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Drachenherz

von Mathilda Grace (Autor:in)
450 Seiten

Zusammenfassung

Die brutale Ermordung seiner Familie macht Dylan Trake über Nacht zum Alleinerben des Trakener-Clans, einem Verbund unzähliger Familien, deren Mitglieder es dank ihrer geistigen Fähigkeiten weit gebracht haben. Als drittes Kind und potenzialfreies Psi-Talent wurde Dylan nie auf eine Rangfolge vorbereitet, doch plötzlich wird von ihm verlangt, die Erbfolge abzutreten und gleichzeitig einen vor Jahren geschlossenen Bindungsvertrag mit dem Wintermeer-Haus zu erfüllen. Dylan, der keinerlei Interesse daran hat Partner eines Gestaltwandlers zu werden, lehnt die Einhaltung des Vertrages ab, da er nicht ihm galt, sondern seinem verstorbenen Bruder. Caleb Wintermeer hingegen besteht auf der Vertragserfüllung und droht mit der Beendigung eines langjährigen Friedens, sollte sich Dylan nicht innerhalb einer Woche in seinem Haus einfinden, um ihre Bindung zu vollziehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Die brutale Ermordung seiner Familie macht Dylan Trake über Nacht zum Alleinerben des Trakener-Clans, einem Verbund unzähliger Familien, deren Mitglieder es dank ihrer geistigen Fähigkeiten weit gebracht haben. Als drittes Kind und potenzialfreies Psi-Talent wurde Dylan nie auf eine Rangfolge vorbereitet, doch plötzlich wird von ihm verlangt, die Erbfolge abzutreten und gleichzeitig einen vor Jahren geschlossenen Bindungsvertrag mit dem Wintermeer-Haus zu erfüllen. Dylan, der keinerlei Interesse daran hat Partner eines Gestaltwandlers zu werden, lehnt die Einhaltung des Vertrages ab, da er nicht ihm galt, sondern seinem verstorbenen Bruder. Caleb Wintermeer hingegen besteht auf der Vertragserfüllung und droht mit der Beendigung eines langjährigen Friedens, sollte sich Dylan nicht innerhalb einer Woche in seinem Haus einfinden, um ihre Bindung zu vollziehen.

 

Die neue Welt

 

 

 

 

 

 

 

 

»Du kannst einen Menschen nicht zwingen dich zu lieben.«

 

 

Prolog

 

 

 

 

Weiße Särge.

Eingefasst in ein Meer aus leuchtend farbigen Blumen, die seine Mutter so sehr geliebt hatte.

Rosen, Margeriten, Calla, Lilien, mehr Namen hatte er sich nicht merken können, weil ihn Grünzeug nicht interessierte. Das hatte es noch niemals getan. Dylan hatte nie verstanden, warum seine Mutter darauf bestand, immer Vasen mit frischen Blumen in jedem Zimmer des Hauses zu haben, aber er hatte seine Mutter über alles geliebt. Genauso wie seinen Vater und seine Geschwister, die nur wenige Schritte vor ihm aufgebahrt waren.

Bereit für ihre letzte Reise.

Was machte er hier eigentlich? Er war nicht im Geringsten dazu bereit sie ziehen zu lassen. Er wollte nicht hier stehen und den einzigen Überlebenden spielen. Er wollte auch nicht der letzte Erbe sein. Alles, was Dylan wollte, war sein Leben zurück. Die unzähligen Partys, die lockeren Freunde, sein Apartment in der Stadt. Er war ein Trake, Kind einer der angesehensten Familien innerhalb der Psi-Gemeinde, und doch gehörte er nicht zu ihnen. Das hatte er nie getan, denn sein Potenzial hatte sich leider nicht entwickelt.

Das machte ihn zu einem Normalen und ermöglichte ihm gleichzeitig ein Leben, wie sein Bruder es niemals hätte führen dürfen. Ein Privileg, um das ihn viele Psi beneidet hatten.

Doch nun, nachdem seine Familie ermordet worden war, war er plötzlich der Erbe.

Ein Name ohne Talent.

Ein Mann ohne Ruf, ohne Ausbildung, ohne Zukunft.

Mit 29 Jahren wurde von Dylan auf einmal erwartet, den Trakener-Clan zu führen, wichtige und richtige Entscheidungen zu treffen und bei dieser Beerdigung anwesend zu sein, die ihm das einzige nahm, dessen er sich je sicher gewesen war.

Die Liebe seiner Familie.

 

 

Kapitel 1

 

 

 

 

»Auf gar keinen Fall.«

»Dylan ...«

»Nein, George. Ich lasse mich nicht von diesem Wintermeer erpressen. Der Vertrag galt Christian, nicht mir. Ich werde mich nicht an einen verfluchten Gestaltwandler binden, den ich nie zuvor gesehen habe.«

»Ich fürchte, dass du in dieser heiklen Angelegenheit keine andere Wahl hast, Dylan.«

»Herrgott, George ...«

»Bitte, lass mich zu Ende sprechen«, bat der alte Mann und Dylan nickte schweigend. »Ich diene deiner Familie seit dem Tage meiner Geburt und ich werde deiner Familie bis zu meinem Todestag dienen. Ich habe miterlebt, wie du deinen ersten Zahn bekommen hast und ich werde hoffentlich erleben, wie du selbst Vater wirst.«

George trat seufzend vor eines der großen Fenster, die das Arbeitszimmer seines Vaters mit Licht durchfluteten, und sah einige Zeit still hinaus, bevor er sich wieder zu ihm umwandte. Sein mitfühlender Blick brachte Dylan dazu, genervt die Augen zu verdrehen. Er würde seine Meinung nicht ändern. Niemals. Jedenfalls nicht freiwillig.

Vor weniger als einer Woche war fast seine gesamte Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Getötet mithilfe einer Bombe, was man ihm erst vor wenigen Stunden gesagt hatte. Von heute auf morgen war er der letzte Erbe eines Clans unzähliger Häuser und Familien, hatte keine Ahnung, was er wie und als nächstes tun sollte, und jetzt verlangte man auch noch von ihm, den ältesten Sohn des Wintermeer-Hauses zu ehelichen?

Caleb Wintermeer. Alpha, Familienerbe, Gestaltwandler.

Ein gut aussehender Mann, den Dylan privat mit Sicherheit nicht von der Bettkante gestoßen hätte, aber das ging wirklich zu weit. Er kam ja kaum mit dem Wissen zurecht, dass er jetzt einen alten, mächtigen Clan zu führen hatte. Wie sollte er dann noch einem Bündnisvertrag gerecht werden, der zwischen den Trakes und den Wintermeers weiter für Frieden sorgen würde? Was hatte sein Vater sich nur dabei gedacht, so einen Vertrag zu schließen? Sie lebten doch nicht mehr im Mittelalter, wo es gang und gäbe gewesen war, die eigenen Töchter für Politik, Geld und gute Verbindungen an Männer zu verschachern.

»Ich sehe dir an, was du denkst, aber dem ist nicht so. Dein Vater und Jonathan Wintermeer haben diesen Vertrag damals wohlüberlegt geschlossen.« George hob eine Hand und deutete einmal durch das ganze Arbeitszimmer. »Dieser Raum gehört nun dir. Ebenso wie das Haus, seine Bewohner und leider auch alle Verträge, Verpflichtungen und andere Dringlichkeiten, die die Aufgabe, den Trakener-Clan zu führen, mit sich bringt. Und dazu gehört auch der Bündnisvertrag mit den Wintermeers.

Ich will ehrlich sein, Dylan, ich war dagegen, als dein Vater diesen Vertrag unterschrieb. Natürlich wollte ich Frieden, aber nicht um diesen Preis. Dein Bruder hat die Bedingungen des Vertrages mit der ihm eigenen Ruhe akzeptiert und, soweit ich weiß, vor einigen Monaten eine eigene, private Vereinbarung mit Caleb Wintermeer getroffen, die beiden gewisse Freiheiten gab. Weitere Details kann ich dir nicht nennen, da sie mir nicht bekannt sind, doch bei diesen Gesprächen hatte ich einige Male die Gelegenheit, mich mit dem Alpha zu unterhalten. Caleb Wintermeer weiß, was er will, meint, was er sagt, und er macht keine leeren Drohungen.« George deutete auf den Brief, den Dylan immer noch in der Hand hielt und der sein Schicksal besiegelte, sofern er auf den Inhalt einging. »Er wird den Frieden mit uns brechen, wenn du das Bündnis ablehnst.«

»Wir könnten neu verhandeln. Christian ist tot und ...«

Georges Kopfschütteln ließ Dylan wieder verstummen. »Er hat seine Worte klug formuliert. Die Wintermeers sind seit vielen Generation Kämpfer, aber sie beherrschen auch die Kunst der Politik. Er weiß, welche Vorteile eine hochoffiziell geschlossene Verbindung unserer Familien mit sich bringt. Dieser Vertrag wurde nach dem Ende der letzten Schlacht geschlossen, als die Tränen der Trauernden noch nicht versiegt und das Blut auf den Schlachtfeldern noch nicht getrocknet war. Das erste Kind. Ein Bündnis auf Lebenszeit. Für unsere Häuser, den Frieden und für die Macht, die damit einhergeht. Wir sind stark geworden, Dylan, aber einen Bruch mit den Gestaltwandlern können wir uns nicht leisten. Caleb Wintermeer weiß das.«

Dylan legte den Brief, ein auf edlem Papier per Hand verfasstes Schreiben, behutsam auf den wuchtigen Schreibtisch seines Vaters und betrachtete das braun lackierte Holz eine Weile, bevor er tief durchatmete und seinen Blick nachdenklich durch den Raum schweifen ließ. Der Schreibtisch würde nie ihm gehören, ebenso wenig wie das Arbeitszimmer im Ganzen oder der Rest des Hauses. Es gehörte seinem Vater und das würde es immer tun. Dylan erhob sich, um zu dem langjährigen Berater seiner Familie ans Fenster zu treten.

»George, wir sind beide Männer.«

»Das ist mir bewusst und ich weiß ebenso, dass du deinem eigenen Geschlecht weniger abgeneigt bist, als es dein Bruder war.« George lächelte traurig. »Niemand erwartet eine sexuelle Komponente, das weißt du. Wir schließen Bündnisse mit unserem Blut, nicht unbedingt mit dem Herzen.«

»Und genau deswegen will ich das nicht, denn es bedeutet, dass ich einen Mann in meinem Kopf akzeptieren soll, den ich weder kenne noch liebe. Du weißt, dass ich mich nie entwickelt habe. Wie soll ich mich gegen ihn verteidigen? Ich bin kein Psi. Ich bin nur ...«

»Du bist ein Trake und du wirst es bleiben!«, fuhr George ihm entschieden ins Wort. »Es ist vollkommen gleichgültig, ob deine geistigen Fähigkeiten entwickelt sind oder nicht. Zudem steht in diesem Vertrag schwarz auf weiß, dass es euch beiden untersagt ist, die Gedanken des jeweils anderen zu lesen, wenn derjenige das nicht wünscht. Ein Wintermeer hat es nicht nötig, Gewalt anzuwenden.«

Dylan schauderte unwillkürlich, denn er wusste durch alte Geschichten, was geschehen konnte, wenn sich ein starker Psi einem schwächeren Geist aufzwang. Geistige Vergewaltigung wurde nicht grundlos mit dem Tode bestraft.

»Ich kann das nicht. Er wird immer in meinem Kopf sein.«

»Du wirst fühlen, was er fühlt, spüren, was er spürt, aber deine Gedanken werden weiterhin dir gehören. Um diese Tiefe der Verbindung zu erreichen, müsstet ihr eure Seelen vereinen. Ihr müsstet einander ehrlich lieben. Denk' an deine Mutter und den Unterricht. Was hat sie euch beigebracht, als Christian das erste Mal unglücklich verliebt war?«

»Du kannst einen Menschen nicht zwingen dich zu lieben.«

George nickte. »Deine Mutter war eine sehr weise Frau. Ihr schließt ein Bündnis zum Wohle unserer Häuser, aber diese Entscheidung kann und wird euch nicht davon abhalten, ein eigenständiges Leben zu führen.«

Dylan wandte sich vom Fenster ab und warf einen Blick auf den Brief. »Eine Woche. Und er erwartet, dass ich mindestens ein halbes Jahr mit ihm verbringe. Wie stellt er sich das vor? Wie stellen sich die anderen Familien unseres Clans dieses lächerliche Arrangement vor? Was frage ich eigentlich, denen ist das doch egal, sie müssen ja keines ihrer Kinder verkaufen. Aber ich soll mich ihrem Willen kampflos beugen? Was denken sie, wer ich bin? Ihr Bimbo? Wer soll unser Haus leiten, solange ich mich bei den Wintermeers aufhalte?«

»Ich natürlich.«

Dylan fuhr herum. Ein erleichtertes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, als er den breit grinsenden Mann in der offenen Tür entdeckte, den er das letzte Mal vor über einem Jahr gesehen und besonders in den letzten drei Tagen wahnsinnig vermisst hatte. »Onkel Adrian! Wo hast du bloß immer diese schrecklichen Anzüge her?«

»Onkel, tze, jetzt fühle ich mich alt. Und diese Anzüge sind nicht schrecklich, sondern der neueste Schrei. Auch wenn die hellblaue Farbe ein bisschen gewöhnungsbedürftig ist, ich gebe es zu.« Blaue Augen funkelten ihn vergnügt an. »Und wenn du jetzt tatsächlich wagst zu behaupten, ich würde mich nicht nur alt fühlen, sondern wäre es auch, muss ich dich leider mit meinem Gebiss bewerfen.«

»Seit wann hast du ein Gebiss?«, feixte Dylan und fand sich gleich darauf in einer liebevollen, festen Umarmung wieder, in die er sich mit einem schweren Seufzen fallen ließ. »Adrian, ich bin so froh, dass du hier bist.«

»Ich weiß, ich weiß«, murmelte sein Onkel und strich ihm durchs Haar. »Es tut mir leid, dass ich erst jetzt komme. Ich habe den ersten Flug genommen, nachdem ich eure Nachricht endlich erhalten hatte. Da haben wir seit einem Jahrhundert wieder unzählige Satelliten im Orbit herumschwirren, aber versuch' mal in den amazonischen Moorfeldern eine Brieftaube zu finden. Von einem funktionierenden Telefon oder Funkgerät ganz zu schweigen.«

»Wie war deine Forschungsreise?«

»Dylan ...«

»Die vergangenen Tage waren wirklich schlimm, also bring' mich vor George bitte nicht zum Weinen. Das hält mein schwer angeschlagenes Ego nicht aus.«

Adrian lachte leise. »Ich will mal nicht so sein. Würdest du uns entschuldigen, George? Keine weiteren Störungen für den Rest dieses Tages, und wenn du uns Kaffee und etwas zu essen organisieren könntest, stünde ich tief in deiner Schuld.«

»Gerne, Sir Adrian ... Master Dylan.«

»George!«

»Ja, Master Dylan?«

Dylan seufzte und winkte George nach draußen. Er hasste es mit seinem Titel angesprochen zu werden und das wusste der alte Mann verdammt gut. Er tat es dennoch, verzichtete aber wenigstens im privaten Rahmen darauf. Mehr konnte er von George vermutlich nicht verlangen. Dylan sah zu Adrian auf, nachdem George sie alleingelassen hatte. Das Lächeln im Gesicht seines Onkels war eine Mischung aus Sorge, Trauer und einer Frage, die Dylan mit einem ratlosen Schulterzucken inklusive Seufzen beantwortete.

»So furchtbar?«

Dylan löste sich von Adrian und holte den Brief. »Lies das, und dann hilf mir, so schnell es geht zu flüchten. Möglichst ans andere Ende der Welt.«

»Putain de Merde!«, fluchte sein Onkel nach den ersten Zeilen unflätig. »Ich glaubte, dieser Mist wäre hinfällig, wo Christian ...« Adrian unterbrach sich abrupt und warf ihm einen verlegenen Blick zu. »Bitte entschuldige. Das war nicht sehr sensibel.«

Dylan ließ sich schnaubend auf die Besuchercouch sinken, die vor einer wandlangen Reihe prall gefüllter Bücherregale stand. Sein Vater hatte mit Begeisterung gelesen. Alte Schinken in alten Sprachen, aber auch neumodisches Zeug und schlichte Romanzen. Dylan hatte diese Liebe zum gedruckten Papier nie verstanden. Bücher nahmen Unmengen an Platz weg, verstaubten und wurden mit der Zeit alt. Die modernen Errungenschaften der Technik waren ihm da lieber, auch wenn Dylan seine freie Zeit eher in Nachtclubs verbrachte, statt lesend im Bett zu liegen. Wobei er sich das in Zukunft vermutlich abschminken konnte, denn er bezweifelte irgendwie, dass Caleb Wintermeer ein großer Partygänger war.

»Was sagt George dazu?«

»Dass ich keine Wahl habe.«

»Ich möchte dir ungern deine Laune noch mehr verhageln, aber ich fürchte, er hat recht.« Adrian sah mit düsterem Blick auf das Schreiben. »Wintermeer steht zu seinem Wort, so viel weiß ich über diese Familie, und wir können es uns auf keinen Fall leisten, sie zu verprellen.« Sein Onkel warf ihm einen fragenden Blick zu. »Haben sich die anderen Familien unseres Clans schon dazu geäußert?«

»Sie verlangen, dass ich den Vertrag unterzeichne und einhalte.«

»Das wundert mich nicht. Diese Bande von Feiglingen und Arschkriechern hat deinem Vater immer zugestimmt. In allem. Versteh' mich nicht falsch, ich lege keinen Wert auf einen erneuten Krieg, aber das«, Adrian deutete mit angewidertem Gesichtsausdruck auf den Brief, »ist ein schlechter Witz. Das eigene Kind verkaufen. Wo leben wir denn? Im Mittelalter? Es ist mir ein Rätsel, was Benjamin sich dabei gedacht hat.«

»Ich könnte tot umfallen, würde das helfen?«

Adrian schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Darüber macht man keine Witze.« Sein Onkel begann vor dem Schreibtisch seines Vaters auf- und abzulaufen. »Eine Woche. Hat der Mann keinen Anstand? Er müsste doch wissen, dass du gerade erst deine Familie beerdigt hast. Diese Drängelei gibt mir ziemlich zu denken, nur leider können wir ihm schlecht antworten, dass es dir zeitlich gerade nicht passt. Das wäre erstens unhöflich und zweitens eine Lüge. Wie ich Wintermeer kenne, wird er von meiner Ankunft erfahren haben, er kann sich also denken, dass ich dir meine Hilfe bei den Geschäften unseres Clans anbiete.« Adrian seufzte lang und tief, ehe er den Kopf schüttelte. »Ich weiß einfach nicht, wie ich dich da rausbekommen kann, ohne Probleme zu verursachen. Dieser Vertrag ist hieb- und stichfest und leider hat Caleb Wintermeer das Recht, seine Erfüllung von dir einzufordern.«

»Hast du den ursprünglichen Vertrag gelesen?«

»Ja.« Adrian sah ihn an. »Du nicht?« Dylan schüttelte den Kopf. »Hol' das nach, Dylan! Du musst genau wissen, worauf du dich einlässt. Ich könnte ihn dir Wort für Wort vorbeten, so oft habe ich ihn damals gelesen, dabei geflucht und versucht, meinem Bruder diesen Schwachsinn wieder auszureden. Aber Benjamin hat nicht mit sich reden lassen. Er wollte unbedingt einen anhaltenden Frieden aushandeln. Lobenswert, gar keine Frage, wenn ich an die vielen Toten denke, die wir zu beklagen hatten. Dennoch, das eigene Kind zu verschachern wie ein ...« Adrian fuhr sich durch sein dunkelblondes Haar. »Nein, ich will und kann das niemals gutheißen. Vor allem jetzt nicht, wo du den Preis bezahlen musst.«

»Vermisst du ihn?«

»Natürlich.« Adrian ließ den Brief sinken und setzte sich zu ihm. »Sehr. Auch wenn wir uns nicht sonderlich nahe standen, er war immerhin mein Bruder.«

»Ihr habt euch ständig gestritten, als ich klein war.«

»Das hast du gehört?« Sein Onkel grinste schief. »Ben und ich, das war nie einfach. Wir haben oft konkurriert und ich war mit vielen seiner Entscheidungen nicht einverstanden. Früher oder später musste es zum Bruch kommen. Deine Mutter versuchte zu vermitteln, aber wir sind nun mal Trakes. Wahre Sturköpfe.« Adrian stieß ihm mit der Faust neckend gegen den Oberarm. »Genau wie du, und deswegen wirst du mit diesem Wintermeer zurechtkommen, darauf wette ich.«

»Was willst du setzen? Diesen grausamen Anzug?«, ärgerte Dylan seinen Onkel und begann zu lachen, als der ihm mit der Faust drohte. Ein Klopfen an der Tür rettete ihn. »Ja, bitte?«

George trat ein, ein Tablett mit Getränken und Essen in der Hand, das er auf dem Beistelltisch der Couch abstellte, bevor er ein Blatt Papier aus seinem Jackett zog und es Dylan reichte.

»Eine Einladung zum Abendessen der Familie Wintermeer. Um einander kennenzulernen. Der Bote wartet in der Halle auf Antwort, Master Dylan.«

Dylan stöhnte frustriert, aber da er kaum eine andere Wahl hatte, nickte er George zu. »Sag' ihm, wir kommen.«

»Wie Ihr wünscht.«

»Der Mann verliert keine Zeit«, sagte Adrian, als sie wieder unter sich waren und Dylan die wenigen Zeilen, dass er heute Abend, gerne mit Begleitung, um Punkt 7 Uhr im Herrenhaus der Wintermeers erwartet wurde, vorgelesen hatte.

»Was denkst du? Sei ehrlich«, bat Dylan leise und nahm das Sandwich entgegen, das sein Onkel ihm reichte.

»Ich bin mir nicht sicher. Mein Gefühl sagt mir, dass du vorsichtig sein solltest.«

Das wäre er ohnehin gewesen. Dylan war zwar jung und in keinster Weise für die Aufgaben ausgebildet, die man jetzt von ihm erwartete, aber er war kein Dummkopf. »Begleite mich«, bat er nach kurzem Nachdenken. »Ganz offiziell. Es wurde mir schließlich eine Begleitung zugestanden und du bist mein Onkel.« Dylan kam ein Gedanke, der ihn grinsen ließ. »Warst du schon mal Anstandswauwau?«

Adrian lachte. »Nein, aber das dürfte interessant werden. Soll ich meine Sinne bei passender Gelegenheit ein wenig schweifen lassen?«

Dylan nickte, denn genau darum ging es ihm. »Ich würde es selbst tun, aber ...«

»Du bist nicht weniger wert, Dylan«, nahm Adrian ihm die Worte aus dem Mund und hob tadelnd einen Finger, als er das Gesicht verzog. »Nein, das wirst du nicht glauben, hast du mich verstanden? Ich weiß, dass du es deswegen nicht immer leicht hattest, aber manchmal entwickelt sich das Potenzial eines Psi einfach nicht. Das ist der Lauf der Natur und weder unnormal noch krankhaft. Auch wenn einige der Alten in den Familien das immer wieder behaupten.« Adrian zwinkerte ihm zu. »Sieh es positiv. Wenn ich erwischt werde, kannst du alle Schuld auf deinen ungezogenen Onkel schieben, der seinen Anstand in den Moorfeldern von Amazonien gelassen hat.« Dylan begann zu lachen und Adrian klatschte mit einem amüsierten Lächeln in die Hände. »So gefällst du mir schon besser. Und jetzt werde ich dir einen Schnellkurs in Benehmen und Ansprache geben. Es wäre höchst kontraproduktiv, wenn du die Familie deines zukünftigen Bündnispartners bereits beim allerersten Kennenlernen verärgerst.«

»Ich könnte mich geben, wie ich bin«, schlug Dylan vor und sein Onkel sah ihn entsetzt an.

»Auf gar keinen Fall.«

»Danke sehr«, beschwerte sich Dylan, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen, als Adrian lachte. Dann erhob sich sein Onkel und begann, eine Kaffeetasse in der Hand haltend, vor dem Sofa auf- und abzugehen.

»Das Wichtigste kennst du von zu Hause. Die Kinder sind Master oder Miss, Eltern und Großeltern, sofern vorhanden, sind Sir oder Madame. Die Dienerschaft wird mit Vornamen angesprochen, gleiches gilt für das Sicherheitspersonal. Wie du das mit deinem Partner löst, bleibt euch überlassen. Ich denke, ihr werdet das persönliche Du wählen. Sollten Mitglieder aus den übrigen Häusern der Wintermeer-Gemeinschaft anwesend sein, um dir ihre Aufwartung zu machen, stellen sie sich selbst vor. Ich bin Mister Thomas oder Mister Barton, um zwei Beispiele mit Vor- und Nachnamen zu nennen. Du nimmst das auf und nennst sie so. Ist das nicht der Fall, sprichst du sie mit Mister oder Misses an. Du hast keinen Grund sie nach ihren Namen zu fragen, denn du bist der Trake-Erbe und stehst gesellschaftlich über ihnen. Tu' es also nicht, falls sie sich dir nicht vorstellen. Was die Misses angeht, kein Wandler wird es wagen mit weniger als der eigenen Gefährtin aufzutauchen. Es wäre eine grobe Beleidigung, selbst wenn besagter Wandler zu Hause drei Geliebte hat und die Ehefrau nur schmückendes Beiwerk an seiner Seite ist.«

Dylan erinnerte sich dunkel an diese groben Regeln, die er im frühen Kindergartenalter gelernt hatte, um wenigstens ein Grundmaß an Höflichkeit zu beherrschen, sollte er Gästen über den Weg laufen. »Was ist mit Kindern?«, fragte er, doch Adrian schüttelte den Kopf.

»Nicht bei einem offiziellen Abendessen. Höchstens die der Wintermeers, aber auch das ist eher unüblich. Für den Fall der Fälle … Neben dem ältesten Sohn gibt es drei weitere Erben. Zwei Söhne und eine Tochter.«

»Krawattenzwang?«

»Worauf du Gift nehmen kannst. Dresscode wird erwartet, also wirst du einen Anzug tragen, dein Haar kämmen und dich rasieren. Denk' daran, du repräsentierst unsere ganze Familie, das bedeutet, heute Abend sind alle Augen auf dich gerichtet. Da jeder weiß, dass du erst vor kurzem deine Geschwister und Eltern begraben hast, wird dir niemand übel nehmen, wenn du eher schweigsam bist, aber verzichte auf Unhöflichkeiten oder Bosheiten. Halte deine Mimik unter Kontrolle.«

»Mach' es mir nur leichter«, grollte Dylan und rieb sich die müden Augen. »Adrian, ich habe keine Ahnung, was ich hier eigentlich tue, geschweige denn, was die Wintermeers von mir erwarten.«

Sein Onkel stellte die Tasse ab und setzte sich wieder neben ihn. »Dafür bin ich da. Ich werde dir helfen und sie erwarten vermutlich weniger, als du glaubst. Wandlern geht die Familie über alles und du hast deine verloren. Das wissen sie und aus dem Grund werden sie Rücksicht nehmen. Alles andere wäre eine Beleidigung deiner Person.«

»Warum gehst du nicht einfach und ich bleibe hier?«

Adrian streichelte ihm mit mitfühlendem Gesichtsausdruck über die Wange. »Weil die Einladung deinen Namen trägt und nicht meinen. Noch etwas ...« Adrians Blick wurde ernst. »Man wird dir mit Freundlichkeit und Mitgefühl begegnen, und das wird ernst gemeint sein. Aber sei dir bewusst, man wird auch reden. Hinter deinem Rücken. Ununterbrochen. Du bist der Erbe, der nie für diese Aufgabe ausersehen war und auch nicht auf sie vorbereitet wurde. Man wird sich über dich das Maul zerreißen, um es vulgär auszudrücken, und du wirst es wissen und trotzdem lächeln. Du bist ein Trake. Egal, wie schlimm es wird, egal, was du über dich hörst oder wie sie dich ansehen, vergiss niemals, wo du herkommst, Dylan.«

 

 

Kapitel 2

 

 

 

 

»Nimm die grüne Krawatte.«

Caleb warf seinem langjährigen Freund und Leibwächter Connor Lisbin, der an seinen üblichen Platz bei der Tür stand, einen fragenden Blick zu. »Warum?«

»Es heißt, er hat grüne Augen. Vielleicht wird er die Geste als Freundlichkeit interpretieren.«

Daran zweifelte Caleb, tat aber trotzdem, was Connor ihm vorgeschlagen hatte, denn schaden konnte es wohl kaum, und er hatte in Bezug auf passende Accessoires zu dem schwarzen Anzug ohnehin noch keine Wahl getroffen. Dieses Abendessen bereitete ihm seit Stunden Bauchschmerzen und daran würde sich erst etwas ändern, wenn es vorbei war.

Oder auch nicht, immerhin würde er in weniger als einer Stunde dem Mann gegenüberstehen, der Christian Trakes Platz einnehmen sollte, einem Psi von Ehre, mit perfekter Erziehung und einem sehr ansehnlichen Äußeren. Zudem war Christian höflich, charmant und überaus beredet gewesen, und neben einem Faible für alte Bücher, hatten sie weitere Hobbys geteilt. Unter anderem das Reiten, Schwimmen und den Zweikampf mit langen Klingen.

Von Dylan Trake hatte er bislang nur ein Foto gesehen, und er wusste, dass der Erbe des Trakener-Clans erst am Tage der Beerdigung seiner Familie aus der Stadt heimgekehrt war. All seine übrigen Informationen beruhten auf Gerüchten und jeder Menge Hörensagen.

Keine gute Ausgangsposition für das erste Treffen mit dem Mann, an den er sich schon bald binden sollte.

»Ich bezweifle, dass er dafür im Moment überhaupt einen Gedanken hat.« Caleb sah mit finsterem Gesichtsausdruck in den mannshohen Wandspiegel, vor dem er stand. »Ich hätte nicht auf Vater hören dürfen. Vier Tage waren zu wenig Zeit, um genug Informationen über ihn zusammenzutragen. Ich will mich nicht nur auf diese ganzen unseligen Gerüchte verlassen, die über seine Familie im Umlauf sind.«

»Er ist Christians Bruder. Vielleicht sind sie sich ähnlicher als du denkst, und kennenlernen musst du ihn so oder so. Ein zwangloses Abendessen ist die beste Gelegenheit, dich ihm zu nähern und einen ersten Kontakt zu knüpfen.«

»Zwanglos?« Caleb ließ sich zu einem Schnauben herab, da sie unter sich waren, und hörte Connor leise lachen. »Das ist nicht amüsant, im Gegenteil. Die anderen Alphas werden über ihn herfallen wie eine Horde Geier. Ein potenzialfreier Psi, der nun den Clan der Trakener führt, mir klingeln immer noch die Ohren von Joshuas anmaßendem Gebrüll. Ginge es nach diesem dummen Wolf, läge der Psi längst neben seiner Familie unter der Erde. Er täte nichts lieber, als mich herauszufordern, und ich hoffe, Dylan Trake bringt jemanden mit, der ihm heute Abend ein wenig unter die Arme greift. Ich kann nicht ständig um ihn herum sein.«

»Joshua wird es niemals wagen, dich herauszufordern. Er ist ein Choleriker, kein Idiot«, widersprach Connor und Caleb zog es vor, diese Worte nicht zu kommentieren, denn in seinen Augen war Joshua sehr wohl ein Idiot. Und zwar einer von der allerschlimmsten Sorte, weil er sich für den perfekten Anführer der Gestaltwandler hielt und keine Gelegenheit ausließ, das zu verkünden. »Der Bruder von Dylans Vaters ist aus Amazonien eingetroffen. Adrian Trake, ein verrückter Wissenschaftler, der sein halbes Leben mit Forschungsreisen in aller Welt verbracht hat. Offenbar standen sich die Brüder nicht sehr nahe.«

»Familiäre Streitigkeiten?« Connor schüttelte den Kopf, als Caleb ihn durch den Spiegel hinweg ansah. »Sieh zu, was du herausfinden kannst. Ich brauche mehr Informationen und ich brauche sie schnell.« Ein dezentes Klopfen an der Tür ließ ihn die Augen verdrehen. »Ich komme, Armand.«

»Ihr Vater lässt fragen, ob Sie Master Dylan vor dem Haus zu begrüßen wünschen? In einem etwas privateren Rahmen, bevor das Essen beginnt.«

»Er ist kein Master mehr, Armand.«

»Natürlich. Ich bitte um Entschuldigung, Sir.«

Caleb lachte in sich hinein. Er würde es wohl nie schaffen, seinen persönlichen Diener aus der Fassung zu bringen, dabei versuchte er es bereits seit mehr als dreißig Jahren. Aber der Wandler ließ sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen, was mit Sicherheit auch daran lag, dass er sich schon um seinen Vater gekümmert hatte.

»Sag' meinem Vater, dass ich seinen Vorschlag annehme.«

»Wie Ihr wünscht.«

 

Caleb wusste nicht, was er erwartet hatte, aber der Mann, der später aus einer schwarzen Limousine stieg, wirkte derart verkrampft und deplatziert, dass es auf ihn den Eindruck machte, man hätte Dylan Trake gefoltert, um ihn zu diesem Abendessen zu bringen. Caleb musterte ihn unauffällig und war sichtlich überrascht, wie wenig Dylan mit seinem älteren Bruder gemeinsam hatte.

Sie besaßen eine ähnliche Statur, das war aber auch alles. Wo Christian ein dunkler Typ gewesen war, so wie sein Vater, ähnelte Dylan seiner Mutter. Blondes, streng zurückgekämmtes Haar, eine sportliche Figur und grüne Augen, die sich derzeit nervös umschauten. Zudem war Dylan mindestens eine Handbreit kleiner als Caleb mit seinen 1,93m. Er wusste, dass sein baldiger Bündnispartner 29 Jahre alt war und abgesehen von einem einfachen Schulabschluss nichts vorzuweisen hatte. Er war ein Trake und von Beruf jüngster Sohn. Das war absolut nichts Ungewöhnliches in Psi-Kreisen, doch Caleb fragte sich, ob Dylan sich gedankenlos der Norm angepasst hatte, oder ob es möglicherweise einen anderen Grund dafür gab, dass er weder studiert noch einen Beruf erlernt hatte.

»Guten Abend«, begrüßte er Dylan, nachdem der Wagen zu den Garagen weitergefahren war, und reichte, als der jüngste Trake nur wortlos nickte, dessen Begleitung die Hand, der sich ihm als Adrian Trake vorstellte. »Sehr erfreut, Euch persönlich kennenzulernen.«

»Ich bedanke mich für die Einladung«, erwiderte Adrian galant und verbeugte sich kurz. »Genug der netten Worte, ich lasse euch allein. Ein privater Moment dürfte geeigneter sein, um einen ersten Kontakt zu knüpfen.«

Dylans Onkel wandte sich seiner Familie zu, die höflich an der Eingangstür gewartet hatte, und Caleb sah Dylan fragend an, der immer noch in der Einfahrt stand und augenscheinlich nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Etwas Hilfe war hier definitiv angebracht, dachte Caleb und lächelte seinem zukünftigen Partner höflich zu.

»Danke für dein Kommen. Ist es dir genehm, wenn wir du sagen?«

»Klar.« Dylan räusperte sich verlegen. »Ja, gern. Danke.«

»Wie wäre es mit einem Rundgang durch die Gärten, bevor das Essen serviert wird?«, fragte Caleb und musste ein Grinsen unterdrücken, als Dylan nach seiner Frage hörbar erleichtert seufzte. »Darf ich dieses Seufzen als Ja interpretieren?«

Christians Bruder bekam rote Wangen. »Entschuldige. Du musst mich für einen totalen Idioten halten. Ich wollte nicht … Ich … Es ist … Ach, verdammt.«

»Mach' dir keine Gedanken, Dylan«, bat Caleb und deutete zu dem befestigten Sandweg, der sie direkt in die Gärten hinter dem Haus führen würde. Dylan setzte sich in Bewegung und Caleb passte sich seinem Tempo an, bis sie nebeneinander gingen. »Ich weiß, dass dies alles neu für dich ist. Wir lassen uns Zeit, um einen guten Weg für unser Bündnis zu finden.«

»Eine Woche nennst du Zeit lassen?«

»Diese Frist war Teil des Vertrages. Ich sehe keinen Grund, von ihm abzuweichen.«

»Und ich sehe keinen Grund, heute über diesen Wisch zu diskutieren. Falls du es doch vorhast, könnte ich auf die Idee kommen, dir das Bier über den Kopf zu schütten.«

»Welches Bier?«, fragte Caleb verdattert.

Dylan winkte ab. »Oder was auch immer bei euch zum Essen serviert wird.«

»Rehbraten mit selbst gezüchtetem Gemüse aus unseren Gärten«, antwortete Caleb sofort, da er mit seiner Mutter lang und breit über das heutige Menü diskutiert hatte. Selbst für Vegetarier oder Veganer gab es mehrere Gerichte zur Auswahl, da sie auf die Schnelle nicht sicher in Erfahrung hatten bringen können, ob Dylan eine fleischlose Ernährung bevorzugte.

»Ich meinte die Getränke.«

»Wein oder Wasser, ganz nach Wunsch.«

»Habt ihr nichts Stärkeres?«

»Nun ...« Caleb geriet ins Stocken. Solch ein merkwürdiges Gespräch hatte er noch nie zuvor geführt und es irritierte ihn merklich. »Es wäre wohl mehr als unangemessen, uns beim ersten Kennenlernen zu betrinken.«

»Warum nicht?«, konterte Dylan zynisch. »Dann dürfte der Abend wenigstens lustig werden.«

Bevor Caleb nachhaken konnte, was Christians Bruder ihm damit sagen wollte, blieb der stehen, sah sich um und lief dann einfach quer über den akkurat gestutzten Rasen zu einer der vielen Bänke, die sein Urgroßvater beim Anlegen der Gärten hatte aufstellen lassen. Es waren helle Steinbänke, die während der Sommermonate mit weichen Polstern bedeckt waren. Seine Großeltern waren an warmen Tagen ständig hier draußen zu finden und es hätte ihn nicht gewundert, wenn auf oder neben der Bank ein Weidenkorb voller Strickwolle gestanden hätte. Seine Großmutter vergaß abends ständig ihre Handarbeit mit ins Haus zu nehmen.

»Interessant«, murmelte Connor hinter ihm und Caleb hob tadelnd einen Finger, als sein Leibwächter leise lachte, bevor er Dylan folgte und sich neben ihn setzte.

»Ein Vorschlag zur Güte … Wir bleiben heute nüchtern und betrinken uns dafür ein anderes Mal?« Das folgende, amüsierte Zucken von Dylans Mundwinkeln war mit Sicherheit ein gutes Zeichen, entschied Caleb. »Und frage mich bitte nicht, wann ich das letzte Mal betrunken war.«

Das erregte Dylans Aufmerksamkeit. »Warst du überhaupt schon mal richtig blau?«

Caleb runzelte irritiert die Stirn. »Blau?«

»Besoffen. Voll wie eine Haubitze. Nenn' es wie du willst«, antwortete Dylan und grinste schief, als Caleb ihn ratlos ansah, denn diese Erklärungen waren ihm nicht geläufig. »Du bist im Goldenen Käfig aufgewachsen, hm?«

»Ich wüsste nicht, was daran schlecht sein sollte. Um deine Frage zu beantworten: Nein, ich war noch nie betrunken.«

»Das dachte ich mir«, murmelte Dylan und betrachtete ihn von der Seite. »Bist du sicher, dass dieser Bündnisvertrag eine gute Idee ist? Ich dürfte kaum das sein, was du dir als Partner erhofft oder erwartet hast.«

Caleb erwiderte Dylans fragenden Blick offen. »Das bist du tatsächlich nicht, aber du irrst dich, ich habe nichts erwartet. Mir ist durchaus bewusst, dass man dich in weniger als einer Woche in eine Rolle gedrängt hat, auf die du nicht vorbereitet wurdest. Dennoch bin ich nicht bereit, einen langen Frieden einfach kampflos aufzugeben, solange es eine Möglichkeit gibt, an ihm festzuhalten.«

»Warum dann die Drohung in deiner Nachricht?«

»Politik.«

»Wenn ich das Wort heute noch einmal höre, schreie ich«, murrte Dylan und verschränkte die Arme vor der Brust.

Calebs Blick schweifte über blühende Rosen und von seiner Urgroßmutter einst angelegten Blumenbeeten, die von bunten Schmetterlingen, Bienen und anderen Insekten Tag für Tag mit Begeisterung in Beschlag genommen wurden. Doch um diese Uhrzeit waren sie längst fort und hatten den Grillen ihren Platz überlassen, deren Rufe laut und in Massen zu hören waren.

»Ich muss dich warnen. Es sind Alphas aus verschiedenen Häusern zum Essen erschienen, um dich zu sehen, und es ist durchaus im Bereich des Möglichen, dass man dir nicht immer mit der zu erwartenden Höflichkeit begegnen wird.«

Dylan schnaubte abwertend. »Kein Problem. Das ist nichts Neues für mich.«

»Wie meinst du das?«, hakte Caleb beunruhigt nach und entschloss sich gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Connor den ganzen Abend über ein Auge auf Dylan haben würde.

»Ich bin ein potenzialfreies Psi-Talent und Kinder können sehr grausam sein.«

»Aber du bist ein Trake.«

»Na und?«, konterte Dylan trocken. »Glaubst du etwa, ein großer Name schützt dich davor, ausgegrenzt und beleidigt zu werden? Wo bist du aufgewachsen? Unter einer Glasglocke?«

Caleb beschloss die Beleidigung seiner Person schlichtweg zu ignorieren, denn er hatte das ungute Gefühl, dass Dylan sie nicht einmal als solche ansah. »Das tut mir leid.«

»Vergiss es.« Dylan zuckte betont lässig mit den Schultern. »Das ist lange her. Ich wollte damit auch nur sagen, dass ein unhöflicher Gestaltwandler mich nicht dazu bringen wird, vom Dach eures netten Gemäuers zu springen.«

Nettes Gemäuer? Wie, bei allen Göttern, hatte dieser Psi die vergangenen Jahre überlebt? Und aus welchem Grund hatte ihm niemand eine helfende Hand gereicht, um ihm wenigstens die Grundbegriffe von Etikette beizubringen? Caleb wusste absolut nicht, wie er reagieren sollte, und er schluckte seine Frage hinunter, ob Dylan einen Hang zur Übertreibung besaß oder ernsthafte psychologische Probleme mit sich herumtrug. Vielleicht waren seine Worte ein Scherz gewesen. Bei Dylans ungewöhnlicher Ausdrucksweise lag das mit Sicherheit im Bereich des Möglichen. Er musste unbedingt mehr über seinen Bündnispartner in Erfahrung bringen, sonst bestand eine nicht zu unterschätzende Gefahr, dass die Erfüllung ihres Vertrages in einem Desaster endete.

»Komm«, bat er und erhob sich, um Dylan galant die Hand zu reichen. Er zog sie wieder zurück, als der aufstand, ohne seine freundliche Geste überhaupt zu bemerken. »Lass uns ins Haus gehen. Das Essen dürfte bald serviert werden.«

 

Je später der Abend, umso nervöser schien Dylan Trake zu werden. Dabei gab sich sein Onkel wirklich alle Mühe, es ihm so leicht wie nur irgendwie möglich zu machen. Wann immer Caleb durch Gespräche abgelenkt war, hielt sich Adrian Trake an Dylans Seite auf und schirmte ihn ab. Der erfahrene Psi ließ sich dabei nicht einmal von Joshua abschrecken, wie Caleb von Connor wusste. Sein Leibwächter und vor allem seine Familie amüsierten sich königlich über die fruchtlosen Versuche des Wolfs, an Dylan heranzukommen, die Adrian Trake jedes Mal charmant, aber zugleich rigoros unterband.

»Nun, mein Junge? Was hältst du von Dylan Trake?« Sein Großvater Jeremy trat neben ihn und reichte ihm ein Glas mit schwerem Rotwein. Connor liebte diese Sorte ebenso sehr wie er selbst und Caleb ließ sich den ersten Schluck genüsslich auf der Zunge zergehen, bevor er seinen Großvater ansah.

»Er wird es nicht leicht haben.«

»Meinst du in seinem Zuhause oder mit uns?«

»Beides.«

»Dann sei der Partner, den er braucht. Es ist deine Aufgabe, ihm zu helfen, bis er sich selbst helfen kann.«

»Ich weiß.«

Die klugen Augen seines Großvaters zeigten auf einmal eine deutliche Belustigung. »Du magst ihn, nicht wahr?«

Caleb schüttelte den Kopf. »Es ist viel zu früh, um mir ein Urteil zu erlauben. Er hat nichts mit Christian gemeinsam.«

»Das habe ich nicht gefragt, Caleb.« Jeremy deutete mit der Hand zu Dylan, in dessen Richtung gerade Joshua unterwegs war. Wieder einmal, und leider hatte Adrian Trake den Saal vor wenigen Augenblicken verlassen, vermutlich um die Toiletten aufzusuchen. »Hilf ihm. Joshua erlaubt sich zu viel. Der Junge hat gerade erst seine Familie beerdigt und es ist unsere Pflicht, vor allem deine Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihm mit dem gebotenen Respekt begegnet wird.«

Caleb nickte und setzte sich in Bewegung. Auf seinem Weg zu Dylan reichte er sein halb volles Weinglas an Connor weiter, und traf im selben Augenblick neben Dylan ein, als Joshua vor seinem zukünftigen Bündnispartner zum Stehen kam.

»Es reicht, Joshua!«

»Was? Kann dein Hündchen sich nicht selbst verteidigen? Sein Bruder hatte mehr Mumm in den Knochen.«

Es war allein Calebs guter Erziehung zu verdanken, dass Joshua nicht mit einem gebrochenen Kiefer auf dem polierten Holzfußboden landete. Manche Grenzen übertrat man einfach nicht und dass Joshuas Atem eindeutig preisgab, wie sehr er bereits dem Alkohol zugesprochen hatte, war in Calebs Augen keine Entschuldigung für diese Beleidigung.

»Christian ist tot, Joshua. Beschmutze nicht sein Andenken mit unangemessenem Verhalten.«

Joshua schnaubte abfällig. »Unangemessen? Von wegen.«

»Du bist betrunken«, flüsterte Caleb angewidert und hob in derselben Sekunde die Hand. »Connor?«, rief er und war sich der neugierigen Blicke von anderen Gästen sehr wohl bewusst, als sein Leibwächter mit Verstärkung an Dylans anderer Seite auftauchte.

»Ja, Alpha?«

»Joshua möchte uns verlassen. Dringende Angelegenheiten, die keinen Aufschub dulden. Begleite ihn sicher hinaus.«

»Natürlich.« Connor deutete eine Verbeugung in Richtung Joshua an. »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, Sir.«

 

Es war weit nach Mitternacht, als Caleb mit einem tiefen Seufzen die Tür hinter sich zuwarf und sich auf die Couch im Wohnraum fallen ließ, um beide Beine von sich zu strecken. Ob es wohl auffiel, wenn er diese unbequemen Stiefel bei nächster Gelegenheit im Wald verscharrte? Wahrscheinlich nicht, da in seinem Schrank noch einige Paare standen. Caleb wackelte mit den Zehen und war erleichtert, als die Schmerzen nachließen. Sich stundenlang die Beine in den Bauch zu stehen und höfliche Konversation zu betreiben, war einfach nichts für ihn. Aber als Alpha des Wintermeer-Hauses wurde er in dieser Hinsicht nun einmal nicht um seine Meinung gefragt.

Man erwartete von ihm bestmögliche Entscheidungen für ein ganzes Volk zu treffen, doch seit dem heutigen Abend war er nicht mehr sicher, ob dieser Bündnisvertrag richtig war. Mit Christian hatte er sich gut verstanden. Sie wären miteinander zurechtgekommen und hätten gute Leben führen können. Aber Dylan Trake war nicht wie sein Bruder. Ganz und gar nicht.

Caleb hatte dem jüngsten Trake-Spross deutlich angesehen, wie erleichtert er darüber gewesen war, sich verabschieden zu können, um mit seinem Onkel nach Hause zu fahren. Obwohl es ihnen nach Joshuas Abgang gelungen war, eine Weile ungezwungen miteinander zu plaudern, hatte Caleb die ganze Zeit das Gefühl nicht losgelassen, dass Dylan am liebsten vor ihm geflüchtet wäre. Caleb legte den Kopf in den Nacken und rollte seine schmerzenden Schultern. War er denn als Mann so schrecklich? Er konnte es sich nicht vorstellen, doch dann fiel ihm ein, wo Dylan in den vergangenen Jahren gelebt hatte und das ernüchterte ihn.

Das Klappen der Tür ließ ihn den Kopf heben. »Ich frage mich ernsthaft, ob er in einer Höhle aufgewachsen ist. Er kennt nicht einmal die Grundbegriffe unserer normalen Etikette. Wie soll ich bloß mit ihm zurechtkommen?«

Connor lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Er trug noch immer seine schwarze Ausgehuniform, hatte aber bereits die obersten Knöpfe an der Jacke geöffnet. »Christian hat kein böses Wort über ihn verloren.«

»Natürlich nicht, Dylan war sein kleiner Bruder und er hat ihn über alles geliebt. Er hätte sich niemals dazu herabgelassen, schlecht über ihn zu sprechen.« Caleb stöhnte fassungslos und richtete sich auf. »Das tue ich gerade, Grundgütiger.«

»Es wird viel Zeit brauchen. Dylan hat ein freies Leben in der Stadt genossen und sie sind anders dort. Ihnen bedeuten Privilegien nichts. Zumindest habe ich das gehört.«

»Er ist das Oberhaupt der Trakes. Ob er will oder nicht, er wird diese Privilegien brauchen und sie nutzen müssen, wenn er auf Dauer mit den anderen Familien zurechtkommen will.«

»Sei nicht so ein Snob.«

»Wie bitte?«, fragte Caleb entrüstet und Connor lachte leise.

»Das hat er zu seinem Onkel gesagt, als sie in den Wagen gestiegen waren. Diese Psi vergessen immer wieder, dass viele Gestaltwandler verdammt gute Ohren haben.«

Caleb war beleidigt. »Ich bin kein Snob.«

»Für seine Begriffe schon«, widersprach Connor amüsiert, doch der ernste Ausdruck in seinen blauen Augen sagte Caleb, dass sein Freund die Angelegenheit mitnichten so harmlos und lustig fand, wie es auf den ersten Blick schien. »Ganz Unrecht hat er ohnehin nicht. Erinnere dich daran, wie du mich in der Anfangszeit behandelt hast, als wir uns kennenlernten.«

»Wir waren noch Kinder. Das kannst du nicht miteinander vergleichen.«

»Du warst ein zehnjähriger Angeber, der genau wusste, welchen Platz er eines Tages innehaben würde, und so hast du dich auch verhalten. Du hast deine Nase über jeden gerümpft, der nicht den gleichen oder einen höheren Stand hatte als du. Aus diesem Grund wurde ich als dein Leibwächter ausgesucht. Unsere Väter wussten, dass ich mir dein überhebliches Benehmen nicht gefallen lassen würde.«

»Du hast mir nach drei Tagen die Nase gebrochen.«

»Und du hattest es verdient, Caleb.«

»Ja, ich weiß«, gestand Caleb nach einem finsteren Blick zu Connor ein, den der mit einem Zwinkern kommentierte.

Das wiederum brachte Caleb zum Lächeln, denn er hatte nicht vergessen, mit welch herablassenden Worten er Connors Mutter am Tag ihres Kennenlernens betitelt hatte. Doch dieser Vormittag war 25 Jahre her und er hatte sich verändert. War in seine Rolle als Anführer der Gestaltwandler hineingewachsen, und Caleb würde niemals vergessen, dass Connor seit jenem Tag treu an seiner Seite stand.

»Ich soll also Geduld haben und ihm die Zeit geben, die er braucht, willst du mir das damit sagen?«

Connor nickte. »Niemand hat Dylan Trake beigebracht, sich richtig zu verhalten. Er ist, wie er nun einmal ist, und genauso solltest du ihn akzeptieren.«

»Er ist so ...« Caleb wusste nicht, wie er es nennen sollte, ohne beleidigend zu werden.

»Direkt? Ehrlich? Mit dem Herzen am rechten Fleck?«

»So siehst du ihn?«, fragte Caleb überrascht und Connor nickte erneut.

»Er ist Christians Bruder. Er mag anders reden und anders aussehen. Er mag sich sogar anders benehmen, aber er ist und bleibt ein Trake. Er wird lernen, was er wissen muss, um sich in seiner und auch in unserer Welt zurechtzufinden. Er braucht dafür nur Zeit. Er braucht allerdings keinen Partner, der ihn vollkommen verändern will, weil besagter Partner schlicht zu eingefahren in seiner Art und offenbar zu faul ist, sich Mühe zu geben, einen gemeinsamen Weg zu finden.«

Caleb verzog angesäuert das Gesicht, stand schweigend auf und wandte sich ab, um zu einem der großen Fenster zu gehen und einen Blick in den von Sternen übersäten Nachthimmel zu werfen. Der Vorwurf war klar und deutlich formuliert worden und er würde ihn besser nicht kommentieren, weil er keinen Streit anfangen wollte und Connors Worte leider nicht gänzlich von der Hand zu weisen waren.

»Du darfst ihn nicht verbiegen, Caleb. Ich kenne ihn nicht gut genug, um zu wissen, wie er damit umgehen würde, aber ich weiß sehr wohl, dass das kein angemessenes Verhalten für einen Wintermeer wäre. Willst du einen Bündnispartner, der mit dir auf Augenhöhe ist oder willst du ein niedliches, kleines Hündchen, das brav bei Fuß geht?«

Anstatt zu antworten, lehnte sich Caleb mit der Stirn gegen das kühle Glas der Scheibe, um ruhig durchzuatmen. Connor war offiziell nur sein Leibwächter, aber inoffiziell war er so viel mehr, dass Caleb schon lange aufgehört hatte, einen passenden Begriff dafür zu suchen. Connor würde ihm in einem Raum voller anderer Wandler niemals widersprechen, sofern es nicht um Fragen der Sicherheit ging, aber sobald hinter ihnen eine Tür zufiel und sie unter sich waren, hielt er mit seiner Meinung nicht mehr hinter dem Berg, und er war dabei so ehrlich, dass es manches Mal an Beleidigung grenzte.

Einige Wandler würden es als Nachteil ansehen, wenn man einander seit einem Vierteljahrhundert kannte und über die Stärken und Schwächen des jeweils anderen Bescheid wusste, und es gab Augenblicke, da verfluchte er den Wolf dafür, dass der in ihm lesen konnte, wie in einem aufgeschlagenen Buch. Dieser hier gehörte dazu.

»Dylan Trake bekommt seine Zeit.«

»Eine gute Entscheidung.«

Caleb verschränkte beide Arme hinter dem Rücken. Durch die spiegelnde Scheibe weilte sein Blick auf Connor und dabei fiel ihm etwas ein. »Gab es Ärger mit Joshua?«

»Warum fragst du?«

»Du hast geschwollene Fingerknöchel«, antwortete Caleb und schnalzte tadelnd mit der Zunge, als Connor prompt die rechte Hand hinter seinem Rücken versteckte. Er drehte sich zu ihm um. »Lass den Unsinn. Ich kenne ihn lange genug. Was ist passiert?«

»Wir waren unterschiedlicher Meinung.«

Was übersetzt hieß, Joshua hatte Dylan, Connor, ihn selbst oder jemand anderen beleidigt. Caleb stöhnte genervt und ging ins Badezimmer, das zu seinen privaten Räumen gehörte, um dort ein kleines Handtuch zu befeuchten, das er dann Connor gab, der es auf seine Hand presste.

»Wen hat er diesmal beleidigt?«

»Ist das eine Frage oder die Annahme, er hätte etwas getan, das deiner Aufmerksamkeit bedarf?«

»Jetzt wirst du kindisch«, warf Caleb Connor vor und baute sich dicht vor ihm auf, die Hände in die Seiten gestemmt. »Ich verlange eine Antwort. Was ist passiert?«

»Nichts.«

»Lisbin!«, fuhr er Connor verärgert mit Nachnamen an und das brachte ihm ein Zusammenzucken ein, weil er zu diesem Mittel nur griff, wenn er kurz davor stand, ernsthaft wütend zu werden. Dennoch schüttelte Connor abwehrend den Kopf.

»Er ist es nicht wert, Caleb. Außerdem war er betrunken.«

»Nicht betrunken genug, um nicht mehr zu wissen, was er tat, das weißt du ganz genau, Connor. Und jetzt rede!«

»Er hat sich in einer Art und Weise über deine sexuelle Orientierung geäußert, die ich nicht wiederholen werde.«

Das war nichts Neues für Caleb und kaum ein Augenrollen wert. Derartige Entgleisungen gab Joshua mindestens einmal im Monat zum Besten. Andererseits konnte er es ihm nicht kommentarlos durchgehen lassen, alles hatte seine Grenzen. Er würde mit seinem Vater sprechen müssen und das erledigte er am Besten gleich. Caleb wandte sich ab und ging zur Tür.

»Vater wird sich darum kümmern. Merkt Joshua eigentlich nicht, dass er sich von Tag zu Tag lächerlicher macht? Ob wir Männer oder Frauen lieben, spielt seit mehreren Generationen keinerlei Rolle mehr.«

»Das bedeutet noch lange nicht, dass Dummköpfe wie er jemals aussterben.«

Caleb hielt inne und schaute über die Schulter. »Großvater würde es lieben, wenn ich Joshua so nenne.«

»Ich weiß. Aber falls du das jemals tust, versinkt dein Vater vor Scham im Boden«, konterte Connor trocken und da musste Caleb lachen. »Was? Ich bin nur ehrlich.«

»Ich werde Vater nicht erzählen, wie du über ihn denkst.« Caleb zog amüsiert sein Jackett glatt, denn sein Vater würde es kaum schätzen, wenn er nicht vernünftig angezogen im Haus herumlief. Daran änderte selbst die späte Uhrzeit nichts. Mit der Hand am Türgriff drehte er sich ein letztes Mal zu Connor um. »Wirst du hier sein, wenn ich zurückkomme?«

»Ja.«

 

»Vater. Ich weiß, es ist spät, aber ...«

»Hat Joshua Connor verletzt?«, fragte sein Großvater aus dem Inneren und sein Vater lachte leise, bevor er die Tür zu seinem Arbeitszimmer freigab und ihn hereinbat.

»Wir hatten uns gerade bei einem Glas Wein über Joshua unterhalten. Claudia und deine Mutter vertraten sich draußen die Beine, als Connor den Alpha zu seinem Wagen brachte. Er war wohl recht angetrunken.«

»Jonathan, dein Sohn ist weder blind noch taub. Joshua wusste genau, was er tat. Er provoziert uns schließlich nicht zum ersten Mal. Dieser Wolf will unserem jungen Alpha den Rang streitig machen.«

»Das soll er ruhig versuchen«, grollte sein Vater verärgert und deutete dabei fragend auf eine Flasche Wein. Caleb nickte. »Revierkämpfe wurden nicht ohne Grund vor sehr langer Zeit verboten. Wir leben in einer Demokratie und wenn er Calebs Position als Oberhaupt unserer Häuser einnehmen will, muss er offizielle Wahlen anstoßen. Doch mit dem Versuch würde er scheitern, das weiß er, deshalb tut er es nicht. Joshua Peterson ist und bleibt ein aufbrausender Dummkopf.«

Caleb schaute seinen Vater überrascht an, als der ihm ein Weinglas in die Hand gab und anschließend sein eigenes und das seines Großvaters nachfüllte. Jeremy zwinkerte ihm nur zu und so entschied Caleb, nichts dazu zu sagen, dass sein Vater einen Wolf-Alpha eben als aufbrausenden Dummkopf betitelt hatte. Das hatte er noch nie getan. Jonathan Wintermeer nahm keine Beleidigungen in den Mund, das empfand er als unter seiner Würde. Wer zu verbalen Entgleisungen griff, tat es nur, weil er keine vernünftigen Argumente mehr hatte. Das war die erste Direktive seines Vaters und an der hielt er fest, seit Caleb denken konnte.

»Hat er deinen Bündnispartner beleidigt?«, wollte Jeremy wissen, nachdem er einen Schluck getrunken hatte, und Caleb nickte. »Schwer?«

»Ich bezweifle, dass Dylan das so sieht«, antwortete Caleb ehrlich. »Er ist anderes gewöhnt, sagte er mir.«

»Bah.« Sein Großvater trank einen weiteren Schluck, ehe er weitersprach. »Soziale Ausgrenzung, weil sein Talent sich nicht entwickelt hat. Diese Psi sind grausam zu ihren Kindern, wenn sie nicht perfekt sind.« Jeremy sah seinen Sohn an. »Wir sollten Joshua von der Gästeliste für die Bündniszeremonie streichen. Ich will nicht, dass er uns diesen Tag verdirbt, dazu ist er zu wichtig für beide Völker.«

Jonathan ließ sich an seinem Schreibtisch nieder. »Ich setze morgen ein Schreiben auf und lasse es ihm zukommen. Caleb, wie ist dein erster Eindruck von Dylan Trake? Er scheint mir sehr … hm, neumodisch zu sein.«

»Das ist untertrieben ausgedrückt, aber er ist mir dennoch nicht unsympathisch. Wir dürfen nicht vergessen, dass er nie für die Rangfolge vorgesehen war und dementsprechend nicht dahingehend erzogen wurde.« Caleb blickte auf den Wein und begann das Glas leicht zu schwenken. »Ich will ehrlich sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit ihm zurechtkommen werde. Er kennt nicht einmal die Grundbegriffe unserer Etikette. Ich weiß absolut nicht, wie ich mit ihm umgehen soll.«

»Dann bringen wir sie ihm bei«, erklärte Jeremy ungerührt. »Sein Onkel, dieser Wissenschaftler, wird mit der Führung des Clans vorläufig genug zu tun haben. Wir sollten seinem Neffen so gut wir können unter die Arme greifen.«

»Sofern er dem Vertrag wirklich zustimmt«, warf Caleb ein und sein Vater merkte auf.

»Denkst du, er wird sich weigern?«

Caleb runzelte überlegend die Stirn. »Ich bin nicht sicher. Er ist nicht glücklich darüber, was von ihm verlangt wird. Aber das kann ihm niemand vorwerfen. Ich wundere mich nur, wie gefasst er zu sein scheint. Seine Familie wurde ermordet und er erwähnt sie mit keinem Wort.« Caleb kam ein Gedanke, den er noch nicht in Erwägung gezogen hatte. »Trauern Psi anders als wir Gestaltwandler?«

»Nein.« Sein Großvater seufzte leise. »Andererseits … Es ist erst eine Woche her. Möglicherweise hat er es noch gar nicht begriffen, geschweige denn akzeptiert. Sobald das geschieht, wird er trauern und dabei Unterstützung brauchen.« Der Blick, mit dem Jeremy ihn nach den Worten bedachte, war eindeutig. Es würde ihm zufallen, sich um Dylan zu kümmern. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten bezüglich der Täter? Eine Bombe in ein bewachtes Privatflugzeug zu schmuggeln, dürfte für eine einzelne Person praktisch unmöglich sein.«

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Unsere Informanten sagen, die Polizei tappt im Dunkeln. Sie untersuchen die Trümmer, in der Hoffnung, dort eine Spur zu entdecken. Aber das dauert. Dazu kommt noch Kompetenzgerangel der Behörden, weil die Maschine über dem Gebiet der Menschen abgestürzt ist.«

»Wissen die Psi mehr?«

»Offiziell nein. Inoffiziell heißt es, die Bombe kam aus den eigenen Reihen. Weiter heißt es, es gäbe mehrere Psi, die nichts lieber täten, als den Platz mit Dylan Trake zu tauschen. Das kann alles oder nichts bedeuten, denn wenn es nach Joshua geht, waren wir Wintermeers ebenfalls lange genug Oberhaupt unserer Häuser. Es gibt immer irgendwo jemanden der denkt, dass er es besser kann als jene, die an der Macht sind, und falls ein Mitglied des Clans tatsächlich den Auftrag gegeben hat, die Trakes zu ermorden, werden wir es bald erfahren, denn dann dürfte diese Bombe nicht der letzte Versuch gewesen sein, die Familie auszulöschen.«

»Wir könnten den Vertrag für Null und Nichtig erklären. Dann würden wir nicht in Kleinkriege hineingeraten, sofern es welche gibt«, schlug Caleb vor, obwohl ihm bewusst war, dass sein Vater das nicht akzeptieren würde.

»Das kommt nicht infrage«, zischte dieser auch sofort und schob das Weinglas von sich. »Vor weniger als 50 Jahren haben wir zum letzten Mal tausende Wandler, Psi und Menschen begraben, nur weil wir nicht in der Lage waren mit unseren Unterschieden zu leben und sie als gegeben hinzunehmen. Stattdessen haben wir einander bekämpft. Jahrhundertelang. Um der Macht willen. Dieser Vertrag wurde geschlossen, um zu verhindern, dass genau das wieder passiert, und ich werde niemals zulassen, dass unsere Häuser ihr Gesicht verlieren, nur weil der Trakener-Clan uneins ist. Ich hätte sogar mit den Menschen einen Vertrag derselben Art geschlossen, aber sie gaben sich mit Unterschriften auf einem Blatt Papier zufrieden, und sie leben dermaßen abgeschottet in ihren neuen Städten, dass es keinen Grund gibt, an ihrem Wort zu zweifeln.« Sein Vater sah ihn eindringlich an. »Kein neuer Krieg, Caleb. Es darf nie mehr dazu kommen. Euer Bündnis wird das sicherstellen. Ich weiß selbst, dass so eine Lösung nicht perfekt ist, aber du und der junge Trake, ihr werdet für euch einen Weg finden, um trotz eurer Blutverbindung ein erfülltes Leben zu führen.«

Caleb nickte schweigend und ließ die beiden Männer ohne ein Wort des Abschieds allein. Er wusste, wieso vor allem sein Vater so heftig auf diesen Vertrag pochte, und er konnte es nachvollziehen. Caleb hatte leider nie die Möglichkeit erhalten, seine Onkel kennenzulernen, denn beide waren in der letzten großen Schlacht gestorben. Seine Großeltern hatten bis auf den Zweitgeborenen alle Kinder verloren und sein Vater wollte um jeden Preis verhindern, dass sich dieses Drama wiederholte.

Für ihre Familie, aber auch für die unzähligen anderen, die damals Töchter, Söhne, Brüder, Schwestern, Mütter und Väter hatten beerdigen müssen.

 

 

Kapitel 3

 

 

 

 

»Caleb Wintermeer ist das Produkt einer langjährigen und äußerst umfangreichen Erziehung. Ihn als Snob zu bezeichnen war nicht sehr höflich.«

Dylan stöhnte auf und ließ den Kopf nach hinten sinken. Das Polster der Couch in Adrians Wohnraum gab nach und er schloss die Augen. So ging das bereits seit einer Stunde und langsam war er es wirklich leid. Ja, er hatte sich heute Abend nicht immer korrekt verhalten, von seinem Gespräch mit Caleb im Garten gar nicht zu reden, aber was hatte Adrian denn von ihm erwartet? Dass er durch einen Schnelldurchlauf im Lernen von Benimmregeln ein perfekter Trake wurde?

Er hörte seinen Onkel seufzen, dann sank das Polster neben ihm ein Stück ein. »Dylan?«

»Nicht noch mehr Vorwürfe, bitte. Ich bin nicht Christian.«

»Ach je … So war es nicht gemeint, mein Junge, es tut mir leid. Ich weiß, dass das alles nicht einfach für dich ist. Obwohl das eher eine harmlose Untertreibung ist, wenn man bedenkt, in welcher Situation du dich momentan befindest. Möchtest du schlafen gehen?«

»Willst du eine diplomatische oder eine ehrliche Antwort?«

Adrian gluckste und Dylan öffnete die Augen, als sein Onkel nach seiner Hand griff. »Wie wäre es mit beidem?«

»Na gut«, gab Dylan nach, denn in den blauen Augen von Adrian entdeckte er Belustigung. »Die korrekte Antwort wäre wohl, ja, ich möchte schlafen gehen. Die ehrliche Antwort lautet, ich will sofort meine Sachen packen, zurück in meine Wohnung in die Stadt fahren und für immer vergessen, was letzte Woche passiert ist.«

Adrian drückte seine Finger. »Verständlich, und ich gebe zu, ich würde es auch gerne vergessen. Nur leider steht uns diese Option nicht offen.« Adrians Blick verdüsterte sich für einen Moment, aber dann lächelte er wieder. »Wir schaffen es schon. Daran glaube ich ganz fest, Dylan, und jetzt erzähl' mir ehrlich, was du über Caleb Wintermeer denkst.«

»Er ist ein Snob.«

Sein Onkel lachte, bevor er tadelnd einen Finger hob. »Ich meine abgesehen von dieser unwiderlegbaren Tatsache, die wir bereits diskutiert haben.«

Dylan zuckte ratlos mit den Schultern. Er hatte sich noch nicht entschieden, was er von Caleb Wintermeer halten sollte. Zumindest konnte er ihm kein Desinteresse oder Falschheit vorwerfen. Der Wandler hatte sich den ganzen Abend um ihn bemüht, ihn in Gespräche einbezogen, ihm seine Eltern und Großeltern vorgestellt und ihn vor diesem angetrunkenen Wolf geschützt, als Adrian auf der Toilette gewesen war. So ein unheimlicher Kerl war ihm noch nie begegnet und der Geruch nach Alkohol bedeutete mit Sicherheit nichts Gutes. Dass Caleb den Wolf nicht mochte, war ein zusätzlicher Punkt, der Dylan zu denken gab, aber er wollte es ihm nicht negativ auslegen. Er mochte schließlich auch nicht jeden.

»Er scheint nett zu sein«, sagte er am Ende schlicht, da der Abend in Dylans Augen schlicht zu kurz gewesen war, um sich ein vernünftiges Bild seines Zukünftigen zu machen.

»Nun, das ist immerhin ein Anfang. Gefällt er dir denn? So rein äußerlich gesehen?«

»Warum soll er mir gefallen?«, wunderte sich Dylan, begriff aber im nächsten Moment, worauf Adrian mit seiner Frage hinauswollte. »Oh nein, vergiss es. Ja, er sieht klasse aus, gar keine Frage. Ich meine, hast du den Körper gesehen? Groß, dunkelhaarig, umwerfend braune Augen und er hat garantiert einige ansehnliche Muskeln unter seinem hübschen Jackett, aber ich werde sicher nicht mit der steifen Frostbeule ins Bett steigen.«

»Dylan ...«

»Okay, er ist keine Frostbeule. Aber steif ist er.«

»Ich habe mir erzählen lassen, dass es gelegentlich sehr gut sein soll, steif zu sein.«

Dylan sah Adrian empört an. »Onkel Adrian!«

»Was?« Sein Onkel schien sich keiner Schuld bewusst. »Du bist ein erwachsener Mann mit Bedürfnissen. Wenn dir Caleb als Bettpartner zusagt, was spräche dagegen? Es würde euer Bündnis um einiges angenehmer gestalten.«

»Ich gehe schlafen«, erklärte Dylan und erhob sich.

»Wenn ich dich beleidigt habe ...«

»Nein.« Dylan winkte ab, während er mit festen Schritten zur Tür strebte. »Möglicherweise hast du ja recht und morgen kann ich bestimmt darüber lachen, aber jetzt bin ich müde und finde es ganz und gar nicht lustig, mit dir über mein Sexleben zu reden. Ich liebe diesen Mann nicht und ich wäre freiwillig niemals auf die Idee gekommen, mich an ihn zu binden, hast du das schon vergessen? Mich in Caleb Wintermeers Bett zu legen ist das allerletzte, was ich will.«

Dylan verließ Adrians Räume ohne zurückzublicken und war erleichtert, als er störungsfrei sein früheres Kinderzimmer erreichte. Viel geändert hatte sich nicht. Sein alter Teppich war verschwunden und die dunkelblaue Farbe an den Wänden, die er in einem Trotzanfall selbst gestrichen hatte, einem sanfteren Blau mit dunklen Akzenten gewichen. Ansonsten hatten seine Eltern alles so belassen, wie er es in Erinnerung hatte.

Ein Bett an der Wand zwischen zwei großen Fenstern, links sein Kleiderschrank, rechts ein Schreibtisch und eine Tür, die zum Badezimmer führte, dunkle Möbel aus edlen Hölzern, so wie er es liebte. Dylan trat an seinen Schreibtisch und musste grinsen, als er seinen Namen fand, den er als rotzfrecher Vierzehnjähriger mit seinem Taschenmesser ins Holz geritzt hatte. Noch heute hatte er das Toben seiner Mutter im Ohr, nachdem sie es entdeckt hatte. Sein Vater indes hatte ihm nur mit mildem Lächeln eine Woche Küchendienst aufgebrummt.

Dylan sah zu dem Regal an der linken Wand. Sie standen immer noch dort. Fein säuberlich aufgereiht betrachtete er die Bilder von seiner Familie. Er mit seinen Eltern, allein oder mit seinen Geschwistern. Christian lachte in die Kamera, während er ihn, damals ein magerer zehnjähriger Junge, über der Schulter zu liegen hatte. Katharina stand hinter ihnen und lachte. Dylan erinnerte sich daran, dass sie zuerst ausgesehen hatte, als wäre ihr ihre Familie unglaublich peinlich, aber schließlich hatte sie das Lachen nicht länger zurückhalten können.

Sein Blick blieb an dem Hochzeitsfoto seiner Eltern hängen. Er hatte unbedingt eines haben wollen, warum, das konnte er heute nicht mehr sagen. Vielleicht, weil sie damals so glücklich ausgesehen hatten. So zufrieden mit sich und der Welt und den unzähligen Jahren, die vor ihnen lagen. Dylan spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er unterdrückte sie.

Kurz darauf klappte die Tür hinter ihm und er erkannte an den Schritten, dass es George war.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er und hörte den alten Mann leise seufzen. »George?«

»Sei ihm nicht böse, Dylan. Dein Onkel hat es ebenfalls nicht leicht und er meint es nur gut.«

»Das weiß ich, George. Ich bin nicht wütend auf ihn. Ich bin wütend auf diese ganze verfickte Scheiße, in der ich stecke und aus der es keinen Weg raus gibt.« Dylan ballte die Hände zu Fäusten. »Ich bin wütend auf sie, weil sie einfach gestorben sind und mich mit diesem Mist alleingelassen haben!«

»Ihr seid nicht allein.«

Dylan fuhr herum und funkelte den alten Mann sauer an. »Ich fühle mich aber so! Sie sind alle tot, George. In die Luft geflogen. Nur noch Fetzen, weil irgend ein Irrer beschlossen hat, sie umzubringen. Ich habe vor leeren Särgen gestanden, in denen Asche liegt, weil nicht genug von ihren Körpern übrig war, um sie zu bestatten, wie sie es verdient hätten. Alles, was mir bleibt, ist ein Zuhause, das ich längst verlassen hatte, und zwei Psi, die ich in den letzten Jahren kaum gesehen habe. Wir kennen uns doch gar nicht mehr und wir werden auch keine Gelegenheit haben, daran etwas zu ändern, weil ich in einer Woche einen Gestaltwandler heiraten muss, den ich heute zum ersten Mal gesehen habe und der das komplette Gegenteil von jener Sorte Mann ist, den ich vielleicht lieben könnte. Also stell' dich nicht hin und behaupte, ich wäre nicht allein. Ich bin es!«

 

Er konnte ihr Mitleid nicht mehr ertragen.

Das ganze Haus, sämtliche Diener, Wächter und wer sonst noch hier lebte, schien seine Worte zu George gehört zu haben, anders konnte sich Dylan die verstohlenen Blicke und das ständige Tuscheln hinter seinem Rücken nicht erklären.

Zwei Tage war es her, dass er Caleb Wintermeer lächelnd die Hand geschüttelt hatte, um noch in derselben Nacht seinen Onkel vor den Kopf zu stoßen und anschließend all seine Wut und seinen Frust an George auszulassen, der überhaupt nichts dafür konnte. Keiner der beiden nahm ihm seinen Ausbruch übel, das hatten sie ihm, unabhängig voneinander, längst versichert.  Aber das mussten sie auch nicht, denn Dylan tat es selbst. Als wäre in jener Nacht ein Damm gebrochen, drehten sich seine Gedanken im Kreis, ohne dabei einer Lösung auch nur einen Millimeter näher zu kommen.

Der feige Mord an seiner Familie hatte sein Leben komplett auf den Kopf gestellt und Dylan kam sich mittlerweile vor, als würde von jeder Seite an ihm gezerrt. Dabei wollte er nur sein eigenständiges Leben in der Stadt zurück. Er wollte wieder auf Partys gehen, seine Kumpel treffen und sein Leben genießen. Nach seinen Vorstellungen und mit seinen eigenen Wünschen. Stattdessen erfüllte er seit Tagen nur die Wünsche der anderen und das würde er für den Rest seines Lebens tun, sobald er seine Unterschrift unter diesen verdammten Vertrag setzte.

Doch was blieb ihm sonst übrig? Er hatte weniger als eine Woche Zeit, um sich daran zu gewöhnen, der Partner von Caleb Wintermeer zu werden. Weniger als eine Woche, um das Chaos zu akzeptieren, in das sich sein Leben verwandelt hatte. Und wofür das alles? Für einen Frieden, der mit viel Leid und Blut erkauft worden war und über den er bis vor wenigen Tagen nie genauer nachgedacht hatte.

Dylan hatte das Gefühl zu ersticken. Langsam. Qualvoll.

Dieses Haus und die Psi darin, alles engte ihn von Sekunde zu Sekunde mehr ein. Er brauchte frische Luft und Abstand. Viel Abstand. Von allem. Sofort.

 

»Kann ich Euch helfen, Sir Dylan?«

Dylan sah irritiert über die Schulter und registrierte den verwundert ratlosen Blick des älteren Psi, der ihm seit dem Abendessen im Wintermeer-Anwesen wie ein Schatten folgte und seinen Weg in die Garage des Hauses natürlich ebenfalls mit Argusaugen bewacht hatte. Sein Leibwächter, den er nicht einmal mit Namen kannte, fiel Dylan ein und das lenkte ihn davon ab, einen Wagenschlüssel von der Wand zu nehmen, wo sie ordentlich aufgereiht an kleinen Haken hingen. Die Garage beherbergte insgesamt zehn Wagen für den alltäglichen Bedarf und für jeden Psi dieses Haushalts zugänglich, solange er sich in die Liste eintrug, wenn er oder sie einen Wagen brauchte.

Das war bereits so gewesen, als er noch bei seiner Familie gelebt hatte, und offensichtlich hatte sich in den vergangenen Jahren nichts daran geändert.

»Wie heißt du?«

»Sir?«, fragte der Leibwächter verwundert, doch Dylan sah ihn nur auffordernd an. »Jerome, Sir.«

»Wie lange bist du in den Diensten meines Vaters?«

»Seit dreißig Jahren, Sir.«

Dylan grinste hämisch. »Dann hast du ja mit Sicherheit die unzähligen Gerüchte über mich gehört.«

»Nun ...«

»Das dachte ich mir.« Dylan winkte ab. »Ich werde jetzt in die Stadt fahren. Allein.«

»Sir ...«, begann Jerome alarmiert, doch Dylan wandte sich mit einem abfälligen Schnauben von dem Mann ab und nahm anschließend den Schlüssel eines Porsche vom Haken. »Das ist keine gute Idee, Sir.«

»Du kannst mir ja folgen, wenn du scharf darauf bist. Aber vorher richtest du meinem Onkel aus, dass ich jetzt eine Bar aufzusuchen gedenke, um mir einen netten Fick zu suchen und mich danach volllaufen zu lassen. Verstanden?«

»Ihr macht einen Fehler, Dylan«, sagte Jerome auf einmal so ruhig, dass Dylan beim Einsteigen in den schwarzen Flitzer stockte und dem Leibwächter einen prüfenden Blick zuwarf. Auf das ehrliche Verständnis in dessen grauen Augen war er nicht vorbereitet. »Andererseits habe ich mich bereits gefragt, wann Ihr endlich versuchen würdet, dem Goldenen Käfig für eine Weile zu entkommen. Euer Wagen hat ein Ortungsgerät. Bleibt, wenn möglich, von den gefährlichen Gegenden fern. Ich werde Euch finden, nachdem ich Euren überbesorgten Onkel davon abgehalten habe, persönlich nach Euch zu suchen.«

 

»Wenn du das Glas weiter so anstarrst, wird es vor Angst in tausend Scherben zerspringen.«

Dylan versuchte sich an einem Grinsen, das ihm vermutlich mehr schlecht als recht gelang, weil er bereits einige Biere intus hatte und vor einer halben Stunde auf Scotch umgestiegen war, nachdem sich kein netter Kerl für eine Nacht finden ließ. Jace, seines Zeichens Barkeeper, Lederdaddy und, falls es nötig war, auch sehr gut als Schulter zum Ausheulen geeignet, verdrehte genervt stöhnend die Augen und nahm ihm das Glas weg, um den Inhalt in den Abfluss zu kippen.

»Hey, den hatte ich schon bezahlt.«

»Verklag' mich. Hier, trink das.« Eine Tasse wurde vor ihm abgestellt. Es war Kaffee und allein von dessen Geruch wurde Dylan übel. »Und jetzt erzähl' mir, warum du seit vier Stunden hier sitzt, meine Bar in Grund und Boden starrst und dabei im ganzen Laden schlechte Laune verbreitest.«

»Seit wann ist es deine Bar?«

»Es ist meine Bar, wenn ich sage, dass es meine Bar ist. Und du fliegst gleich raus, wenn du stänkerst. Also?«

Dylan seufzte in die Tasse und schob sie dann zur Seite, da er vermeiden wollte, auf die Theke zu kotzen. »Mein Leben ist im Arsch.«

»Schon wieder? Das war es doch erst vor zwei Monaten, als du diesen niedlichen Twink im Klo mit einem anderen Typen erwischt hast. Dabei habe ich dir vorher gesagt, dass der alles fickt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Aber nein, du bist jung und weißt es natürlich besser. Aber hinterher ist jedes Mal das Gejammer groß, weil du ...«

»Meine Familie wurde letzte Woche ermordet.«

Jace starrte ihn für eine gefühlte Minute sprachlos an, dann winkte er Danny, den zweiten Barkeeper, zu sich. »Es ist kaum noch was los. Kommst du alleine klar?«

»Sicher«, antwortete der hochgewachsene Blonde, mit den ständig in einer anderen Farbe leuchtenden Haarspitzen, und zwinkerte ihm zu. »Hi, Dylan. Nichts Passendes gefunden?«

»Nein.«

Danny winkte ab. »Nächstes Mal hast du mehr Glück. Ich komme«, rief er, als ein Gast ihm zuwinkte, und ließ sie wieder allein.

»So«, erklärte Jace im nächsten Moment und trat hinter der Bar hervor. »Wir zwei suchen uns jetzt einen Tisch und reden. Und ich will nichts hören von wegen, du bist ein ganzer Kerl und brauchst niemanden, der dir zuhört. Den Scheiß kriege ich mindestens einmal die Woche zu hören und am Ende sitzen selbst die größten Machos wie ein Häufchen Elend an der Bar und heulen in ihr Bier.«

»Dazu müsste ich erst mal ein Bier haben«, murrte Dylan und schnaubte, als Jace lachte und ihn dabei kurzerhand vom Barhocker zog.

 

»Du bist also ein reicher Schnösel, der jetzt Familienerbe ist, und hast keinen Bock darauf, alten Männern zu erklären, wie es im Leben langgeht? Verstehe ich das richtig?«, fragte Jace einige Zeit später und kippte sein Glas kommentarlos wieder bis zum Rand voll, nachdem Dylan schweigend genickt und den Wodka – Danny hatte ihnen eine Flasche vom teuersten Fusel an der Bar organisiert – auf ex gekippt hatte. »Na ja, ein Traumjob wäre das für mich auch nicht, ich geb's ja zu. Hey, Augenblick mal, wenn du der Obermufti bist, kannst du dann nicht alles delegieren und weiterleben wie bisher?«

»Geht nicht. Wegen der Hochzeit.«

»Und das verstehe ich schon mal gar nicht. Wieso musst du einem Kerl einen Ring an den Finger stecken, den du nicht mal kennst? Okay, ich kann nicht gerade behaupten, viel Ahnung von Adelshäusern zu haben, aber das ist Schwachsinn.«

»Nicht wenn man ein Psi ist und es allein an mir hängt, ob wir demnächst wieder in einen Krieg ziehen müssen«, erklärte Dylan und obwohl er betrunken war, konnte er erkennen, wie sich die Rädchen im Verstand des Barkeepers drehten, bis Jace die richtigen Schlüsse zog und ihn erstaunt ansah.

»Du bist der Trake-Erbe?«

»Korrekt.«

»Scheiße.«

»Ganz meine Rede«, stimmte Dylan Jace' Ausruf begeistert zu. »Was denkst du denn, weswegen ich stundenlang in deiner Bar gesoffen habe?«

Jace betrachtete ihn eine ganze Weile nachdenklich und das gebräunte, mit Falten überzogene Gesicht ließ für Dylan keinen Rückschluss darauf zu, was in Jace' Kopf vor sich ging. Aber er war mittlerweile an einem Punkt angelangt, wo ihn das nicht mehr sonderlich kümmerte. Es hatte gut getan zu trinken und sich alles von der Seele reden zu können, ohne dafür verurteilt oder schief angesehen zu werden. Menschen waren lockerer in solchen Dingen, deshalb hatte er die letzten elf Jahre unter ihnen gelebt.

»Ich habe es in der Zeitung gelesen«, sagte Jace schließlich. »Der Flugzeugabsturz, die vielen Spekulationen, wer der Täter sein könnte … all der Klatsch und Tratsch, den es gibt. Obwohl wir Menschen uns allgemein aus eurem Kram raushalten, heißt das nicht, uns geht komplett am Arsch vorbei, was ihr Psi oder die Gestaltwandler so treiben. Mir geht es jedenfalls nicht am Arsch vorbei und ganz ehrlich, Junge, ich hätte deinem Vater eine reingehauen, wenn er mich an einen Typen verschachert hätte. Ich habe drei Töchter und mir würde nie einfallen, ihnen das anzutun, Friede hin oder her. Dafür gibt es Verträge und Unterschriften. Ein Wort, das man hält, weil es etwas wert ist. Man verkauft nicht einfach seine Kinder. Aber ihr Psi wart da von Anfang an etwas komisch.«

»Nicht nur wir«, warf Dylan ein, immerhin trug Calebs Familie den Bündnisvertrag mit.

»Das habe ich auch nicht gesagt. Mich überrascht langsam gar nichts mehr. Kein Wunder, dass ihr damals so viele Kriege darum geführt habt, wer mächtiger ist und wer nicht.«

Dylan schnaubte. »Ihr habt genauso mitgemischt.«

»Aber nicht als dritte Partei, Dylan. Wir sind Normale. Wir hätten doch gar keine Chance gehabt. Und die meisten wollten einfach nur ihr Leben weiterleben und nichts mit euren immer wieder aufbrandenden Konflikten zu tun haben. Ja, ich war bei der letzten Schlacht dabei. Ich war jung und dämlich genug, es cool zu finden, an der Seite von Tigern zu kämpfen. Und was hat es mir gebracht?« Jace lehnte sich zurück, legte ungeniert sein Bein auf den Tisch und zog das Hosenbein hoch, bis eine Prothese zum Vorschein kam. Dylan starrte das glänzende Metall schockiert an. »Kriege kennen niemals Gewinner, nur Verlierer.«

»Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen«, fiel Dylan ein Satz ein, den er mal irgendwo gelesen und nie hatte vergessen können.

»Korrekt, Kleiner. Deswegen solltest du dafür sorgen, dass es nie wieder zu einem kommt. Wieso du dafür heiraten musst, ist mir zwar unbegreiflich, aber das geht mich auch nichts an. Ich bin nur ein alter Mann. Ein Normaler. Gestaltwandler und Psi geben sich nicht mit uns ab, sofern sie nicht Geschäfte mit uns machen können. Dafür sind wir ihnen gerade gut genug.«

Dylan spürte, wie er rot wurde, und das lag diesmal nicht am Alkohol. Er schüttelte den Kopf und sah Jace an. »Mir war immer egal, wer du bist. Ich bin vielleicht ein Psi, aber ich habe trotzdem nie irgendwo dazugehört. Ich war ein Außenseiter in meinem Volk, Jace. Ein Niemand. Ich lebe unter Normalen, weil es Leute wie dich nie kümmerte, wo ich herkomme. Mein Name ist einen Dreck wert, wenn ich ihm nicht gerecht werden kann, und das konnte ich nicht.«

Jace sah ihn misstrauisch an. »Wie meinst du das?«

»Weißt du, was potenzialfrei bedeutet?«

»Ja. Sicher. Ein Psi, der … Ach du Scheiße.«

Dylan grinste zynisch. »Ja, genau. Ich bin der Traumpartner eines jeden Psi oder Gestaltwandlers.«

Jace schlug mit der Faust auf den Tisch und sah ihn wütend an. »Was soll der Mist? Du bist erwachsen. Dir kann im Grunde scheißegal sein, was sie denken. Es ist dein Leben und nur du machst etwas daraus. Werte dich nicht so herab.«

»Das muss ich gar nicht, denn das haben andere seit dem Tag meiner Geburt für mich getan.«

»Nicht alle«, widersprach Jace entschieden. »Deine Familie hat dich geliebt, das hast du mir selbst gesagt.«

»Ja, aber sie waren die Einzigen, und jetzt sind sie tot und ich sitze mit der Führung eines Volkes da, das mich niemals als einen der Ihren akzeptieren wird.«

»Ich wiederhole mich, aber warum kümmert dich das? Du lebst seit Jahren unter uns Normalen und auf einmal ist es von Bedeutung, was ein paar verknöcherte, eingestaubte Männer über dich denken? Warum?«

»Durch mich lebt die Familie weiter«, wiederholte Dylan, was ihm George und Adrian seit Tagen vorbeteten. Eine recht lahme Erklärung in seinen Augen und Jace sah das genauso.

»Ah, ich verstehe. Politisches Gelaber, schon klar«, konterte der alte Mann abfällig. »Ganz ehrlich, scheiß darauf. Du bist jung und eben nicht das Püppchen, auf das sie gehofft haben. Und wenn schon? Junge Leute haben nun mal junge Ideen und manchmal braucht ein verstaubter Laden dringend einen frischen Anstrich. Du solltest ...« Jace brach ab und sah an ihm vorbei zur Tür. »Da steht ein Psi mit finsterem Blick an der Tür. Ich schätze, der will zu dir.«

»Braunhaarig?«, fragte Dylan hoffnungsvoll.

»Nein, blond.«

»Scheiße«, murmelte er, denn das schloss Jerome aus. Also war Adrian doch selbst gekommen. Dylan stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab und versteckte das Gesicht zwischen seinen Händen. »Ich bin nicht da.«

Jace lachte leise. »Er sieht nicht danach aus, als würde ihn das beeindrucken. Ich lasse euch wohl besser allein.« Ein Stuhl wurde zurückgeschoben, dann hörte Dylan ihn weggehen. »Hey! Ich dulde keine Schlägereien und kein Anschreien von Freunden in meiner Bar, kapiert?«

»Wie Sie wünschen«, antwortete sein Onkel eisig und kurz darauf wurde Jace' Stuhl wieder in Beschlag genommen. »Dein Leibwächter wartet draußen. Er war der Meinung mir sagen zu müssen, was ich zu tun und zu lassen habe. Daraufhin habe ich ihm erklärt, was er zu tun und zu lassen hat. Wir wurden uns einig, dass er vor der Tür wartet, damit ich dich aus dieser … Örtlichkeit holen kann … Der belustigt dreinblickende Mann an der Theke ist ein Freund von dir?«

Dylan wusste den Tonfall in Adrians Stimme gut zu deuten und schüttelte den Kopf. »Nicht so, wie du gerade denkst. Bis heute Abend war er nicht mal ein Freund.«

»Aber er könnte einer werden?«

»Ja.«

»Er ist ein Mensch.«

Dylan hob den Kopf und sah Adrian finster an. »Das ist mir scheißegal. Wenn ich einen Menschen zum Freund haben will, hast du das zu akzeptieren! Und sofern du dazu nicht in der Lage bist ...« Er deutete zum Ausgang. »Da ist die Tür.«

»Sehr gut. Gib's ihm, Junge«, rief Jace von der Bar herüber und begann lachend ein Bierglas zu polieren, als Dylan ihm den Mittelfinger zeigte.

Adrian lehnte sich seufzend zurück. Er wirkte in seinem dunkelgrünen Anzug reichlich deplatziert und es verblüffte Dylan, dass sein Onkel sich darum überhaupt nicht zu kümmern schien. Adrian war immer auf ein zu jeder Situation passendes Äußeres bedacht, und in eine Bar wie diese hätte er freiwillig vermutlich keinen Fuß gesetzt, was ausnahmsweise nicht daran lag, dass sie von Menschen geführt wurde.

»Über deine Ausdrucksweise ließe sich streiten, aber deine Zurechtweisung meiner Person eben war das erste Mal, seit ich zurückgekommen bin, dass du für etwas eingetreten bist, das dir wichtig ist. Nämlich die Freundschaft zu diesem Normalen.« Adrians Hand legte sich um Jace' zurückgelassenes Glas, in dem sich ein Rest Wodka befand, und bevor Dylan realisierte, was geschehen war, hatte sein Onkel es bereits in einem Zug geleert. »Widerliches Gesöff.«

Dylan verkniff sich ein Grinsen. »Gesöff?«

»Wodka war und wird immer ein widerliches Gesöff sein. Wenn du dich betrinken willst, tu' es gefälligst stilvoll.« Adrian warf einen fragenden Blick zu Jace. »Besitzt diese Bar einen Whisky, der diese Bezeichnung verdient?«

»Willst du mich beleidigen oder trinken?«

»Beides.«

Jace begann zu grinsen. »Dann bist du hier richtig. Und ja, wir haben einen Whisky, der einem Schnösel, wie du einer bist, gerecht wird. Es fragt sich nur, ob du ihn bezahlen kannst?«

»Ich bezahle ihn, wenn er seinen Preis wert ist.« Adrian sah zur Tür. »Jerome!« Es dauerte keine fünf Sekunden bis die Tür aufging und der Leibwächter eintrat. »Wir haben beschlossen zu trinken. Willst du dich anschließen?«

»Nein. Jemand muss euch später nach Hause fahren.«

»Ein Drink bringt niemanden um«, erklärte Jace und kurz darauf bekam Jerome von ihm ein Glas in die Hand gedrückt. »Trinken und Mund halten«, forderte der alte Mann und kam mit einer Flasche, deren Etikett alt und teilweise nicht mehr vorhanden war, und drei neuen Gläsern zu ihnen an den Tisch. Jerome folgte ihm und nachdem sich beide hingesetzt hatten, füllte Jace je einen Fingerbreit in die Gläser und schob das erste mit einem unergründlichen Lächeln über den Tisch in Adrians Richtung. »Whisky von den grünen Inseln, ein Jahrzehnt alt. Es hat mich ein verdammtes Vermögen gekostet an diese Flasche heranzukommen, also hüte dich, auch nur ein schlechtes Wort über den Inhalt zu verlieren, Schnösel.«

 

 

Kapitel 4

 

 

 

 

Dylan konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nur mühsam verkneifen, als sein Onkel ihm am nächsten Morgen die Tür zu seinen Räumen öffnete. Sie waren zu einem späten Frühstück verabredet, aber Adrians leidendem Gesicht nach zu urteilen, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit bei Schmerztabletten und Wasser bleiben. Erstaunlicherweise hielt sich sein eigener Kater in Grenzen, da er, im Gegensatz zu seinem Onkel, daran gewöhnt war, in Bars zu sitzen und hochprozentigen Alkohol zu trinken. Er fragte sich, wie es Jace heute Morgen ging und entschied, mit seinem nächsten Besuch in der Bar nicht so lange zu warten wie zuvor.

»Guten Morgen, liebster Onkel.«

»Nicht so laut. Komm rein.«

 Dylan trat an Adrian vorbei und staunte nicht schlecht, als er Jerome am geöffneten Fenster stehen sah, der sich gerade zu ihnen herumdrehte. »Guten Morgen?«

Er formulierte es als Frage, doch Adrian deutete wortlos an den runden Tisch, der bereits für vier Personen gedeckt war. Erwarteten sie noch jemanden? Bevor er sich erkundigen konnte, klopfte es ein weiteres Mal an der Tür und Adrian ließ George eintreten. Dylan sah seinen Onkel fragend an.

»Das Gespräch mit dem Menschen in der Bar hat mich nachdenklich gemacht und daher habe ich George und Jerome zu unserem Frühstück hinzugebeten. George als Berater und de facto Haushaltsvorstand seit vielen Jahren und Jerome als langjährigen Leibwächter. Beide kennen das Haus besser als wir und können seine Bewohner einschätzen.«

Das schien ein längeres Frühstück zu werden und Dylan entschied, dass er dazu Kaffee brauchte. Viel Kaffee. Etwas zu essen lehnte er jedoch ab und was das betraf, hielt Adrian es ihm gleich. So verging die erste Zeit, nachdem sie sich gesetzt hatten, schweigend, bis Jerome sich, eine Tasse Tee zwischen den Händen haltend, auf seinem Stuhl zurücklehnte.

»Ihr wollt Kontakte zu Normalen aufbauen und pflegen und die Abgeschiedenheit der Völker damit offen infrage stellen, nicht wahr? Das halte ich für keine gute Idee.«

»Warum nicht?«, fragte sein Onkel und goss sich eine Tasse Tee ein. Jerome schürzte abschätzend die Lippen, doch Adrian nickte ihm aufmunternd zu. »Frei heraus, Jerome, deswegen bist du hier.«

»Neuerungen sind niemals leicht durchzusetzen, schon gar nicht nach so einschneidenden Veränderungen, wie wir sie in den letzten Tagen erlebt haben. Die jungen Psi im Alter von Sir Dylan stehen zwar vielen Dingen aufgeschlossener gegenüber, aber die Älteren sind Gewohnheitstiere. Sie möchten, dass alles genauso bleibt wie es ist, und sie sind diejenigen mit Einfluss und Macht, nicht nur in diesem Haus.«

»Jerome hat recht«, sagte George ruhig und schnitt sich ein zweites Brötchen auf. »Ihr werdet auf Widerstand stoßen, seid Euch dessen bewusst. Es fällt den meisten Alten schon schwer, Master Dylan als neues Oberhaupt des Clans zu akzeptieren. Weitere Neuerungen, so gut sie vielleicht sein mögen, kämen zu einem wahrlich schlechten Zeitpunkt.«

»Wenn nicht jetzt, wann dann?«, hielt sein Onkel dagegen und trank einen Schluck Tee, bevor er weitersprach. »Eine neue Generation kommt an die Macht. Die Wintermeers werden seit einigen Jahren von ihrem ältesten Sohn geführt und Christian hätte Benjamin abgelöst. Dylan führt weiter, was sein Bruder begann, und ob das den Älteren gefällt oder nicht, es ist an der Zeit, das Zepter an die Jüngeren weiterzugeben.«

»Ich sage nicht, dass es verkehrt wäre, dies zu tun, ich sage nur, dass der richtige Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen ist«, widersprach George. »Ich halte es für klüger, abzuwarten und zu sehen, wie die anderen Familien reagieren, wenn Dylan weiter den Umgang mit Menschen pflegt, seine Bindung zum Alpha der Wintermeers schließt und Ihr in seinem Namen das Haus führt, während er auf dem Wandler-Anwesen weilt. Eine bessere Möglichkeit zur Beobachtung, um einen Vorgeschmack darauf zu erhalten, was uns erwartet, werden wir vielleicht nie erhalten.«

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch und Adrian bat den Störenfried herein. Eine junge Frau, höchstens Anfang zwanzig, öffnete die Tür und trat ein. Dylan hatte sie noch nie gesehen.

»Bitte verzeiht, Herrschaften. Es ist Besuch für Sir Dylan eingetroffen. Sir Caleb Wintermeer. Der Gentleman wartet vor dem Haus.«

»Warum hast du ihn nicht hereingebeten, Maria?«, fragte George überrascht und die Dienerin verneigte sich errötend.

»Mister Wintermeer hat zwei Pferde dabei und möchte Sir Dylan zu einem Ausritt einladen. Er zog es vor, bei den Tieren zu bleiben.«

»Er kommt zu Pferde hierher? Das ist eine Wegstrecke von wenigstens einer Stunde.« Adrian warf ihm ein breites Lächeln zu. »Dein Wandler hat offenbar entschieden, dir anständig den Hof zu machen, Dylan. Lass ihn nicht warten.«

Dylan tippte sich vielsagend gegen die Stirn, wofür er von Jerome und George gleichermaßen ein Seufzen hörte, das er allerdings gekonnt ignorierte. »Wozu sollte der Mann mir den Hof machen wollen? Ich habe ohnehin keine andere Wahl, als diesem lächerlichen Vertrag zuzustimmen.«

»Warte draußen, Maria!«, befahl Adrian eisig und schwieg, bis sich die Tür hinter der jungen Frau geschlossen hatte. Dann stellte er die Tasse auf den Tisch und funkelte ihn an. »Niemals vor unserem Personal, Dylan. Die Leute tratschen, und zwar überall und ständig. Du magst von dem Vertrag halten, was du willst, aber das wirst du in Zukunft nur hinter verschlossenen Türen kundtun, haben wir uns verstanden?«

Dylan ballte verärgert beide Hände zu Fäusten. »Wenn du einen Schoßhund als Neffen willst ...«

»Dylan, halte ein«, mischte sich George ein und wischte sich mit einer Serviette über den Mund, bevor er sie neben den Teller legte und ihn bittend ansah. »Es kann gefährlich für dich sein, wenn du nicht besser darauf achtest, was du mit welchen Worten in unserem Haus zu wem sagst und vor allem, wer dir dabei möglicherweise heimlich zuhört.«

Sein gesamtes Leben schien sich zu einer einzigen großen Gefahrenquelle zu verwandeln, war Dylans erster Gedanke, als er sich zurücklehnte. Doch bei längerem Nachdenken wurde ihm bewusst, dass George und Adrian nur das Beste für ihn wollten, und das schloss seine Sicherheit nun einmal mit ein. Vermutlich auch seine Erziehung, und dagegen konnte er schlecht etwas sagen, denn ihm war klar, wie wenig er für den Posten geeignet war, den er jetzt innehatte.

»Ich kann gar nicht reiten«, murmelte er schließlich, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte, um die angespannte Situation zu entschärfen.

»Dann lernst du es heute.« Adrian lächelte kurz und winkte ihn zur Tür. »Geh' nur. Wir sprechen später weiter.«

 

Dylan fand Caleb auf der Rasenfläche vor dem Haus, die um einen alten Steinbrunnen herum angelegt war, der leise vor sich hin plätscherte. Der Wandler hielt locker die Zügel zweier großer, brauner Pferde in den Händen, die sich an dem satten Gras gütlich taten, und betrachtete sein Zuhause dabei so interessiert, dass ihm Dylans Anwesenheit erst auffiel, als er um den Brunnen herumtrat.

»Guten Morgen, Dylan.«

»Morgen.« Dylan deutete mit dem Kopf hinter sich. »Mit dem Wintermeer-Herrenhaus können wir nicht mithalten.«

Caleb lächelte. »Warum solltet ihr auch? Ich mag den roten Backstein und mir gefällt dieses Familiäre. Außerdem läufst du zumindest nicht Gefahr, dich in deinem Heim zu verlaufen.«

»Ist dir das passiert?«, fragte er neugierig und Caleb nickte mit einem Seufzen.

»Als Kind suchte man mich ständig. Ich hatte leider einen schrecklichen Orientierungssinn.«

Dylan lachte leise. »Ich habe mich immer und überall gut zurechtgefunden. Dafür war ich furchtbar in Mathematik.«

»Ich liebe Bücher und Geschichte. Wenn ich dein Zuhause ansehe, erinnert es mich an die gewaltigen Bauten im Alten Europa.« Caleb grinste ihn an und sah dabei so jungenhaft aus, dass Dylan verblüfft war, denn so war er das komplette Gegenteil des ernsten Mannes, den er kennengelernt hatte. »Unser Haus ist dem früheren englischen Baustil nachempfunden, erzählte mir mein Großvater, als ich jünger war. Eures würde ich mehr dem schottischen Stil zuordnen.«

»Damit kenne ich mich überhaupt nicht aus«, gab Dylan schulterzuckend zu, denn seine Schulzeit war lange her und er hatte nie ein sonderliches Interesse an der Zeit vor dem letzten Weltkrieg gehabt.

»Vor dem 3. Weltkrieg gab es im Alten Europa viele Burgen und gewaltige Herrenhäuser. Sie hatten vergangene Zeiten der Menschen überdauert und waren teils hunderte von Jahren alt. Mein Urgroßvater hat unser Haus nach einem Vorbild dieser imposanten Herrenhäuser errichten lassen. Er wollte, dass wir nicht vergessen, wo wir einst herkamen.«

Dylan trat näher, hielt aber respektvollen Abstand zu den beiden Tieren, die ihn jedoch nicht beachteten. Das Gras unter seinen Schuhen fanden sie offenbar interessanter als ihn und das war ihm sehr recht. »Warst du mal dort?«

»Im Alten Europa?«, fragte Caleb und Dylan nickte. »Nein. Doch vielleicht, eines Tages ...«

Caleb ließ den Satz offen, aber Dylan verstand auch so, was er damit sagen wollte. Vielleicht würde sich die Möglichkeit zu einer Reise dorthin irgendwann ergeben. Und vielleicht bekam er in seinem Leben auch noch einen echten Urwald zu sehen.

»Ich mochte Biologie«, erzählte er und wich Calebs Blick aus. »Flora, Fauna, wie sich nach dem Krieg alles erholte. Wie wir der Natur durch das eingelagerte Saatgut in der Arktis auf die Sprünge helfen konnten. Ich fand das damals unglaublich spannend und wollte immer einen richtigen Urwald sehen. So wie sie früher waren.«

»Es gibt doch den neuen auf dem Fünften Kontinent. Wir könnten ihn uns ansehen«, schlug Caleb vor und Dylan sah ihn überrascht an. Mit so einem Angebot hatte er nicht gerechnet.

»Wir?«, hakte er nach und der Wandler nickte.

»Warum denn nicht? Wir fliegen hin und machen auf dem Hin- oder Rückflug einen Zwischenstopp in Feuerland, bevor wir weiter ins Alte Europa reisen. Sie haben auf den Grünen Inseln vieles restauriert. Es wäre mit Sicherheit eine Reise wert, und seit wir offiziell Handel mit den Normalen betreiben, wird man uns die Einreise kaum verweigern.«

Eines der Pferde begann mit seinem weichen Maul an seiner Hüfte zu schnuppern und Dylan erstarrte. »Ähm ...«

Caleb grinste. »Sie sucht nach Leckerli, die ich meistens in der Hosentasche habe, wenn ich ausreite. Einige Stücke Zucker oder ein Apfel.«

»Sorry, Große. Damit kann ich dir nicht dienen.« Dylan trat vorsichtig einen Schritt zurück, außer Reichweite des Pferdes, das daraufhin schnaubte und sich Calebs Hose zuwandte, der ihn amüsiert ansah. »Was? Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen, geschweige denn in den letzten Jahren eins aus der Nähe gesehen. Christian war der Reiter in meiner Familie.«

»Das dachte ich mir schon, darum habe ich Charlotte für dich ausgewählt. Sie ist sehr geduldig, scheut nicht und hat Erfahrung mit ungeübten Reitern. Eine echte Lady, nicht wahr, meine Kleine?« Caleb klopfte dem Pferd sanft dorthin, wo bei Menschen die Wange war. Dylan hatte keine Ahnung, wie es bei Pferden genannt wurde, aber die Berührung schien dem Tier zu gefallen, denn sie begann an Calebs Jackenkragen zu knabbern. »Du bist ein Vielfraß, meine Hübsche«, erklärte der Wandler und legte dabei eine Hand auffordernd auf den Sattel. »Wollen wir?«

»Caleb ...«, begann er, doch der ließ ihn nicht ausreden.

»Ich helfe dir beim Aufsteigen. Lass Charlotte die Arbeit machen und passe dich ihren Bewegungen so gut du kannst an. Es ist ganz leicht.«

»Das behauptest du.«

»Richtig, und ich lüge nicht. Also?«

Aus der Sache kam er scheinbar nicht heraus und da Dylan immer noch Adrians vorherige Ansprache im Ohr hatte und im Moment nicht darauf aus war, einen politischen Zwischenfall zu verursachen, obwohl er nicht ernsthaft glaubte, dass Caleb einen daraus machen würde, nur weil er sich weigerte auf ein Pferd zu steigen, gab er nach.

»Ich werde runterfallen und mir das Genick brechen.«

»Aus der Höhe? Zweifelhaft.«

»Das ist nicht lustig«, murrte Dylan.

Caleb lachte und trat um Charlotte herum an ihre andere Seite. Dabei streckte er die Hand aus. »Komm.«

Dylan sah zweifelnd von der Hand zum Pferderücken und dann zu Caleb. Er würde sich anstellen wie der erste Mensch und jedem im Haus ein amüsantes Schauspiel bieten, da außer Frage stand, dass die Dienerschaft so eine Gelegenheit nicht nutzen und ihn beobachten würde. Dylan hätte es auch getan und die langen Gardinen vor den Fenstern boten einen hervorragenden Sichtschutz, um unerkannt zu bleiben.

Nein, das kam nicht infrage. Er hatte sich für diesen Tag bereits genug danebenbenommen. Dylan schüttelte den Kopf, doch dieses Mal lachte Caleb nicht, sondern setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in einer eleganten Bewegung auf den breiten Pferderücken. Das Tier bewegte sich keinen Millimeter, sondern fraß ungeniert weiter von dem Gras.

»Siehst du? Sie ist daran gewöhnt und es stört sie nicht im Geringsten, wenn du zwei oder drei Versuche zum Aufsteigen brauchst.« Caleb ließ sich wieder vom Pferderücken gleiten und warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu. »Vielleicht gefällt es dir sogar, auf ihr zu reiten. Soll Charlotte etwa denken, dass du Angst vor ihr hast?«

»Womit sie recht hätte.«

Caleb lachte leise und streckte erneut die Hand aus. »Trau' dich, Dylan. Du musst es wenigstens ausprobieren, damit du später ehrlich sagen kannst, dass das Reiten kein passendes Hobby für dich ist.«

Das war ein gutes Argument, musste Dylan eingestehen. Er trat um Caleb herum und betrachtete den Sattel eingehend. Bei dem Wandler hatte es leicht ausgesehen, und so schwer konnte es nicht sein auf ein Pferd zu steigen. Geheuer war ihm die Angelegenheit zwar nicht, aber Dylan legte eine Hand um den schmalen Riemen am Anfang, so wie Caleb es getan hatte, und hob einen Fuß in den Steigbügel.

»Du hast mir zugesehen«, sagte Caleb und klang sichtlich belustigt. Dylan sparte sich einen sarkastischen Kommentar, weil er das Pferd nicht erschrecken wollte und genug damit zu tun hatte, sich festzuhalten.

»Was jetzt?«

»Langsam, wir haben Zeit. Woran du dich festhältst, nennt sich Aufsteigriemen und er ist genau dafür da, um dir dabei zu helfen, sicher auf den Pferderücken zu kommen und vor allem dort zu bleiben. Jetzt leg' dein Körpergewicht auf den Fuß im Steigbügel, dann mit Schwung aufsitzen. Aber bitte Vorsicht, nicht zu viel, sonst land... Ich hab' dich.«

Caleb hielt ihn an Bein und Hüfte fest, bevor Dylan auf der anderen Seite vom Pferd fallen konnte, denn natürlich hatte er zu viel Schwung genommen.

»Richte dich auf. Ja, genau so. Ich halte dich fest. Moment.« Caleb kam um das Pferd herum und zog den Steigbügel etwas nach oben. »Das müsste zu deiner Größe passen. Versuch' es.«

Dylan setzte seinen Fuß in den zweiten Bügel. Caleb hatte recht, das war besser als auf der linken Seite. »Woher weißt du, welche Länge du einstellen musst?«

»Erfahrung. Du bist etwa 1,80m groß, richtig?«

»Ja.«

»Connor ist nur ein paar Zentimeter größer, ich habe seine Länge genommen, aber sie passt nicht ganz. Du hast kürzere Beine als er.« Caleb verstellte auch den linken Steigbügel und korrigierte danach seinen Sitz im Sattel einige Male, bis er mit dem Anblick offenbar zufrieden war und ebenfalls aufsaß. Dylan musste zugeben, es war zwar ungewohnt, aber nicht so schlimm, wie er erwartet hatte.

»Und jetzt?«, fragte er, als Caleb ihn anschaute.

»Das kommt darauf an, ob du es selbst versuchen möchtest oder mir die Zügel überlässt?«

»Was empfiehlst du?«

»Die zweite Variante. Zumindest für heute, denn sonst gebe ich dir eine ausführliche Einweisung zum Thema Reiten, bevor wir das Gelände verlassen, alles andere wäre zu riskant. Eine Einweisung würde jedoch bedeuten, die nächste Zeit auf dem Präsentierteller für euer gesamtes Hauspersonal zu sitzen und ich denke nicht, dass dir das recht wäre.«

»Nein, wäre es nicht.«

»Na dann ...« Caleb nahm Charlottes Zügel und schnalzte leise mit der Zunge. »Komm, mein Mädchen.«

 

»Warum gerade an diesem Tag?«, fragte Dylan nach einiger Zeit, während er vollends damit beschäftigt war, sich auf dem Pferderücken zurechtzufinden. Laut Caleb stellte er sich dabei gar nicht mal schlecht an, es fehlte ihm nur an Übung, und vielleicht würde es wirklich nicht das erste und letzte Mal sein, dass er auf dem Rücken dieser sehr sanften Lady saß, die ihn gerade durch ein Waldstück trug. Er holte weiter aus, als Caleb ihm einen fragenden Blick zuwarf. »Es ist kein Geburts- oder Feiertag. Aus welchem Grund haben unsere Väter das Datum für unsere Bindung ausgesucht?«

»Es ist der Jahrestag der letzten Schlacht. In vier Tagen jährt sich das Ende des Krieges und zumindest mein Vater hielt es für ein symbolträchtiges Datum.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Dylan und ärgerte sich über sich selbst, dass er nicht daran gedacht hatte, sich etwas näher mit dem Thema zu beschäftigen. Ausreichend Zeit dafür wäre definitiv gewesen, nur war es ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen.

»Du weißt vieles nicht«, erwiderte Caleb und schüttelte den Kopf, als Dylan etwas sagen wollte. »Es war nicht als Vorwurf gemeint. Mich erstaunt einfach, dass Psi so große Unterschiede in der Erziehung machen, nur weil ein Kind mit eurem Talent gesegnet ist und das andere nicht.«

»Ich glaube, es lag nicht allein daran«, widersprach Dylan, nachdem er eine Weile über Calebs Worte nachgedacht hatte. »Ich war das dritte Kind. Die Chance einer Rangfolge war für mich gleich Null. Daher nahm niemand Anstoß daran, als ich begann, den Schulunterricht zu schwänzen und mich draußen herumzutreiben. Lesen, Schreiben, Mathematik – ich hatte kein Interesse daran. Ich wollte immer draußen sein.«

»Dennoch hast du viele Jahre aus freien Stücken in einer beengten Stadt gelebt. Ist das nicht ein Widerspruch?«

Sicher war das ein Widerspruch, doch mit 18 Jahren hatte er einfach nur raus gewollt. Weg von den Zwängen seines Familiennamens, raus aus der Enge des Hauses, den Regeln und den Verboten. Dylan hatte Freiheit für sich gewollt. Eigene Entscheidungen treffen, die nicht jedes Mal von Naserümpfen und Kopfschütteln begleitet gewesen waren, weil er ja nur der potenzialfreie Trake war. Eine Schande für die Familie, obwohl weder seine Eltern noch seine Geschwister ihn das je hatten spüren lassen. Diese Aufgabe war von anderen erfüllt worden, und das dermaßen gründlich, dass Dylan sich noch heute an seine unbeschreibliche Freude darüber erinnerte, endlich als erwachsen zu gelten und ausziehen zu können, um ein Leben nach seinen Vorstellungen und Wünschen zu führen.

»Ich wollte frei sein. Im Haus meiner Familie wäre ich das nie gewesen«, sagte er schließlich und sah sich demonstrativ um, um Caleb davon abzuhalten weitere Fragen zu stellen. Er wollte nicht über seine Familie sprechen. »Ich sehe Connor gar nicht.«

»Er ist immer in der Nähe, genau wie dein Beschützer. Seit wann hast du ihn?«

Dylan erstaunte nicht, dass Caleb von Jerome wusste. »Seit dem Abendessen bei euch. Adrian hielt es für angemessen, mir Jerome an die Seite zu stellen.«

Caleb nickte. »Ein kluger Vorschlag, wenn man bedenkt, auf welche Art deine Familie zu Tode kam. Vielleicht sollten Connor und er sich in naher Zukunft zu allen Fragen unserer Sicherheit absprechen.«

»Würdest du ihn als meinen Leibwächter in deinem Haus akzeptieren?«, wollte Dylan wissen, denn das konnte er sich nicht vorstellen. Derart enge Beziehungen gingen Wandler und Psi nicht ein und Jerome wäre ein enormes Sicherheitsrisiko, stünde er auf der falschen Seite.

Ganz im Gegensatz zu ihm selbst, was das anging, machte sich Dylan keine Illusionen. Er war völlig unbedarft in Fragen der Sicherheit und überhaupt wusste er so gut wie nichts über Dinge, die Sicherheitspersonal und Bodyguards betraf. Wozu hätte er sich auch damit beschäftigen sollen? Sein Leben in der Stadt war anderen Regeln gefolgt. Um mögliche Angriffe auf seine Person oder anderweitige Gefahren hatte er sich bis vor wenigen Tagen nie geschert.

Caleb schürzte die Lippen, bevor er antwortete. »Persönlich ja, aber ich werde vorher mit meiner Familie darüber sprechen. Es wäre ein Präzedenzfall. Beträfe es nur uns beide, würde ich nicht zögern, aber ich habe drei jüngere Geschwister, und der Schutz unserer Jüngsten geht vor.«

Verständlich, dachte Dylan und runzelte die Stirn. Der Weg kam ihm irgendwie bekannt vor. Wohin brachte Caleb ihn? Ein neuer Gedanke lenkte ihn von der Frage ab, bevor er sie stellen konnte. »Werde ich sie eigentlich kennenlernen?«

»Natürlich.« Caleb schaute ihn verblüfft an. »Hast du daran gezweifelt?«

»Hätte ich das nicht tun sollen?«, stellte Dylan eine ebenso erstaunte Gegenfrage. »Unsere Bindung ist eine geschäftliche Angelegenheit, das schließt private Einblicke nicht unbedingt mit ein.«

»Täte ich so denken, hätte ich dir weder meine Eltern noch meine Großeltern vorgestellt. Nach unserem Bündnis wirst du für mindestens sechs Monate ein Teil meiner Familie sein. Du wirst Aufgaben erhalten, deinen Hobbys nachgehen können, mit uns leben. Wie ein Gefährte es an meiner Seite tun würde. Es sei denn, du ziehst es vor, allein zu bleiben.«

Dylan kam nicht zu einer Antwort, denn plötzlich begriff er, wieso ihm der Weg, den sie entlang ritten, bekannt vorkam. »Halt sofort an!«, befahl er und Caleb brachte ihre Pferde zum Stehen. »Was soll das sein? Ein spezieller Sinn von Humor?«

»Ich verstehe nicht, was du meinst. Ich dachte, du möchtest sie vielleicht besuchen.« Caleb war sich keiner Schuld bewusst und das ruinierte Dylan endgültig die Laune.

»Da hast du falsch gedacht!«

»Dylan, sie waren deine Familie.«

»Ganz genau«, zischte er wütend und ließ sich umständlich von Charlottes Rücken sinken. »Darum sollten sie auch bei mir sein und nicht als Aschehäufchen tot und begraben auf einem Friedhof liegen, weil von ihren Leichen nicht genug übrig war, um sie vernünftig zu beerdigen.«

Caleb wurde sichtlich blass, bevor er den Kopf neigte. Eine Form der Entschuldigung, aber das würde Dylan nicht gelten lassen, dafür war er viel zu aufgebracht. »Bitte verzeih' mir, ich habe nicht nachgedacht.«

»Nein, das hast du offensichtlich nicht.« Dylan wandte sich abrupt ab. »Ich gehe zurück. Allein. Danke für deinen Besuch.«

 

Als er zu Hause eintraf, war Dylan immer noch dermaßen verärgert, dass er Jerome nur einen Blick zuwerfen musste, um dem Leibwächter klarzumachen, dass er ihn besser alleinließ. Der Psi ließ sich nicht lange bitten und verschwand nach einer wortlosen Verneigung in einem anderen Gang, während Dylan seine Privaträume anstrebte, sich dann aber umentschied, weil er mit Adrian reden wollte.

Wie konnte Caleb es wagen? Ein Ausritt auf einen Friedhof, zu den Gräbern seiner Familie. Eine Frechheit ohne gleichen in seinen Augen. Und an so jemanden sollte er sich binden? Nicht zu fassen. Dylan war so sauer, dass er eine Weile brauchte, um zu bemerken, dass er an der Tür zu Adrians Gemächern längst vorbeigelaufen war. Mit einem Fluch auf den Lippen machte er kehrt und hielt wenig später irritiert inne.

War das George, der sich da mit seinem Onkel stritt? Nein, das konnte nicht sein. Er musste sich irren. George stritt sich mit niemandem. Niemals. So war der alte Psi nicht. Aber als er näher an die Tür trat, um besser hören zu können, wurde ihm schnell klar, dass er keine Probleme mit dem Gehör hatte, denn es war eindeutig Georges Stimme, die Adrian soeben lautstark erklärte, dass sie ihn nicht weiter ausschließen konnten. Wovon ausschließen, fragte sich Dylan, denn das Gespräch drehte sich um ihn, daran hatte er keinerlei Zweifel.

»Er ist noch nicht soweit.«

»Er wird es nie sein, wenn Ihr nicht aufhört ihn von allem fernzuhalten. Sein Ausflug in diese Bar war tragisch, aber kein Weltuntergang. Dylan wird lernen, mit den übrigen Familien unseres Clans auszukommen.«

»Das übernehme fürs Erste ich«, widersprach Adrian eisig. »Der Vertrag ist zu wichtig für uns. Diese Gestaltwandler sind starke Partner und das wird Dylans Position an der Clanspitze festigen. Im Augenblick sollte das unsere oberste Priorität sein, George. Der Rest ist Politik und lässt sich notfalls mit Gefallen oder Geld lösen. Das war schon immer so.«

»Ihr glaubt, dass sein Leben in Gefahr ist?«, fragte George, nachdem es hinter der Tür einige Zeit ruhig gewesen war.

»Ihr nicht?«, konterte Adrian in einer Art, als würde er eine Tatsache aussprechen, die ebenso unausweichlich war wie der Tod, und Dylan lief eine Gänsehaut über den Rücken. »Seine Familie wurde ermordet. Er ist alles, was zwischen dem oder den Tätern und einer Übernahme unseres Clans steht. Mit den Wintermeers an seiner Seite wird er vor Anschlägen auf sein Leben besser geschützt sein. Dylan ist alles, was ich noch habe, George, und ich werde alles nur Erdenkliche tun, um ihm den bestmöglichen Schutz zu geben.«

»Was soll ich mit der Einladung der anderen Familien zum anstehenden Sommerfest tun?«

»Lehnt sie ab. Dylans Bündnis findet bereits in vier Tagen statt. Begründet die Ablehnung damit, dass uns die Zeit fehlt, auf ein Fest zu gehen. Er hat noch nicht einmal die passende Kleidung für die Zeremonie gewählt.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hörte Dylan George entsetzt aufstöhnen, was völlig untypisch für ihn war. »Das ist meine Schuld. Ich habe vergessen ihm zu sagen, dass er keinen seiner Anzüge tragen kann. Wir müssen ihn komplett neu einkleiden.«

»Hatte Benjamin einen bevorzugten Herrenausstatter?«

»Ja. Ich rufe ihn sofort an. Wir brauchen einen Termin, und zwar am besten sofort, aber vor morgen früh dürfte es nicht mehr machbar sein. Ich spreche mit ihm, sobald er von seinem Ausritt mit Wintermeer zurück ist.«

»Das ist er schon. Er steht vor der Tür und lauscht«, sagte Adrian trocken und Dylan zuckte ertappt zusammen. Die Tür wurde aufgerissen, bevor er flüchten konnte. »Erwischt.« Sein Onkel lachte, als Dylan eine Grimasse zog, und winkte ihn in den Raum. »Komm rein. Jerome hat mir schon berichtet, was vorgefallen ist. Wir sollten darüber sprechen.«

»Berichtet? Aber er ist doch ...« Der Groschen fiel in dem kurzen Augenblick, den Adrian brauchte, um eine Braue hochzuziehen. »Ach ja, ich vergesse dauernd, dass ihr reden könnt, ohne den Mund aufzumachen.« Dylans Laune verschlechterte sich, als er sich seiner Unzulänglichkeit erneut bewusst wurde. »Es wäre nett, wenn ihr darauf verzichtet, solange ich neben euch stehe.«

»Ich lasse Euch allein. Master Dylan. Sir.«

George schloss sorgfältig die Tür hinter sich und Dylan trat mit verkniffenem Mund ans Fenster. Er konnte nicht einmal in Worten erklären, warum ihn die Tatsache, dass er kein richtiger Psi war, gerade so ärgerte. In den letzten Tagen, Wochen, sogar Jahren hatte es ihn schließlich auch nicht gekümmert. Zu jener Zeit hatte sein Leben aber außerhalb der Familie stattgefunden und unter den Normalen fiel er nun einmal nicht auf.

»Steh' darüber.«

Er schnaubte abfällig. »Als wenn das so einfach wäre.«

»Du musst, Dylan.« Adrian trat hinter ihn und legte beide Hände auf seine Schultern. »Es tut mir leid, dass ich vorhin so harsch zu dir war, aber ich bitte dich inständig, sei in Zukunft vorsichtiger. Wir wissen nicht, wem wir trauen können. Nicht in diesem Haus und auch nicht in anderen.«

Womit sie wieder beim Thema waren, denn Dylan hatte die heftig geführte Diskussion zwischen seinem Onkel und George keineswegs vergessen. »Du willst mich von den anderen Psi-Familien fernhalten, weil du glaubst, dass eine von ihnen den Mord an meinen Eltern und Geschwistern in Auftrag gegeben hat, nicht wahr?«

»Ja.«

»Das heißt, dass ich, außer George und dir, niemandem in meinem eigenen Zuhause trauen darf?«

»Nein, Dylan.« Adrian drehte ihn zu sich herum und sein Blick war jetzt so ernst, dass er Dylan eine erneute Gänsehaut bescherte. »Nicht einmal uns darfst du vertrauen. Vertraue nur auf dich selbst, auf dein Gefühl, wer es ehrlich mit dir meint und wer nicht. Das ist das Erste, was ein Clanoberhaupt lernt. Lernen muss. Jeder kann dein Feind sein. Jeder, Dylan.«

»Bist du mein Feind?«

Adrian lächelte schmal. »Endlich beginnst du die richtigen Fragen zu stellen. Nein, Dylan, ich bin nicht dein Feind. Wir werden mit Sicherheit nicht immer einer Meinung sein, aber ich bin nicht dein Feind.«

»Soll ich Caleb auch fragen, ob er mir an den Kragen will?«

»Nun ...« Adrian schürzte kurz die Lippen und verbarg ein Grinsen, das Dylan dennoch bemerkte. »Vielleicht wäre es, um der Etikette willen, besser, damit zu warten, bis ihr verbunden seid. Ich persönlich glaube, dass er dir wohlgesonnen ist. Das Wintermeer-Haus hat viel zu verlieren, der Vertrag ist ihnen ebenso wichtig, wie er es deinem Vater war. Vielleicht gehört er zu jenen, denen du vertrauen kannst. Du wirst es herausfinden müssen, Dylan. Ein gutes Gespür für dein Gegenüber ist etwas, das man entwickeln muss und auch sollte. Einige haben es von Geburt an, andere nicht.«

»Und ich habe es nicht. Willst du mir das gerade sagen?«, fragte Dylan angesäuert, was ihm sofort wieder leidtat. Adrian konnte nichts für seine schlechte Laune.

»Nein, denn ich weiß es nicht. Was das betrifft, hast du mit deinem Vorwurf neulich Nacht leider ins Schwarze getroffen. Wir kennen einander nicht mehr.«

Dylan verzog beschämt das Gesicht. »Adrian, ich meinte das nicht so. Ich war einfach frustriert.«

»Das ist mir bewusst und das ist auch in Ordnung, denn es war nun einmal die pure Wahrheit. Wir werden Zeit brauchen, einander wieder kennenzulernen, einander zu vertrauen, und durch deine Bindung an Caleb Wintermeer werden wir damit frühestens in sechs Monaten beginnen können. Das ist keine perfekte Lösung, es ist nur leider die einzige Option, die wir haben. Und was Wintermeers Ausflug zu den Gräbern ...«

»Lass es«, fuhr er seinem Onkel rabiat über den Mund und riss sich von ihm los.

»Dylan ...«

»Ich will nicht darüber reden!«

»In Ordnung, doch lass mich dir eines sagen.« Adrian hielt seinen Blick fest, als Dylan sich abwenden wollte. »Ich glaube, er hat es gut gemeint. Eine Geste der Ehrerbietung, der Hilfe. Es war seine Art, dir zu sagen, dass er für dich da ist, wenn du jemanden brauchst, der dir zuhört. Wandler gehen offener mit Trauer und Verlust um, als wir es tun.«

Dylan schüttelte den Kopf. »Ich will aber nicht.«

»Niemand verlangt es von dir.«

»Ich … Das ist ...«

»Nicht«, bat Adrian ihn leise. »Zwing' dich nicht dazu. Wir haben Zeit, Dylan, und ich möchte, dass du weißt, dass ich zu jeder Tages- und auch Nachtzeit für dich da bin. Wann immer du mich brauchst und vollkommen egal worum es geht, klopf' an meine Tür, hörst du?«

»Ich bin froh, dass du hier bist. Das meine ich ehrlich.«

»Mir geht es ebenso.« Adrian zog ihn in seine Arme und Dylan lehnte sich mit einem erleichterten Seufzen an seinen Onkel, der daraufhin begann, ihm beruhigend über den Rücken zu streichen. »Wir zwei gegen den Rest der Welt, was hältst du davon?«

»Nur, wenn ich ab und zu Scheiße sagen darf.«

Adrian lachte. »Einverstanden. Aber sag' es leise.«

»Du bist eine Spaßbremse, und nein, ich erkläre dir nicht, was das ist. Schlag' es nach.«

»Frecher Bengel.«

»Ich weiß. Ich schäme mich auch deswegen.«

»Wieso glaube ich dir das nur nicht?«

»Ja? Warum nicht?«, neckte Dylan seinen Onkel und hob den Kopf, um in ein amüsiertes Gesicht zu sehen. »Du solltest öfter lachen, dadurch siehst du Jahre jünger aus, und vor allem nicht so streng.«

»Bin ich zu streng zu dir?«, fragte Adrian sofort und hörbar besorgt, doch Dylan schüttelte den Kopf. »Du musst mir sagen, wenn es so ist. Ich habe keine Erfahrung damit. Weder mit den Aufgaben, bei denen mir George hilft, so gut er kann, noch mit eigenen Kindern. Benjamin schien immer genau zu wissen, wie er mit dir und deinen Geschwistern umgehen muss.«

»Du machst das gut und, sofern das überhaupt erlaubt ist, will ich dich bei der Bündniszeremonie dabei haben.«

»Üblicherweise ist es Aufgabe der Eltern diesem wichtigen Ereignis beizuwohnen. Ich … Nun ja ...«

»Wenn du nicht willst, akzeptiere ich das, aber ich möchte nicht allein gehen und wen sollte ich sonst fragen? George oder Jerome? Ich möchte, dass du mitkommst, Adrian. Du gehörst schließlich zu meiner Familie, vergiss das nicht.«

Adrian trat einen Schritt zurück und verneigte sich knapp vor ihm. »Danke für diese Ehre. Ich nehme deine Einladung sehr gerne an.« Sein Onkel lächelte. »Es ist ebenfalls üblich, mit dem Vater oder der Mutter für passende Kleidung zu sorgen. Wenn du erlaubst ...«

»Kein hellblauer Anzug!«

»Wie lange hast du vor, mich damit aufzuziehen?«, fragte Adrian mit Grabesstimme und Dylan begann zu lachen. »Es gibt Gelegenheiten, bei denen keine Antwort sehr wohl eine Antwort ist. Nun gut, kein hellblau, aber das macht nichts. Es gibt unzählige Farben, die deinen grünen Augen schmeicheln, und der Anzug wird maßgeschneidert. Du wirst auf gar keinen Fall mit einem Anzug von der Stange dein Bündnis eingehen.« Adrian wandte sich ab und setzte sich an seinen Schreibtisch, wo er einen Stift in die Hand nahm und danach ein Blatt Papier hervorzog. »Schwarze Schuhe. Echtes Leder natürlich. Und ein weißes Hemd. Oder lieber ein grünes? Du solltest Wintermeer fragen, was er trägt. Ihr könntet euch farblich abstimmen. Hast du passende Unterwäsche? Egal, wir kaufen welche.«

Dylan sah seinen Onkel entsetzt an. »Ich gehe nicht mit dir in ein Unterwäschegeschäft.«

»Warum nicht?«, fragte Adrian ohne aufzusehen. »Wir sind beide Männer und brauchen Kleidung. Enge Unterwäsche ist wohl angebracht. Wenn sie sich auf der Anzughose abzeichnet, sieht das furchtbar billig aus. Schwarze Socken und natürlich ein Jackett. Du brauchst eine Krawatte in der Hemdfarbe.«

Ob Adrian bemerkte, wenn er sich an ihm vorbei aus dem Raum schlich? Einen Versuch war es wert, fand Dylan und trat langsam den Rückzug an. Einkaufen in Geschäften. Du lieber Gott. Das hatte er noch niemals selbst getan. Wozu auch? Man hatte ihm immer alles nach Hause geliefert. Ein Trake-Sohn zu sein war mit einigen Vorteilen behaftet, daran hatte auch sein Auszug von zu Hause nichts geändert.

»Kannst du mir sagen, was du vorhast?«, fragte Adrian auf einmal, machte sich aber gleichzeitig weiter Notizen.

»Vor dir flüchten?«, gab Dylan unumwunden zu und entlockte seinem Onkel damit ein Schmunzeln.

»Nur zu, tue dir keinen Zwang an. Wir sehen uns morgen, pünktlich um 9 Uhr in der Garage. Sofern du nicht erscheinst, wirst du tragen, was ich aussuche.« Sein Onkel hob den Kopf und grinste. »Und dazu sage ich nur ein Wort: hellblau.«

Dylan schauderte. »Das wagst du nicht.«

»Willst du darauf wetten, mein Junge?«

 

 

Kapitel 5

 

 

 

 

Jerome schloss im gleichen Augenblick zu Dylan auf, wie Connor neben Caleb trat und ihm mit einem tadelnden Blick die Zügel von Charlotte abnahm.

»Sag' nichts«, bat Caleb leise und stieg von seinem Rappen. Er sah den beiden Psi nach, bis sie nur noch als Punkte in der Ferne zu erkennen waren. »Es war falsch, ihn zu einem Ausritt einzuladen.«

»Der Fehler am heutigen Morgen waren deine unsensiblen Worte und nicht die Einladung zu einem Ausritt. Dein Gespür für Gesprächspartner war bislang über jeden Zweifel erhaben, Caleb. Selbst dein Vater bewundert dich für diesen tadellosen Instinkt, das weißt du. Da ist es doch ein wenig verwunderlich, dass dir bei Dylan Trake offenbar jedes Fingerspitzengefühl zu fehlen scheint. Christian hätte diese Geste möglicherweise zu schätzen gewusst, aber Dylan ist nicht sein Bruder. Vergiss das nicht ständig!«

»Ist es so verkehrt, ihn besser kennenlernen zu wollen? Das hast du mir selbst vorgeschlagen.«

Connor warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Das habe ich, aber du stellst es falsch an. Du willst zu viel in zu kurzer Zeit. Dein übliches Problem. Caleb, Christian war problemlos in der Lage mit deinem Intellekt mitzuhalten. Ihr hattet eine ähnliche Erziehung, dieselben Interessen und auch Vorlieben, das hat es euch leicht gemacht einen Konsens zu finden. Ich will damit nicht sagen, dass Dylan dumm ist, im Gegenteil, er ist ein sehr schlauer Kopf und er hat Durchsetzungsvermögen, obwohl ich bezweifle, dass ihm das überhaupt bewusst ist. Aber eines ist er nicht, nämlich sein Bruder!«

»Ich weiß, Connor.« Caleb fuhr sich frustriert durchs Haar. »Wusstest du das von den Leichen?«

»Nein. Das hätte ich dir gesagt und dich mit allen Mitteln davon abgehalten hierherzukommen. Er ist noch lange nicht bereit, sich mit ihrem Tod zu befassen. Sein Ausbruch hat das eben deutlich bewiesen.« Connor schwang sich auf Charlottes Rücken und schwieg mit aufforderndem Blick, bis Caleb es ihm gleichtat. »Du hast Dylan bei eurem ersten Kennenlernen gesagt, dass du nichts von ihm erwartest, erinnerst du dich? Daran solltest du besser denken, wenn du ihm das nächste Mal gegenüberstehst, um dich zu entschuldigen.«

Dazu bekam Caleb allerdings keine Gelegenheit, da man in den kommenden Tagen jeden seiner Versuche, mit Dylan ein Wort unter vier Augen zu wechseln, rigoros unterband. Einmal hieß es, sein zukünftiger Bündnispartner wäre verhindert, das nächste Mal war er nicht im Haus und bei seinen letzten zwei Anrufen hatte ihm eine, darüber offenbar nicht sehr glückliche junge Psi am Telefon erklärt, dass Sir Dylan nicht wünsche, mit ihm zu sprechen.

Eindeutiger ging es nicht und Caleb gab auf. Dann würde seine Entschuldigung eben warten müssen, bis Dylan morgen Mittag die vorbereiteten Räume neben seinen bezog, wie es der Bündnisvertrag vorsah.

 

Bei seinem ersten Besuch hier hatte Dylan seinem Zuhause keinen Blick geschenkt, doch dieses Mal sah er genauer hin, als er am nächsten Tag aus dem Wagen stieg. Es überraschte Caleb nicht, immerhin würde das Wintermeer-Haus für die nächsten sechs Monate sein Heim sein. Daher gab er Dylan genug Zeit, um sich umzuschauen und wartete ruhig ab, bis dessen Leibwächter ihr Gepäck aus dem Kofferraum gehoben und dem Chauffeur mit einem Nicken zu verstehen gegeben hatte, dass er zurück zum Trake-Anwesen fahren konnte.

»Darf ich einen Rundgang durch das Haus vorschlagen?«, fragte Caleb, nachdem sie unter sich waren, und unterdrückte ein ungeduldiges Seufzen, als Dylan schweigend nickte. Sein Blick schweifte zu Jerome, der kaum sichtbar mit den Schultern zuckte. Der Leibwächter war ebenso ratlos wie er selbst, wurde Caleb bewusst, darum beschloss er, nicht auf ein Zeichen des Verzeihens von Dylan zu warten. »Connor hat einige Fragen an dich.« Caleb sah zu besagtem Wandler und kurz darauf stand er mit Dylan allein vor seinem Zuhause, da ihre Beschützer es vorgezogen hatten sich außer Sicht- und Hörweite zu unterhalten. Die perfekte Gelegenheit für eine Entschuldigung. »Es tut mir leid, Dylan.«

Stille war die einzige Antwort, die er erhielt. Damit hatte er insgeheim gerechnet, aber dass Dylan seine Worte nicht einmal einen Blick wert waren, irritierte Caleb. Und ein bisschen ärgerte es ihn auch. Dylan benahm sich kindisch, aber er hütete sich, das auszusprechen. Sein Vater würde ihm die Leviten lesen, sobald er davon erfuhr, und das würde er. Connor war zwar sein Leibwächter, aber er konnte gnadenlos sein, wenn Caleb sich danebenbenahm, und er würde keinerlei Skrupel haben, ihn deswegen an seinen Vater zu verraten.

»Wie lange wirst du mich anschweigen?«, fragte er daher und bemühte sich ruhig zu bleiben.

»Das habe ich noch nicht entschieden.«

Calebs Geduldsfaden bekam erste Risse. »Ist dir bewusst, dass dieses Verhalten einem Trake unwürdig ist?«

»Natürlich. Daher passt es perfekt zu meinem Ruf, findest du nicht?«

Caleb atmete tief durch und schob die deutlichen Worte zur Seite, die ihm durch den Kopf schossen. »Wie du wünschst. Ich zeige dir das Haus, danach bringe ich dich in deine privaten Räume. Das Abendessen gibt es um sieben Uhr, man wird dich abholen, und dabei wirst du meine Geschwister kennenlernen. Morgen, bei Sonnenaufgang, findet die Zeremonie statt. Wird dein Onkel zugegen sein?«

»Ja.«

»Gut. Folge mir.« Caleb ging voraus und öffnete Dylan die Tür. Eine galante Geste, die, wie alle bisherigen zuvor, ignoriert wurde. »Sagt man bei euch nicht Danke, wenn dir jemand als Zeichen seiner Höflichkeit die Tür aufhält?«, konnte sich Caleb nicht verkneifen zu fragen und wünschte sich in der nächsten Sekunde woanders hin, denn genau diesen Augenblick wählte sein Vater aus, um aus dem Festsaal zu ihrer Linken, in dem sie morgen feiern würden, sofern das Wetter es nicht zuließ, dies im Garten zu tun, zu ihnen aufzuschließen. Seinem Blick nach zu urteilen, hatte er Calebs Frage gehört und war darüber nicht einmal ansatzweise amüsiert.

»Dylan, ich freue mich, Euch bei uns Willkommen heißen zu dürfen.« Sein Vater trat zu ihnen und ergriff die Hand, die ihm von Dylan entgegengestreckt wurde. »Bitte entschuldigt die vorherige Äußerung meines Sohnes, er vergisst beizeiten seine gute Erziehung.«

»Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich bin derlei Dinge nicht gewohnt«, kam Dylan ihm zu Hilfe und Caleb war davon so überrascht, dass er nicht in der Lage war, seine Verblüffung zu verbergen.

Sein Vater warf ihm einen kurzen, tadelnden Blick zu, dann trat er einen Schritt zurück und machte eine einladende Geste. »Nur zu, seht Euch in Ruhe um. Caleb wird Euch alles zeigen. Wir sehen uns spätestens beim Abendessen. Caleb? Ich erwarte dich in meinem Arbeitszimmer, sobald Dylan deine Anwesenheit entbehren kann.«

»Bekommst du Ärger?«, fragte Dylan frei heraus, nachdem sein Vater sie alleingelassen hatte. Caleb beließ es bei einem Nicken, das ihm ein Seufzen einbrachte. »Wenn es an mir lag, kann ich ...«

»Es lag nicht an dir«, unterbrach er Dylan und verfluchte sich auch dafür. Man ließ sein Gegenüber immer aussprechen und nahm ihm nicht brüsk das Wort aus dem Mund. Was war heute nur mit ihm los? »Meine unangemessene Frage ist der Grund. Mein Vater duldet keinerlei Unhöflichkeiten gegenüber Gästen oder Geschäftspartnern, und schon gar nicht gegenüber einem wichtigen Bündnispartner wie dir.« Caleb schüttelte den Kopf, als Dylan etwas sagen wollte, und deutete danach zu der breiten Mitteltreppe, die in den ersten Stock führte. »Unser Anwesen besitzt neben einem weitläufigen Erdgeschoss zwei Stockwerke. Unter dem Dach befinden sich die Wohnbereiche meiner Familie, inklusive einiger großzügiger Räumlichkeiten für besondere Gäste, wie du es bist, daher wirst du die Räume direkt neben meinen beziehen. Im ersten Stockwerk befinden sich weitere Gästezimmer, mehrere Arbeitszimmer, unter anderem meines, eine Bibliothek und ein Musikzimmer, sowie ein Aufenthaltsraum, der für jedermann zugänglich ist. Das Erdgeschoss ist vorrangig dem Personal vorbehalten. Es gibt Unterkünfte für Diener, Leibwächter und vieles mehr. Dazu kommen zwei Festsäle für Feierlichkeiten, Vorratsräume und die Großküche. Es wird dir zwar niemand verbieten selbst zu kochen, aber es könnte sein, dass unser Koch mit Schöpfkellen oder Kochlöffeln nach dir wirft. Alexandre ist ein wenig eigen, wenn es um seine Küche geht, und wir lassen ihm allgemein seinen Willen.«

Dylans Lachen brachte ihn widerwillig zum Schmunzeln, während er seinen zukünftigen Bündnispartner durchs Haus und anschließend in dessen neue Räume führte. Sie waren erst am gestrigen Abend mit der Einrichtung fertig geworden und Caleb hoffte, dass sein Vorschlag mit den farbigen Details, in Form von einer Tagesdecke, Sofakissen und Fenstervorhängen, angelehnt an Dylans Augenfarbe, bei jenem auf Gegenliebe stieß. Er öffnete mit einer einladenden Geste die Tür.

»Danke.«

Caleb war so verdutzt, dass er für einige Sekunden Dylans Rücken anstarrte, bevor er sich an seine Manieren erinnerte und ihm in den Wohnraum folgte. »Gern geschehen.« Die Tür hinter sich schließend, deutete er zu Dylans Gepäck, das neben einem Beistelltisch hinter dem Sofa stand. »Üblicherweise wäre es bereits für dich ausgepackt und in die Schränke eingeräumt worden, aber Mutter hielt es für angebracht, dir diese Aufgabe selbst zu überlassen. Wenn dir die Räume nicht zusagen, gibt es Ausweichmöglichkeiten.«

»Sie sehen toll aus«, sagte Dylan mit einer Tonlage, die eher auf das Gegenteil hindeutete, während er sich umsah.

Caleb schwieg verunsichert. Im Grundriss und auch in der Einrichtung glichen sich die Räumlichkeiten mit seinen. Es gab mehrere Sitzgelegenheiten, in halbrunder Form vor dem Kamin drapiert, an der Wand zu seiner Linken stand ein noch leeres Bücherregal, dazu kamen ein Schreibtisch und eine gemütliche Chaiselongue vor dem Fenster. Im Schlafzimmer befanden sich ein Bett, ein Kleiderschrank, zwei Nachttische, ein mannshoher Spiegel und ein Sessel neben dem Kamin. Auch das Badezimmer besaß alle Annehmlichkeiten für einen längeren Aufenthalt. Doch während bei ihm selbst ein tiefes Rot für farbige Akzente auf den dunklen Holzmöbeln sorgte, war es in Dylans neuem Zuhause das kräftige Grün.

»Grüne Vorhänge?«

»Ja. Bevorzugst du eine andere Farbe?«

Dylan drehte sich zu ihm um, ein nervöses Lächeln auf den Zügen. »Es sieht wirklich gut aus, das meinte ich ehrlich, ich bin solchen Luxus einfach nicht mehr gewöhnt.« Dylan trat ans Sofa und nahm eines der Kissen in die Hände. Der Bezug war mit zwei weißen Vögeln bestickt, die auf einem Ast saßen. Eine Handarbeit seiner Großmutter. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Meine Wohnung in der Stadt ist schlicht, praktisch, völlig ausreichend. Das hier«, er machte eine den Raum umgreifende Geste, »erschlägt mich gerade, obwohl ich weiß, dass du und deine Familie … Ich … Scheiße.«

»Möchtest du vielleicht ein wenig Zeit für dich?«, fragte Caleb und sah dabei zu den Koffern und Taschen, die ihm die perfekte Möglichkeit boten, Dylan ein bisschen Privatsphäre zu geben. »Um deine Sachen einzuräumen?«

»Ja … bitte.«

»Natürlich.« Caleb erwiderte Dylans unglücklichen Blick mit einem aufmunternden Lächeln. »Ich lasse dich jetzt allein. Treffen wir uns in einer Stunde unten vor dem Haus? Charlotte würde sich bestimmt freuen dich zu sehen, sofern du ihr einen Apfel mitbringst.« Das brachte ihm ein kurzes Grinsen ein und Caleb wandte sich mit einer knappen Verbeugung ab. An der Tür hielt er noch einmal inne und sah über die Schulter zurück. »Wir schaffen das.«

Dylan nickte nur und das reichte Caleb als Antwort völlig aus. Er verließ das Zimmer und lehnte sich von außen kurz an das Holz der Tür, um durchzuatmen. Geduld, mahnte er sich selbst. Das alles war vollkommen neu für Dylan und es würde mit Sicherheit noch weitere Missverständnisse zwischen ihnen geben, vermutlich auch Rückschläge oder Streitigkeiten. Aber der Frieden war all dies wert.

Gleiches galt für Dylans Zukunft, denn wenn stimmte, was Connor durch Gerüchte und ihre Spione in Erfahrung gebracht hatte, war das Leben seines Bündnispartners gefährdeter als der vermutlich ahnte.

 

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Jonathan ...«

»Nein, Vater. Du hättest dabei sein sollen. Calebs Frage war absolut unangemessen. Er weiß sehr gut, dass Dylan nicht die gleiche Erziehung genossen hat wie Christian.«

Die Anwesenheit seines Großvaters hatte Caleb mit einem erleichterten Blick kommentiert, außer einer Begrüßung zu den beiden jedoch selbst noch kein Wort gesagt. Sein Vater hatte ihm keine Gelegenheit dazu gelassen, als er vor wenigen Minuten ins Arbeitszimmer getreten war, um sich einen Tadel für sein fehlendes Benehmen im Eingangsbereich abzuholen, und das würde sich auch erst ändern, wenn Jonathan gesagt hatte, was er sagen wollte. Was das betraf, würde sich sein Vater niemals ändern. Da konnte er mit Mitte Dreißig längst erwachsen und der Alpha des Hauses sein, solange er wollte.

Jonathan Wintermeer wurde nie müde darin, seine Kinder zu erziehen, und damit gleichzeitig zu unterstützen, und das rechnete Caleb ihm hoch an, selbst wenn sie nicht derselben Meinung waren. Sein Vater warf ihm einen verärgerten Blick zu, während er zwei Schritte vor ihm auf- und abmarschierte.

»Ein Wintermeer hält niemandem den Spiegel fehlender Etikette oder Höflichkeit vor. Jedenfalls nicht, wenn sie aus Unwissen heraus entsteht.« Sein Vater stockte einen Moment. »Lassen wir Joshua außen vor, dieser unmögliche Wolf fordert Unfreundlichkeit geradezu heraus.«

»Ich bin mir sicher, dass Caleb nicht vorhatte, Dylan einen Spiegel vorzuhalten«, mischte sich Jeremy ein und warf ihm ein verschmitztes Lächeln zu, das Caleb zum Lachen reizte. Er beherrschte sich meisterhaft.

»Das macht es nicht besser«, erklärte sein Vater eisig und blieb abrupt vor ihm stehen. »Nun? Was sagst du dazu?«

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Caleb, weil er wusste, dass sein Vater dies von ihm erwartete, der sofort nickte und seine Wanderung durch den Raum wieder aufnahm.

»Das sollte es auch. Nur steht diese Entschuldigung Dylan zu, nicht mir.«

»Der Junge würde ihn nur ansehen und sich fragen, was er damit anfangen soll«, erklärte sein Großvater trocken und wurde dafür empört angesehen. »Calebs Erziehung war und ist tadellos, Jonathan, und du solltest mehr Verständnis zeigen. Es ist für ihn ebenfalls nicht leicht, denn Dylan und mein Enkel sind grundverschieden. Was bringt Caleb eine Entschuldigung, wenn Dylan nicht versteht, warum sie ausgesprochen wurde? Denk' bitte daran, wo der junge Trake in den letzten elf Jahren gelebt hat. Menschen machen sich nicht viel aus Etikette und Umgangsformen.«

»Nun ...«

Sein Vater brach stirnrunzelnd ab und Caleb nickte auf den knappen Wink seines Großvaters zur Tür hin, bevor er lautlos das Arbeitszimmer verließ. Wenn es jemandem gelang seinen Vater zu beruhigen, dann war es Jeremy, und Caleb war seinem Großvater dankbar dafür, dass er ihm meistens zur Seite stand, sobald er mit seinem Vater aneinandergeriet.

Im Flur wurde er von Connor erwartet, der ihn so prüfend ansah, dass Caleb sich ein Augenverdrehen nicht verkneifen konnte, bevor er seinem Leibwächter andeutete ihm zu folgen. Sie schwiegen, bis sie in seinen Räumen eintrafen, wo Connor sich, wie er es immer tat, von innen gegen die Tür lehnte und ihn auffordernd ansah.

»Frag' nicht«, grollte Caleb und ließ sich auf die Couch sinken. Connor stieß sich von der Tür ab, um sich neben ihn zu setzen. Sein mitfühlender Blick brachte Caleb zum Seufzen. »Ich habe mich Dylan gegenüber danebenbenommen. Mehr als einmal sogar, und das vor den Augen meines Vaters, wofür er mir eben die Leviten gelesen hat. Großvater hat mich gerettet. Am liebsten würde ich das Abendessen ausfallen lassen, aber dann kann ich mir weit mehr anhören als einen Tadel wegen ungehörigen Benehmens.«

»Ist Dylan in seinen Räumen?«

»Ja. Wir sind nachher verabredet. Ich zeige ihm die Ställe und sage ihm, wie er Charlotte bestechen kann. Dann möchte ich ihn ein wenig auf dem Gelände herumführen. Er soll sich bei uns wohlfühlen, obwohl ich insgeheim fürchte, dass er das möglicherweise niemals tun wird.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Connor interessiert und setzte sich seitlich zu ihm aufs Sofa, wobei er ein Bein hochzog, um es sich bequemer zu machen.

»Du hast seinen Blick nicht gesehen, als ich ihn in seine Räume brachte. Er wäre am liebsten geflüchtet.«

»Dein Vorschlag mit den grünen …«, fing Connor an, doch Caleb winkte ab.

»Er hat es gar nicht verstanden, wie er so viele Dinge nicht versteht.«

»Gib ihm Zeit. Er wird es lernen.« Connor lachte leise und Caleb warf ihm einen verständnislosen Blick zu. »Wie oft habe ich dir das in den vergangenen Tagen eigentlich schon gesagt?« Aus dem Lachen wurde ein so strenger Blick, dass Caleb seine Antwort förmlich im Hals stecken blieb. »Mach' das Beste aus dieser Situation, denn du hast dem Vertrag zugestimmt. Wage es ja nicht, das Dylan vorzuwerfen, nur weil er kaum eine Wahl hatte. Nach Christians Tod hättest du neu verhandeln können, doch du hast es nicht getan.«

»Du weißt genau, warum ich ...«

Connor machte eine wegwerfende Handbewegung, die ihn zum Schweigen brachte. »Das ändert nichts am Ergebnis. Der Vertrag steht und wird morgen unterschrieben werden. Es geht nicht länger darum, ob dir das gefällt oder nicht, es geht nur noch darum, das Richtige zu tun. Du hast Christian dein Wort gegeben, also hör' auf zu jammern und halte es!«

 

Charlotte mochte Dylan nicht nur wegen der beiden Äpfel, die Caleb ihm reichte, damit er die gierige Lady füttern konnte, und als sie schließlich anfing an Dylans Kragen zu knabbern, schaffte es Caleb nicht länger, ein Grinsen zu verbergen. Dabei hatte er nicht geglaubt, nach seinem Gespräch mit Connor so schnell wieder lachen zu können. Sein bester Freund und Leibwächter hatte ihm schonungslos den Spiegel vorgehalten, und er hatte immer noch nicht entschieden, ob er ihm dafür danken oder wütend sein sollte.

Da kam ihm die Ablenkung, die Dylan bot, gerade recht, denn der Psi hatte mit seiner Liebe zur Natur nicht gelogen. Er liebte die Gärten des Wintermeer-Anwesens und war kaum in die Ställe zu bekommen. Pferde waren ihm unheimlich, aber er wich nicht von ihren Köpfen zurück, die sich aus den Boxen streckten, um zu sehen, ob es etwas zum Naschen für sie gab. Vielleicht konnte er Dylan überreden, Reitstunden zu nehmen. Nicht sofort, aber in einigen Wochen.

Sie verbrachten Stunden an der frischen Luft, spazierten durch Beete voller leuchtender Blüten, stahlen sich von seiner Großmutter eine kleine Schale frisch gepflückter Erdbeeren aus dem Gewächshaus, was Claudia Wintermeer mit einem nachlässigen Schmunzeln kommentierte, und schlenderten am frühen Abend durch das Waldstück, das ebenfalls zu seinem Zuhause gehörte und in dem er mit Connor als junger Mann gerne jagen gegangen war. Sie hatten dort auch andere Dinge getan. Privatere Dinge. Doch daran wollte Caleb sich jetzt nicht erinnern. Es war schlimm genug, dass diese Treffen ab morgen der Vergangenheit angehörten, denn alles andere wäre eine Beleidigung Dylans gewesen.

»Sir Caleb? Sir Dylan?«

»Wir sind hier, Armand«, antwortete Caleb und hielt inne, bis sein Diener auf dem Waldweg zu ihnen aufgeschlossen und sich kurz verneigt hatte.

»Das Abendessen wird bald angerichtet. Euer Vater erbittet Eure Anwesenheit.«

»Natürlich. Sind meine Geschwister schon zurück?«, fragte er, denn die Rückkehr der drei aus einem befreundeten Haus, das als Schule diente und in dem Wandlerkinder jeden Alters unterrichtet wurden, war für heute geplant.

»Ja, Sir. Seit dem frühen Nachmittag.«

Ein Lächeln überzog Calebs Gesicht. Er hatte die Zwillinge und Simone vermisst, obwohl letztere mit 16 Jahren in einem schwierigen Alter war und sich manchmal unmöglich benahm. Laut seinen Eltern war das jedoch völlig normal und selbst sein Großvater hatte ihm geraten, Simones wechselnde Launen zu ignorieren, sofern es möglich war.

»Danke, Armand. Wir kommen.«

Caleb wartete, bis sie wieder allein waren, bevor er sich an Dylan wandte. »Simone ist 16 und beizeiten sehr sonderbar in ihrem Verhalten, aber ich glaube, du wirst sie mögen. Und die Zwillinge«, Caleb grinste, »Rafael und Reed sind acht Jahre alt und ihre größte Freude besteht darin, jeden im Haus an den Wochenenden in den Wahnsinn zu treiben. Falls du also eines Tages Pferdeäpfel in deinen Schuhen findest oder abends in deine Räume kommst und die Möbel plötzlich anders stehen, weißt du jetzt, wem du das zu verdanken hast.«

Dylan lachte und folgte ihm schmunzelnd, als Caleb sich auf den Rückweg machte. Im Haus wurden sie von Armand erwartet und da Dylan sich weigerte einen eigenen Diener zu akzeptieren, hatte sich Armand sofort bereit erklärt, seinem Bündnispartner hilfreich zur Seite zu stehen, falls er gebraucht wurde. Caleb bezweifelte, dass Dylan diese Unterstützung in Anspruch nehmen würde, aber es gab ihm ein besseres Gefühl, sie angeboten zu haben.

In seinen Räumen war bereits ein Bad eingelassen und zwei Anzüge zur Auswahl lagen auf dem Bett. Das Abendessen galt als zwanglos, aber er konnte auf keinen Fall in nach Pferdestall riechender Kleidung erscheinen. Caleb kam ein Gedanke und er sah zu Armand, während er sich auszog.

»Nimmt Dylan auch ein Bad?«, fragte er, um sich behutsam an das Thema heranzutasten, weil er Armand schlecht fragen konnte, ob jemand Dylan gesagt hatte, dass es in ihrem Haus üblich war, sich vor den gemeinsamen Familienessen zu baden und umzukleiden.

Armand nickte lächelnd. »Sir Dylan hat in seinen Räumen ein Bad und zwei Anzüge vorgefunden, zwischen denen er für das Essen wählen kann.«

»Dafür kann ich mir später mit Sicherheit etwas anhören«, seufzte Caleb und wandte sich ab, um in die Wanne zu steigen, als Armand ihm lächelnd zuzwinkerte. Der Mann war mit Leib und Seele ein Bediensteter und er hatte das Herz am rechten Fleck. »Danke, Armand.«

»Gern geschehen, Sir. Ruft, wenn Ihr etwas braucht«, sagte der Diener, sammelte seine abgelegte Kleidung ein und verließ das Badezimmer.

Wenig später klopfte es an der Tür und bevor Caleb darauf reagieren konnte, stand Dylan bereits im Raum. Nur mit einem Handtuch um die Hüfte bekleidet und einem empörten Blick im Gesicht, der eindeutig ihm galt.

»Ich bin sehr wohl selbst in der Lage mich für einen Anzug zu entscheiden.«

Caleb sah von Dylan auf sein Badewasser und ließ sich ein Stück tiefer einsinken, während er gleichzeitig entrüstet auf die sperrangelweit offenstehende Tür deutete. »Kennst du das Wort Privatsphäre? Raus!«

»Du hast nichts, was ich nicht auch habe, und wenn du mir schon deinen Diener auf den Hals hetzt, obwohl ich zugeben muss, dass er ein überaus höflicher Wandler zu sein scheint, musst du damit rechnen, dass ich das nicht unkommentiert lasse. Was für ein Tier ist er eigentlich?«

»Armand ist ein Hirsch und zudem dient er meiner Familie seit vielen Jahren. Er wollte dir nur helfen, also richte einen Dank an ihn und kleide dich an. Ich würde im Übrigen liebend gern dasselbe tun.«

»Dann steig' aus der Wanne.« Dylan stutzte kurz und warf ihm danach ein verschmitztes Grinsen zu. »Bist du prüde?«

Caleb schnappte erbost nach Luft. »Das bin ich nicht!«

»Wieso versteckst du dich dann im Badewasser? Was nicht viel bringt, da du keine Seife benutzt, die für Schaum sorgen könnte. Also?«

Da Dylan offenbar nicht vorhatte zu gehen und Caleb nicht zu spät zum Abendessen erscheinen wollte, stöhnte er genervt und erhob sich, um nach dem großen Handtuch zu greifen, das Armand ihm bereitgelegt hatte.

»Netter Anblick. Ist das ein Knutschfleck?«

»Wie bitte?«, fragte Caleb entsetzt und sah an sich hinunter, bis Dylan zu lachen anfing. Mit einem Fluch deutete er erneut zur Tür und diesmal half es, denn kurz darauf stand er allein und kopfschüttelnd im Badezimmer. Worauf hatte er sich mit diesem Bündnispartner nur eingelassen?

 

 

Kapitel 6

 

 

 

 

Eines musste Dylan den Wintermeers lassen, sie verstanden sich auf große Auftritte in entsprechender Lautstärke, denn als er an Calebs Seite das Familienzimmer betrat, in welchem sie, laut seines baldigen Bündnispartners, bei jeder sich bietenden Gelegenheit gemeinsam aßen und zusammensaßen, herrschte in dem Raum ein Krach, als wäre eine ganze Armee anwesend und nicht nur zwei kleine Jungen, die ihren Eltern im Moment das sprichwörtliche Ohr abzukauen schienen.

Die Unbeschwertheit der Zwillinge erinnerte Dylan prompt an seine Kindheit. An die gemütlichen Essen im Familienkreis, die Abende ohne Verpflichtungen, ohne Empfänge, Feste oder andere, für seine Eltern, bedeutende Veranstaltungen. Es hatte nicht viele Möglichkeiten für solche Familienabende gegeben, vergessen hatte er sie allerdings nie.

Dennoch war es hier anders. Gelöster und lockerer. Seine Eltern hatten die ihnen anerzogene Steifheit nie ganz ablegen können, im Gegensatz zu den Wintermeers, die damit offenbar keinerlei Probleme hatten. Es wurde gelacht, gescherzt, ständig umarmte jemand die Kinder, während sie über ihre Woche in der Schule ausgefragt wurden. Soweit Dylan es mitbekam, war Simone eine sehr gute Schülerin, die Zwillinge indes wild und noch zu kindlich, um längere Zeit still sitzen zu können.

Die Vorstellung übernahmen die drei nach kurzer Zeit von selbst, wobei Simone ihren Blick von einem dicken in Leder geschlagenen Einband, den sie bei sich trug, nur so lange fortnahm, um ihm knapp zuzunicken und Caleb die Zunge herauszustrecken, als der neben ihm leise seufzte. Dylan war darüber nicht sonderlich traurig. Er hatte nichts gegen Simone und eines Tages wollte er eine Familie und Kinder, aber noch reichte ihm sein Singledasein vollkommen aus.

Einer der Zwillinge kam auf sie zugerannt, bremste mit seinen Schuhen hart ab und sah danach breit grinsend zu ihm hoch. »Hallo.«

Dylan wusste nicht recht, wie er reagieren sollte, da er mit Kindern und jüngeren Geschwistern keinerlei Erfahrung hatte, aber er fand es nur fair, ebenso höflich zu sein wie der Junge. »Auch hallo«, sagte er daher und war erleichtert, als Calebs Bruder eine Hand ausstreckte, um seine heftig zu schütteln. »Bist du Rafael oder Reed?«

»Du hast uns verpetzt?«, wandte sich der Zwilling empört an Caleb, der schmunzelte.

»Ich habe ihn vor euch beiden gewarnt. Du weißt schon, Pferdeäpfel und dergleichen unschöne Dinge.«

»Ach das.« Der Junge winkte ab und sah zurück zu Dylan. »Ich bin Rafael, aber du kannst uns eh nicht auseinanderhalten, also versuch' es gar nicht erst.«

Dylan verkniff sich ein Grinsen. Irgendwie glaubte er diese Aussage nicht, aber er würde sich hüten das zu sagen, solange er die einzelnen Familienmitglieder nicht besser kannte. Bevor er fragend zu Caleb schauen konnte, schnalzte der tadelnd mit der Zunge.

»Reed, lass' den Unsinn.«

Dylan lachte in sich hinein. Er hatte es geahnt. Mit einem Zwinkern beugte er sich ein Stück zu Reed und flüsterte ihm zu: »Ich brauche euch nicht zu unterscheiden, ich frage einfach Caleb, wen ich vor mir habe. Er ist viel zu nett, um es mir nicht zu sagen.«

»Große Brüder sind unfair«, schmollte Reed und lachte im nächsten Augenblick wieder. »Aber ich mag ihn trotzdem und dich mag ich auch.« Er drehte sich um und winkte. »Hey, Rafe, komm' her. Dylan ist cool, obwohl er kein Wandler ist.«

»Reed, deine Ausdrucksweise«, wies Caleb seinen Bruder zurecht, doch Dylan schüttelte den Kopf. Der Junge war ein fröhliches und unübersehbar glückliches Kind, und so sollte er sich ruhig benehmen dürfen. Die Zeit des Erwachsenseins kam früh genug.

Nachdem er Rafael vorgestellt worden war, ließ Caleb das Abendessen hereinbringen und jeder fand um den länglichen Tisch herum einen Platz. Auch in diesem Raum herrschte das dunkle Holz bei der Einrichtung vor, gemischt mit farbigen Akzenten, wie er es bereits aus seinen Privaträumen und den übrigen Teilen des Hauses kannte. Dylan gefiel es, vor allem weil es nirgends ein Zimmer zu geben schien, das nicht eine persönliche Note der Wintermeers innehatte.

Die Gespräche rissen während des Essens nicht ab, obwohl Dylan sich kaum an ihnen beteiligte, was niemanden zu stören schien. Er war zu sehr mit den Gedanken an seine Vergangenheit beschäftigt und das sah ihm offensichtlich nicht nur Caleb an, an dessen Seite er saß. Dylan vermisste Adrian, dabei war er noch keinen ganzen Tag hier. Selbst George fehlte ihm, obwohl Dylan bewusst war, dass es nicht an den zwei Psi lag, sondern an der Veränderung, die sich mit dem morgigen Tag in seinem Leben einstellen würde. Zusätzlich zu den bereits bestehenden, die ihm weiterhin Kopfzerbrechen bereiteten.

Er hatte nicht im Traum daran gedacht, jemals Christians Platz einnehmen zu müssen, und er fühlte sich schon jetzt mit der Aufgabe überfordert. Was das erst werden sollte, sobald er an Caleb Wintermeer gebunden war, war ihm ein Rätsel. Dylan war kein Anführer und das lag ausnahmsweise nicht daran, dass er niemals für diese Art von Posten ausgebildet worden war. Er wollte es einfach nicht sein. Er interessierte sich nicht für Politik, Diplomatie und all die kleinen und großen Dramen, die diese Aufgabe zwangsläufig mit sich brachte.

Doch das Schlimmste für Dylan war die Tatsache, dass er schlicht und ergreifend keine Wahl hatte. Wenn er diesen Job nicht übernahm, wer dann? Es gab niemanden. Abgesehen von Adrian, aber dessen Name stand nun einmal nicht auf dem Bündnisvertrag. Sein Onkel konnte die Geschäfte der Trakes übernehmen und das Haus führen, er tat es bereits, doch der Vertrag mit Dylans Namen existierte weiter und Caleb bestand auf seiner Erfüllung.

Seine einzige Möglichkeit bestand in einer Flucht, die ihn für den Rest seines Lebens zum Geächteten machen würde. Ganz davon zu schweigen, dass, sollte es dadurch zu einem neuen Krieg kommen, dieser seine alleinige Schuld sein würde. Damit hätte er nie leben können. Dann nahm er lieber dieses Bündnis an, in der Hoffnung, mit der Zeit irgendwie mit Caleb zurechtzukommen. Der Wandler war ein netter Mann, wenn auch ein wenig zu steif für seinen Geschmack, sah ohne Kleidung verteufelt gut aus, und tat alles, um es ihm so leicht wie möglich zu machen.

Es war das Mindeste, wenn er versuchte, ihm diesbezüglich entgegenzukommen, entschloss sich Dylan und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Wintermeers, die momentan darüber diskutierten, ob je drei Schüsseln Nachtisch für zwei 8-jährige Jungen nicht einer zu viel waren. Dylan begann zu grinsen, als die Zwillinge das natürlich empört von sich wiesen. Er konnte sie so gut verstehen, denn in ihrem Alter hatte er ebenfalls nie genug Nachtisch haben können.

 

»Danke für deine Begleitung.«

Caleb lächelte und neigte kurz den Kopf. »Gern geschehen. Brauchst du noch etwas oder möchtest du zu Bett gehen?«

Dylan hob ratlos die Schultern. Er war nicht müde, aber ein später Ausflug in die Stadt, um einem seiner Lieblingsclub einen Besuch abzustatten, kam kaum infrage. Nicht nur, dass es völlig unpassend gewesen wäre, in Anbetracht der Tatsache, dass er morgen früh einen wichtigen Vertrag unterschrieb, sein Onkel würde ihm die Ohren lang ziehen, wenn er erfuhr, dass Dylan seinen Bündnispartner dermaßen brüskierte. Ab sofort würde sein persönliches Vergnügen hintenanstehen müssen, bis er einen Weg fand, um sich diskret für einige Stunden vom Anwesen abzusetzen, denn er hatte nicht vor, den Rest seines Lebens wie ein Eunuch zu leben. Darüber würde er mit Caleb aber erst sprechen, wenn er den Wandler und seine Reaktion auf dieses heikle Thema besser einschätzen konnte.

»Vielleicht werde ich noch eine Weile lesen«, sagte Dylan schließlich, weil das die einzige Beschäftigung war, die ihm im Moment einfiel.

Caleb merkte sofort auf. »Oh, ich vergaß, unsere Bibliothek steht dir jederzeit zur freien Verfügung.« Der Wandler deutete auf das leere Bücherregal. »Um dein Regal zu füllen. Sofern du ein bestimmtes Buch nicht findest, sage Armand Bescheid, er wird es für dich organisieren.«

»Danke.«

Ein weiteres Lächeln wurde ihm zuteil, dann ließ ihn Caleb mit einem leisen »Gute Nacht, Dylan.« allein und betrat seine eigenen Räume. Dylan blickte ihm nach, bis sich die Tür hinter dem Wandler schloss, bevor er es ihm nachmachte. Die breiten Flügeltüren zum Balkon standen offen, um frische Abendluft hereinzulassen. Vermutlich hatte Armand dabei seine helfende Hand im Spiel gehabt, wie bei seinem eingelassenen Bad und den Anzügen zuvor. Dylan konnte sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen, schmunzelte aber gleichzeitig darüber, da ihm klar war, dass er dem Diener das nie würde abgewöhnen können. Und an Verbote dachte er gar nicht erst. Es war wohl das Beste, dem Wandlerhirsch seinen Willen zu lassen.

Dylan trat an den im seichten Wind spielenden Vorhängen vorbei auf seinen Balkon, der mit mehreren Blumenkästen und zwei Gartenstühlen inklusive Beistelltisch, auf dem eine Schale mit frischem Obst stand, wohnlich gemacht worden war, und lehnte sich auf die brusthohe steinerne Brüstung.

Der Frühling lag in seinen letzten Zügen und in den vergangenen Jahren hatte sich Dylan immer auf die Sommer gefreut. Sie bedeuteten lange Abende, durch die Hitze stetig fallende Bekleidung bei Frauen und Männern und eine große Auswahl an willigen Gespielen für eine Nacht. Er bezweifelte, dass Caleb sich jemals diesem heißen, wenn auch kurzweiligen Vergnügen hingegeben hatte, und falls doch, dann vermutlich nur unter dem Siegel von Connors Verschwiegenheit.

Der Leibwächter schien immer in der Nähe des Wandlers zu sein, und Dylan fragte sich unwillkürlich, wo Jerome wohl gerade war. Sein suchender Blick hinunter in die Blumengärten des Hauses blieb erfolglos, aber so sollte es auch sein. Ein guter Beschützer zeichnete sich schließlich dadurch aus, dass er nicht leicht zu entdecken war. Besonders nicht von einem Psi wie ihm, ohne jedes Potenzial andere Psi zu fühlen, ihre Gedanken zu hören oder ihre Nähe zu spüren.

Seine geistigen Sinne waren blind und taub, allerdings traf das nicht auf sein normales Gehör zu. Dylan runzelte die Stirn und trat von der Brüstung zurück in den Schatten der Mauer, als er Stimmen näherkommen hörte. Wer auch immer sich zu einem späten Abendspaziergang entschlossen hatte, Dylan wollte nicht von demjenigen gesehen werden.

Es waren Calebs Eltern, erkannte er kurz darauf die beiden Stimmen von Amelia und Jonathan Wintermeer, und sie waren in eine Unterhaltung verstrickt, die sich um Caleb und ihn drehte. Dylan wusste, dass sich Lauschen nicht gehörte, aber wenn er jetzt seinen Standort verließ, würden sie ihn garantiert bemerken, weshalb er an Ort und Stelle blieb.

»Er will es nicht, Jonathan.«

»Das ist mir durchaus bewusst, ich kenne unseren Ältesten ebenso gut wie du es tust.«

»Warum findet ihr dann keine andere Lösung?«

»Ich habe es Caleb vorgeschlagen, er hat abgelehnt. Es war sein Wunsch, diesen Vertrag zu erfüllen, obwohl er weder mit dem Kopf noch dem Herzen dabei ist.«

»Hast du ihn nach dem Grund gefragt?«

»Natürlich.«

Er hörte Calebs Mutter leise lachen, bevor sie weitersprach. »Unser großartiger Sohn hat dich mit deinen eigenen Waffen geschlagen, nicht wahr, Liebling?«

»Du hättest dabei sein sollen.« Jonathan Wintermeer hörte sich eindeutig amüsiert an, was Dylan verblüffte, da der Mann auf ihn bislang einen eher unterkühlten Eindruck machte. »Er hat minutenlang von Ehrgefühl, Pflichterfüllung und Politik gesprochen, und das in einer so entschlossenen Art und Weise, dass Vater und mir sehr schnell bewusst wurde, dass er einen persönlichen Grund hat, das Bündnis mit Dylan einzugehen, aber nicht darüber sprechen möchte. Und glaube mir, ich habe mehrere Male in Erfahrung zu bringen versucht, was Caleb antreibt, doch er hat sein Geheimnis für sich behalten.«

Dylan presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Caleb hatte also Geheimnisse vor ihm, was ihr Bündnis betraf. Etwas, das er ihm kaum übel nehmen konnte, schließlich kannten sie einander nicht. Aus unerfindlichen Gründen tat er es dennoch und das bescherte Dylan augenblicklich schlechte Laune.

»Hat es mit Christian zu tun?«

»Höchstwahrscheinlich«, antwortete Jonathan Wintermeer gelassen und Dylan konnte sich nur mit äußerster Mühe davon abhalten, verärgert zu schnauben. Was hatten Christian und Caleb hinter verschlossenen Türen besprochen, das so wichtig war, unbedingt an diesem verdammten Vertrag festzuhalten? »Sie respektierten einander als gute Freunde und am Ende ist und bleibt es allein Calebs Entscheidung. Er ist der Alpha.«

»Und zwar ein sehr guter. Ebenso wie sein Vater es war.«

»Schmeichlerin«, konterte Calebs Vater und Dylan hörte sie gemeinsam lachen.

Danach schwieg das Paar, aber Dylan wagte sich nicht aus seiner Deckung, weil er auf einmal so ein unbestimmtes Gefühl hatte, dass beide noch in seiner Nähe waren. Ein leises Seufzen bestätigte ihm diesen Verdacht kurze Zeit später.

»Ob Dylan Bescheid weiß?«, wollte Calebs Mutter wissen und Dylan verdrehte frustriert die Augen. Natürlich wusste er nicht Bescheid, wie auch?

»Ich glaube nicht. Er ist vollends damit beschäftigt sich zu sagen, dass es richtig ist, was er tut. Sonst würde er noch heute Nacht davonlaufen, ohne zurückzublicken.«

Dylan zog eine Grimasse, denn in diesem Punkt konnte er dem Wandler nicht widersprechen.

Amelia Wintermeer seufzte. »Ich kann Dylan verstehen. Sie haben beide eine Bindung aus Liebe verdient, doch zwischen ihnen ist nicht einmal der junge Sämling einer Freundschaft zu entdecken. So furchtbar es klingt, ich könnte dem jungen Trake nicht böse sein, wenn er sein Heil in der Flucht sucht.«

»Das wird er nicht tun, denn er ist stark. Und was deinen anderen Einwand betrifft … Ihre Freundschaft wird kommen, Amelia, ich glaube fest daran. Vielleicht werden sie eines Tages sogar einander finden.«

»Nein, das wird nicht passieren. Es ist offensichtlich, dass sie sich in keinster Weise zugetan sind.«

»Das können sie lernen. Sie werden es tun müssen, um die nächste Zeit zu überstehen. Der Frieden ist zu wichtig für uns, das weißt du.«

»Sie werden schon bald, wie drückte es Jeremy gestern aus, an ihren Sturköpfen zusammenprallen.«

»Gut.«

»Jonathan!«

»Es hat bei Connor und unserem Sohn funktioniert, es wird auch mit Dylan funktionieren. Caleb mag den Psi, obwohl er das im Augenblick wohl nicht einmal unter Folter eingestehen würde.«

Die mondlose Nacht verschluckte das folgende Lachen von Calebs Mutter, dennoch blieb Dylan noch einige Zeit still auf dem Balkon im Schatten stehen, um sicher zu gehen, dass sie seine Nähe nicht im Nachhinein bemerkten, ehe er in seine Räume zurückging, dort die Hände zu Fäusten ballte und kurz darauf mit raschen Schritten über den Flur eilte, um energisch an Calebs Zimmertür zu klopfen.

»Dylan? Ist alles in Ordnung?«, fragte der Wandler verblüfft, nachdem er ihm geöffnet hatte.

»Wir müssen reden.«

Da sein baldiger Bündnispartner trotz der späten Uhrzeit noch vollständig bekleidet war, drängte Dylan sich einfach an ihm vorbei in den Raum. Er stockte, als er Connor auf dem Sofa sitzend entdeckte, der ein Glas Wein in der Hand hielt und ihn fragend musterte.

»Hallo, Connor.«

»Stimmt etwas nicht mit deinen Räumen?«, fragte Caleb hinter ihm und schloss die Tür. Dylan drehte sich zu ihm um.

»Warum hast du auf dieses Bündnis bestanden?«

»Unsere Familien schlossen einen Vertrag, der für ...« Caleb verstummte sichtlich irritiert, als Dylan schnaubend abwinkte, um danach zu fragen: »Würdest du dich bitte erklären?«

»Redest du eigentlich immer so geschwollen? Falls ja, lass es bleiben, das nervt unheimlich.«

Connor machte ein Geräusch, das wie ein Glucksen klang, und erhob sich umgehend, als Caleb ihm einen auffordernden Blick zuwarf, der Dylan ungewollt grinsen ließ.

»Ich lasse euch allein. Gute Nacht.«

Die Tür schloss sich lautlos hinter dem Leibwächter und Caleb lehnte sich abwartend gegen das dunkle Holz, um ihn zu betrachten. Dylan fragte sich insgeheim, was der Wandler wohl in ihm sah. Vielleicht verglich er ihn mit Christian, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlicher war, dass er sich fragte, was in ihn gefahren war, mitten in der Nacht an seine Tür zu klopfen und seine Besprechung, oder was immer er mit Connor gehabt hatte, zu stören.

Eine Erklärung war angebracht, trotzdem kam Dylan nicht umhin Caleb ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. Dessen leichter Bartschatten war ihm vorhin beim Abendessen nicht aufgefallen, dabei war er deutlich zu erkennen und er machte Caleb älter als er war. Es stand ihm gut, ebenso wie diese bequeme Hose und das locker sitzende Hemd, die Caleb gegen den Anzug getauscht hatte. Die legere Kleidung ließ ihn etwas weniger streng und steif wirken, ein ungewohnter und vor allem ungewollt anziehender Anblick. Dylan schüttelte den Kopf, um den letzten Gedanken zu vertreiben.

»Nun?«, fragte Caleb, während Dylan sich abwandte und das zurückgelassene Weinglas von Connor intensiv zu mustern begann. Möglicherweise sollte er sich vor dem Schlafengehen betrinken, um den morgigen Tag zu überstehen. »Dylan? Ist wirklich alles in Ordnung?«

Nein, es war nichts in Ordnung. Gar nichts. Aber deswegen war er nicht hier, und weiter wie ein kleines Mädchen seinem bisherigen bequemen Stadtleben nachzuweinen, würde auch nichts daran ändern, dass dieses Leben vorbei war. Und zwar für immer. Dylan straffte die Schultern und atmete tief durch, bevor er Calebs Blick suchte.

»Ich habe ein Gespräch deiner Eltern im Garten gehört. Du willst unser Bündnis ebenso wenig wie ich.«

Caleb ließ sich nicht anmerken, ob ihn seine direkten Worte überraschten, ehe er mit einer Hand zum Sofa deutete. »Setz dich.«

»Ich will nicht sitzen, ich will eine Erklärung. Aus welchem Grund bestehst du so sehr auf diesen Mist, obwohl du ihn gar nicht willst?«

Caleb deutete erneut zur Couch. »Bitte, setz dich.«

Dylan stöhnte schulterzuckend, nahm dann aber Platz und nickte, als Caleb eine kleine Bar ansteuerte und mit fragendem Blick eine Flasche edlen Whisky hochhielt.

»Ich glaube, Christian ahnte etwas«, sagte Caleb, nachdem er für sie je zwei Fingerbreit in zwei Gläser eingeschenkt und sich mit ihnen neben ihm niedergelassen hatte. »Daher bestehe ich auf diesen Mist, wie du es ausgedrückt hast.«

Dylan sah ihn irritiert an, weil Calebs Worte für ihn keinen Sinn ergaben. »Wie meinst du das?«

»Christian rief mich wenige Tage vor dem Flugzeugabsturz an und bat um ein Treffen unter vier Augen.« Caleb lehnte sich mit dem Rücken in die Polster. »Das war ungewöhnlich, denn bisher hatten wir uns ausschließlich in Gesellschaft getroffen. Ich stimmte dennoch zu, weil wir einander sympathisch waren und er mich kaum aus nichtigem Grund angerufen hätte. Er wirkte unruhig, als ich am Treffpunkt eintraf. Sah sich ständig um, wollte mir aber auf meine Nachfrage hin nicht sagen, was los ist. Stattdessen bat er mich um einen Gefallen. Er wollte, dass ich, ganz egal, was bald passieren würde, auf der Einhaltung des Bindungsvertrages zwischen unseren Familien bestehe.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Caleb ratlos. »Dein Bruder sagte, er hätte ein ungutes Gefühl, das er nicht näher erklären könne. Er nahm mir ein Versprechen ab und nachdem er starb, entschloss ich mich, es zu halten. Das Bündnis war sein letzter Wunsch, wie hätte ich ihm den verweigern können?«

»Christian besaß mehr Ehre, als ich je haben werde.« Eine Erkenntnis, die Dylan einen Stich versetzte, auch wenn er sich gleichzeitig fragte, was sein Bruder gefühlt oder gewusst hatte, um Caleb solch ein Versprechen abzuringen. Es gab Psi mit der Gabe der Voraussicht, aber abgesehen von seinem Vater hatte Dylan keinen gekannt. Zumindest hatte er das bis gerade eben angenommen. Es stellte sich die Frage, was er noch alles nicht gewusst hatte, da er eben kein Psi, sondern ein potenzialfreies drittes Kind gewesen war.  Er kippte den Whisky in einem Zug hinunter und erhob sich. »Ich sollte jetzt gehen. Danke für den Drink und deine Zeit.«

»Dylan ...«

»Lass nur. Ich habe dich lange genug gestört.«

Caleb erhob sich ebenfalls, als Dylan zur Tür strebte. Er wollte sich keine Sekunde länger mit Christian und dessen Beweggründen für das Versprechen befassen, welches er dem Wandler abgerungen hatte. Er wollte nur weg von hier. Zurück in ein Leben, das es nicht mehr gab.

»Hast du noch Fragen zu unserem Vertrag?«

Mit der Hand um den Türknauf gelegt, hielt Dylan abrupt inne. Die Frage kam überraschend und sie riss ihn so gründlich aus seinem Selbstmitleid, dass er sich stirnrunzelnd wieder zu Caleb herumdrehte. »Was?«

»Der Vertrag. Du hast ihn gelesen, aber bis heute kein Wort zu den einzelnen Punkten gesagt.«

»Was hätte das geändert? Du bestehst auf dessen Erfüllung.«

»Das ist korrekt, bedeutet jedoch nicht gleichzeitig, dass ich mich weigern würde, Details neu auszuhandeln«, sagte Caleb und daraufhin fielen Dylan die 'Außerhäuslichen Aktivitäten' wieder ein, zu denen im Bündnisvertrag ein Abschnitt stand, der ihm von Anfang an nicht zugesagt hatte. Dylan hatte ihn dennoch stillschweigend akzeptiert, da er davon ausgegangen war, dass der Vertrag nicht verhandelbar war.

Offensichtlich ein Irrtum und wenn Caleb das Thema schon auf den Tisch brachte, konnten sie es genauso gut heute Nacht klären. Allerdings würde er das nicht nüchtern tun.

Dass er Caleb kurz darauf schweigend das Whiskyglas aus der Hand nahm und es in einem Zug austrank, kommentierte sein baldiger Bündnispartner ebenso wenig wie die Tatsache, dass Dylan sich nicht mehr hinsetzte, sondern den Wohnraum durchquerte und ans Fenster trat, um hinauszuschauen. Caleb füllte ihre Gläser nach und gesellte sich zu ihm.

»Du möchtest neu verhandeln?«

»Ich will nur eines wissen: der Absatz mit der einjährigen Treue und den außerhäuslichen, intimen Aktivitäten … Hast du vor, darauf zu bestehen?«

»Nein«, antwortete Caleb umgehend. »Unsere Väter waren damals der Meinung eine Jahresfrist wäre eine angemessene Zeitspanne, um uns die Chance zu geben, einander kennen und vielleicht lieben zu lernen. Im Grunde eine gute Idee, aber ich denke, wir sind alt genug, um dies selbst zu entscheiden. Ich verlange weder Enthaltsamkeit noch Treue. Ich verlange nur deine Ehrlichkeit. Wenn du jemanden kennenlernst, der mehr für dich sein könnte als ein einmaliges Vergnügen oder eine kurzweilige Verbindung, bitte ich um klare, offene Worte. Dasselbe kannst du von mir erwarten.«

»Einverstanden.« Dylan trank den Whisky, drückte Caleb das leere Glas in die Finger und wandte sich ab; hielt jedoch an der Tür erneut inne, als ihm etwas einfiel. »Ich weiß, wieso du es getan hast, und ich weiß die Geste durchaus zu schätzen.«

»Wovon sprichst du?«

»Von den grünen Kissen und Vorhängen in meinen Räumen. Der grünen Tagesdecke auf dem Bett. Mir ist bewusst, dass du von mir nicht viel hältst und ich kann dich verstehen, aber ich bin kein Dummkopf, der nicht bemerkt, wenn es ihm jemand leichter machen möchte. Ich bedanke mich dafür.«

»Dylan, ich ...«

Dylan schüttelte den Kopf und öffnete die Tür. Es war alles gesagt. »Gute Nacht, Caleb.«

 

 

 

 

 

 

»Die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, ist keine Lösung.«

 

 

Kapitel 7

 

 

 

 

Der nächste Morgen begann mit lautem Vogelgezwitscher, strahlendem Sonnenschein bei klarem, blauen Himmel und für die Jahreszeit herrlichen Temperaturen. Der Sommer stand vor der Tür und würde recht bald für anhaltende Hitze, drückende Schwüle und im späteren Verlauf, sobald die Tage begannen kürzer zu werden, für kräftige Gewitter mit viel Regen sorgen. Es war Calebs liebste Jahreszeit, weil er unzählige Stunden an der frischen Luft sein konnte.

Sein Drache sehnte sich danach, empor zu steigen und den weiten Himmel wiederholt als sein Eigentum zu markieren. Es war viel zu lange her, dass er dem Drang nachgegeben hatte, dachte Caleb, während er sich sorgfältig rasierte. Dylan sollte einen Partner bekommen, an dessen Seite er gerne stand, auch wenn das nach der gestrigen Nacht wahrscheinlich eher seiner Wunschvorstellung geschuldet war als der Realität.

Doch ihm blieb keine Zeit mehr, um noch ein privates Wort mit Dylan zu wechseln, die Regeln für die Bindungszeremonie mussten eingehalten werden. Sein Vater bestand darauf, alles andere hatte dem hintenanzustehen.

Die Tür zu seinem Schlafzimmer klappte, aber Caleb blieb wo er war, denn es gab nur eine Person in diesem Haus, die sich ohne anzuklopfen Zutritt verschaffte. Verschaffen durfte, denn den Wandler mit dem kinnlangen braunen Haar, dessen Spitzen in einem tiefen Grün leuchteten, würde er nicht abweisen. Niemals.

»Dylan zu Ehren?«, fragte Caleb leise, mit Blick auf die grünen Haarspitzen, und setzte seine Rasur fort, als Connor schweigend nickte. Sein Wolf trug schwarz von Kopf bis Fuß und das tat er nicht nur, weil ihm diese Farbe lag und zudem sehr gut stand. Er tat es, um seine Stimmung auszudrücken, so wie seit jeher. Caleb drehte sich zu ihm um. Der Kontrast zwischen seiner eigenen Nacktheit und Connors vollständiger Bekleidung war berauschend, obwohl er wusste, dass sie sich heute nicht berühren würden. Sein Bündnis mit Dylan würde nicht stattfinden, wenn sie es täten, das wusste Caleb ebenso gut wie Connor. »Ich würde einen anderen Weg gehen, wenn es ihn gäbe.«

»Ich weiß.«

»Ich muss das tun.« Caleb schüttelte den Kopf, als Connor etwas sagen wollte. »Und ich will es auch tun. Für uns und für Dylan. Der Frieden zwischen unseren Völkern ist wichtiger, als unsere körperlichen Bedürfnisse.«

»Körperlich?«, fragte Connor und der klirrende Tonfall in seiner Stimme machte Caleb bewusst, dass der Wolf ihn falsch verstanden hatte.

»Ich liebe dich.«

Connor wurde blass. »Caleb ...«

»Und ich werde diese Worte nie mehr wiederholen. Ich tue es und daran wird sich nichts ändern. Wann immer du an mir zweifelst, denk' an diesen Moment. Ich werde mich heute an Dylan Trake binden, doch mein Herz wird er niemals besitzen, denn es gehört dir. Für alle Zeit.«

Connor kommentierte seine Worte mit einem hörbaren Einatmen, dann machte er abrupt kehrt und Caleb hörte ihn im Schlafzimmer rascheln. Stirnrunzelnd lauschte er, weil der für ihn genähte Anzug bereits auf seinem Bett lag, doch als sein Wolf kurze Zeit später mit einem nachtblauen Anzug zu ihm zurückkehrte, war seine erste Kleiderwahl vergessen. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, Connors stummen Wunsch, den von ihm besorgten Anzug zu tragen, abzulehnen. Mit diesem Tag würde ihre Beziehung aufhören zu existieren, wie hätte er so grausam sein und diese letzte Bitte auf seine Verbundenheit zu Connor ablehnen können?

»Welche Krawatte?«, fragte er, denn er konnte in Connors Händen keine entdecken.

»Die silbergraue, die dein Vater dir zum Erwachsenentag geschenkt hat«, schlug Connor leise vor und Calebs Antwort beschränkte sich auf ein Nicken, gefolgt von einem Lächeln, welches sein Wolf erwiderte, bevor er das Badezimmer verließ, damit Caleb sich zu Ende rasieren konnte.

 

Der dunkelgraue Anzug war Maßarbeit und er stand Dylan ausgezeichnet. Caleb fand die gelbe Krawatte zwar ein wenig irritierend, andererseits passte sie zu Dylans Art. Sein Partner war und würde sich nicht vollständig anpassen und irgendwie konnte er ihn sich auch nicht anders vorstellen.

Er lächelte Dylan höflich zu und ergriff seine Hand, als sie nebeneinander vor seinem Großvater zum Stehen kamen. Die Haut war klamm und kühl, nicht viel anders als seine eigene, dennoch drückte Caleb die schlanken Finger aufmunternd, in der Hoffnung, Dylan etwas von der Zuversicht abzugeben, um die er im Moment selbst kämpfen musste. Er wollte das nicht. Nicht so. Nicht mit Dylan Trake. Aber den Wolf, der an seiner Seite hätte stehen sollen, durfte er nicht haben.

»Seid ihr bereit?«, fragte sein Großvater leise und bevor er zusagen konnte, flüsterte Dylan neben ihm ein kaum hörbares: »Nein.«

Caleb konnte es ihm so gut nachempfinden, daher schwieg er, als Jeremy ihn fragend ansah. Es gab nichts zu sagen, es gab keinen Ausweg. Er würde diesen Weg gehen. Für sein Wort an Christian und für ihre Zukunft. Wie immer die auch aussah.

»Ihr seid beide stark. Glaubt an euch, dann werdet ihr auch einen Weg für euch finden«, sagte sein Großvater ruhig, bevor er ein weißes Samtband vom Zeremonientisch nahm, das die Verbindung zwischen Dylan und ihm symbolisieren sollte. Als ältestem Familienmitglied der Wintermeers oblag es Jeremy ihr Bündnis zu vollziehen, und Caleb beobachtete ihn, wie er das Band behutsam um ihre Handgelenke legte und alle weiteren Vorbereitungen für die Blutverbindung traf.

Zwei Kerzen standen auf dem runden Tisch neben seinem Großvater, und zwischen ihnen lag der Dolch, mit dessen Hilfe der Blutaustausch vollführt werden würde. Jeremy hatte Dylan und Adrian Trake genauestens über den Ablauf der Zeremonie in Kenntnis gesetzt, dennoch war Caleb über den deutlichen Widerwillen in Dylans Gesicht nicht überrascht, als die Kerzen entzündet wurden. Derselbe Widerwillen tobte in ihm selbst, nur konnte Caleb ihn besser verbergen. Seine Erziehung war tadellos, dafür hatten seine Eltern gesorgt, und sie war auch der einzige Grund, warum er es schaffte, weiter Dylans Hand zu halten und ihn nicht von sich zu stoßen, um jenem Mann seine ewige Treue zu schwören, den er wirklich liebte.

Sein Großvater griff nach dem Dolch und Caleb ließ seinen Blick schweifen. Über den Garten, seine Familie, über Adrian Trake, der als Zeuge für den Trakener-Clan anwesend war und an Dylans Seite stand, der von Sekunde zu Sekunde blasser wurde, sodass Caleb sich zu fragen begann, ob er die nächsten Minuten überhaupt überstehen würde. Schließlich stoppte sein Blick bei Connor, dessen volle Lippen fest zusammengepresst waren. Sie wirkten beinahe blutleer und Caleb sah hastig weg, als Connor die Augen schloss.

»Verehrte Bündnispartner, verehrte Gäste«, begann Jeremy die Zeremonie und Caleb blendete seine Stimme aus.

Er kannte jedes Wort und üblicherweise wären Dylan und er mit Verehrte Gefährten angesprochen worden. Aber das waren sie nicht und sie würden es niemals sein. Was hier und jetzt geschah, diente einzig und allein dem Frieden, einem größeren Ganzen, und es war seine Pflicht sich zu unterwerfen. Es war seine Aufgabe, das Beste aus diesem Bündnis zu machen. Aus dieser Farce einer Hochzeit, die er nicht einmal in Gedanken so nennen wollte.

Sie würde ihn das Wichtigste kosten, das er besaß, dennoch blieb Caleb, wo er war, und hielt Dylans eiskalte Finger fest in der eigenen Hand, während sein Großvater Wort für Wort ihr gemeinsames Schicksal besiegelte.

 

Der Tag schwebte an ihm vorbei, wie dicke Nebelschwaden an einem wunderschönen Herbstmorgen über ein abgeerntetes Weizenfeld waberten. Caleb fühlte sich wie in einem Traum. Er lächelte höflich, wenn man ihn ansprach, nickte bei Fragen und beantwortete sie, ohne wirklich zu begreifen, was er zu wem sagte. Er aß das Essen, das man ihm vorsetzte, trank den Wein, der sich mehrere Male in seinem Glas einfand, um später von klarem und kühlem Wasser abgelöst zu werden. Es gelang ihm sogar, unter den Augen unzähliger, neugieriger Gäste, die sich am Nachmittag zu ihrer Bindungsfeier einfanden, mit Dylan auf der eigens dafür aufgebauten Tanzfläche zu tanzen.

Eine wahrlich perfekte Feier, hörte er Joshua am späten Abend schließlich mit ätzendem Unterton sagen, doch Caleb reagierte nicht auf die unterschwellige Herausforderung in den Worten des Wolfs, während er mit schnellen Schritten den Garten verließ. Hatten sie diesen Wandler nicht eigentlich ausgeladen? Er konnte sich nicht daran erinnern, andererseits war es ihm gleichgültig, denn wenn er nur noch eine Minute länger hierblieb, würde er anfangen zu schreien und nie mehr damit aufhören.

Mit jedem Schritt wurde Caleb schneller. Er begann vor etwas davonzulaufen, vor dem er nicht davonlaufen konnte. Dieser simplen Tatsache war er sich durchaus bewusst, doch seine Beine gehorchten ihm einfach nicht, als er ihnen befahl stehenzubleiben. Caleb erreichte das Waldstück, in dem er sich so oft mit Connor getroffen hatte, und schon bald entdeckte er die große Eiche, an die er sich beim letzten Mal gestützt hatte, um unter Connors harten, tiefen Stößen nach mehr zu betteln. Er ballte, zitternd vor Wut, beide Hände zu Fäusten und holte aus, um auf den Stamm einzuschlagen, der ihn auszulachen schien. Es war nur ein harmloser Baum, doch für Caleb war er in diesem Augenblick die Wurzel allen Übels, welche ausgemerzt gehörte.

Caleb wurde herumgerissen und an einen warmen Körper gezogen, bevor er den ersten Schlag ausführen konnte. Starke Hände hielten ihn fest und aufrecht, während er tobte, fluchte und sich mit aller Kraft wehrte, die ihm jedoch auf mysteriöse Weise abhandengekommen sein musste, denn er bekam nicht einmal eine Hand frei, geschweige denn seinen Körper.

»Ich liebe dich auch, Caleb. Heute, morgen und für alle Zeit werde ich der Deine sein«, hörte er schließlich Connors ruhige Stimme durch diese Wand aus Zorn, Hilflosigkeit und Angst sagen, die ihn dazu gebracht hatte vollends die Nerven zu verlieren. Vor unzähligen Gästen. Vor seiner Familie. Sogar vor Dylan. Grundgütiger. Caleb wurde starr vor Entsetzen. »Er hat mich zu dir geschickt«, sagte Connor in seine Überlegung hinein, wie er sich für sein unmögliches Verhalten bei seinem Bündnispartner entschuldigen konnte. »Nicht, dass es nötig gewesen wäre, es geht Dylan kaum besser als dir. Sein Onkel ist bei ihm und wir haben nur wenige Minuten, bis dein Vater uns erreicht. Aus diesem Grund wirst du jetzt tief durchatmen und dich unter Kontrolle bringen, Alpha!«

Er brauchte vier Atemzüge, um Connors Befehl zu folgen, und erst dann trat sein Wolf von ihm zurück, ließ seine Hände jedoch nicht los, sondern suchte seinen Blick. Caleb schluckte mehrfach und nickte schließlich, und danach rückte Connor gänzlich von ihm ab, um seinen üblichen Platz als Leibwächter einzunehmen, der in dem Fall einige Schritte hinter ihm war. Caleb sah an sich hinunter, zog gewissenhaft sein Jackett und seine Krawatte gerade und holte erneut tief Luft, da hörte er seinen Vaters näherkommen, der wenige Sekunden später in Sichtweite kam. Caleb wartete ab, während Jonathan zu ihnen aufschloss und ihn dabei ausführlich musterte.

»Dein Bündnispartner lässt sich höflichst entschuldigen. Zu viel Wein, ohne den Ausgleich von fester Nahrung … Wir alle kennen diese Form der Unpässlichkeit, nicht wahr?«

Bloß keine Schwäche zeigen, dachte Caleb und nickte. »Das tun wir, Vater.«

»Lass uns bitte allein, Connor.«

»Natürlich.«

Sein Vater schwieg, bis sie allein waren, dann legte er überraschend den Kopf in den Nacken und seufzte laut, um ihn hinterher mitfühlend anzusehen. »Ich weiß, was du gerade durchmachst, Caleb, und ich weiß auch, wie schwer diese erste Zeit sein wird, die dem heutigen Tag folg...«

»Du hast überhaupt keine Ahnung, was ich durchmache. Du liebst Mutter, das hast du immer getan!«, fuhr Caleb aus der Haut, ehe er sich zurückhalten konnte, und er verfluchte sich umgehend dafür. Doch statt des erwarteten Tadels, nickte sein Vater zustimmend.

»Das stimmt, ich liebe deine Mutter, und das werde ich bis zu meinem Tod tun. Aber ich liebe auch meine Eltern, Caleb. Ich liebe sie über alles und deshalb weiß ich so genau, was im Augenblick in dir vorgeht. Oder glaubst du wirklich ein Kind spürt nicht, wenn seine Eltern einander nicht lieben? Wenn sie miteinander verbunden sind, weil man es von ihnen erwartet hat?«, hielt Jonathan dagegen und legte eine Hand an seine Wange, als Caleb den Blick von den plötzlich so durchdringenden Augen seines Vaters abwenden wollte. »Ich war jung, aber nicht zu jung, um die Wahrheit zu erkennen. Heute verehren sie einander. So stark, dass ich nichts lieber tun würde, als den Vertrag mit Dylan Trake zu zerreißen, um dir, nein, um euch beiden die Chance zu geben, dasselbe Glück zu finden. Ich wünsche mir nichts anderes für dich, Caleb.«

Sein Vater kämpfte sichtlich um Fassung und Caleb war sprachlos angesichts der ihm gegenüber so offen zur Schau gestellten Gefühle. Jonathan Wintermeer vergoss keine Tränen. Er war ein Kämpfer, ein Diplomat, ein Politiker. Ein sehr guter Vater, ohne Frage, aber eben kein Gefühlsmensch.

»Ich war hart zu dir, das weiß ich, aber du bist mein Sohn und ich möchte, dass du glücklich bist. Ich will, dass du alles bekommst und erreichst, was du dir wünschst. Christian wäre, aufgrund seiner ganzen Art und seines Charakters, ein weitaus geeigneterer Partner für dich gewesen, jeder weiß das. Diese Bindung an Dylan Trake ist das Gegenteil dessen, was unsere Familien einst beschlossen haben, und dennoch hast du, trotz mehrerer Nachfragen, auf eine Vertragserfüllung bestanden, ohne dich zu erklären.« Jonathan schlug ihm mit der offenen Hand leicht auf die Wange. »Und aus diesem Grund wirst du dich jetzt zusammenreißen und tun, was getan werden muss. Trage die Konsequenzen deiner Wahl, wie ein Wintermeer es tun würde. Doch vergiss niemals, dass du jederzeit mit meiner Unterstützung und Hilfe rechnen kannst.«

Was sollte er dazu sagen? Solch direkte Worte hatte Caleb einfach nicht erwartet, und sie machten ihn sowohl sprachlos als auch überglücklich, als ihm wieder einfiel, dass er eine Familie hatte, die ihn liebte und immer für ihn da sein würde. Selbst jetzt, wo es eigentlich seine Aufgabe als Alpha war, für sie da zu sein. Sie zu beschützen und alles zu tun, um dem Wintermeer-Haus eine sichere Zukunft zu ermöglichen.

Doch vielleicht war es an der Zeit, ein wenig von seiner Verantwortung an andere Mitglieder der Familie abzugeben. Vielleicht war dieser Moment genau richtig, um seinen Vater in Dinge einzuweihen, die er bislang ausschließlich mit Connor besprochen hatte.

»Ich gab Christian mein Wort«, sagte Caleb, nachdem er einige Zeit nachgedacht hatte, was er seinem Vater erzählen sollte und was nicht, und ließ seinen Blick langsam über die voll belaubten Bäume schweifen.

Ein leichter Windhauch brachte die tiefgrünen Blätter zum Rascheln und während er sie betrachtete, kamen ihm Dylans Augen in den Sinn. Sie besaßen nicht dieselbe Farbe wie das Blattwerk, aber er erinnerte sich daran, wie die Augen des Psi ausgesehen hatten, während Charlotte den ersten Apfel von seiner offenen Handfläche fraß. Dieses ungläubige Staunen, das ihn an seine Brüder erinnerte, nur dass Dylan erwachsen war. Doch gleichzeitig schien er ebenso jung und unerfahren zu sein wie sie. Dass Christian alles getan hatte, um seinen geliebten Bruder zu schützen, erschien ihm nur logisch, und dennoch warf es von Tag zu Tag neue Fragen auf, denen er sich nicht mehr lange allein würde stellen können. Jedenfalls nicht, wenn Caleb vermeiden wollte, dass Dylan etwas von seinen Vermutungen bezüglich des Todes seiner Familie erfuhr, bevor er mehr darüber in Erfahrung gebracht hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739359342
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
Schwul Krieg Drama Fantasy Gestaltwandler Romance Liebesroman Liebe

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Drachenherz