und ich weiß, dass der Laden bei dir in guten Händen wäre. Du liebst Bücher genauso sehr, wie ich es tue.«

»Mister Jones ...«

»Maximilian.«

Riley lächelte kurz, um danach den Kopf zu schütteln. »Sie und ich wissen, dass das wahnsinnig ist. Maximilian, ich habe keine Ahnung davon, wie man ein Geschäft führt, und ich will es auch gar nicht lernen. Ich wollte nie irgendeine Form von Verantwortung. Ich liebe meinen Job so wie er ist.«

»Weil er dir genug Zeit zum Lesen lässt, ich weiß«, konterte sein Boss belustigt und trank einen weiteren Schluck Tee. »Und ich kann deine Bedenken verstehen, glaub mir, aber es gibt nur dich. Wenn du Nein sagst, verkaufe ich und dann verlierst du deine Arbeit.«

»Scheiße«, platzte aus Riley heraus, doch bevor er sich bei seinem Boss entschuldigen konnte, winkte der ab und lächelte. »Wann wollen Sie denn aufhören?«

»Das Café nebenan will seine Räume erweitern. Sie haben mir ein gutes Angebot gemacht.«

»Und Ihre Wohnung?«, fragte er besorgt, denn wenn diese Leute seinen Boss auf die Straße setzen wollten, würden sie ihn von seiner unfreundlichen Seite kennenlernen.

»Bleibt, wie sie ist, keine Sorge. Sie würden natürlich meine Treppe zum Laden runter abreißen, bieten mir aber zugleich ein lebenslanges Wohnrecht mit einer günstigen Miete an. Ich habe bis Jahresende Zeit, mich zu entscheiden.«

Riley schob die Tasse von sich und fuhr mit beiden Händen über sein Gesicht. Zwei Monate. Wie sollte er in zwei Monaten ausreichend Geld zusammenkratzen, um einen Buchladen zu kaufen? Sofern er sich denn dafür entschied, was er, da war er ehrlich zu sich selbst, überhaupt nicht wollte.

Du lieber Himmel, er wollte wirklich kein Geschäft führen. Er hatte schon den Familienbetrieb niemals führen wollen. Das war nicht im Geringsten seine Welt. Riley war völlig zufrieden damit ein kleiner unbedeutender Angestellter in einem ebenso kleinen Laden zu sein. Die Vorstellung, seinen Job aufgeben zu müssen, um in einem der riesigen, unpersönlichen Buchläden in der Innenstadt hinter der Kasse zu stehen, verursachte ihm Übelkeit.

»Ich habe das Angebot schon seit acht Wochen auf meinem Tisch liegen, ich habe mich nur nicht getraut, es dir zu sagen, weil ich wusste, dass ich dir damit wehtue«, sagte Mister Jones leise. »Du sagst Nein, nicht wahr?«

»Ich ...« Riley brach ab und schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung ... Ich will kein Boss sein.«

»Ich weiß, mein Junge. Du möchtest träumen, genauso wie ich es früher viele Jahre lang getan habe. Es gibt Menschen, die passen einfach nicht gut in diese laute, hektische Welt, und ich glaube, wir beide gehören dazu.«

»Das klingt, als wären wir Exoten.«

»Sind wir das denn nicht?«, fragte Mister Jones trocken und zwinkerte ihm zu, als Riley ihn ansah. »Uns gehen Bücher über alles. Ich habe nicht mal ein Handy oder einen Fernseher. Und ich hätte auch keinen Computer und dieses Internet, wenn ich es nicht für den Laden bräuchte. Ich wäre überglücklich, allein mit meinen Büchern um mich herum.«

»Ich weiß, was Sie meinen.«

»Na ja … Sieh es mal so, du hast zumindest ein Handy und einen Computer zu Hause. Du bist also etwas weniger ein Exot als ich«, erklärte Mister Jones lässig und schmunzelte, als Riley darüber lachte. »Trink deinen Tee und dann öffne den Laden. Nimm dir Zeit, Riley. Schlaf ruhig einige Nächte darüber, ehe du mir eine Antwort gibst. Es hat keine Eile. Du hast noch zwei Monate, also musst du nichts sofort entscheiden. Ich will nur, dass du weißt, wenn du Ja sagst, dann helfe ich dir und bringe dir alles bei, was du wissen musst.«

 

 

Kapitel 2

 

 

 

 

Mitte Dezember war Riley mit seinen Überlegungen nicht einen Schritt vorwärtsgekommen. Sollte er den Laden kaufen oder nicht? Sollte er Geschäftsmann werden oder nicht? Sollte er ins sprichwörtlich kalte Wasser springen, um nicht Anfang Januar gezwungen zu sein, sich einen neuen Job zu suchen? Er wusste es einfach nicht und Mister Jones war ihm bei dieser und allen anderen Fragen leider keine Hilfe, da er ihn nicht zu einer Entscheidung drängen wollte und sie zudem im Laden in den letzten Wochen genug zu tun hatten.

Die bevorstehende Winter- und Weihnachtszeit sorgte jedes Jahr über mehrere Wochen hinweg für einen wahren Andrang von Menschen, die sich mit Büchern für jede Gelegenheit oder einem Weihnachtsgeschenk für ein geliebtes Familienmitglied oder einem guten Freund eindecken wollten.

Vor allem die unzähligen Fans aus der Fantasyecke kamen in Mister Jones' Laden dabei voll auf ihre Kosten. Riley brachte daher den lieben langen Tag damit zu, dicke, dünne, große und kleine Bücher einzutüten oder, wenn Kunden das wünschten, in extra dafür angeschafftes Geschenkpapier zu wickeln. Sein Boss mochte zwar mit der Moderne nichts am Hut haben, aber wenn es um seine Bücher ging und darum, sie bestmöglich für Käufer und Beschenkte zu präsentieren, war er der erste, der in der Vorweihnachtszeit loszog, sobald ihnen wieder einmal das Geschenkpapier ausging.

Ihm selbst wäre die alljährliche Suche nach den passenden Weihnachtsgeschenken normalerweise erspart geblieben, denn in seiner Familie hatte man das ganze Brimborium schon vor langer Zeit abgeschafft. Seine Mutter hatte lieber ihre Familie um sich, als Geschenke einmal quer durch den Bundesstaat zu schicken, und da er der einzige Ausreißer war, der nicht mehr daheim lebte, war es deshalb auch seine einzige Aufgabe, über Weihnachten nach Hause zu kommen.

In den ersten Jahren hatte sich Riley regelmäßig mit einer mehr oder weniger dummen Ausrede davor gedrückt, bis sein Bruder schließlich völlig überraschend bei ihm vor der Tür aufgetaucht war und ihm die Leviten gelesen hatte. Daher fuhr er seit nun mehr acht Jahren pünktlich über die Feiertage nach Hause. Doch seit er dreißig Jahre alt geworden war, ohne zu feiern und ohne Geschenke – abgesehen von der Hardcover-Sonderedition des Herrn der Ringe, die ihm Mister Jones geschenkt hatte –, hatte sich etwas in ihm verändert.

Anfangs war es Riley überhaupt nicht aufgefallen, denn die Veränderung war schleichend gekommen, aber in den letzten Jahren fuhr er gern nach Hause und kaufte sogar gern kleinere Geschenke. Sowohl für seine Familie als auch für seinen Boss, obwohl Mister Jones immer mit ihm schimpfte, wenn er es tat. Aber die leuchtenden Augen in dem faltigen Gesicht gaben ihm jedes Mal recht, dass er das Richtige tat, und aus diesem Grund hatte Riley nicht eine Sekunde gezögert, als er vor einer Woche, auf dem Rückweg vom Einkaufen, eine wunderschöne Schreibfeder entdeckt hatte.

Tiefschwarz, mit goldenen Verzierungen versehen, hatte sie auf einem schmalen Kasten gelegen, der dieselben Ornamente zeigte. Riley hatte bei dem Preis fast der Schlag getroffen, aber er hatte sie gekauft und jetzt lag sie in seiner Wohnung bereit, um am letzten Tag, bevor Mister Jones seinen Laden über die Feiertage schloss, ausgepackt zu werden.

Und die Schreibfeder war nicht das einzige, was er dieses Jahr gekauft hatte. Neben ihr stand mittlerweile ein sehr edler Cognac für seinen Vater, der es liebte, beim Abendessen oder vor dem Fernseher ein Glas zu trinken. Ob Rowan der Wälzer voll mit den neuesten Errungenschaften rund um das Thema Landwirtschaft gefiel, würde sich zeigen, und er hoffte, dass seine Mutter mit dem dreiteiligen Ölgemälde, das eine gemalte wild blühende Wiese zeigte, etwas anfangen konnte. Sie liebte Blumen über alles, was sich leider gar nicht mit ihrem braunen Daumen vertrug. Nicht einmal Kakteen überlebten ihre Pflege, weshalb ihr Haus voller künstlicher Pflanzen war, denn weder sein Vater noch sein Bruder waren bereit gewesen, sich zum Gärtner ausbilden zu lassen.

Riley grinste, als er sich an eine der vielen Diskussionen zu dem Thema erinnerte, denn seine Mutter hatte immer wieder aufs Neue versucht, ihre Männer davon zu überzeugen, dass in einen anständigen Haushalt Pflanzen und Blumen gehörten.

Zumindest an Letzterem mangelte es ihr jedoch nicht, denn soweit er wusste, besorgte sein Vater mindestens einmal in der Woche für sie einen frischen Blumenstrauß, den seine Mutter dann jedes Mal mit viel Liebe und einem glücklichen Lächeln auf dem Küchentisch in einer Vase anordnete.

Seine Eltern liebten sich seit nun mehr vierzig Jahren über alles und Riley fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Rowan und ihm dasselbe Glück eines Tages hold sein würde. Er selbst glaubte nicht mehr daran, aber für seinen Bruder gab es noch Hoffnung, weil er nicht als Einsiedler lebte und einen ganzen Stall voller Freunde und Bekannte hatte. Eines Tages würde er eine Frau sehen, sich verlieben und heiraten, um seinen Eltern ein paar Enkel zu bescheren und Riley Nichten und Neffen.

»Fährst du über Weihnachten wieder nach Hause?«, fragte Mister Jones, als sie den Laden, wie jeden Tag, mittags für eine halbe Stunde schlossen, um etwas zu essen und nebenbei die sich leerenden Regale aufzufüllen.

Riley nickte und folgte seinem Boss ins Lager, wo sie einige Kartons öffneten, die heute Morgen geliefert worden waren. Es gab wieder jede Menge Bücher über Vampire, Gestaltwandler und fremde Welten, die eingeräumt werden wollten, und Riley fand allein beim Lesen der Klappentexte sofort eine Handvoll Geschichten, die er sich auf jeden Fall genauer ansehen würde, wenn Weihnachten vorbei war.

»Na? Was hast du für dich entdeckt?«

Mister Jones lachte, als Riley aufsah und ertappt rot wurde. »Man sieht es dir immer an der Nasenspitze an, wenn du dich in ein Buch verliebst. Nimm dir ruhig zwei mit. Aber nur zwei, verstanden? Sonst schreibt mir deine Mutter irgendwann einen Beschwerdebrief, dass du selbst an Weihnachten von morgens bis abends die Nase in ein Buch steckst.«

»Das würde sie nie tun«, entrüstete sich Riley und grinste, als sein Boss lachte. Er war so erleichtert gewesen, den alten Mann nach seiner Erkältung wieder auf den Beinen zu sehen, dass er das möglicherweise als Zeichen ansehen sollte, was den Buchladen anging, aber er brachte es einfach nicht über sich abzusagen. Jedenfalls nicht heute. In weniger als einer Woche war Weihnachten und vielleicht fand sich bis zum Jahresende doch noch eine Lösung.

 

»Das ist für Sie.«

Mister Jones sah verdutzt von einer Bestellliste auf und ihn an, bevor er auf das Päckchen schaute, das Riley zuvor neben ihn auf den Tresen gelegt hatte. »Du bist unverbesserlich, weißt du das?«

»Natürlich«, antwortete Riley amüsiert und lachte leise, als sein Boss tadelnd einen Finger hob. »Na los. Auspacken. Sonst beschwere ich mich bei meiner Mum über Sie und dann gibt es den angedrohten Beschwerdebrief in dreifacher Ausführung.«

Mister Jones gluckste heiter und nahm seine Lesebrille ab, um das längliche Päckchen danach genauer in Augenschein zu nehmen. »Es ist so leicht.«

»Aufmachen.«

»Immer diese Ungeduld der Jugend.«

Riley grinste frech. »Irgendeinen Vorteil muss Jugend doch haben, oder nicht?«

»Und ich kann dich nicht mal als frechen Burschen betiteln, dafür bist du eindeutig zu alt«, beschwerte sich Mister Jones und brachte Riley damit zum Lachen, ehe er auf das Päckchen in dessen Fingern tippte.

»Aufmachen. Sonst stehen wir morgen noch hier, dabei will ich gleich nach dem Frühstück losfahren.«

Sein Boss hob fragend den Kopf. »Morgen schon? Fährst du nicht immer erst am 24. Dezember nach Hause?«

Riley zuckte mit den Schultern. »Normalerweise ja, aber ich habe Lust, sie zu überraschen.«

»Sie werden sich freuen.«

»Ich weiß.« Riley lächelte versonnen, bevor er seinen Boss mit einem strengen Blick bedachte. »Aufmachen. Aber dalli!«

»Sehr wohl, Mister Greene«, erklärte Mister Jones amüsiert, doch das feixende Grinsen verging ihm, als er das knisternde Schutzpapier über der Schreibfeder hochhob. »Mein Gott. Du … Riley, das kann ich unmöglich annehmen.«

»Doch, können Sie. Es ist ein Weihnachtsgeschenk.«

»Weißt du, wie teuer die war?«, fragte Mister Jones empört und sichtlich überrascht zugleich.

Riley nickte. »Sicher, ich habe sie gekauft.«

»Aber ...«

»Sagen Sie einfach Danke.«

Ihre Blicke trafen sich und nach ein paar Sekunden war es da, das überglückliche Leuchten in Mister Jones' Augen. Riley lächelte zufrieden.

»Danke, Riley. Vielen, vielen Dank.«

»Gern geschehen.«

»Und jetzt raus aus meinem Laden«, erklärte Mister Jones im nächsten Atemzug und schüttelte den Kopf, als Riley sofort Einspruch erheben wollte. »Ja, ich weiß, wir haben heute noch ein paar Stunden geöffnet, aber wenn du gleich morgen früh losfahren willst, musst du garantiert noch packen, und wie ich dich kenne, hast du mal wieder nicht daran gedacht, jemanden wegen der Post zu fragen und alle verderblichen Lebensmittel aus dem Kühlschrank zu nehmen. Du würdest das jedes Jahr vergessen, würde ich dich nicht daran erinnern.«

Dem konnte er leider nicht widersprechen, daher beließ es Riley bei einem unschuldigen Blick, der seinen Boss nicht zum ersten Mal in dieser Hinsicht zum Seufzen brachte, gefolgt von einem heiteren Lachen.

»Wirf mir einfach deinen Zweitschlüssel in den Briefkasten. Ich sehe nach der Post und rufe dich an, sollte etwas Wichtiges dabei sein.«

»Danke, Mister Jones.«

 

Massachusetts war wunderschön.

Besonders je tiefer man ins Landesinnere fuhr, denn dort nahm die Bevölkerungsdichte mit jeder weiteren Meile ab, die traumhaften Postkartenlandschaften dafür zu. Allerdings war Riley ziemlich voreingenommen, was das betraf, denn er hatte durch sein großes Herz für alles Fantastische ein Faible für die unzähligen Hügel, Wälder, Flüsse und Seen, die sich durch die gesamte Region zogen.

Schon als Kind, wenn Rowan und er Cowboy und Indianer spielend quer durch die Waldbereiche auf der elterlichen Farm gerannt waren, hatte er sich immer wieder vorgestellt, wie es wohl sein würde, plötzlich durch ein unsichtbares Tor in eine andere Welt zu fallen, mit Bäumen, so gewaltig wie das Empire State Building, oder Seen, in denen Krokodile von der Größe eines Wohnhauses auf Beute lauerten. In seinen Träumen war er der strahlende Jäger mit Pfeil und Bogen gewesen. Oder der mysteriöse Zauberer, dem selbst die wildesten Tiere vertrauten, sobald er mit ihnen sprach.

In der Realität hatte ihm das schon sehr früh den Ruf eines Träumers eingebracht, den er niemals losgeworden war, aber das störte Riley nicht und seiner Familie war es ohnehin egal. Sie liebten ihn so wie er war, und je näher er seinen Eltern und seinem Bruder kam, umso aufgeregter wurde er. Hatte sich im letzten Jahr etwas verändert oder würde alles aussehen, wie er es in Erinnerung hatte? Würden sie wieder einen deckenhohen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer haben? Würde es wieder die selbst gebackenen, leckeren Kekse seiner Mutter geben, die sie Jahr für Jahr mit Händen und Füßen gegen ihre Männer verteidigen musste, um zu verhindern, dass vor Weihnachten alle aufgegessen waren? Würde das Haus wieder nach Kuchen, Zimt, Tannen und Kerzen duften, sobald er durch die Tür trat?

Riley sog unwillkürlich die Luft ein und musste lachen, als er außer einem leichten Geruch von Putzmitteln und seinem eigenen Parfum nichts wahrnehmen konnte.

Natürlich roch der langweilige Wagen, den er sich für die Fahrt nach Hause gemietet hatte, nicht nach den himmlischen Plätzchen seiner Mutter oder nach frischen Tannenzweigen. Er war eindeutig ein Träumer und trotz seiner sechsunddreißig Jahre immer noch nicht erwachsen geworden. Aber er war ein Träumer mit jeder Menge Vorstellungskraft, denn im Kopf sah Riley sein Zuhause förmlich vor sich.

Jenen langen Sand- und Schotterweg, der von der Straße abführte, auf der rechten Seite gesäumt von Laubbäumen und vielen grau-weißen Stämmen dazwischen. Birken – der einzige Baum, von dem er schon als kleiner Fratz den Namen gekannt hatte. Auf der linken Seite begannen direkt neben dem Weg die großflächigen Wiesen und Weiden für ihre Kühe und Pferde, die von einem brusthohen, weiß gestrichenen Holzlattenzaun umschlossen waren, auf dem Riley als Kind oft gesessen und dem leisen, verführerischen Rascheln und Flüstern der Bäume im Wind zugehört hatte.

Er hatte sich immer vorgestellt, dass sie mit ihm sprechen würden, so wie die Baumhirten bei Tolkien. Dass sie ihm allein all ihre Geheimnisse und Sorgen zuflüsterten, genau wie er es immer wieder getan hatte. Vor allem in der Zeit, als man ihn in der Schule dafür auslachte, dass er lieber Bücher las, anstatt Mädchen zu ärgern.

Riley kehrte blinzelnd ins Hier und Jetzt zurück und fuhr gerade rechtzeitig vom Highway runter. Nur noch eine Stunde, dann war er wieder zu Hause. In dem langen, zweistöckigen Farmhaus mit den hellen Wänden und grünen Fensterläden. Er grinste. Und der alten, knorrigen Eiche vor dem Fenster seines Kinderzimmers, mit deren Hilfe Rowan und er sich allgemein mindestens einmal pro Woche aus dem Staub gemacht hatten, um anstehenden Schul- und Hausarbeiten zu entgehen.

Die sie nach ihrer Rückkehr dann natürlich trotzdem hatten machen müssen, zusätzlich zu der Strafarbeit, die sie für ihre Flucht aufgebrummt bekamen. Aber das vorherige Spielen und Toben draußen war es jedes Mal wert gewesen.

Riley hielt an einem kleinen Diner, in dem er sich etwas zu Essen und zu Trinken organisierte, nachdem ihm aufgefallen war, dass er zu Hause vergessen hatte, sich Proviant für die Fahrt einzupacken, und dabei einer Warnung im Radio wegen eines herannahenden Schneesturms lauschte. Sein Blick fiel aus dem Fenster, während er bezahlte. Es schneite schon wieder. Das tat es zwar seit Tagen regelmäßig, aber die Flocken waren in der letzten halben Stunde erkennbar größer und vor allem dichter geworden. Sich zu beeilen, war garantiert keine schlechte Idee, aber vorher musste er unbedingt noch für kleine Jungs.

 

Der Sturm war schneller, als die Wetterfrösche angegeben hatten. Sehr viel schneller. Etwa auf der Mitte der Strecke war Riley sich sicher gewesen, es noch rechtzeitig zum Mittagessen zu schaffen, doch jetzt, eine knappe Viertelstunde von seinem Elternhaus entfernt, konnte er durch den starken Wind, der die Flocken in dichten Wellen vor sich hertrieb, kaum noch die Landstraße erkennen. Riley fluchte. Er hatte schon mehrmals den Fuß vom Gaspedal genommen, um nicht aus Versehen in einer Schneewehe oder an einem der vielen Bäume zu landen, die die Straße zu beiden Seiten dicht an dicht säumten, und mittlerweile fuhr er nur noch im Schneckentempo. Mehr traute er sich nicht zu, weil er weder einen Schaden am Mietwagen riskieren noch seine Fahrkünste überstrapazieren wollte.

In Boston brauchte er kein eigenes Auto, da er sowohl den Buchladen als auch seine bevorzugten Einkaufsläden zu Fuß oder mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichen konnte. Riley setzte sich nur hinters Steuer, wenn Mister Jones ihn darum bat oder er seine Familie besuchte, weil er keine Lust hatte, für die knapp drei Stunden Fahrzeit Bus oder Bahn zu nehmen. Allein schon wegen seines Gepäcks war ein Mietwagen allgemein die bessere Entscheidung, doch diese Bequemlichkeit könnte ihm jetzt zum Verhängnis werden.

Hochgradig nervös und mit verschwitzten Händen, klebte Riley fast mit der Nase an der Frontscheibe, in der Hoffnung, dass er ein auftauchendes Hindernis auf der Straße erkannte, bevor er dagegen prallte.

Seine Angst rettete ihm das Leben.

Er sah etwas langes, dunkles auf sich zukommen und trat instinktiv auf die Bremse, als es auch schon krachte. Riley riss das Lenkrad herum, sein Kopf prallte gegen das Seitenfenster, dann hörte er ein dumpfes Geräusch von einer Seite und der Wagen stoppte so abrupt, dass er mit dem Sicherheitsgurt nach links gerissen wurde und schmerzhaft aufstöhnte, weil er mit einem Ellbogen gegen die Scheibe knallte.

Stille.

Nur durchbrochen von einer Warnlampe, die auf einmal in seinem Armaturenbrett aufleuchtete und ihm leider gar nichts sagte. Aber sie erinnerte Riley daran, den Motor auszustellen, was er dann auch tat. Im Auto wurde es dunkel und eine Weile hörte Riley nur seinen abgehackten Atem, der viel zu schnell ging. Aber das war okay, denn solange er atmete, lebte er. Auch wenn das hieß, dass sein Kopf wehtat und sein Ellbogen sich anfühlte, als hätte ihn jemand abgehackt.

Was jetzt? Ach ja, Bestandsaufnahme. Mögliche Schäden an sich selbst und am Wagen begutachten, Hilfe rufen, abwarten, bis besagte Hilfe eintraf, und dann ab nach Hause.

Oder besser zu einem Arzt, korrigierte sich Riley, denn was er unter seinem Pullover etwas unterhalb des Ellbogens fühlte, war nicht gut. Er hatte genug über Verletzungen gelesen, um zu wissen, dass ein Knochen nicht so dicht unter der Haut fühlbar sein sollte. Außerdem konnte er seinen Arm nicht ohne Schmerzen bewegen. Gebrochen, sagte ihm sein Instinkt, und ob er damit recht hatte oder nicht, er würde den Arm auf jeden Fall ruhig stellen.

Er versuchte den Wagen zu starten. Nichts passierte. Auch nicht bei den weiteren drei Versuchen, ehe er frustriert aufgab und sich stattdessen suchend nach seinem Handy umsah, das er schließlich unten im Fußraum entdeckte. Riley musste die Zähne zusammenbeißen, um es zu holen, denn sein verletzter Arm protestierte heftig gegen jede Form von Bewegung. Doch darauf konnte er im Augenblick keine Rücksicht nehmen, er brauchte sein Handy und er brauchte vor allem Hilfe.

»Verdammt!«, fluchte er, nach einem Blick auf das Display, weil es keinen Empfang anzeigte.

Und wie sollte er jetzt nach Hause kommen? Wenn er in diesen Schneesturm hinausging, würde er sich mit Sicherheit verlaufen und sterben. Aber hierbleiben konnte er auch nicht, das war genauso gefährlich. Verdammt, einmal im Jahr nach Hause zu kommen, war zu wenig, um sich an all die schmalen Schleichwege zu erinnern, die es neben der Straße gab und mit deren Hilfe er den Rückweg hätte abkürzen können. Er musste also auf der Landstraße bleiben und das Beste hoffen.

Riley fluchte erneut, weil ihm klar war, dass er keine Wahl hatte. Ohne tatkräftige Hilfe bekam er den Mietwagen nie aus der Schneewehe heraus, und um diese Hilfe zu finden, musste er sein Glück zu Fuß versuchen, denn falls er nichts tat, würde er spätestens morgen früh tot sein. Erfroren in einem billigen Mietwagen auf einer menschenleeren Landstraße, auf dem Weg in den Weihnachtsurlaub mit seiner Familie, die keine Ahnung hatte, dass er einen Tag früher als abgesprochen kam.

Nein, so wollte er nicht enden. Riley atmete ein letztes Mal tief durch und machte sich ans Werk. Jacke anziehen, Mütze, Schal, Handschuhe. Da er nur einen Arm zur Verfügung hatte, dauerte es ewig und Riley sog mehr als einmal schmerzhaft die Luft ein, weil der gebrochene Arm höllisch wehtat, von seinem Brummschädel ganz zu schweigen. Außer der Geldbörse und seinem Handy, in der Hoffnung, vielleicht unterwegs wieder Empfang zu bekommen, nahm er nichts mit, als er schließlich ausstieg und sich in einem heftigen Schneesturm wiederfand.

Der Wind pfiff Riley um die Ohren und trieb Unmengen an Schnee gegen seinen Körper und in sein Gesicht. Die Bäume ächzten und knackten überall um ihn herum und das, wegen dem er auf die Bremse getreten war, entpuppte sich als ein einige Meter langer Ast, der zur Hälfte über seiner Motorhaube lag, während der andere Teil tief im Schnee feststeckte. Genau wie das Auto.

»Scheiße«, murmelte Riley und wandte sich kopfschüttelnd ab, um loszugehen. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken, ob der Mietwagen hinüber war. Er wollte nur noch hier weg.

Die Hand des verletzten Armes in die Tasche seiner dicken Winterjacke geschoben, versuchte Riley mit der anderen Hand das Gesicht so gut es ging vom eisigen Wind und dichten Schnee abzuschirmen und dabei auf der Straße zu bleiben. Alle paar Minuten stoppte er und warf einen Blick auf sein Handy. Ohne Erfolg. Der Sturm störte den Empfang hier draußen, ihm blieb nichts weiter übrig als weiterzugehen.

Riley verlor jedes Zeitgefühl und nach und nach wurde der Schnee tiefer. War er überhaupt noch auf der Straße? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber da er noch nicht gegen einen Baum oder etwas anderes gelaufen war, ging er einfach weiter, immerzu gegen den Schnee blinzelnd, der sein Gesicht zu einer starren Maske hatte werden lassen. Seine Nase und die Ohren fühlten sich bereits seit einer Weile taub an und der Schmerz in seinem Arm war einem steten, dumpfen Pochen gewichen, das sich ganz gut ertragen ließ.

Etwas Weiches schlug mit einem lauten und sehr empörten Kreischen gegen sein Bein und Riley stolperte erschreckt einen Schritt nach hinten. Was zum …?

Er kniff seine Augen ein wenig zusammen und schirmte sie dabei zusätzlich wieder mit seiner Hand vor Schnee und Wind ab, um überhaupt etwas erkennen zu können.

Riley stutzte. Als nächstes gaffte er seinen überraschenden Weggefährten sprachlos an. Eine Eule. Eine riesige, weiße Eule, die überall auf ihrem Federkleid schwarze Streifen und Tupfen hatte. Sie verschmolz förmlich mit dem Schnee, deshalb hatte er sie nicht gesehen, bis er fast auf sie getreten war. Die Eule breitete ihre Schwingen aus und brachte ihn damit wieder zur Besinnung. Er betrachtete das Tier genauer. Verletzt schien sie nicht zu sein, aber wieso hockte sie dann auf dem Boden?

»Wo kommst du denn her?«, rief er gegen den heulenden Wind an und setzte sich in Bewegung. Ganz langsam, weil er das Tier nicht unnötig aufschrecken wollte, ging er in einem Bogen um sie herum. »Wir sollten besser verschwinden … Das gilt auch für dich, Süße.«

Wieso er ausgerechnet auf die Idee kam, den Vogel für ein Weibchen zu halten und sie als Süße zu betiteln, wusste Riley zwar nicht, aber es brachte ihn zum Kichern, als die Eule hinter ihm einen Laut von sich gab, der irgendwie beleidigt klang. Das Lachen verging ihm jedoch, als sich das Tier kurze Zeit später wieder vor ihm niederließ und ihn mit einem bedrohlichen Schnabelklappern bedachte, als er sich ein weiteres Mal an ihr vorbeischleichen wollte.

»Das kann ich gerade echt nicht brauchen«, murmelte Riley unruhig, wich aber sicherheitshalber etwas nach links aus, weil er keinen Bock hatte, von einer wild gewordenen Eule in einem Schneesturm angegriffen zu werden.

Das Spiel trieben sie noch einige Male, wobei der Vogel ihn eindeutig nach links abdrängte, aber Riley war schlichtweg zu kaputt, um sich dagegen zu wehren, und auf einmal wurde der Boden unter seinen Füßen spürbar härter, was ihn innehalten ließ. Das konnte gar nicht sein, dachte er, aber diese Eule hatte ihn eindeutig zur Straße zurückgeführt.

Riley drehte sich zu ihr, doch bevor er etwas sagen konnte, flog sie davon und Riley blieb der Mund offenstehen, weil sich der Schnee plötzlich vor ihm verdunkelte und dann ein Abbild seiner selbst freigab, das ihn überrascht ansah.

Eine Eule, die ihm das Leben zu retten versuchte, und jetzt bekam er offensichtlich auch noch Halluzinationen. Dieser Tag wurde immer besser.

»Mein Gott, Riley ...« Die Fata Morgana drehte sich um und brüllte los. »Dad! Sheriff Jackson! Ich habe ihn gefunden!«

»Ist er okay?«

»Er steht zumindest auf seinen eigenen Beinen.«

»Gott sei Dank«, kam durch die undurchsichtige Wand aus Schnee zurück und dann erkannte Riley weitere Schatten, die auf ihn zukamen und seltsamerweise wie Menschen aussahen.

»Riley, kannst du mich hören?«

Ja, er konnte die Fantasiegestalt hören, aber er konnte nicht mehr antworten, weil sein Mund auf einmal vollkommen taub war, so wie alles andere an ihm. Riley stöhnte nur und schloss die Augen, während er sich in eine mehr als willkommene Bewusstlosigkeit fallen ließ, begleitet vom lauten Ruf einer Eule.

 

 

Kapitel 3

 

 

 

 

Riley betrachtete das schmale Gesicht, das seinem eigenen so ähnlich war, aus halb geschlossenen Augen und mit einem inneren Lächeln.

Rowans braunes Haar war um einiges länger, als Riley es von seinem letzten Besuch in Erinnerung hatte, und seine Statur war auch immer noch um einiges breiter als seine eigene, was ihn jedes Mal aufs Neue neidisch aufseufzen ließ, weil er leider nie irgendeinen Ansatz von Muskeln entwickelt hatte. Dazu kam der übliche Schalk in Rowans dunkelbraunen Augen, der in einen belustigten Blick überging, als sein Bruder ihn beim Starren ertappte. Riley zuckte leicht zusammen und Rowan lachte leise.

»Erwischt, Bruderherz.«

Riley schnaubte. »Willst du dir Zöpfe wachsen lassen? Und was soll das Gestrüpp in deinem Gesicht darstellen?«

»Sally mag meine Haare und das ist ein Bart, Blödmann.«

»Eher ein Bärtchen«, stichelte Riley und kicherte albern, als sein Zwilling stöhnend die Augen zur Decke verdrehte und die Zeitung zur Seite legte, in der er bis eben gelesen hatte.

»Wir hätten dich im Schnee liegenlassen sollen«, grollte Rowan gespielt finster und erhob sich aus dem Stuhl, der zu Rileys ehemaligen Schreibtisch gehörte und den sie an sein Bett geschoben haben mussten, um sich stattdessen neben ihn auf die Bettkante zu setzen. Die Belustigung verschwand aus Rowans Blick, als er fragte: »Wie geht’s dir, Riley?«

»Müde.«

Sein Bruder nickte. »Kein Wunder. Als wir den Mietwagen endlich entdeckt hatten und du nicht drin gesessen hast, ging Dad und mir der Arsch auf Grundeis. Wir haben eine Weile gebraucht, um dich zu finden.«

»Warum habt ihr mich überhaupt gesucht?«, fragte Riley, denn das konnte er sich einfach nicht erklären. Sie hatten doch gar nicht gewusst, dass er auf dem Weg war.

»Warum wohl?«, fragte Rowan mürrisch und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Erleichterung und Ärger. »Mister Jones hat uns angerufen. Er wurde unruhig, als er von dem Schneesturm hörte und du bei seinem Kontrollanruf nicht ans Handy gegangen bist. Er wollte sichergehen, dass du heil bei uns angekommen bist. Stell dir bitte unsere Überraschung vor, als er uns erzählte, dass du unterwegs bist und nicht an dein Handy gehst. Wir haben sofort den Sheriff angerufen und sind losgezogen, um dich zu suchen.«

Riley seufzte und dankte Mister Jones im Stillen dafür, dass der ihm schon vor Jahren für Notfälle die Telefonnummer von zu Hause abgeschwatzt hatte. »Ich muss ihn anrufen.«

»Hat Mum schon erledigt, keine Sorge«, wehrte Rowan ab und kletterte über ihn auf die freie Bettseite, um sich neben ihn zu legen. »Und bevor du fragst, es ist immer noch der 23., das Mittagessen hast du allerdings um einige Stunden verpasst.«

»Abendessen?«, fragte Riley hoffnungsvoll, als sein Magen sich prompt mit einem lauten Grummeln meldete. Rowan legte lachend eine Hand auf den Deckenberg, unter dem er lag, und Riley war zufrieden. »Wie geht’s Mum? Hat sie standesgemäß auch alle verrückt gemacht?«, fragte er nach einiger Zeit in die angenehme Stille hinein, und warf Rowan einen Blick zu, der schmunzelnd nickte.

»Du kennst sie doch. Sie hat Sheriff Jackson einen langen Vortrag darüber gehalten, was sie alles mit ihm anstellen wird, wenn er nicht sofort Doc Martin herholt, weil der Schneefall zu dicht war, um dich ins Krankenhaus zu bringen. Allerdings war Martin da schon längst auf dem Weg und konnte sie dann beruhigen. Dein Sturschädel ist zäh wie eh und je und du bist unterkühlt, deswegen haben wir alle Decken auf dich gepackt, die wir finden konnten. Das Warme an deinen Füßen ist Mums Wärmflasche«, erzählte Rowan und Riley nickte verstehend, weil er sich doch etwas gewundert hatte, was das war. »Deinen gebrochenen Arm hat er erst mal provisorisch geschient. Das muss ausreichen, bis der Sturm nachlässt, damit wir dich in die Klinik bringen können.«

Riley zog eine Grimasse. »Will nicht ins Krankenhaus.«

»Du gehst ins Krankenhaus und wenn ich dich an deinen Haaren selbst hinschleifen muss, kapiert?«, brauste Rowan auf und sah ihn finster an. »Jag mir nie wieder so einen Schrecken ein, du Idiot.«

»Schrei mich nicht an, ich habe Kopfschmerzen«, nörgelte Riley. »Und dir habe ich ein Geschenk gekauft. Verdient hast du es ganz sicher nicht.«

Sein Bruder lachte wieder und strich ihm über die Wange. »Ich weiß. Lucas, Officer Templeton, er ist neu hier, hat deinen Mietwagen gefunden und deine Taschen geholt. Mum hat sich gar nicht mehr einbekommen, als sie die Geschenke entdeckte. Sie liegen unter dem Weihnachtsbaum und sie hat Dad Schläge angedroht, wenn er es wagen sollte, sich dem Cognac bis auf Armlänge zu nähern. Du hättest die Flasche einpacken sollen, anstatt eine Schleife drumzubinden. Dad hatte ganz glänzende Augen, als er sie in der Hand hielt, ehe Mum sie ihm mit einem tadelnden Klaps weggenommen hat.«

Riley lachte und griff sich umgehend an den Kopf. »Aua.«

»Das Lachen solltest du in den nächsten Tagen vermeiden, meinte Doc Martin. Er sitzt unten und möchte noch mal nach dir sehen, bevor er und Lucas wieder fahren.«

Irgendetwas an der Formulierung machte Riley stutzig und er sah fragend zu Rowan.

»Ja, die beiden haben was am Laufen«, sagte der daraufhin und grinste. »Was mich anfangs ziemlich irritiert hat, das gebe ich zu. Immerhin ist unser Doc nicht mehr der Jüngste. Scheint Lucas allerdings nicht zu stören.« Rowan zuckte die Schultern. »Wo die Liebe hinfällt, sage ich nur.«

Apropos, dachte Riley und räusperte sich. »Rowan?«

»Hm?«

»Wer ist Sally?«

Sein Zwillingsbruder drehte sich auf die Seite und sah ihn mit einem Blick an, der Riley alles sagte, was er wissen musste. Hatte er nicht erst vor einigen Tagen über genau dieses Thema nachgedacht? Riley begann zu schmunzeln. »Verstehe. Hast du sie schon Mum und Dad vorgestellt?«

»Ja. An Thanksgiving. Sie hat im Sommer den Blumenladen der Richards übernommen. Dad hat mir von ihr erzählt, weil selbst mir auffiel, dass die Sträuße, die er für Mum jede Woche holt, plötzlich voller und irgendwie schöner aussahen. Ich war neugierig und bin hingefahren, um sie mir anzusehen.«

Und wenn Riley das folgende Grinsen in Rowans Gesicht richtig deutete, war der allererste Blick ein Volltreffer gewesen. Er freute sich sehr für seinen Bruder und er war neugierig auf die Frau, die es geschafft hatte, Rowan einzufangen.

»Wann stellst du sie mir vor?«

»Morgen«, antwortete Rowan verträumt, dann wurde sein Blick plötzlich hart. »Sie wollte sofort herkommen und bei der Suche mithelfen, als sie hörte, was los ist. Ich habe ihr gedroht, sie in den Keller zu sperren und erst im nächsten Frühling wieder rauszulassen, wenn sie es wagen sollte, bei dem Wetter das Haus zu verlassen.«

»Sie hat einen Keller?«

»Sie hat nicht mal ein Haus. Es ging ums Prinzip«, knurrte Rowan, doch der barsche Tonfall in seiner Stimme konnte Riley nicht über Rowans große Sorge um Sally hinwegtäuschen. Und so ein überbeschützendes Verhalten war dermaßen untypisch für seinen Bruder, dass Riley ein Verdacht kam.

»Wie weit ist sie?«, fragte er und als Rowan daraufhin blass wie eine frisch gestrichene Mauer wurde, wusste Riley, dass er richtig geraten hatte. »Ich hoffe, du hast vor, Sally zu heiraten, bevor euer Baby geboren ist, denn falls nicht, bekommst du Ärger mit mir.«

»Natürlich werde ich sie heiraten, wofür hältst du mich?«, ging sein Bruder wie erwartet in die Luft und Riley musste sich ein Lachen verkneifen.

»Hast du sie schon gefragt?«, wollte er wissen.

»Nein«, flüsterte Rowan und schien auf einmal unglaublich nervös. »Ich habe eine Scheißangst davor.«

»Warum?«, fragte Riley verwundert, denn ein Feigling war sein Zwilling nicht. Im Gegenteil. Er hatte Sally geschwängert, also würde er für sie und ihr Baby einstehen. So waren sie von ihren Eltern erzogen worden und daran hätte sich selbst Riley gehalten, wäre aus diesem einmaligen Ausrutscher im Vollsuff auf der Abschlussfeier der Highschool, von dem seine Eltern Gott sei Dank nie erfahren hatten, ein Kind entstanden.

»Was, wenn sie Nein sagt?«

»Und was, wenn sie Ja sagt?«

Rowan wurde noch etwas blasser. »Oh Gott. Was, wenn wir einen Fehler machen? Wir müssen nicht heiraten, nur weil wir ein Kind bekommen, oder? Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter und … Oh Gott, oh Gott … Ich werde ... Ich versaue das, wetten? Ich habe doch gar keine Ahnung von Babys.«

Riley musste sich auf die Zunge beißen, weil er auf keinen Fall lachen wollte, so sehr es ihn auch reizte. Seinen Bruder so nervös zu sehen, hatte eindeutig Unterhaltungswert, und er war froh, dass er nie vor der Frage stehen würde, ob er einer Frau einen Ring an den Finger stecken sollte oder nicht.

»Hör auf, die Nerven zu verlieren, Brüderchen. Zeig mir lieber den Ring, den du für sie ausgesucht hast«, befahl er und kicherte, als Rowan nach seinen Worten so abrupt die Luft aus seinen Lungen entließ, dass es sich anhörte, als wäre er ein Luftballon mit einem Loch.

»Woher weißt du, dass ich einen Ring für sie habe?«

»Wir sind Zwillinge, schon vergessen? Und jetzt zeig her. Wenn der Ring gut genug für meine zukünftige Schwägerin ist, darfst du sie heiraten.«

»Gut genug, pah.« Rowan rollte sich aus dem Bett und warf ihm einen finsteren Blick zu, während er zur Tür stapfte. »Als wenn du Ahnung von Ringen hättest. Mum fand ihn toll und Sally wird ihn auch toll finden, wenn ihr ihr Leben lieb ist.«

Die Tür knallte hinter Rowan zu und Riley prustete los, um gleich darauf schmerzhaft aufzustöhnen, als sein Kopf ihn mit einer Schmerzwelle darauf hinwies, dass Lachen derzeit keine gute Idee war.

 

Riley blieb nicht lang allein, wünschte sich aber schon nach einer knappen Stunde nichts mehr als das, weil sich nach und nach erst Doc Martin, dann Sheriff Jackson, der irgendwie nie älter zu werden schien, und dann sogar der ihm bis dahin noch unbekannte Freund vom Doc die Klinke in die Hand gaben. So sehr Riley ihre Sorge um ihn zu schätzen wusste, vor allem als Melinda Greene, seine Mutter, zu ihm geeilt kam, um ihn vorsichtig zu umarmen, zu küssen und ihm dabei mit Tränen in den Augen das leckerste Abendessen aller Zeiten zu versprechen, Riley wollte nur noch schlafen.

Da kümmerte ihn auch sein heftig knurrender Magen nicht im Geringsten und er war heilfroh, als Rowan sich irgendwann wieder blicken ließ und, nach einem Blick auf ihn, ihre Mutter aus dem Raum schob.

Endlich Ruhe, dachte Riley, nachdem die Tür hinter beiden zugefallen war. Er atmete erleichtert aus, bevor er dem Drang, die Augen zu schließen, endgültig nachgab.

Er träumte seltsames Zeug von Eulen, einem großen Feuer und einem Flug durch die Wolken, wobei er allerdings nicht in einem Flugzeug saß oder an einem Fallschirm hing. Riley hatte eher das Gefühl, ein Vogel zu sein, was natürlich verrückt war, ihn aber wieder zu der merkwürdigen Eule zurückbrachte, die ihm im Schneesturm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.

Und die offensichtlich anhänglich war, denn als Riley seine Augen wieder öffnete, weil ihn ein nervendes Klopfen geweckt hatte, hockte die besagte Eule draußen vor dem Fenster seines ehemaligen Kinderzimmers im Geäst der knorrigen, von einer dicken Schneeschicht bedeckten Eiche und starrte ihn an.

»Hast du einen Freund mitgebracht?«, fragte sein Vater leise und riss ihn aus der staunenden Betrachtung der Eule. Er drehte den Kopf zur anderen Seite und fand Austin Greene mit ausgestreckten Beinen in dem Stuhl vor, in dem vorhin Rowan gesessen und Zeitung gelesen hatte.

»Scheint so«, murmelte er und seine Mundwinkel zuckten, als sein Vater sich mit einer Hand durch den Vollbart fuhr, der von bedeutend mehr grauen Haaren durchzogen war, als noch vor einem Jahr. Die Worte Haarfärbung und Alter kamen ihm in den Sinn und Riley biss sich auf die Zunge, um sie nicht auszusprechen, weil sein Vater sich mit Sicherheit nicht zu fein sein würde, ihm den Hintern zu versohlen. Ausschließlich mit Worten natürlich, ihre Eltern hatten niemals die Hand gegen Rowan oder ihn erhoben.

»Ich spüre, dass du lachst, mein Sohn.«

»Das würde ich mich nie wagen.«

»Dein Glück.«

Die Eule klopfte erneut gegen das Fenster und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich.

»Ein recht junges Tier«, erklärte sein Vater. »Gut gewachsen und scheinbar mag er dich.«

»Woher weißt du, dass es ein Er und jung ist?«

»Das Federkleid. Er hat zu wenige Flecken, um weiblich zu sein, ist aber auch noch nicht weiß genug, um auf ein älteres Männchen hinzudeuten. Im Winter sehe ich sie regelmäßig bei uns fliegen. Ich würde ihn auf ein bis zwei Jahre schätzen. Wer weiß, vielleicht sucht er ja einen Partner. Sie fangen im Winter mit der Balz an, habe ich gelesen.«

Riley sah rechtzeitig zu seinem Vater, um dessen Feixen zu bemerken. »Dad ...«

»Was?« Sein Vater breitete in einer unschuldigen Geste die Arme aus. »Es gibt schließlich auch schwule Pinguine. Wenn er dir demnächst etwas zu essen mitbringt, solltest du ...«

»Dad!«

»Ich gehe mal deiner Mutter helfen.« Sein Vater erhob sich und warf ihm ein Lächeln zu. »Dann könnt ihr beide euch in Ruhe weiter bekanntmachen.«

Knurrend deutete Riley zur Tür und sein Vater verschwand lachend in den Flur. Kopfschüttelnd sah er zum Fenster. »Hast du eine Ahnung, was ich mir nachher anhören kann? Schwule Eulen, du meine Güte.« Das Tier legte den Kopf schräg. »Jetzt guck mich nicht so an, ich heirate dich ganz sicher nicht. Such dir ein Weibchen und produziere ein paar schöne Babyeulen.«

Begeistert von dem Vorschlag schien das Tier nicht zu sein, denn es schüttelte heftig den Kopf und hackte dann erneut ans Fenster. »Wehe, du machst die Scheibe kaputt«, murrte Riley und kämpfte sich unter Schmerzen und zwei Fehlversuchen in eine aufrechte Position. Er wollte ins Badezimmer und wenn er vorsichtig ging, schaffte er es anschließend hoffentlich in die Küche runter. Er war nicht hergekommen, um Weihnachten im Bett zu verbringen.

Auf der Treppe musste Riley schließlich einsehen, dass sein Plan zwar schön, aber mit einem gebrochenen Arm und einem Kopf, der sich langsam anfühlte, als würde ein Zwerg in ihm eine Goldader abbauen, unmöglich durchführbar war. Bei der nächsten Schmerzwelle hinter seiner Stirn ließ sich Riley auf die Treppenstufe sinken und presste die Augen zusammen.

»Ja, Mum, ich frage ihn, ob er … Riley? Was …? Herrgott, ich sollte dir in deinen dämlichen Hintern treten. Wieso bist du nicht im Bett geblieben? ... Dad!«

Bei seinem gequälten Aufstöhnen murmelte Rowan einen unflätigen Fluch und im nächsten Moment halfen ihm mehrere Hände beim Aufstehen. Riley sparte sich jeden Widerspruch, als sie ihn, anstatt in die Küche, aus der es herrlich duftete, ins Wohnzimmer auf die Couch verfrachteten, wo er erneut unter einer flauschigen Decke begraben wurde.

»Schlaf noch ein bisschen, Junge. Wir wecken dich, sobald das Essen fertig ist, versprochen«, flüsterte sein Dad und strich ihm in einer liebevollen Geste übers Haar, die Riley innerhalb kürzester Zeit wegdämmern ließ.

 

 

Kapitel 4

 

 

 

 

»Fröhliche Weihnachten.«

»Riley?« Mister Jones seufzte am anderen Ende der Leitung erleichtert auf. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, bis deine Mutter mich zurückrief. Geht es dir gut?«

Riley sah genervt auf den Gips, den man ihm vor wenigen Stunden in der Notaufnahme verpasst hatte. Das blöde Ding ging bis zur Schulter und würde ihm mindestens einen Monat lang erhalten bleiben. Wie er damit arbeiten sollte, war ihm ein Rätsel, er hatte es heute Morgen ja schon kaum geschafft, sich allein anzuziehen. Riley seufzte.

»Nur eine Beule an der Stirn und ein gebrochener Arm.«

»Nur?«, fragte Mister Jones entrüstet und Riley musste ungewollt grinsen, als ihm etwas einfiel.

»Und eine Eule als Lebensretter.«

Sein Boss schwieg kurz, dann lachte er heiter. »Das klingt doch sehr nach dir. Diese Geschichte will ich unbedingt hören, wenn du wieder hier bist.«

»Versprochen.«

»In den Nachrichten sagen sie, dass der Sturm bei euch in der letzten Nacht nachgelassen hat?«

Riley nickte, während er gleichzeitig zum Fenster sah. »Ja, stimmt. Es schneit zwar immer noch, aber der Wind ist kaum zu spüren, wenn man rausgeht. Wir waren vorhin spazieren, um das Mittagessen etwas zu verdauen. Meine Mutter ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass ich nach Weihnachten nicht mehr in meine Hosen passe.«

Mister Jones gluckste heiter. »Du hast eindeutig Spaß, nicht wahr?«

»Ja.« Riley grinste breit. »Und ich werde gleich noch mehr Spaß haben, wenn ich mich mit einem Buch vor der Nase an den Küchentisch setze.«

Sie verabschiedeten sich unter viel Gelächter und als Riley wenig später in die Küche ging, um seinen Leseplan in die Tat umzusetzen, weil seine Mutter dabei war Kuchen und frische Plätzchen zu backen, und er sich auf die Art Teig zu schnorren erhoffte, hatten sein Vater, sein Bruder und dessen Freundin, die eigentlich erst zum Kaffeetrinken hatte herkommen wollen, offenbar die gleiche Idee gehabt. Die lächelnde Frau erhob sich bei seinem Eintreten sofort und trat auf ihn zu.

»Hi, Riley,  ich bin Sally«, erklärte ihm der Wuschelkopf mit in allen regenbogenfarben leuchtenden Haaren und grinste ihn fröhlich an. Riley klappte die Kinnlade runter, was sie prompt zum Lachen brachte. »Ihr seid wirklich Zwillinge. Rowan hat mich genauso angeguckt. Als hätte ihn der Blitz getroffen.« Sie sah amüsiert zu seiner Mutter. »Irgendwie scheint das bei den Greene-Männern in der Familie zu liegen, oder?«

»Du hast ja keine Vorstellung«, antwortete seine Mum und beide Frauen warfen sich verschmitzte Blicke zu, die zu einem zweifachen männlichen Stöhnen führten, das Riley aus seiner Fassungslosigkeit riss.

Er hatte einiges erwartet, was Rowans Freundin anging, mit Sicherheit aber keine Frau von Anfang bis Mitte zwanzig, die farblich gesehen einen waschechten Regenbogen auf dem Kopf hatte. Andererseits, sie führte einen Blumenladen, also passte es irgendwie doch wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.

Und es stand ihr ausgesprochen gut, musste Riley zugeben. Die bunten Haare passten zu ihrer Offenheit und Fröhlichkeit, mit der Sally ihn innerhalb weniger Minuten für sich einnahm, während sie seiner Mutter beim Ausstechen neuer Kekse half und ihm dabei immer wieder Teigstücke zusteckte. Unter dem mauligen Gebrummel von Rowan, auf das Sally mit einem breiten Lächeln und dem Kommentar, dass er seinem verletzten Bruder ruhig etwas gönnen konnte, reagierte.

Irgendwann warf seine Mutter sie aus ihrer Küche, da sie in Ruhe arbeiten wollte, und so fand sich Riley dick eingepackt an Rowans Seite wieder, schweigend durch die wunderschöne Winterlandschaft spazierend, die ihnen der Sturm hinterlassen hatte. Die Bäume bogen sich unter der frischen Schneelast und weil sie hier draußen schon immer selbst für das Räumen der Wege zuständig waren, konnten sie jetzt durch vollkommen unberührte Landschaften stapfen.

»Und?«, fragte Rowan schließlich und Riley war sofort klar, was sein Zwilling wissen wollte.

»Sie passt zu dir.«

»Ach so?«

»Nur etwas jung, oder?«

»Ich wusste, dass du dazu etwas sagen würdest«, murmelte Rowan und zuckte mit einem schiefen Grinsen die Schultern, als Riley ihm einen Blick zuwarf. »Ja, ich weiß. Sie ist elf Jahre jünger als ich, aber ...« Rowan stockte und schüttelte den Kopf. »Nein, kein aber, es ist mir egal. Ich liebe sie.«

»Hast du den Ring dabei?«

»Ja.«

»Zeig her!«, forderte Riley und bekam kurz darauf einen schlichten silbernen Ring präsentiert, in dem ein kleiner Rubin eingearbeitet war. »Edel und schick.«

Rowan seufzte hörbar erleichtert. »Genau wie Sally, und sie steht auf rot. Ich hoffe, er gefällt ihr.«

Riley schnaubte leise und grinste, als er fragend angesehen wurde. »Rowan, so wie sie dich ansieht, könntest du ihr einen Ring aus Plastik schenken und sie würde ihn toll finden.«

Sein Bruder lächelte überaus zufrieden und brachte Riley damit zum Lachen, was ihm einen tadelnden Boxhieb gegen seinen unverletzten Arm einbrachte, den er mit gleicher Münze zurückzahlte. Rowans Erwiderung war ein böser Blick, gefolgt von einem gemurmelten Spruch darüber, dass er heilfroh sein könne, verletzt zu sein, sonst wäre er schon längst kopfüber im Schnee begraben worden.

Diesmal lachten sie beide, denn solche Drohungen hatten sie früher beinahe täglich gegen den anderen ausgestoßen, und nicht nur einmal hatte das am Ende zu einer brüderlichen Schlägerei oder deftigen Scherzen, wie Regenwürmern im Bett und einem Käfer in der Brotdose für die Schule geführt.

»Sieh mal«, sagte Rowan auf einmal und begann in seiner Jackentasche zu kramen, um ihm dann ein Foto unter die Nase zu halten. »Das ist mein Baby.«

Riley runzelte die Stirn, aber so sehr er sich auch bemühte, er erkannte auf dem Ultraschallbild gar nichts. »Äh ...«

»Ich weiß, ich sehe auch nichts«, gluckste Rowan belustigt und steckte es wieder ein. »Aber mir reicht es zu wissen, dass Sally und unser Wurm putzmunter sind.« Sein Bruder schwieg ein paar Sekunden, dann bat er: »Kneifst du mich bitte mal?«, und natürlich kam Riley dem Wunsch prompt nach. »Aua! Du bist ein brutaler Mistkerl.«

»Du wolltest es, also jammer nicht rum.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich Vater werde. Ich. Oh Mann.«

Kopfschüttelnd sah Rowan in die Ferne und Riley hätte es ihm gerne nachgemacht, wollte aber keine weiteren Fragen zu dem Thema aufwerfen, darum ließ er es bleiben. Sein Bruder gründete eine Familie und machte ihn damit zum Onkel, eine wirklich seltsame Vorstellung. Riley zweifelte nicht daran, dass Rowan ein toller Vater sein würde, aber ein Kind war und blieb eine einschneidende Veränderung im Leben, die ihn, obwohl er gar nicht der zukünftige Vater war, trotzdem irgendwie betraf. Er wusste einfach nicht, was er davon halten sollte.

Eine Freundin, die bald Verlobte, Ehefrau und Mutter sein würde. Sein Bruder würde Ehemann und Vater sein, er selbst Onkel und Schwager, seine Eltern Oma und Opa. Ihre Familie wuchs und das auf die für die meisten Menschen schönste Art und Weise, während Riley sich insgeheim auf einmal zu fragen begann, was eigentlich aus ihm werden sollte.

Er steuerte hart auf die Vierzig zu und lebte ein Leben ohne große Sorgen oder feste Verpflichtungen. Dazu kam ein Job, den es bald nicht mehr gab und seine Liebe zu Büchern, die ihn nie ganz hatte erwachsen werden lassen. Wäre nicht sein Alter, hätte Riley gut und gerne als zwanzigjähriger Bengel durchgehen können, der seinen Weg im Leben einfach noch nicht gefunden hatte. Aber er war nun einmal keine zwanzig mehr. Er war sechsunddreißig Jahre alt, hatte bald keine Arbeit mehr und scheute trotzdem wie ein kleines Kind davor zurück, die Chance zu ergreifen, die Mister Jones ihm mit dem Kauf des Buchladens anbot. Und warum? Weil es bedeutet hätte, wirklich erwachsen zu werden, was er auf keinen Fall wollte, aus Angst, keine Zeit mehr zum Lesen und Träumen zu haben. Er war ein Feigling, wurde Riley klar und das entlockte ihm ein tiefes Seufzen.

»Was ist los, Bruderherz?«, fragte Rowan leise und hielt ihn am Arm zurück, als Riley nur mit den Schultern zuckte, weil er sich albern vorkam und nicht darüber reden wollte. »Riley, wir sind Zwillinge. Ich spüre, dass irgendetwas los ist, seit du hier bist, und damit meine ich nicht Sally oder diese seltsame Eule, die dir deinen Arsch gerettet hat, wofür Mum, Dad und ich ihr übrigens sehr dankbar sind. Also? Worüber grübelst du nach? Und das schon seit Wochen, wenn ich an Mums Worte denke. Sie hat uns gleich nach dem Anruf bei dir gesagt, dass ihr Mum-Radar hektisch ausgeschlagen hat, und du weißt, wie sie ist. Wenn ich es nicht rauskriege, wird sie dir persönlich auf die Pelle rücken und danach ist Dad dran. Also beichte lieber gleich, dass du heimlich geheiratet hast oder nächsten Monat in die Armee eintrittst.«

Riley verdrehte die Augen. »Ich habe nicht geheiratet.«

»Du gehst zur Armee? Großer Gott.«

»Rowan!«

Sein Bruder prustete los und Riley begnügte sich mit einem resignierten Kopfschütteln. Manchmal konnte eine liebende und aufmerksame Familie ein wahres Ärgernis sein, dachte er und schämte sich umgehend für den Gedanken. Er sollte lieber froh sein, dass sie alle immer füreinander einstanden und sich umeinander kümmerten, vor allem um ihn, weil er als einziger das heimische Nest verlassen hatte, um in der bösen Großstadt zu leben. Ein Einzelgänger, der dort am besten hinpasste, und das wussten seine Eltern und Rowan, mit dem ihn seit jeher ein einzigartiger Draht verband, den man Zwillingen nicht ohne Grund nachsagte.

»Ich könnte einen Rat gebrauchen«, gab Riley schließlich zu und sah Rowan an. »Hast du einen für mich?«

»Habe ich das nicht immer?«, konterte sein Bruder lächelnd und legte ihm einen Arm um die Schultern, bevor er ihn zum Umdrehen bewegte. »Lass uns zurückgehen, mir ist kalt. Und derweil sagst du mir, was in deinem Leben los ist, damit ich dir einen Rat geben kann.«

Und Riley begann zu reden. Von Mister Jones' Angebot mit dem Buchladen, seiner großen Angst davor es anzunehmen, den daraus resultierenden Zweifeln und der unbeantworteten Frage, was im nächsten Jahr aus ihm werden sollte. Er erzählte Rowan alles, ließ auch seinen Unwillen nicht aus, mehr zu sein als ein kleiner Angestellter, was ihn zu einem kleinen Feigling machte, weil kein normaler Mensch so bescheuert sein würde, ein derartiges Angebot abzulehnen.

»Das ist Blödsinn. Nicht jeder ist dafür geschaffen, Leute zu kommandieren oder ein Geschäft zu führen«, widersprach sein Bruder dem jedoch heftig und sah ihn so tadelnd an, dass Riley automatisch den Kopf zwischen die Schultern zog. »Lass den Quatsch«, mahnte Rowan daraufhin. »Überlegen wir besser, was du tun sollst, kannst oder besser willst. Wie lange hast du Zeit, um dich zu entscheiden?«, fragte sein Zwilling und Riley sagte es ihm. »Und? Was wirst du antworten, wenn dein Boss dich nächste Woche fragt, ob du sein Geschäft übernimmst?«

Riley wollte mit den Schultern zucken, doch dann traf sein Blick auf Rowans mitfühlenden Gesichtsausdruck und brachte ihn erneut zum Seufzen. Sein Bruder kannte die Antwort bereits, also konnte er sie genauso gut aussprechen.

»Nein«, sagte er daher und die Erleichterung, die ihn nach dem Wort durchströmte, war gewaltig und wurde von Rowans folgendem Nicken noch verstärkt.

»Eben. Du brauchst also möglichst schnell einen neuen Job. Hast du ein bisschen Geld auf der hohen Kante? Was frage ich überhaupt, bei deiner Büchersucht kann ich froh sein, wenn du dir regelmäßig etwas zu essen kaufst. Du bist zu dünn.«

»Hey.«

Rowan grinste ihn frech an. »Das hat Mum gestern gesagt. Was glaubst du, warum sie seither kocht und backt?«

Riley stöhnte auf und sein Bruder kicherte jungenhaft. »Ich finde es toll, so fällt auch genug für Dad und mich ab. Diese ganzen Leckereien gibt’s sonst nur an Geburts- oder Feiertagen.«

»Ich helfe doch immer gern deinen Magen zu füllen.«

»Und dafür danke ich dir recht herzlich. Aber jetzt Scherz beiseite, wie viel Geld hast du?«

Oh nein, diese Diskussion würden sie nicht führen. Er hatte keine großen Rücklagen, aber das hieß nicht, dass er nicht eine Weile klarkam. Es würde schon irgendwie gehen. Dann musste er sich eben einschränken und für ein paar Wochen oder mehr weniger Bücher kaufen. Wozu gab es schließlich die günstigen E-Books oder diverse Leihangebote? Und wie er Mister Jones kannte, würde der ihm mit Sicherheit einen ganzen Stapel der Bücher aus seinem Laden überlassen, sofern sie nicht vor der Geschäftsräumung verkauft wurden.

»Rowan ...«

»Ich gebe dir was«, unterbrach sein Bruder ihn prompt und löste sich von ihm, um nickend einige Schritte vorauszugehen. »So für drei Monate erst mal, oder? Dann siehst du ja, wie der Jobmarkt in Boston aussieht. Notfalls kannst du auch für eine Weile nach Hause kommen. Es gibt hier immer noch die kleine Bücherei und das Antiquariat gegenüber von Sallys Geschäft.«

»Rowan ...«, versuchte Riley es erneut.

»Ich könnte mich schlaumachen, ob sie jemanden mit einer Menge Erfahrung im Verkauf suchen. Du arbeitest schließlich schon seit über zehn Jahren bei ...«

»Das wirst du schön bleiben lassen!«, fuhr er Rowan erbost über den Mund, denn das ging jetzt wirklich zu weit. Er würde sich nicht von seinem eigenen Bruder einen Job suchen lassen, soweit kam es noch.

»Aber ...«

»Nein! Das kommt nicht infrage!«

Rowan drehte sich zu ihm um und warf ihm einen bösen Blick zu. »Und wieso nicht? Ich will nicht, dass du irgendeinen beschissenen Job annehmen musst, nur weil du Geld brauchst. Unser Betrieb wirft genug ab, um dich zu unterstützen. Meine Güte, Riley, du bist mein Bruder, und wenn ich Mum und Dad erzähle ...«

»Was du nicht tun wirst, sonst erzähle ich Sally von Mac.«

Rowan lief puterrot an. »Das wagst du nicht.«

»Wetten?«, fragte Riley herausfordernd und begann Schritt für Schritt zurückzuweichen, während Rowan langsam auf ihn zukam. »Ich warne dich, Rowan. Wenn du mir Geld überweist, werde ich mich gezwungen sehen, deiner zukünftigen Ehefrau von deinem heimlichen Besuch in diesem netten Etablissement nur für Erwachsene zu erzählen. Dann weiß sie zumindest, wo du diesen Trick mit deiner Zunge gelernt hast.« Wenn Blicke töten könnten … Riley grinste, als Rowan stehenblieb und die Hände zu Fäusten ballte. »Sprich dich nur aus, Brüderchen.«

»Das ist Erpressung!«

Riley zuckte gelassen die Schultern. »Verklag mich.«

Rowan legte den Kopf in den Nacken und atmete tief und hörbar durch, um ihn kurz darauf wieder anzusehen, und der auf einmal sehr nachdenkliche Blick gefiel Riley gar nicht. Zu einem erneuten Widerspruch kam er jedoch nicht.

»Du nimmst mein Geld, dann erfahren Mum und Dad kein Wort von mir.«

»Rowan!«, schimpfte Riley, doch dessen folgender und sehr entschlossener Blick machte ihm schnell klar, dass er aus der Sache nicht mehr rauskam. »Ich will aber kein Geld von dir. Ich komme alleine klar.«

»Für wie lange?«

Riley hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestapft. »Ein paar Monate«, sagte er und schnaubte, als Rowan die Arme vor der Brust verschränkte. »Na schön, ein paar Wochen. Zufrieden?«

»Fünftausend müssten eine Weile reichen, oder?«

»Verdammt, Rowan!«

»Ich könnte Mum und Dad natürlich auch eine Geschichte erzählen … Über ein echt süßes und durchtriebenes Mädchen namens Ivette, das dich erst abgefüllt und dir danach deine ach so schützenswerte Tugend gestohlen hat.«

Jetzt war Riley derjenige, dessen Wangen vor Verlegenheit zu brennen begannen, denn den Namen seines ersten und Gott sei Dank einzigen Fehltritts im volltrunkenen Zustand würde er sein Lebtag nicht vergessen. Er fragte sich heute noch, wie er es bei seinem Alkoholpegel damals überhaupt geschafft hatte einen hochzukriegen, aber vermutlich war es besser, dass er sich nicht mehr an Einzelheiten erinnern konnte. Riley fluchte und auf Rowans amüsiertem Gesicht machte sich daraufhin ein siegessicheres Lächeln breit.

»Ich hätte dir nie davon erzählen sollen.«

»Gleichfalls, liebes Bruderherz.« Rowan trat auf ihn zu und streckte ihm feixend eine Hand hin. »Deal?«

»Deal«, antwortete er knurrig und ergriff Rowans Hand.

Ein Rascheln in den Bäumen erregte seine Aufmerksamkeit und Riley hob den Blick. Er musste grinsen, als er kurz darauf eine ihm nur zu gut bekannte Eule entdeckte, die sich gerade in die Luft schwang. Scheinbar war das Tier hier irgendwo zu Hause, dachte er und sah dem eleganten Vogel zu, wie er eine große Runde flog und dann tiefer kam. In ihre Richtung.

Riley stutzte irritiert und ließ Rowan los, um einen Schritt zur Seite zu treten. Im nächsten Moment musste er auch schon hektisch den Kopf einziehen. »Hey!«, schimpfte er, als die Eule knapp über ihn hinwegflog, und hörte Rowan lachen. »Sehe ich aus wie ein Ast?«, rief er dem Tier entrüstet nach und blinzelte verwundert, als der Vogel augenblicklich kehrtmachte und wieder zu ihm zurückflog. »Das ist ja wohl nic… Hey! Spinnst du? Gib mir meine Mütze zurück, du diebische Elster!«

Und als hätte die Eule ihn gehört, landete seine Wollmütze in einigen Metern Entfernung vor ihm im Schnee. »Frechheit«, schnaubte er und setzte sich in Bewegung, dabei einen bösen Blick nach hinten werfend, wo sein Bruder sich förmlich vor Lachen bog. »Das ist überhaupt nicht komisch. Gestern saß sie draußen vor dem Fenster im Baum und hat mich beobachtet.«

»Ich weiß«, sagte Rowan erheitert und folgte ihm. »Dad hat es uns schon erzählt. Er glaubt, die Eule ist schwul und macht dir ganz gentlemanlike den Hof.«

»Das ist doch Bullshit. Hör gefälligst auf zu lachen!«

Natürlich tat Rowan nichts dergleichen, ganz im Gegenteil, und Riley wandte sich mit einem beleidigten »Pfft.« von ihm ab, um seine Mütze zu holen. Er kam bis auf wenige Schritte an sie heran, doch dann landete die Eule plötzlich mitten auf dem Trampelpfad vor ihm im Schnee und ließ ihren typischen Ruf hören. Riley stoppte irritiert, als ihn das merkwürdige Gefühl überfiel, der Vogel würde ihn auslachen.

Was völliger Unsinn war, aber die Art und Weise wie diese dunklen Augen mit den bernsteinfarbenen Ringen sich auf ihn richteten, wirkte schlicht und ergreifend amüsiert. Eine Eule mit Sinn für Humor? Gab es so etwas bei Tieren? Wieso nicht? Riley glaubte ja auch an Geister und Vampire, was sprach also dagegen, von einer Schneeeule anzunehmen, dass sie sich über ihn lustig machte? Warum auch immer.

Das einzig wirklich Seltsame an der ganzen Sache war ihre Zutraulichkeit. Allerdings glaubte er nicht, dass sie an Tollwut oder einer anderen Krankheit litt. Vielleicht war sie von einem Menschen aufgezogen worden. Soweit Riley wusste, gab es in der Gegend einige Tierparks und Wildhüterstationen, die ein Auge auf die Tierpopulationen hatten.

»Bist du irgendwo ausgerissen?«, fragte er leise, weil er das Tier nicht erschrecken wollte, während er um sie herumging und nach seiner Mütze griff. Die Eule drehte sich mit ihm um und legte den Kopf schräg, als wollte sie sagen: Träum weiter. Riley grinste unwillkürlich. Dann kam ihm ein neuer Gedanke und der gefiel ihm gar nicht.

»Ich hoffe, du gehörst nicht zu einem Zirkus«, murmelte er und betrachtete den Vogel grüblerisch.

So eine Schönheit gehörte nicht eingesperrt. Wildtiere von Menschen aufziehen zu lassen, um ihre Art zu erhalten, war eine Sache, sie zu deren Belustigung in viel zu engen Käfigen zu halten und mit ihnen durchs Land zu tingeln, eine ganz andere. Ob der Vogel ihm erlauben würde, ihn zu berühren? Riley stopfte die Mütze in seine Jackentasche und schürzte die Lippen.

»Riley ...«, murmelte Rowan warnend, der ihm vermutlich an der Nasenspitze ansehen konnte, was er wollte. »Das ist ein wildes Tier. Die fasst man nicht an.«

»Als wenn du es nicht auch versuchen würdest, wäre diese Eule so versessen auf dich«, konterte er und grinste erneut, als sich ihre Blicke trafen. »Eben. Und jetzt halt die Klappe.«

»Oh Mann«, seufzte Rowan, blieb aber, wo er war, während Riley ganz langsam, Schritt für Schritt, den restlichen Abstand zu dem wunderschönen Tier überbrückte und dann vor ihm in die Knie ging, was gar nicht so leicht war, denn der blöde Gips war schwer und zog ihn nach links. Riley brauchte ein bisschen Zeit, um sein Gleichgewicht zu finden, und als es ihm endlich gelungen war, starrte er sein Gegenüber atemlos an.

Aus der Nähe war die Eule noch weitaus beeindruckender als ohnehin schon, und vor allem wirkte sie, gerade noch eine Armlänge von ihm entfernt, wirklich riesig. Was mit Sicherheit seiner Nervosität zu Schulden war, es war schließlich nur eine Eule und kein Weißkopfseeadler. Die waren wirklich gewaltig und gefährlich mit ihren langen, scharfen Krallen. Rileys Blick ging automatisch nach unten.

Die Krallen der Eule waren mit weich aussehenden, weißen Federn bedeckt, aber unverkennbar scharf. Riley schluckte und sah dem Vogel lieber wieder ins Gesicht, der ihn sehr intensiv zu mustern schien, aber weder Anstalten machte wegzufliegen oder nach ihm zu hacken, und beides hätte er erwartet.

»Du bist wunderschön«, flüsterte er und streckte vorsichtig die gesunde Hand aus, immer darauf gefasst, dass er sie sofort zurückziehen musste, falls die Eule plötzlich auf die Idee kam, dass Riley sie nervte.

Doch der Vogel hielt still. Er blieb völlig ruhig, als Riley mit vor Nervosität zitternden Fingern schließlich über das weiche Gefieder am Bauch strich und dann, als die Eule sich weiterhin nicht rührte, mutiger wurde und sich den langen Federn auf der Außenseite des rechten Flügels zuwandte. Sie fühlten sich anders an. Härter als die am Bauch. Riley war völlig fasziniert und so vertieft in sein Streicheln, dass er vor Schreck fast mit dem Hintern im Schnee landete, als die Eule überraschend den Kopf schüttelte und sich dabei aufplusterte.

Riley kicherte, als ihm automatisch der Vergleich mit einem explodierten Handfeger in den Sinn kam. Er wusste nicht mehr wo er das mal gelesen hatte, aber er konnte sich noch sehr gut an das Bild über dem Spruch erinnern, das eine Frau gezeigt hatte, deren langes Haar heillos übertrieben nach oben frisiert worden war. Sie hatte ausgesehen, als wäre sie mit einem oder eher mehreren Fingern in eine Steckdose geraten.

»Riley ...«, ließ sich Rowan wieder vernehmen und er hörte die Unruhe in der Stimme seines Bruders.

»Alles okay«, sagte er leise und kehrte mit seinen Fingern zum Bauch der Eule zurück, um sie dort ein wenig zu kraulen, so wie er es früher immer mit den Katern und Katzen gemacht hatte, die ständig auf ihrem Hof zu finden gewesen waren. Der Vogel stieß ein Geräusch aus, das ihn an eine gurrende Taube erinnerte, und brachte Riley damit zum Lächeln. »Das gefällt dir, oder?«, fragte er die Eule und die nickte daraufhin mit dem Kopf, als hätte sie ihn tatsächlich verstanden.

»Ich werd verrückt«, flüsterte Rowan ergriffen und obwohl es Riley genauso ging, zog er sich jetzt langsam zurück, weil er sein Glück nicht überstrapazieren wollte. Jede überraschende oder hektisch wirkende Bewegung vermeidend, richtete er sich auf und ging zu seinem Bruder hinüber, der mit vor Erstaunen geweiteten Augen immer noch die Eule ansah.

»Umwerfend«, murmelte Riley und fühlte Rowans Nicken mehr, als dass er es sah, weil sich der Vogel vor ihnen genau jenen Augenblick aussuchte, um seine Schwingen auszubreiten und sich in die Lüfte zu erheben.

 

 

Kapitel 5

 

 

 

 

»Du rufst sofort an, wenn du Hilfe brauchst, klar?«

»Rowan ...«

»Wir haben die Nummer von deinem Boss und wir werden sie benutzen, falls du dich nicht mindestens jeden zweiten Tag bei uns meldest.«

»Jetzt wirst du kindisch«, maulte Riley und sah genervt zu, wie sein Bruder die Reisetasche gleich neben der Couch auf den Boden stellte und ihn danach finster ansah.

»Im Gegenteil. Ich habe dir jetzt fast eine ganze Woche lang dabei zugesehen, wie du durch den Gips zu einem Kleinkind mutiert bist, das sich die ersten zwei Tage ohne Hilfe nicht mal die Schuhe zubinden konnte, und es behagt mir nicht, dich in dieser Wohnung allein zu lassen. Denk an Mums und Dads Worte ... Haushalte sind sehr gefährliche Orte.«

»Ja, zukünftiger Daddy.«

»Blödmann.« Rowans Mundwinkel zuckten belustigt. »Ich meine es ernst, du rufst an. Jeden zweiten Tag, bis du den Gips los bist. Wenn du nicht anrufst, steige ich sofort ins Auto, und du weißt, dass das keine leere Drohung ist.«

Riley ließ sich mit einem lauten Stöhnen auf sein Sofa fallen und legte dann den Kopf nach hinten auf die Lehne, um so zu Rowan aufsehen zu können. »Fahr nach Hause. Ich komme in meiner eigenen Wohnung schon zurecht. Das tue ich seit mehr als fünfzehn Jahren, falls du das vergessen haben solltest.«

Rowan schnaubte angesäuert. »Wieso willst du nicht, dass ich ein paar Tage hierbleibe?«

»Fang nicht wieder damit an«, murrte Riley und tippte sich vielsagend gegen die Stirn, denn darüber hatten sie während der Weihnachtstage einmal zu oft diskutiert.

Riley wollte seine Ruhe haben und nicht ständig beobachtet werden, weil er nach einem Besuch auf der Toilette momentan drei Versuche brauchte, sich die Hose hochzuziehen. Von dem ersten, jämmerlichen Versuch einer Dusche gar nicht zu reden. Mittlerweile klappte es besser, auch wenn alles ewig dauerte.

Rowan hatte recht, der Gips behinderte ihn ungemein, aber die Zeit, die er ihn noch tragen musste, war absehbar und bis auf die Frage, wie er in den nächsten Wochen seine Einkäufe nach Hause schaffen sollte, sah Riley keine schweren Probleme auf sich zukommen. Es würde irgendwie gehen und notfalls bestellte er sich eben alles übers Internet oder bat Mister Jones, ihm zu helfen. Er war kein Kleinkind, basta.

»Wie kann man nur derartig stur sein?«, grollte Rowan und wandte sich ab. Riley hörte ihn in der Küche rumoren und Schranktür um Schranktür öffnen. »Hast du überhaupt was zu essen da?«

»Ich war eine Woche weg, was erwartest du? Dass sich der Kühlschrank von alleine wieder füllt? Aber irgendwo müssten noch Nudeln und Reis rumliegen.«

»Ich gehe einkaufen.«

»Rowan ...«

»Nein, verdammt. Mum bringt mich um, wenn sie erfährt, dass ich gefahren bin, ohne sicherzustellen, dass du hier nicht verhungerst. Willst du was Bestimmtes?«

»Ich kann Mister Jones fragen, ob ...«

Seine Wohnungstür knallte zu und unterbrach Riley mitten im Satz. Er schloss seufzend die Augen, schüttelte dabei einmal den Kopf und erhob sich anschließend, um wenigstens seine Tasche alleine wegräumen zu können, bevor Rowan mit einem Berg an Lebensmitteln wieder bei ihm einfiel, die er niemals in seinen Schränken würde unterbringen können. Was das betraf, war sein Bruder wie ihre Mutter. Apropos Mutter … Irgendwo hatte sie mit Sicherheit eine Packung Kekse für ihn in seine Tasche geschmuggelt.

Riley wurde schnell fündig und grinste zufrieden, als er die volle Plastikdose zwischen seinen frisch gewaschenen Socken entdeckte. Er brachte sie in die Küche und streckte sich, um im nächsten Moment einen langen Blick durch sein Wohnzimmer zu werfen. So ein offener Küchenbereich war schon verdammt praktisch, was auch für den Rest seiner recht überschaubaren vier Wände galt.

 Klein, aber fein hatte der Vermieter es damals genannt, als er Riley hergebracht hatte, um sich die Wohnung anzuschauen, und daran hatte sich nichts geändert. Seit nun mehr sechzehn Jahren lebte er jetzt in diesen zwei Zimmern, plus Badezimmer, einer Küchenzeile, inklusive Einbauküche, und einer beengten Abstellkammer im Schuhkartonformat. Mehr brauchte er auch nicht, dachte Riley zufrieden und kämpfte sich nebenher aus seiner Jacke. Im nächsten Augenblick stutzte er irritiert, denn auf dem Fenstersims saß seine Eule.

Nein, das konnte nicht sein. Das war mit Sicherheit nur ein Zufall. Eulen gab es schließlich überall. Riley schob sich die Schuhe von den Füßen und schlich auf Socken langsam auf das Fenster zu. Die Eule beobachtete ihn und legte den Kopf schief, als Riley den gesunden Arm in die Seite stemmte und sich bei einem erneuten Kopfschütteln fragte, ob er jetzt völlig seinen gottverdammten Verstand verloren hatte.

Das war eindeutig sein Lebensretter, dieses Gefieder würde Riley überall wiedererkennen. Die schwarzen Streifen am Ende der Flügel, die Tropfen auf der Brust. Dazu die dunklen Augen mit dem leuchtenden Ring, die ihn mit einem wissenden Blick bedachten, was ebenfalls nicht sein konnte. Andererseits hatte er das Tier gerade vor sich und dessen Augen sprachen für ihn einfach Bände.

»Okay, jetzt wird das Ganze seltsam«, erklärte er sich selbst und fuhr zusammen, als die Eule mit ihrem Schnabel gegen die Scheibe klopfte. Sie sah irgendwie empört aus. »Was erwartest du, wenn du mir durch den ganzen Bundesstaat folgst? Das ist doch nicht normal.« Riley blinzelte, dann stöhnte er. »Oh Gott, ich rede mit einer Eule, die mir den Arsch rettet, sich von mir anfassen lässt und mir jetzt auch noch nachfliegt. Wenn ich das Dad erzähle, fällt er vor Lachen vom Stuhl. Schwule Eulen. Du lieber Himmel.« Das Tier hackte erneut gegen die Scheibe, dieses Mal lauter, und Riley sah den Vogel verärgert an. »Lass das! Wehe, du machst die Scheibe kaputt.« Die Eule legte ihren Kopf auf die andere Seite und Riley fuhr sich stöhnend durchs Haar. »Ich brauche eine lange Dusche und Schlaf, und beides brauche ich dringend. Geh weg. Flieg zurück nach Hause, wo auch immer dein Zuhause ist.« Er wedelte mit der Hand in Richtung Scheibe und wandte sich dabei ab. »Sobald Rowan weg ist, gehe ich ins Bett und morgen früh ist bestimmt alles wieder gut.«

Riley ignorierte das nächste Klopfen, hob seine Reisetasche auf und verschwand schnurstracks im Schlafzimmer. Er stellte die Tasche aufs Bett, schälte sich aus seinen Kleidern und stieg, nachdem er eine Weile gegen einen Müllsack gekämpft hatte, damit der Gips nicht nass wurde, unter die Dusche.

Mit einem Handtuch um die Hüften kehrte er nach einer halben Stunde in sein Schlafzimmer zurück, um sich saubere Kleidung aus dem Schrank zu nehmen, und schrie erschreckt auf, als er seine Eule draußen auf dem Fenstersims entdeckte.

»Hast du sie noch alle? Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt gekriegt. Was in meinem Alter verdammt peinlich wäre.« Die Eule streckte sich und klopfte wieder an. Riley tippte sich an gegen die Stirn. »Vergiss es. Du bist wahrscheinlich wirklich aus einem Zirkus. So benimmt sich doch keine Eule.« Noch ein Klopfen, das ihm diesmal energischer vorkam. »Ich lasse dich nicht rein«, erklärte Riley dem Vogel eisern und griff nach dem Handtuch, weil er mittlerweile fror und sich endlich anziehen wollte.

Doch der Blick seiner Eule ließ ihn misstrauisch innehalten. Bildete er sich das ein oder starrte sie ihn interessiert an? Riley fühlte sich plötzlich unwohl und entschied, das Handtuch zu lassen, wo es war. Stattdessen nahm er sich Unterwäsche aus dem Schrank und ging zurück ins Bad. Dort gab es zwar auch ein Fenster, aber das war aus undurchsichtigem Milchglas. Er wurde von einer Spannereule verfolgt, nicht zu fassen.

Mit der er offenbar würde lernen müssen auszukommen, da sie immer noch auf dem Sims hockte, als Riley zurückkam und sich aufs Bett setzte, um sich dem Kampf mit seinen Socken zu widmen. Er war fest entschlossen, diesen merkwürdigen Vogel zu ignorieren, und nachdem er seine Tasche einfach mit dem Fuß vom Bett geschoben hatte, weil morgen auch noch genug Zeit war, um sie auszuräumen, schlüpfte er in eine bequeme Hose und ging fluchend zurück ins Wohnzimmer, nachdem er festgestellt hatte, dass er ohne Hilfe nicht in den Pullover kam.

Rowan würde ihn auslachen und danach wieder darauf bestehen, dass er hierblieb. Oder dass er ihn wieder mit nach Hause nahm, damit er die nächsten Wochen weiter von vorne bis hinten betüdelt werden konnte. Riley hatte schon während der Feiertage die Schnauze davon voll gehabt. So schön es auch gewesen war die Familie wiederzusehen, in ihre überraschten und glücklichen Gesichter zu schauen, als sie ihre Geschenke auspackten, Zeit mit Rowan und später auch Sally draußen im Schnee zu verbringen, sich mit seinen Eltern zu unterhalten und all den Klatsch und Tratsch aus der Gegend zu hören, hier, in seinen eigenen vier Wänden, fühlte er sich einfach wohler. Hier war es ruhig und still. Hier warf ihn morgens niemand mit einem lauten Lachen aus dem Bett oder kam einfach ins Bad gestürmt, obwohl er unter der Dusche stand.

Ein Badezimmer für vier Leute war eindeutig zu wenig, und Gott sei Dank sah Sally das genauso, denn sie und Rowan hatten Pläne für einen An- und Ausbau von seinem Elternhaus, die mindestens ein weiteres Bad vorsahen. Sein Bruder wollte für seine eigene Familie ein wenig mehr Privatsphäre schaffen und das konnte Riley sehr gut nachvollziehen.

Riley hatte gerade die Heizung höher gestellt, um die Zeit bis zu Rowans Rückkehr nicht frieren zu müssen, als er hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und ihm zugleich einfiel, dass er eine bequeme Fleecejacke im Schrank hängen hatte. Die würde es statt seines Pullovers tun, entschied er und eilte zurück ins Schlafzimmer. Die Eule war weg. Nanu?

»Riley?«

»Komme gleich«, rief er und schaffte es mit einigen Flüchen und Verrenkungen schließlich allein in seine Jacke. Als er dann in den Küchenbereich kam, klappte ihm die Kinnlade runter. Auf der Arbeitsplatte standen sechs übervolle Papiertüten und er hörte Rowan gerade im Hausflur die Treppen hochkommen. »Was zum …?«

»So, das sind die letzten.« Rowan stellte zwei weitere Tüten vor den Küchenschränken auf den Boden und warf dabei seine Wohnungsschlüssel auf die Esstheke. »Das müsste eine Weile reichen. Die Überweisung habe ich auch gleich erledigt. Dann muss ich mir Zuhause keine Ausrede überlegen, um zur Bank zu fahren. Und komm mir jetzt bloß nicht wieder mit dem Wort Onlinebanking. Mir reicht schon, dass Sally den ganzen Onlinescheiß für ihren Laden hat.«

»Das ist kein Scheiß«, widersprach Riley mit fassungslosem Blick auf die Tüten. »Was ist das alles?«

»Ich weiß, dass es kein Scheiß ist, ich habe nur keinen Bock, mich damit zu befassen. Und ich sehe auch keinen Sinn darin, von morgens bis abends dämliche Bilder von mir zu machen und dazu zu schreiben: Bin gerade Kühe melken. Hallo? Wen interessiert das?« Rowan nahm sich die erste Tüte vor. »Ach ja, das hier sind übrigens Lebensmittel. Die isst man. Einige sind gesünder als andere, einige kann man lagern, einfrieren und so weiter, und wieder andere, wie diese leckeren Äpfel hier, spült man ab und isst sie. Möglichst bevor sie auf die Größe einer Pflaume zusammen schrumpeln und anfangen zu stinken.«

»Manchmal möchte ich dich einfach nur erwürgen«, grollte Riley und seufzte resigniert, denn sein Bruder grinste nur. »Ja, ja, sag es nicht. Ich könnte dich stattdessen mit dem Gips niederschlagen, wie wäre das?«

Rowan gluckste und ließ von der Tüte ab, die er momentan ausräumte, um ihn in die Arme zu schließen. »Ich liebe dich auch, du olle Miesmuschel. Und jetzt sag mir, wo das ganze Zeug hin soll. Danach haue ich ab und lasse dich in Frieden. Zumindest bis übermorgen, wenn du nicht ...«

Rowan verstummte, als Riley seinen unverletzten Arm um ihn legte. »Ich rufe an, Ehrenwort.«

»Jeden zweiten Tag.«

»Bis der blöde Gips ab ist«, versprach Riley und löste sich von seinem Bruder, um kopfschüttelnd auf die Tüten zu sehen. »Rowan, dir ist schon klar, dass diese Küche nur einen sehr begrenzten Platz aufweist?«, fragte er und gesellte sich mit einem tiefen Seufzen zu Rowan, als der sich mit einem Lachen von ihm abwandte, um weiter auszupacken.

Es war das Beste, wenn er seinem Bruder dessen Willen ließ, umso eher konnte er hinter ihm die Tür schließen, sich für eine Stunde und auf die Couch setzen und anschließend hoffentlich etwas Schlaf nachholen, von dem er in der letzten Woche eindeutig zu wenig bekommen hatte, bevor morgen früh sein Wecker klingelte.

Der Arbeitsalltag hatte ihn beinahe wieder. Zumindest für die nächsten Tage, denn wie es ab Januar weitergehen würde, musste er mit Mister Jones erst mal klären.

Eine Stunde später verzog sich Riley behaglich aufseufzend und dank eines vollen Magens rundum zufrieden unter seine dicke Bettdecke und schaltete die Nachttischlampe aus. Es war zwar noch recht früh am Abend, aber er war zu müde um TV zu sehen oder gar etwas zu lesen. Draußen schneite es wieder und Riley konnte die dichten Flocken vor dem Fenster tanzen sehen, seit die Straßenbeleuchtung angegangen war. Insgeheim hatte er beim Zubettgehen darauf gewartet, dass eine gewisse anhängliche Eule wieder auf dem Fenstersims hocken und ihn beobachten würde, aber sie war leider nicht gekommen. Riley schloss die Augen und entspannte sich, nachdem er mit seinem eingegipsten Arm eine einigermaßen bequeme Liegeposition gefunden hatte. Hoffentlich ging es dem hübschen Flattervieh gut, war sein letzter bewusster Gedanke, bevor er sich seinen Träumen überließ.

Um kurz daraus aus selbigen hochzuschrecken, als er eine Berührung auf der Bettdecke fühlte. War das eine Hand? Nein, das konnte überhaupt nicht sein, er war allein hier. Das hätten Rowan und er doch gemerkt, wäre ein Einbrecher oder sonst irgendein Irrer in seiner Wohnung gewesen, als sein Bruder ihn nach Hause gebracht hatte. Und diese Eule, auch wenn sie sich merkwürdig verhielt, hatte sich mit Sicherheit nicht durch eine geschlossene Fensterscheibe geschlichen. So viel Fantasie besaß nicht einmal er.

»Hab keine Angst, Riley.«

Ach du heilige Scheiße. Riley stieß die Decke von sich und rollte sich auf der anderen Seite aus dem Bett. Ein gedämpfter Fluch war zu hören, und während der Einbrecher heftig gegen die Bettdecke kämpfte, kämpfte sich Riley auf die Beine, was mit dem Gips nicht ganz einfach war, aber als er es geschafft hatte, rannte er sofort los. Er musste die Gelegenheit zur Flucht nutzen, weil es wahrscheinlich die erste und einzige war, die er haben würde. Doch schon nach wenigen Schritten, blieb er mit dem Fuß an etwas hängen.

Seine Reisetasche, begriff Riley entsetzt, bevor er mit dem verletzten Arm voran auf den harten Holzdielen landete. Ein gleißender Schmerz schoss bis in seine Schulter hoch und ließ ihn aufschreien. Riley verlor das Bewusstsein.

 

Lautes, sich ständig wiederholendes Klopfen weckte Riley. Sein Schädel brummte und sein Arm tat höllisch weh und fühlte sich unter dem Gips auch ungewöhnlich heiß an, als er sich langsam auf den Rücken drehte. Verwundert registrierte er dabei etwas Feuchtes und hielt sich die unverletzte Hand vor sein Gesicht. Seine Finger waren rot und es dauerte einige Zeit, bis Riley dämmerte, dass das, was er da sah, sein eigenes Blut war. Und dann fühlte er den Schmerz in seinem Gesicht, speziell in seiner Nase.

Stöhnend versuchte er sich aufzurichten und presste sofort beide Augen zu, weil sich seine Welt durch die Bewegung um ihn herum heftig zu drehen begann. Hinsetzen war also keine gute Idee, daher würde er lieber noch eine Weile liegenbleiben.

Zu dem Klopfen gesellte sich ein merkwürdiges Klatschen. Riley brauchte mehrere Versuche, um seinen Kopf so weit zu heben, dass er einen Blick zum Fenster werfen konnte, von wo der Krach kam. Seine Eule war wieder da und spielte draußen gerade vollkommen verrückt. Sie schlug heftig mit den Flügeln und sprang auf und ab, traf dabei immerzu die Scheibe, was dieses klatschende Geräusch verursachte. Nebenbei schlug sie immer wieder mit dem Schnabel gegen das Glas. Dieser Vogel wollte eindeutig zu ihm rein.

Riley gaffte sie erstaunt an und als seine Eule das bemerkte, erschrak sie so sehr, dass sie nach hinten weg und mit einem Kreischen, das er sogar durch die Scheibe hörte, vom Sims fiel. Er vergaß augenblicklich alle Schmerzen und kämpfte sich auf die Beine, um zum Fenster zu stolpern. Gegen den Würgereiz in seiner Kehle ankämpfend, öffnete er das Fenster und warf einen Blick nach draußen.

Hoffentlich war dem Tier nichts passiert, dachte er besorgt und hörte das bekannte Flattern noch bevor er ihren riesigen, hellen Schatten sah. Er zog sicherheitshalber den Kopf ein und da flog diese verrückte Eule auch schon über ihn hinweg direkt in sein Schlafzimmer.

Empört schimpfend landete sie recht unelegant auf seinem Bett und Riley musste grinsen, als sie fast einen Bauchklatscher hinlegte, bevor es ihr mit Hilfe der Flügel gelang sich aufrecht hinzusetzen und ihn böse anzusehen. Er wusste nicht, warum er sich dessen so sicher war, aber dieser Vogel war eindeutig und unverkennbar sauer auf ihn.

»Was?«, fragte er angriffslustig. »Ich bin hier derjenige mit der blutenden Nase und dem gebrochenen Arm. Du brauchst dich gar nicht zu beschwer...«

Der Rest seines Satzes ging in der schockierten Erkenntnis unter, dass er durch die Eule und seinen Brummschädel derart abgelenkt gewesen war, dass er den Einbrecher total vergessen hatte, der vielleicht noch in seiner Wohnung herumschlich und auf die nächste günstige Gelegenheit wartete, ihn im Schlaf zu überfallen.

Ein Einbrecher, der seinen Namen kannte, erinnerte er sich plötzlich und bekam eine Gänsehaut. Das war überhaupt kein Einbrecher, erkannte er mit deutlicher Klarheit und warf einen entsetzten Blick zur Tür. Sie war angelehnt, wie immer, und als er lauschte war außer seinem eigenen Herzschlag, der ihm in den Ohren dröhnte, nichts zu hören. Aber was hieß das schon? Riley schluckte mehrfach und presste erneut die Augen zusammen, als ihm wieder schwindelig wurde. Er musste sich hinsetzen, besser noch hinlegen, und er brauchte Hilfe. Schon wieder. Eine Erkenntnis, die ihn nicht gerade freute, aber Riley war vernünftig genug, um einzusehen, dass es nicht ohne ging. Jetzt nicht mehr.

»Telefon. Ich muss ...«

Jemanden anrufen, nur wen? 911? Wegen einer seltsamen Eule im Schlafzimmer und einem unsichtbaren Einbrecher? Er konnte sich das Gelächter, das ihm dann drohte, leider etwas zu gut vorstellen und entschied sich dagegen. Auch wenn sein Arm und seine Nase anderer Meinung waren, nahm Riley das Handy vom Nachttisch und rief, nach einem Blick auf die Uhr, die ihm verriet, dass Rowan vermutlich noch nicht einmal zu Hause angekommen war, da er keine halbe Stunde geschlafen hatte, seinen Bruder an.

»Nanu? Ich bin keine zwei Stunden weg, was hast du in der kurzen Zeit angestellt?«

Riley zog eine Grimasse. »Kannst du bitte umkehren?«

»Was ist passiert?«, hakte Rowan umgehend nach und sein zuvor belustigter Tonfall war einem besorgten gewichen.

»Ich glaube, ich habe mir die Nase gebrochen und mit dem Arm stimmt irgendwas nicht. Er fühlt sich so heiß an.«

»Ich wiederhole mich, was ist passiert?«, fragte sein Bruder und Riley erzählte es ihm. »Ruf die Polizei an.«

»Aber ...«

»Riley! Jemand war in deiner Wohnung, also rufst du jetzt gefälligst die Cops an, damit sie sich umsehen können, klar? Und wenn du schon mal dabei bist, sag ihnen, sie sollen einen Notarzt mitbringen. Ich drehe sofort um und komme zurück.«

»Okay«, murmelte Riley kleinlaut, dabei fiel sein Blick auf die Eule. »Rowan?«

»Ja?«

»Die Eule ist hier.«

»Hast du dir den Kopf gestoßen?«

»Nein, ich meine das ernst. Sie sitzt auf meinem Bett. Als ich auf dem Boden wieder zu mir kam, hockte sie draußen und hat ein Riesentheater auf dem Fenstersims gemacht. Ich habe sie reingelassen.«

»Bist du sicher, dass es dieselbe Eule ist?«

»Ja.«

»Sieh zu, dass du sie los wirst, bevor die Polizei da ist. Wer weiß, was die mit ihr machen.«

»Ist gut.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739424521
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Drama schwul Fantasy Gestaltwandler Familie Liebe Romanze Liebesroman

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Feuerengel