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Die Chroniken von Usha - Der Drachenkönig

von Melissa David (Autor:in)
368 Seiten
Reihe: Die Chroniken von Usha, Band 1

Zusammenfassung

Sein Blut und seine Unversehrtheit garantieren ihr Überleben

Einst herrschte der Drache Doron als König über Usha, bis die Magier ihn stürzten, sein Volk versklavten und bis an den Rand der Ausrottung trieben.
Um seinen Leuten ein besseres Leben zu ermöglichen, willigt er in einen schicksalhaften Pakt mit dem Magierkönig ein: Mit seinem unsterblichen Blut soll er die Königstochter, die unter einem Gendefekt leidet, am Leben erhalten.
Womit jedoch niemand - am wenigsten Doron - gerechnet hat, ist, dass Ellenie mit den Jahren immer mehr der Frau gleicht, die er einst über alles geliebt, doch die ihn schändlich verraten hatte. Als Ellenie ihn um Hilfe bittet, um einer erzwungen Ehe zu entgehen, ist er hin- und hergerissen. Doch dann kommt sie hinter sein großes Geheimnis.
Wie weit kann Doron einer Frau vertrauen, die eine Magierin ist und damit für alles steht, was er hasst? Schafft es Ellenie, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich gegen ihren Vater und die mächtigen Magier zu stellen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Klappentext


Sein Blut und seine Unversehrtheit garantieren ihr Überleben


Einst herrschte der Drache Doron als König über Usha, bis die Magier ihn stürzten, sein Volk versklavten und bis an den Rand der Ausrottung trieben.

Um seinen Leuten ein besseres Leben zu ermöglichen, willigt er in einen schicksalhaften Pakt mit dem Magierkönig ein: Mit seinem unsterblichen Blut soll er die Königstochter, die unter einem Gendefekt leidet, am Leben erhalten.

Womit jedoch niemandam wenigsten Dorongerechnet hat, ist, dass Ellenie mit den Jahren immer mehr der Frau gleicht, die er einst über alles geliebt, doch die ihn schändlich verraten hatte.

Als Ellenie ihn um Hilfe bittet, um einer erzwungen Ehe zu entgehen, ist er hin- und hergerissen. Doch dann kommt sie hinter sein großes Geheimnis.

Wie weit kann Doron einer Frau vertrauen, die eine Magierin ist und damit für alles steht, was er hasst? Schafft es Ellenie, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich gegen ihren Vater und die mächtigen Magier zu stellen?


Das Buch ist in sich abgeschlossen.

Impressum



E-Book

1. Auflage November 2019

300-346-01

Melissa David

c/o Papyrus Autoren-Club 

Pettenkoferstr. 16-18 

10247 Berlin 

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: melissa@mel-david.de 



Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial: © Depositphotos.com


Lektorat, Korrektorat:

Gundel Steigenberger

www.lektoratsteigenberger.de



Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Chroniken von Usha



Der Drachenkönig

Band 1


von

Melissa David

PROLOG


Doron konnte das Gewitter förmlich schmecken. Es musste in den großen Bergen hängen geblieben sein und entlud sich nun über der Festung Sodaar.

Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie der Regen auf seine Haut prasselte. Es fiel ihm zunehmend schwerer, sich zu erinnern, denn es war viel zu lange her, dass er in einer Regennacht geflogen war. Schmerzlich vermisste er dieses Gefühl, das nur noch einer vagen Erinnerung glich. An den dumpfen Schmerz seiner fehlenden Flügel hatte er sich inzwischen gewöhnt. Er hasste es, doch es war sein steter Begleiter.

In der Zelle nebenan regte sich etwas. Er ahnte, dass auch seine Brüder wach lagen und nicht schlafen konnten. Dabei hätten sie in dieser Nacht ungestörte Ruhe finden können. Kein Gefängniswärter, der sie in die Abflughalle zerrte, keine Störung. Bei Regen flogen die Harpyien nicht. Sie mochten es nicht, wenn ihr Gefieder nass wurde.

Doron lag mit dem Rücken auf der kargen Pritsche, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die kahle Decke. So trostlos wie die Umgebung, so erbärmlich fühlte sich auch sein Leben an – wenn man das noch als solches bezeichnen konnte. Am meisten schmerzte ihn, dass seine Brüder dieses Leben mit ihm teilen mussten. Er selbst mochte es verdient haben, die anderen konnten nichts für seine Dummheit. Einst waren sie viele hundert gewesen, doch nun waren nur noch sieben von ihnen übrig. Dass so viele seines Volkes ihr Leben hatten lassen müssen, schmerzte ihn immer noch zutiefst, und er hätte es verstanden, wenn seine Brüder ihn dafür verabscheuten. Dennoch hatte sich keiner von ihm abgewandt. Er hätte es gespürt, war er doch mit jedem von ihnen geistig verbunden. Sie waren nicht mehr viele. Doch sie hielten treu zu ihm. Zu ihm, dem gefallenen Drachenkönig.

Er schloss die Augen und versuchte seinem Dasein zu entfliehen, flüchtete sich an den Ort, den er nur im Geiste bereisen konnte. Dort, wo sein anderes Ich gefangen war, eingesperrt auf einer anderen Ebene, von der es kein Entkommen gab: Die Augen des Drachen waren geschlossen, öffneten sich jedoch, als er Dorons Anwesenheit spürte. Einst hatte Doron nach Belieben die Gestalt des Drachen annehmen, hatte jederzeit durch den Regen fliegen können. Doch jetzt waren sie körperlich getrennt und nur hier, jenseits der realen Welt, konnte er bei seinem Drachen sein. Dass sie eins gewesen waren, lag lange zurück.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er es nicht über sich gebracht, hierherzukommen. Es hatte zu sehr geschmerzt, zu sehen, was er verloren hatte. Und auch heute noch tat es weh. Er setzte sich neben den riesigen, schwarzen Drachen. Stumm. Sie mussten nicht sprechen, um zu wissen, wie der andere fühlte. Er war ein Drachenwandler. Auch wenn sie körperlich getrennt waren, teilten sie doch Gefühle und Gedanken.

Eine Tür quietschte, ein verhasstes und allzu vertrautes Geräusch. Unwillig kehrte Doron in die reale Welt zurück. Noch immer konnte er den Regen schmecken. Die Harpyien konnten nicht der Grund für die herbeieilenden Wächter sein. Er hörte ihre Schritte und roch den menschlichen Schweiß und ihre Ausdünstungen schon von weitem. Die schwere Eisentür am Ende des Gangs wurde geöffnet. Sechs Wächter betraten den Kerker.

 Doron spürte die Verwunderung seiner Brüder. Was wollten die Wächter?

„Wo ist euer Anführer?“, fragte einer der Wächter, der das Sagen hatte, ungeduldig.

Doron mochte ihn nicht. Er war ein Begnadeter, hatte den Rang eines Magiers knapp verfehlt, und das, was er dadurch an Ansehen einbüßte, machte er durch Brutalität wett.

Stille breitete sich aus. Keiner seiner Brüder würde reden. Was auch immer die Wächter tun würden, sie würden nichts als Schweigen erhalten. Keiner seiner Brüder würde Doron verraten.

„Ich frage dich, wo ist euer Anführer?“, brüllte der Wächter. Er war näher gekommen, eine, maximal zwei Zellen entfernt.

Doron hörte das Zischen der Magiestäbe, die bei Berührung elektrische Impulse durch den Körper jagten. Die Schmerzen waren unerträglich, lähmten den Körper. Durch die Verbindung spürte er, wie Barkley zusammenzuckte. Kein einziger Laut war zu hören. Sie würden ihn weiterquälen. Wieder spürte Doron ein schmerzhaftes Ziehen, ein lächerliches Abbild von dem, was Barkley erdulden musste.

Langsam erhob Doron sich von seiner Pritsche. Er wollte nicht, dass einer seiner Brüder wegen ihm Schmerzen litt.

„Ich bin ihr Anführer“, sagte er ruhig, während er auf die Eisengittertür zuging.

Die Wächter ließen Barkley in Ruhe, kamen zu Dorons Zelle und reihten sich vor ihm auf. Er hatte recht gehabt, sie waren zu sechst. Der gescheiterte Magier trat hervor. Er war der Ranghöchste der Truppe.

„Anführer, dass ich nicht lache“, spottete er. Er war einen halben Kopf kleiner als seine Begleiter und damit überragte Doron ihn um zwei Köpfe. „Du bist nicht mehr als ein Gefangener. Und dazu noch unfähig, mit Magie umzugehen“, spie er angewidert hervor und sah zu ihm auf.

Doron starrte finster auf den Wächter. Es kostete ihn einiges an Selbstbeherrschung, doch er unterdrückte den Drang, seine Hand durch das Gitter zu schieben und den Wächter am Kragen zu packen. Er war es nicht wert, sich mit ihm anzulegen. Im Grunde hatte er sogar recht. In Doron steckte so viel Magie wie in einem Stück abgestorbenem Holz. Schließlich waren sie keine Magier, sie waren Drachen.

Als Drachen waren sie über die Berge geflogen, hatten das Land beschützt. Als Drachen hatten sie gegen die Harpyien und die Magier gekämpft. Aber das hatten die Menschen längst vergessen und das war auch gut so. Nun waren sie Krieger und – egal in welcher Gestalt – der Kampf war Teil ihres Lebens. Nur um das Land Usha gegen die Harpyien zu verteidigen, waren Doron und seine Brüder den Magiern noch gut genug: Sie waren die Einzigen, die vermochten, mit den Fluganzügen zu fliegen und deshalb brauchten die Magier sie – ob sie wollten oder nicht. Ein Lächeln legte sich auf Dorons Lippen.

„Der König will dich sehen“, verkündete der Wächter.

Doron kniff die Augen zu zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er musste kurz nachdenken, sich ins Gedächtnis rufen, dass bereits achtundfünfzig Jahre vergangen waren. Seit die Drachen in den Kerker verbannt worden waren, hatte sich keiner der Magierkönige herabgelassen, ihn zu sehen. Weder Hanael, der nach dem Tod von Florenie den Thron bestiegen hatte, noch Yathel, sein Sohn und der derzeitige König. Doron wusste wenig über ihn. Er gehörte den Naturmagiern an und war dem Hörensagen nach eher von sanftem Gemüt. Dennoch traute Doron keinem von ihnen. Er hatte sein Lehrgeld bezahlt. Egal, was der König von ihm wollte, es war ihm egal.

„Und wenn ich ihn nicht sehen möchte?“, fragte er und zog sich demonstrativ in seine Zelle zurück. Er mochte ein Gefangener sein, doch was sie ihm nicht hatten nehmen können, war seine Würde. Kampflos würde er nicht mit ihnen gehen. Auch wenn er wusste, dass er keine Chance hatte.

Die Tür sprang auf und die Wächter kamen mit erhobenen Magiestäben auf ihn zu. Es war sinnlos, sich zu wehren. Einen, vielleicht zwei konnte er abwehren, aber die anderen würden ihn zu Boden ringen. Der erste Magiestab berührte ihn an der Schulter. Doron presste die Lippen fest zusammen, um nicht aufzuschreien, als Feuer in seinen Arm und vom Nacken bis in seinen Kopf schoss. Reflexartig griff er mit der anderen Hand nach der Stelle. Der nächste Stab traf ihn in den Magen. Er keuchte auf und sackte nach vorne. Eine Berührung am linken Oberschenkel und ein weiterer Treffer an der Wade ließen ihn in die Knie gehen. Sein Körper brannte und er war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Diesen Zustand hatten die Wächter beabsichtigt. Ein letzter Magiestoß in den Nacken, und Doron verlor fast das Bewusstsein.

Sie hatten einen Nerv getroffen und er nahm seine Umgebung nur noch verschwommen wahr. Wehrlos lag er am Boden, konnte nicht verhindern, dass sie ihm die Arme auf den Rücken drehten und magische Handschellen anlegten. Eine lange Eisenstange wurde unter seinen Armen hindurchgeschoben. Es brauchte zwei Wächter auf jeder Seite, um ihn hochzuheben und davonzutragen.

Dieser lähmende Zustand war schlimmer als der Tod. Es führte ihm seine Unfähigkeit deutlich vor Augen. Es würde noch einige Zeit dauern, bis er sich wieder regen konnte, wieder Herr über seine Sinne war.

Rücksichtslos zerrten die Wächter ihn durch die Flure. Seine Füße schrammten über den Boden. Zuerst war dieser rau – die Felsenkeller, in denen sich auch der Kerker befand. Dann wurde der Boden glatt. Es war polierter Stein, der die Gänge des Schlosses bedeckte. Doron sah immer noch unscharf, doch er kannte jeden Winkel dieser Festung. Er war in Sodaar geboren und aufgewachsen. Es war sein Zuhause. Alles hatte ihm gehört, bevor die Magier ihm die Krone und alles andere genommen hatten.

Sie zogen ihn unaufhaltsam Richtung Thronsaal. Er mochte zwar körperlich außer Gefecht sein, doch seine anderen Sinne arbeiteten hervorragend. Er konnte die Aufregung der Menschen auf seiner Zunge schmecken. Es roch nach Tod und Krankheit, ein leicht fauliger, beißender Gestank.

Als sie ihn in den Thronsaal gebracht hatten, mischte sich unter die Aufregung grenzenlose Verzweiflung. Auf dem Thron – Dorons Thron – saß König Yathel. Doron brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um sich zu vergewissern, dass der König selbst diesen bitteren Geruch absonderte.

Doron blinzelte, um besser sehen zu können. Flankiert wurde der König von vier Gestalten, seinen Beratern. Diese Magier an der Seite des Königs waren ihm größtenteils unbekannt. Lediglich einen kannte er: Syriel, den Heiler. Der Hohe Magier hatte es sich zu seiner Aufgabe gemacht, auszutesten, wie überlebensfähig Doron und seine Brüder waren. Doron hasste ihn, und wenn er die Chance gehabt hätte, ihm den Kopf abzureißen, hätte er es getan.

Wieder einmal stellte er fest, wie vergänglich doch das Leben der Magier war. Und noch etwas wurde ihm bewusst: Die Magier waren alle zu jung, um den Sturz der Drachen miterlebt zu haben. Vor ihm stand bereits die nächste Generation der Menschen, die alles über die Natur der Drachen und ihren Sturz vergessen hatte.

Wieder blinzelte Doron, kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich dann auf den König. Seine Beine trugen ihn immer noch nicht und so hängten die Wächter die Eisenstange in eine Halterung, die es Doron ermöglichte, halbwegs aufrecht zu bleiben. Es fiel Doron schon schwer genug, den Kopf zu heben, und er war dankbar für die aufrechte Haltung.

„Was habt ihr mit ihm gemacht?“, fragte ein dunkelhaariger Magier, der auf der linken Seite des Königs stand. „Ihr solltet ihn herbringen, nicht umbringen.“

„Das nächste Mal kannst du ihn gerne selbst holen, Euricael“, schnaubte der Wächter und funkelte den Magier wütend an.

„Wenn es nach mir ginge, würden wir diese Unterhaltung überhaupt nicht führen“, schnaubte Euricael.

Der König, der mit gesenktem Haupt dasaß, hob die Hand und gebot seinen Magiern zu schweigen. Langsam hob er den Kopf und Doron konnte dem König zum ersten Mal in die Augen blicken. Zumindest glaubte er, dass dieser ihn ansah, denn Dorons Sicht war noch immer verschwommen.

„Bist du der Anführer der gefangenen Krieger?“, fragte König Yathel.

Es strengte Doron an, den Kopf oben zu halten, dennoch wollte er dem König ins Gesicht blicken, wollte wissen, wie dieser auf ihn reagierte. „Ja, das bin ich.“

Spöttisch verzog Syriel das Gesicht. „Ein Anführer eingesperrt im Kerker, gefangen im Exil.“

„Syriel, bitte“, mahnte der König müde.

Doron schluckte. Er spürte die hochkochende Wut, wusste sein aufbrausendes Temperament jedoch zu zügeln. Jahrzehntelange Gefangenschaft hatte ihn das gelehrt.

„Was willst du von mir, König?“, richtete er stattdessen das Wort an Yathel.

Sie mochten ihm zusetzen, aber sie würden ihn nicht brechen. Sein Körper regenerierte sich bereits und seine Sicht wurde wieder schärfer.

Die Augen des Königs waren traurig und leer. Sie waren gerötet, er musste erst kürzlich geweint haben. Was brachte einen Mann wie ihn zum Weinen? Noch immer lag Doron der bittere Geschmack der Verzweiflung auf der Zunge.

„Stimmt es, dass dein Blut jede Krankheit heilen kann?“

In Dorons Kopf arbeitete es. Es ging um eine Krankheit? Aber der König war nicht krank. Er war verzweifelt, aber körperlich kerngesund. Dann erinnerte er sich an den fauligen Geruch, den er gerochen hatte, als sie ihn hergebracht hatten. Tod und Krankheit.

„Mein Blut kann keine Toten aufwecken“, entgegnete Doron ruhig und ließ dabei sein Gegenüber keine Sekunde aus den Augen. Er war ein ausgebildeter Kämpfer, war es gewohnt, auf jede noch so kleine Regung des Feindes zu achten.

„Aber Krankheiten heilen?“, hakte der König nach. Seine Finger klammerten sich fester um die Lehne seines Throns. Ein Thron, auf dem einst Doron gesessen hatte.

Doron ließ sich Zeit mit einer Antwort, wählte seine Worte mit Bedacht. „Unter Umständen. Es kommt auf die Krankheit an und auf mich, ob ich bereit bin, mein Blut zu teilen.“

„Wir schlitzen dir die Kehle auf, dann haben wir dein Blut“, zischte ein Magier, der direkt neben Syriel stand.

Das hatte Syriel bereits versucht und war kläglich gescheitert. Freudlos zog Doron die Mundwinkel nach oben, was ihm einiges an Anstrengung kostete. „Als ob ihr das nicht schon längst versucht hättet.“ Syriel hatte ihn und seine Brüder auf alle erdenklichen Arten verstümmelt. Doch die Drachen waren zäh, kaum zu verletzen und unsterblich. Der Grund war ihr Drachenblut, doch das wussten die Menschen nicht.

Der Magier neben Syriel schnaubte empört. Doch sie wussten es alle. Die Krieger konnten ihren Blutfluss regulieren. Wenn sie sich verletzten, schlossen sich ihre Blutgefäße von selbst. Um richtig zu bluten, mussten sie ihre Körper bewusst davon abhalten, sich zu heilen. Es war beinahe unmöglich, sie umzubringen. Das war auch der Grund, warum Doron und seine Brüder im Kerker saßen. Hätten die alten Magier einen Weg gefunden, sie aus dem Weg zu räumen, hätten sie das getan. Die alten Magier hatten eine solche Angst vor Doron und seinesgleichen gehabt, dass sie sich ausgeschwiegen hatten. Die neue Generation war daher einfach nur unwissend. Doron sollte es recht sein, das war seine Chance.

Um sicherzustellen, dass der König nicht auf dumme Gedanken kam, schob er vorsichtshalber nach. „Sobald mein Herz aufhört zu schlagen, ist auch mein Blut wertlos.“

„Dann ist er für unsere Zwecke nutzlos“, schlussfolgerte der Magier neben Syriel.

Der bittere Geschmack auf Dorons Zunge verstärkte sich. Er konnte die Verzweiflung des Königs kaum noch ertragen. „Ich bin nicht nutzlos, aber meine Hilfe hat ihren Preis.“

Endlich kam Bewegung in den König. Er erhob sich von seinem Thron und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war ein großer Mann, wenn auch nicht so groß wie Doron, der wie alle Drachen in menschlicher Gestalt über zwei Meter maß.

„Was ist der Preis dafür, dass du meiner Tochter das Leben rettest?“

Doron kniff die Augen zusammen. Der bittere Geschmack war verschwunden, der König schöpfte neue Hoffnung. Es ging also um seine Tochter? Doron hatte nichts von dem Nachwuchs im Königshaus gewusst. In den unterirdischen Kerkern und der Abflughalle bekam man kaum etwas vom höfischen Leben mit.

„Ich muss sie zuerst sehen, dann können wir über den Preis verhandeln“, verlangte er.

Das Kribbeln in seinen Fingerspitzen und den Zehen kündigte an, dass er bald wieder Herr über seinen Körper sein würde. Dennoch ließ er sich hängen. So lange die Magier dachten, er wäre gelähmt, sahen sie ihn nicht als Bedrohung an. Auf eine erneute Bekanntschaft mit den Magiestäben konnte er verzichten.

„Holt sie!“, polterte der König und winkte ungeduldig mit der Hand.

Es dauerte nicht lange und eine Frau betrat den Thronsaal. In ihrem Arm lag ein winziges Bündel. Es stank erbärmlich nach Fäulnis. Zum Glück hatte Doron den Magen eines Drachen, sonst hätte er sich augenblicklich übergeben.

König Yathel ging der Frau entgegen und nahm ihr das Kind ab. Langsam kam er näher, hielt es so, dass Doron es sehen konnte.

Dieser erstarrte. Das Kind war winzig. Wie alt mochte es sein? Ein paar Stunden vielleicht? Er schnupperte, versuchte, die Herkunft des Gestanks zu ergründen. Es war ihr Blut. Etwas fehlte und ließ ihren Körper verfallen.

„Was hat sie?“, fragte er leise.

„Der Heiler Lukael meint“, der König wies mit einem Kopfnicken auf einen weiteren Hohen Magier, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte, „dass sie an einer Blutkrankheit leidet. Ihr Blut ist nicht dazu in der Lage, sich selbst zu reinigen. Ihr Körper vergiftet. Keine uns bekannte Magie kann sie heilen.“

Doron starrte das winzige Kind an und presste die Lippen fest aufeinander. Wäre es eine Wunde gewesen, hätte ein wenig von seinem Blut ausgereicht, sie zu schließen. Sein Drachenblut mochte mächtig sein, aber es konnte auch keine Wunder vollbringen. Er würde sie nicht heilen können, zumindest nicht vollständig.

Widersprüchliche Gefühle mochten sich in seinem Gesicht zeigen. Sie war eine Magierin und dafür hasste er sie schon jetzt. Er hasste sie alle. Jeden einzelnen dieser Magier, die einst aus Kikar gekommen waren und denen er die Türen zu seinem Königreich geöffnet hatte. Und was war der Dank dafür gewesen? Sie hatten ihn bestohlen, ihm alles genommen. Er hasste sie, wünschte ihnen allen den Tod.

Er dachte nach. Was wäre dem König das Leben seiner Tochter wert? Was würde der Magierkönig Doron zugestehen, wenn er dieses winzige Wesen rettete? Unmerklich richtete er sich auf. Seine Füße trugen sein Körpergewicht wieder und das minderte den Druck auf seine Schultermuskulatur. In den Oberschenkeln kribbelte es und auch sein Oberkörper fühlte sich nicht mehr ganz so taub an.

„Kannst du ihr helfen?“ Die Stimme des Königs zitterte.

Doron atmete tief durch. „Ja.“

Die Miene des Königs hellte sich auf. „Ich kann dir Gold geben oder Edelsteine. So viel du willst.“

Doron unterdrückte ein Schnauben. Wie kam dieser dumme Mensch nur darauf, dass ihn Gold oder Edelsteine interessierten? Er hatte mehr als genug davon besessen, vermutlich lagen sie noch immer in den Schatzkammern von Sodaar. Aber die Zeiten, in denen Doron materielle Dinge wichtig gewesen waren, waren lange vorbei.

„Wenn ich ihr von meinem Blut gebe, möchte ich das Versprechen, dass weder ich und noch einer meiner Brüder jemals wieder mit einem Magiestab drangsaliert werden.“

Hinter ihm schnappte der Wächter nach Luft. „Aber wenn sie fliehen wollen?“

Doron drehte sich, so weit es mit der Stange am Rücken möglich war, zu den Wächtern um. „Als ob jemals einer von uns versucht hätte zu fliehen. Wir würden nicht gehen, selbst wenn ihr die Türen offen lassen würdet. Wir gehören hierher. Das ist unser Land.“ Er verschwieg bewusst, dass ein Drache niemals seine Heimat verließ und sie deshalb nicht gehen würden. Wenn sie sich einmal für eine Heimat entschieden hatten, blieben sie, egal was geschah, und nur der Tod konnte sie daran hindern, diese Drachentreue zu brechen.

„Keine Magiestäbe mehr“, willigte der König ein.

„Ich will einen mit Magie besiegelten Bund“, forderte Doron. Er wusste, dass das die einzige Möglichkeit war, den König an sein Wort zu binden. Bittere Erfahrungen hatten ihn gelehrt, dass das die einzigen Versprechen waren, an die sich die Magier hielten.

„So soll es sein.“

Doron atmete unmerklich auf. Der erste Etappensieg war errungen.

„Dazu müsst ihr mich losmachen.“ Er wies mit dem Kinn hinter sich, dort wo seine Hände gefesselt waren.

König Yathel hob die Hand und gab einem Wächter den stummen Befehl, die magischen Handschellen zu lösen.

Die Fesseln und der Stab fielen klirrend zu Boden, als Doron die Arme nach vorne nahm und seine schmerzenden Handgelenke massierte. Stück für Stück bekam er die Oberhand über die Situation und das machte die Schmerzen durchaus wett.

Doron nahm sehr wohl wahr, wie die fünf Wächter ihre Magiestäbe erhoben. Sein Mundwinkel zuckte. Der Bund war noch nicht geschlossen.

Der König ließ sich eine Kette aus purem Gold bringen und streckte sie mit einer Hand Doron entgegen, während er mit der anderen das Kind festhielt. „Der Anführer der unsterblichen Krieger wird meiner Tochter von seinem Blut geben“, begann er.

„Einmalig“, brummte Doron. „Ich bin kein beliebig verfügbares Wundermittel.“

Der König nickte. Der weiße Dampf, der sich auf König Yathels Handfläche gebildet hatte, verpuffte. Er schüttelte die Hand aus und die Kettenglieder klirrten leise. Dann begann er abermals.

„Der Anführer der unsterblichen Krieger wird hier und jetzt, einmalig meiner Tochter von seinem Blut geben. Dafür wird niemand, der unter meinem Befehl steht, jemals wieder einen Magiestab gegen ihn oder einen seiner Artgenossen erheben.“ Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu. „Solange sie nicht den Versuch unternehmen, einen Kikar anzugreifen oder zu fliehen.“

Doron grinste. Auch der König hatte eine Einschränkung an den Handel geknüpft. Ihm sollte es recht sein. Doron streckte die Hand aus und legte sie auf die ausgestreckte des Königs. Der weiße Dampf umhüllte ihre Hände, besiegelte den Bund und wurde dann von der Kette eingesaugt.

Aus dem Augenwinkel sah Doron, wie die Wächter ihre Magiestäbe sinken ließen.

Der König trat einen Schritt zurück, hängte sich die Kette um den Hals und blickte Doron auffordernd an. „Erfülle nun deinen Teil der Abmachung“, wies er an.

„Ich brauche einen Dolch“, verlangte Doron. Die Wächter bekamen große Augen, die Berater tuschelten besorgt und der König sah ihn verwirrt an. „Ohne einen Dolch kein Blut, ohne Blut kann ich meinen Teil des Bundes nicht erfüllen.“

„Ein Dolch, bringt mir einen Dolch!“, rief der König und sah sich suchend um.

Einer der Wächter zückte seine Waffe und eilte auf den König zu. Doron genügte die Klinge. Er strich mit dem Finger über das geschärfte Eisen und schnitt sich damit in den Zeigefinger. Er unterdrückte die Selbstheilungskräfte seines Körpers, sah auf die blutende Wunde hinab und trat näher an den König heran. Dann steckte er den blutenden Finger in den Mund des Kindes. Sekundenlang passierte nichts, dann öffnete das Mädchen die Augen und blickte ihn an. Gleichzeitig begann sie zu nuckeln.

Doron erstarrte. Sie hatte klare blaue Augen, dieselbe außergewöhnliche Augenfarbe, die auch Florenie besessen hatte. Ihm wurde kalt. Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er an die Frau dachte, die ihn zu Fall gebracht, die ihm alles genommen hatte.

Doron kostete es einiges an Selbstbeherrschung, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Unbewegt fixierte er das winzige Mädchen, das an seinem Finger saugte. Wie sehr er dieses Kind hasste und wie wichtig es doch gleichzeitig für ihn war.

Der faulige Geruch verschwand und Doron sah, wie die gräuliche Haut des Babys eine natürliche, gesunde Farbe annahm. Erst als sie die Augen wieder schloss und aufhörte zu nuckeln, zog er seinen Finger zurück und ließ seinen Körper sich selbst heilen.

„Sie ist gesund“, seufzte der König erleichtert.

Doron lächelte in sich hinein. Die Zeit war gekommen, seine Trumpfkarte auszuspielen. „Das ist sie nicht“, entgegnete er ruhig.

„Was willst du damit sagen?“ König Yathels Miene verfinsterte sich und er wich ängstlich vor Doron zurück. Augenblicklich stellten sich einige der Wächter zwischen den Magierkönig und Doron. Da sie ihre Magiestäbe nicht zücken konnten, hielten sie ihm ihre Schwerter entgegen. Nutzlose Waffen und das wussten sie selbst, wenn er die Angst in ihren Gesichtern richtig deutete.

„Für den Augenblick mag sie gesund sein, aber schon bald wird mein Blut aufgezehrt sein. Da ihr Körper nicht in der Lage ist, Giftstoffe selbst herauszufiltern, wird sie früher oder später sterben.“ Er war ein Drache und sagte immer die Wahrheit und auch wenn die Magier nicht wussten, was er war, spürten sie doch, dass er nicht log. Als ob ihm das Schicksal des Kindes nichts angehen würde – und im Grunde war es ihm auch egal – drehte er sich um.

„Dann braucht sie regelmäßig dein Blut“, schlussfolgerte König Yathel.

Doron unterdrückte ein siegessicheres Lächeln, als er sich langsam wieder umwandte. „Möglich, aber das wird seinen Preis haben.“

„Was forderst du?“

Sie sahen einander an. Doron, der gestürzte Drachenkönig und Yathel, der Magierkönig. Sein Volk, die Kikar, war einst aus seiner ausgebeuteten Heimat geflohen, um in Usha ein besseres Leben zu finden. Denn Magie bedeutete Macht und Magie gab es in der Natur Ushas noch in unbegrenzter Menge. Und Doron hatte bereitwillig geteilt, bis es zu spät gewesen war.

„Ich will einen weiteren magischen Bund“, sagte Doron. „Meine Brüder und ich werden in das Höhlensystem ziehen, dass sich südlich von Sodaar befindet.“

Der Hohe Magier Syriel hustete geräuschvoll. „Wir brauchen sie, um die Harpyien abzuwehren.“

Den Magier ignorierend fuhr Doron fort. „Die Verteidigungsangriffe gegen die Harpyien organisieren wir ab sofort selbst.“ Er und seine Brüder waren weitaus fähigere Strategen als die Magier. Doron blickte direkt Syriel an. „Das Höhlensystem wird die Zentrale. Von dort gibt es einen direkten Zugang in die Abflughalle.“

„Diesen Pakt könnt Ihr unmöglich eingehen, mein König.“ Eifrig schritt Syriel die Stufen des Throns hinunter und kam auf König Yathel zu.

„Ich verstehe deine Bedenken, Syriel. Aber es geht hier um das Leben meiner Tochter.“

„Ich muss Syriel zustimmen und halte es auch für ein zu großes Risiko“, ereiferte sich Euricael.

„Ich bin der König und ich entscheide. Ich werde auf deine Bedingungen eingehen, werde aber ebenfalls welche stellen.“

Doron reckte das Kinn und wartete.

„Meine Tochter hat jederzeit das Recht, dein Blut einzufordern und du wirst es ihr bereitwillig geben, wann immer sie möchte. Sie wird fortan für dich an erster Stelle stehen. Wenn sie bei dir ist, wirst du für ihren Schutz und für ihre Unversehrtheit verantwortlich sein. Sollte einer deiner Krieger ihr zu nahe kommen, werde ich euch alle zurück in den Kerker sperren.“

Doron nickte. Damit konnte er leben.

„Ihr könnt die Harpyienangriffe selbstbestimmt organisieren, aber du wirst ab sofort am Boden bleiben.“

Doron zog eine Augenbraue hoch.

„Ich muss sichergehen, dass du am Leben bleibst.“

Verärgert nickte Doron. Es gab wenig, was den Drachen gefährlich werden konnte. Harpyien konnten es. In den letzten Jahrzehnten waren einige seiner Brüder von den Einsätzen nicht zurückgekehrt. Das war einer der Gründe, warum er die Angriffe selbst organisieren wollte. Er würde alles daran setzen, keinen weiteren Bruder mehr zu verlieren.

„Zu jeder Zeit wird Georgiel, mein oberster Techniker, Zugang zur Zentrale erhalten.“ Der König deutete auf einen älteren Magier, der bisher noch überhaupt nichts gesagt hatte. „Er ist der Anführer meiner Wächter und in letzter Konsequenz für jeden Kampfeinsatz verantwortlich. Er hat das letzte Wort.“

Doron blinzelte. Diese Einschränkung missfiel ihm. Geringschätzig musterte er den Hohen Magier. Er war nicht mehr der Jüngste. Wenn die Bedingung nur an Georgiel geknüpft war, war das Ablaufdatum vorprogrammiert. Ein paar Jahre würden sie mit dieser Einschränkung leben können. Er grinste zufrieden.

„Ist das alles?“, fragte er nach und fürchtete, dass zum Schluss noch ein Zugeständnis folgen würde, das er nicht erfüllen konnte.

Doch König Yathel nickte nur und blickte Doron abwartend an.

„Ich akzeptiere“, knurrte Doron. Er konnte das Stückchen Freiheit, das er sich hart erkämpft hatte, schon beinahe riechen.

König Yathel nickte der Frau zu, die das Baby hergebracht hatte. Sie eilte herbei und nahm es ihm ab.

Der König ließ sich eine goldene Kette reichen. Diesmal benutzte er beide Hände und benötigte sehr viel länger, um die Bedingungen in Wort zu fassen. Wie schon zuvor legte Doron seine Hand auf die des Königs und der weiße Nebel umhüllte ihre Hände, bevor er sich in das Edelmetall zurückzog. Der Bund war geschlossen, nicht mehr rückgängig zu machen.

„Dieser Pakt ist bindend für beide Parteien und ein Bruch – egal auf welcher Seite – wird von meinem Volk mit dem Tod bestraft“, erklärte König Yathel.

Als der König sich die Kette umhänge, stieg ein leiser Zweifel in Doron auf und er hoffte, dass er nicht soeben seine Seele verkauft hatte. Doch auch das hätte er für seine Brüder getan.

KAPITEL 1


Fast zwei Jahrzehnte später


„Bist du noch nicht angezogen?“

Ellenie blickte auf. In der Tür stand Surrida, ihre Zofe, und starrte sie entsetzt an. Zuerst begriff Ellenie ihre Aufregung nicht, dann dämmerte ihr, dass es schon ziemlich spät sein musste. Sie hatte noch etwas Zeit gehabt und es sich auf der Liege aus geflochtenem Moos bequem gemacht. Wenn sie Zeit hatte, hielt Ellenie sich am liebsten in ihrem Zimmer auf und las.

Manchmal – so wie heute – verlor sie dabei jegliches Zeitgefühl.

Sie schmiss die Lesetafel zur Seite, deren Bild augenblicklich erlosch. Auf Ellenies Handfläche erschien das Hologramm einer Sanduhr, der Zeitmesser in Usha. Fassungslos starrte Ellenie die winzigen Sandkörner an und konnte kaum glauben, dass es schon so spät war. Sie sprang auf und die Darstellung verschwand. „Ich muss mich beeilen.“

Surrida war bereits zum Kleiderschrank gegangen und hatte ein dunkelrotes Kleid herausgeholt. Sie waren ein eingespieltes Team. Ellenie drehte sich um, damit ihre Zofe die Verschnürung am Rücken lösen konnte. Das türkise Tageskleid fiel zu Boden und blieb zu Ellenies Füßen liegen. Sie kümmerte sich nicht darum, sondern nahm das Kleid, das Surrida ihr hinhielt. Die Zofe war geübt und schnürte das Kleid in Windeseile zu. Es lag am Oberkörper eng an, hatte einen großen Ausschnitt, bedeckte und betonte jedoch Ellenies eher kleinen Brüste geschickt. Der Rock war weit und aus fließendem Stoff und an den Seiten bis zur Taille geschlitzt.

Ellenie wusste, dass sie mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen und der makellos reinen Haut exakt dem Schönheitsideal ihres Volkes entsprach. Zwar war sie für eine Frau ziemlich groß, aber gleichzeitig schlank wie die meisten Magier.

Auch wenn sie es eilig hatte, setzte Ellenie sich an den Schminktisch, um etwas Farbe auf ihren Lippen zu verteilen. Nicht viel, nur einen Hauch von Dunkelrot. Währenddessen bürstete Surrida ihr das rote Haar und steckte es geschickt nach oben. Ein diamantenes Diadem krönte die Frisur.

„Du siehst wunderbar aus“, stelle Surrida begeistert fest.

Ellenie starrte ihr Spiegelbild an. Sie wollte nicht aufstehen, sich den Pflichten der Königstochter stellen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich für den Rest des Tages einfach in ihrem Zimmer verkrochen und wäre in die fantastischen Welten eingetaucht, die Magier mit kreativer Magie erschufen und die sie bis gerade gelesen hatte. Es ging um gut aussehende Männer, einen Pakt zwischen zwei verfeindeten Häusern und die große Liebe.

Wie sehr wünschte sich Ellenie, eines Tages auch der großen Liebe zu begegnen. Doch sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Als mögliche Thronfolgerin würde sie es sich wahrscheinlich nicht aussuchen können, welcher Magier an ihrer Seite auf dem Thron sitzen würde. Entschieden schob Ellenie diesen Gedanken fort. Noch war es nicht soweit. Noch hatte ihr Vater kein Wort darüber verlauten lassen, dass es an der Zeit war, sich einen Ehemann zu wählen.

Ihr Vater. Sie schluckte, als sie daran dachte, dass sie eigentlich schon zu spät dran war. Es würde ihm missfallen. König Yathel legte großen Wert auf Pünktlichkeit und betonte stets, dies wäre eine unumgängliche Tugend für eine Prinzessin.

Hastig sprang Ellenie auf. „Ich muss los!“, rief sie ihrer Zofe zu und wollte schon aus dem Zimmer stürmen, als ihr einfiel, dass sie keine Schuhe trug. Surrida reichte ihr lächelnd die roten Schlupfschuhe und Ellenie war dankbar für das flache Schuhwerk.

Sie rannte los. Gerade als sie durch einen der langen Flure rannte, war das Horn zu hören. Es signalisierte die Ankunft der Hohen Magier, jener vier Magier, die als Berater und Unterstützer nach dem König die mächtigsten Magier waren. Aus jedem Bereich der Magie – Natur, Kreativität, Heilung und Technik – wurde einer berufen.

Mist.

Ellenie beschleunigte, schlitterte auf dem polierten Steinfußboden um die nächste Ecke und rannte dabei direkt in eine Bedienstete hinein, die einen ganzen Stapel weißer Handtücher trug. Die Niedere konnte nicht mehr schnell genug ausweichen und die Handtücher fielen zu Boden.

Normalerweise hätte Ellenie geholfen, sie aufzuheben, doch sie musste sich beeilen. „Entschuldigung!“, rief sie der Niederen zu, während sie bereits um die nächste Ecke bog.

Zum zweiten Mal war das Hornsignal zu hören. Sie musste unbedingt das Außengelände erreichen, bevor das Horn zum dritten Mal ertönte. Hastig stieß sie eine Seitentür auf, die hinaus in den Garten führte. Mit dieser Abkürzung sparte sie sich ein paar Minuten.

Mit der einen Hand raffte sie ihr Kleid zusammen und hob es an, um noch schneller die vielen Stufen hinunter in den Blumengarten laufen zu können. Ohne sich umzusehen, rannte sie durch die Blütenpracht, die der ganze Stolz ihres Vaters war. Sie sah bereits den Schotterweg, den kürzesten Weg zum Landeplatz. Einst waren dort die großen Drachen gelandet, aber das war lange vor ihrer Geburt gewesen. Seit die Magier nach Usha gekommen waren und das Land von den Bestien befreit hatten, gab es die Ungetüme nicht mehr. Jetzt landeten dort die Flugapparate ihres Volkes und genau so ein Gerät schob sich in diesem Moment über sie hinweg und verdüsterte für einen Moment den Himmel: Eine riesige schimmernde Kugel aus weißem Metall. Der Flugapparat gehört zu den größeren Technik-Objekten und bot Platz für weit über dreißig Passagiere und die dazugehörige Besatzung.

Ellenie hastete weiter. Als sie um die Hausecke bog, sah sie bereits eine lange Reihe Menschen vor sich. Das gesamte Haus Balfalya war versammelt und säumte den Weg vom Landeplatz bis zum Haupthaus. Ellenie schob sich an den Begnadeten vorbei, die in der Nähe der Festung standen. Ihr Platz war am vorderen Ende der Reihe, direkt am Landeplatz.

Der erste Flugapparat war gerade gelandet. Die große Kugel öffnete sich, um die Passagiere aussteigen zu lassen. Ein zweiter Flugapparat flog in diesem Moment über die Festung, drehte sich in der Luft und schwebte dann ebenfalls auf den Landeplatz herab.

Ellenie schlängelte sich an den Wartenden vorbei und nahm gerade noch rechtzeitig ihren Platz an der Spitze der Reihe ein. Sie fing den Blick von Elrael auf, der wenig begeistert über ihr Zuspätkommen war. Er war der Bruder ihrer verstorbenen Mutter und der mächtigste Heiler der Balfalya. Ellenies Vater, König Yathel, hatte ihn zu Ellenies Lehrer auserkoren. Eine Aufgabe, der Elrael gewissenhaft nachkam.

Ellenie wich seinem vorwurfsvollen Blick aus, indem sie sich in Richtung ihres Vaters wandte, der auf den Flugapparat zugegangen war, um die ersten Gäste zu begrüßen.

„Du kommst zu spät“, rügte Avie sie leise. Ihre beste Freundin war die Tochter von Elrael und stand direkt neben ihr.

„Jetzt bin ich ja da.“

Eine hochgewachsene Frau mit wunderschönen, langen blonden Haaren, die ihr bis zu den Kniekehlen reichten, gehüllt in ein rot-goldenes Kleid, verließ als Erste den Flugapparat. Es war Chadosie, die dem Haus Ravashy vorstand. Als einziges weibliches Mitglied der Hohen Magier war sie die einflussreichste Frau in ganz Usha. An ihrer Seite befand sich ihr Ehemann Thraoel, ein eher unscheinbarer Mann, der sich stets im Hintergrund hielt. Das Paar hatte selbst keine Kinder, dennoch war das Haus Ravashy ein gesegnetes Haus, was Nachwuchs betraf. Das demonstrierte sie gerne und so befand sie sich nicht nur in Gesellschaft von männlichen und weiblichen Magiern und Begnadeten, sondern auch einer ganzen Schar Kinder. Ehrfürchtig verbeugten sich alle vor König Yathel und schritten dann an den Spalierstehenden vorbei auf die Festung zu.

Inzwischen war der zweite Flugapparat gelandet. Daraus stieg die Familie Alquer. Euricael war der Älteste der Hohen Magier. Mit seinen weit über sechzig Jahren war er schon zu Ellenies Geburt im Dienst gewesen und es war eine Frage der Zeit, bis er sich zur Ruhe setzte. Seine Haare waren so weiß wie die Blätter Ullalas, dem Lieblingsbaum von Ellenies Vater. Für einen Magier war Euricael ziemlich klein. Er trug ein weißes Unterkleid und darüber einen goldenen Umhang.

Direkt hinter Euricael schritt sein ältester Sohn Rayel. Gerüchten zufolge würde er bald in die Fußstapfen seines Vaters treten und als Hoher Magier seinen Platz am Königshof einnehmen.

Obwohl Ellenie nur ein paar Jahre jünger war als Rayel, hatte sie ihn erst bei Euricaels letztem offiziellen Besuch auf Sodaar kennengelernt und beschlossen, dass sie ihm, soweit es möglich war, aus dem Weg gehen würde. Der junge Magier mochte als Ausnahmetalent gelten, doch da war etwas Düsteres, das ihn umgab. Sie hatte ihn noch nie lächeln gesehen. Im Gegensatz zu seinem Vater war Rayel stets komplett in Schwarz gekleidet. Dazu die pechschwarzen Haare, die sich kaum von seinem Umhang abhoben. Er war wirklich unheimlich.

Rayel verbeugte sich tief vor König Yathel und ging dann weiter. Dabei ließ er gelangweilt seinen Blick über die Menschenmenge schweifen, bis er Ellenie entdeckte. Sie wollte den Blick abwenden, zwang sich aber, genau das nicht zu tun. Sie hatte keine Angst vor Rayel. Sie war die Königstochter und musste sich vor niemandem fürchten.

Hinter Rayel drängten sich weitere seiner Familienmitglieder, woraufhin er schließlich seinen Blick abwandte und weiterschritt. Die Familie Alquer war mit Abstand die größte und damit einflussreichste Familie in Usha. Kein anderes Haus vereinte so viele begabte Magier aus allen vier Bereichen der Magie.

„Sieht er nicht ungemein gut aus?“, flüsterte Avie aufgeregt in Ellenies Ohr.

„Wer? Rayel?“, fragte diese entsetzt und zweifelte für einen Moment am Sehvermögen ihrer Freundin.

„Nein!“, stieß Avie erschrocken hervor. „Ich rede von Sophirael.“

Der dunkelblonde Magier war etwa in demselben Alter wie Avie und Ellenie und bereits einige Male in Euricaels Begleitung auf Sodaar gewesen.

Wissend grinste Ellenie.

„Sieht er nicht unheimlich gut aus?“

Ellenie verdrehte die Augen. „Du wirst in den nächsten Tagen sicher noch genug Gelegenheiten haben, ihn anzuhimmeln.“

„Vielleicht macht er mir einen Antrag.“ Avie überlegte kurz und fügte dann hinzu: „Aber dann müsste ich vermutlich von Sodaar fortgehen. Vielleicht sollte ich mir einen anderen Magier aussuchen.“

„Du hast immerhin die Chance, von hier fortzugehen“, sagte Ellenie und konnte den bitteren Unterton in ihrer Stimme nicht ganz verbergen.

„Eines Tages wirst du Königin.“

Die Beklemmung, die in Ellenie aufstieg, raubte ihr für einen kurzen Moment den Atem. Eines Tages würde sie vielleicht Königin sein – oder auch nicht. Es war auf jeden Fall noch ein weiter Weg bis an die Spitze des Königreichs Sodaar. Nur weil sie die Tochter des Königs war, hieß das nicht, dass sie als Nächste den Thron besteigen würde. Es würde zwar jemand aus ihrer Familie werden, aber wer letztendlich von der Göttin Balfalya mit der nötigen Stärke ausgestattet wurde, um den streng regulierten magischen Wettstreit zu gewinnen, konnte niemand vorhersehen. Ellenies heilerische Fähigkeiten waren nicht schlecht und Elrael betonte in letzter Zeit sehr häufig, wie mächtig sie geworden war. Dennoch spürte sie, dass ihr Lehrer ihr noch immer weit überlegen war.

Ein kleinerer Flugapparat flog über ihren Kopf hinweg und setzte sanft auf dem Landeplatz neben den großen Apparaten auf. Ein einzelner Mann stieg aus. Es war Mirael, seit Georgiels Abdankung vor einigen Jahren der Hohe Magier der Technik und Oberhaupt der Familie Rawner. Er war nach dem König wohl der mächtigste Magier in Usha und ein begabter Techniker. Viele Techniker gehörten seinem Haus an, ebenso wie die meisten Wächter.

Mirael war ein paar Zentimeter kleiner als Ellenie, besaß aber als durchtrainierter Wächter eine beeindruckende Figur. Im Gegensatz zu den anderen Hohen Magiern trug er keine wallenden Gewänder, sondern einen enganliegenden schwarzen Kampfanzug aus Kalginit, einem extrem leichten und strapazierfähigen Edelmetall, das in den kargen Felsklüften des Nachbarlandes Aspain abgebaut wurde. Den Anzug hatte Mirael selbst entworfen, genauso wie unzählige andere magische Gegenstände, die Magiern, Begnadeten und Niederen gleichermaßen das Leben leichter machten. Untypisch für einen einfachen Wächter, die normalerweise ihr Haar kurz trugen, besaß Mirael schulterlanges schwarz-grau meliertes Haar. Sein purpurfarbener Umhang und die nicht zu verachtende Anzahl an goldenen Ketten, die um seinen Hals hingen, ließen seine Position erahnen.

Er grüßte den König, wie es sich gebot, und schritt durch die Menge, ohne jemanden eines Blickes zu würdigen.

„Der flößt mir Angst ein“, flüsterte Avie.

„Wer?“

„Mirael. Er ist so unnahbar.“

Ellenie dachte über die Worte ihrer Freundin nach. Unnahbar war nicht das richtige Wort, um ihn zu beschreiben. Mirael war machtbesessen, kompromisslos und wortkarg. Obwohl er schon jenseits der vierzig war, war er unverheiratet. Dabei hatte es mehr als eine willige Frau gegeben, die liebend gern den Platz an seiner Seite eingenommen hätte.

Wieder warf ein Flugapparat seinen Schatten über den Landeplatz und senkte sich langsam zu Boden. Der letzte Hohe Magier traf ein. Es war Karael, der Heiler. Ellenie fand ihn unheimlich interessant, was vermutlich daran lag, dass er denselben Magiebereich beherrschte wie sie. Wann immer es ihr möglich war, beobachtete sie ihn heimlich, und sie wünschte sich schon seit Jahren, ihn nach Tisada begleiten zu dürfen, dem Ort, an dem sich sein Haus Orazea niedergelassen hatte. Doch ihr Vater hatte ihr den Wunsch nie erfüllt und nur angemerkt, alles was sie wissen müsse, könne ihr auch Elrael beibringen.

Karael hatte blondes Haupthaar, die Haarspitzen leuchteten in einem hellen Rot. Das Besondere an ihm waren jedoch nicht seine Haare, sondern die Farbe seiner Augen, die in einem ungewöhnlichen Violett schimmerten. Er trug ein goldenes Gewand und dazu einen Haarreif mit dem Symbol der Göttin Orazea.

Etliche Magier und Begnadete begleiteten ihn. Karael selbst hatte keine Frau, aber eine ganze Menge Verwandte, die sich um ihn scharten. Mit ernster Miene ging er durch die Menge, nickte flüchtig nach links und rechts, ohne jemanden konkret zu begrüßen.

Als der letzte Gast König Yathel begrüßt hatte, schloss der König sich dem Zug an, der in die Festung strömte. Nachdem er an Ellenie vorbeigeschritten war, durfte auch sie sich dem Zug anschließen.

Avie und ihr Vater Elrael mussten noch einen Moment warten, ehe sie sich mit den anderen aus dem Hause Balfalya ebenfalls zurück in die Festung begeben durften.

Fünf Mos lagen vor ihnen. Fünf Tage, an denen geruht wurde. Statt Arbeit würde es jede Menge Unterhaltung geben. Vereinzelte Veranstaltungen am Tag, und rauschende Tanzfeste am Abend. Ellenie war der Kunst sehr zugetan und freute sich auf ein unterhaltsames Programm. Auf die Feste am Abend, auf denen vorwiegend getanzt und diskutiert wurde, hätte sie getrost verzichten können. Sie konnte sich schönere Dinge vorstellen, als die vorzeigbare Königstochter zu spielen. Viel lieber hätte sie diese Zeit mit Lesen verbracht. Nur zu gerne versank sie in die Welten, die kreative Magier erschufen und auf Lesetafeln bannten.

Kaum hatte Ellenie die Festung erreicht, bog sie in einen der seitlichen Flure ab und eilte zurück in ihre Gemächer. Ihre Anwesenheit war nun nicht mehr zwingend erforderlich. Die Gäste wurden auf ihre Zimmer gebracht und man würde sich erst wieder zum Abendessen treffen.

Ellenie freute sich, vor den Abendverpflichtungen noch etwas Zeit zum Lesen zu haben und die wunderbare Geschichte zweier verliebter Magier in sich aufsaugen zu können.


* * *


Im Gegensatz zur Begrüßungsveranstaltung hatte Ellenie diesmal die Zeit im Blick. Von den zwölf Sandfarben, die die Tageszeit unterteilten, hatte sie zwei Farben für den Besuch bei Doron eingeplant. Seit ihrem fünften Lebensjahr ging sie allein zu der Felsenhöhle, in der die Krieger lebten. Davor hatte ihre Amme sie regelmäßig alle zwei Tage hingebracht. Die Existenz der Krieger wurde in der Festung Sodaar totgeschwiegen. Nur wenn die Harpyien angriffen, besann man sich auf sie. Ellenie hatte nie verstanden, warum die Krieger so gefürchtet waren. Sie lebten in der alten Drachenhöhle, einem Höhlensystem in dem angeblich einst Drachen zu Hause gewesen waren. Diese dunklen Höhlen wären auch nicht Ellenies bevorzugter Wohnort gewesen, aber von der Dunkelheit einmal abgesehen, waren die Besuche dort weder furchteinflößend noch beängstigend.

Allerdings waren die Krieger riesige Männer, die die meisten Magier um mindestens einen Kopf überragten. Auch von ihrem Körperbau her waren sie kräftiger als die feingliedrigen Menschen. In jeder Bewegung der Krieger konnte man unterdrückte Kraft erkennen. Sie waren den Magiern eindeutig körperlich überlegen. Ellenie fand das faszinierend, aber viele Magier fürchteten sich genau deshalb vor ihnen. Die Krieger gingen Ellenie in der Regel aus dem Weg, lediglich Doron kannte sie näher, aber auch er war äußerst schweigsam. Ihr Eindruck war, dass sie sich nicht allzu sehr für die Menschen interessierten, während die Menschen allein beim Anblick der Krieger bleich wurden.

Ellenie wusste, dass sie es ihrem Vater zu verdanken hatte, dass sie noch am Leben war. Er hatte mit Doron eine Vereinbarung geschlossen, die es ihr ermöglichte, am Leben zu bleiben. Sie bekam sein Blut. Und was bekam Doron?

Einmal hatte sie es gewagt, ihren Vater danach zu fragen. König Yathel war ein ruhiger, besonnener Mann, doch als sie den Namen des Kriegers aussprach, verfinsterte sich seine Miene und er wurde sehr einsilbig. Daraufhin wagte sie es nicht mehr, ihn danach zu fragen.

Es wussten nicht viele Magier von diesem Arrangement. Von den Hohen Magiern, die bei Ellenies Geburt im Amt gewesen waren, war nur noch Euricael am Leben. Auf Sodaar wussten auch nur wenige Bedienstete Bescheid. Einmal hatte sie Dorons Namen in Surridas Anwesenheit erwähnt und ihre Zofe hatte panisch eine Schale fallen lassen. Deshalb hatte Ellenie beschlossen, es wäre besser, wenn sie nicht mehr darüber sprach.

Es war ein warmer Tag. Ein angenehmes Lüftchen wehte über die Wiese hinter der Festung. Ellenie verweilte etwas länger zwischen den wunderbar duftenden Blumen und sah einem Dreckkäfer zu, der seines Weges ging. Die farbenfrohen Blüten zu berühren und die Insekten über ihre Hand laufen zu lassen, erfüllte sie mit einer ungewöhnlichen Ruhe. Tief in ihr steckte doch eine Naturverbundene, auch wenn sie nicht die magischen Fähigkeiten ihres Vaters geerbt hatte. Stattdessen waren die Gene ihrer Mutter dominant hervorgetreten und Ellenie beherrschte die Fähigkeit der Heilung.

Einst hatten die Götter gewettet, wer den schönsten Magier erschaffen konnte. Daraufhin erschuf einer die Heiler, ein anderer die Techniker, ein weiterer die Kreativen und noch einer die Naturliebenden. Und sie gaben diesen Götterkindern den Auftrag, über die Magier zu wachen. Diese erschufen die Familien und beschenkten sie mit den Fähigkeiten der Götter. Und so erwählte sich jedes Haus einen Schutzgott, in Ellenies Fall die Göttin Balfalya, die für Krieg, Ernte, aber auch Krankheiten und Strafen zuständig war. Aber die Gaben der Götter waren vielfältig und so wurde bei jedem neuen Magierkind mit Spannung erwartet, welche Fähigkeiten es in sich trug.

Langsam näherte sich Ellenie der Drachenhöhle, als sie auf einem Findling halb versteckt hinter einem Stachelnussbusch einen jungen Mann sitzen sah. Neugierig ging sie auf ihn zu und erkannte einen der Krieger. Sie wusste kaum etwas über ihn, hatte ihn aber schon öfter gesehen. Im Gegensatz zu den anderen Kriegern sah er um einiges jünger aus.

Als er Ellenie sah, sprang er auf und ließ etwas fallen.

„Ich wollte dich nicht erschrecken“, beeilte sich Ellenie zu versichern.

Er wich noch einen Schritt zurück, brachte mehr Abstand zwischen sie.

Ellenie sah eine abgeknickte Pflanze, die er in den Händen gehalten hatte und die zu Boden gefallen war. Sie bückte sich und hob sie auf.

„Hast du sie gepflückt?“, fragte sie und konnte den vorwurfsvollen Ton nicht ganz verbergen. Die Fingerblume, die ihren Namen dank der Assoziation ihrer Blütenblätter mit Fingern erhalten hatte, war keine Nutzpflanze, sondern sie war nur zur Zierde da. Ellenie empfand es als Verbrechen, der Pflanze das Leben zu rauben, um sich einen kurzen Moment an ihrer Schönheit zu erfreuen, ehe sie verwelkte und starb.

„Nein!“, stieß der junge Krieger da barsch hervor.

„Wenn mein Vater hier wäre, könnte er die Blume retten“, sagte Ellenie. Sie bedauerte, nicht in der Lage zu sein, der Pflanze neue Wurzeln wachsen zu lassen.

Als sie aufblickte, sah sie, dass der junge Krieger sie entsetzt anstarrte, als hätte er ein Verbrechen begangen.

„Ist er in der Nähe?“, fragte er beinahe ängstlich.

Sie spürte die Abwehr, die ihr Gegenüber ihr entgegenbrachte und die Panik, die die Erwähnung ihres Vater ausgelöst hatte.

Sie bedauerte, was ihre gedankenlosen Worte bei dem jungen Krieger angerichtet hatten. „Nein.“ Ellenie schüttelte den Kopf. „Er ist in der Festung. Wir haben viele Gäste, da hat er keine Zeit, die Natur zu genießen.“

Der junge Mann entspannte sich merklich. Ellenie setzte sich auf den Findling und genoss den Ausblick auf die herrliche Blumenwiese.

„Ich bin Ellenie“, stellte sie sich vor, ohne ihn anzublicken.

„Ich weiß.“ Er stand immer noch reglos da, starrte sie jedoch mit großen Augen an.

Warum hatten sie sich bisher nie unterhalten? Er wirkte nicht furchteinflößend, wie die anderen Krieger, eher wie ein Watschelhuhn, das seine Mutter verloren hatte und nun nicht wusste, wohin.

Aufmunternd lächelte Ellenie ihm zu. „Du kannst dich gerne neben mich setzen.“ Sie wies auf den Platz neben sich.

„Du bist eine Magierin.“

„Na und?“ Sie lächelte ihn weiterhin an.

Zögerlich kam der junge Mann näher und ließ sich vorsichtig mit einem gewissen Abstand zu ihr auf dem Felsen nieder.

„Wie heißt du?“ fragte Ellenie, nachdem er es immer noch nicht für nötig befunden hatte, sich vorzustellen.

„Jadoch.“

„Ein ungewöhnlicher Name“, stellte sie fest. Die Namen der männlichen Magier endeten auf -„el“. Auch Männernamen mit der Endungen -„im“ oder -„an“ waren ihr geläufig. Der Name passte jedoch in keine der ihr bekannten Kategorien, ebenso wenig wie Dorons. 

„Es ist wirklich schön hier“, sagte Ellenie und hoffte, die Stimmung ein wenig aufzulockern. „Die Blumen riechen wundervoll.“

„Hm ...“

Ellenie schielte zu ihm hinüber. „Findest du nicht?“

Du riechst gut und du stinkst gleichzeitig.“

Unmerklich verspannte sie sich. Sie hatte sich am Morgen gewaschen, es war unmöglich, dass sie stank.

„Nein, so meinte ich das nicht“, versicherte Jadoch ihr hastig. „Du riechst wirklich sehr gut, aber …“

Jetzt war ihre Neugier geweckt und sie blickte den jungen Krieger fragend an. „Aber?“, hakte sie nach, als er nicht weitersprach.

„Du riechst krank.“

Sie hatte nicht gewusst, dass man ihre Krankheit riechen konnte. „Du kannst das riechen?“

„Wir riechen sehr gut.“

Er musste ihr nicht sagen, dass er von den Kriegern sprach. Sie waren anders als die Magier, anders als die Niederen. Sprachlos starrte sie Jadoch an. Wenn alle Krieger eine so feine Nase hatten, dann konnte auch Doron ihre Krankheit riechen. Es war ihr unendlich peinlich. „Das wusste ich nicht.“ Sie versuchte, ihre Bestürzung zu verbergen.

„Da gibt es wohl eine Menge ...“, murmelte Jadoch mehr zu sich selbst, als zu ihr, doch Ellenie hatte ihn verstanden.

„Zum Beispiel?“

Abwehrend zuckte er mit den Schultern.

Es stimmte. Sie wusste so wenig über ihn und seine Art, obwohl sie Doron alle zwei Tage aufsuchte. Stets gingen ihr die Krieger aus dem Weg. Sie wollte gerade einen erneuten Versuch starten, mehr aus Jadoch herauszukitzeln, als das Aufheulen einer Sirene sie unterbrach.

Sie sprangen beide auf und starrten alarmiert nach oben. Sie wurden angegriffen. Ausgerechnet jetzt, in den Tagen der Mos. Hastig sah Ellenie sich um. Sie mussten schnellstmöglich einen sicheren Unterschlupf finden, bevor die Harpyien Sodaar erreichten. Auf der Wiese wären sie ein leichtes Ziel. Nicht auszudenken, was passierte, wenn die Harpyien sie hier erwischten.

 Panisch sah Ellenie sich um. Was war der kürzeste Weg zu einem sicheren Versteck?

„Komm mit!“, drängte Jadoch sie, ergriff ungefragt ihre Hand und zog sie ungeduldig mit sich.

Panik keimte in Ellenie auf. Harpyien waren die schrecklichsten Kreaturen, die man sich vorstellen konnte. Sie kamen aus dem Nichts herangeschossen und schlugen ihre Zähne in jeden, der nicht rechtzeitig fliehen konnte. Mit ihren Klauen griffen sie sich ihre Opfer und verschleppten sie nach Aspain, wo sie angeblich versklavt wurden. Oder auch Schlimmeres mit ihnen geschah. Genau konnte das niemand sagen, denn es war noch nie jemand von dort zurückgekehrt. 

Rücksichtslos zog Jadoch Ellenie über die Wiese. Sie rannte, so schnell sie konnte. Hier auf dem offenen Feld waren sie eine leichte Beute. Jadoch wäre ohne sie viel schneller gewesen. Als Krieger besaß er durch das regelmäßige Training eine gute Kondition. Im Gegensatz zu Ellenie, die das Gefühl hatte, ihre Lungen würden jeden Moment kollabieren. Doch der Krieger ließ weder Ellenies Hand los noch wich er von ihrer Seite. Es war nicht mehr weit, bald hätten sie die Drachenhöhle erreicht.

Über ihren Köpfen surrte es, und als Ellenie den Kopf hob, erkannte sie einen der Krieger im Fluganzug. Wo sie waren, waren die Harpyien in der Regel nicht weit. Seine Waffe, einen Magiestab, hielt er einsatzbereit.

„Schneller!“, trieb Jadoch sie an.

Ellenie stolperte und einzig und allein Jadochs Griff verdankte sie es, dass sie nicht zu Boden fiel. Sie fing sich auf und rannte weiter, das Brennen in ihren Lungen ignorierend.

Das markerschütternde Kreischen einer Harpyie war zu hören. Ellenie wagte nicht, sich umzudrehen, wollte die Angreifer nicht sehen. Nur noch wenige Schritte, dann waren sie in Sicherheit.

„Wir haben die Höhle gleich erreicht“, spornte Jadoch sie noch einmal an.

Etwas zischte über ihre Köpfe hinweg. In letzter Sekunde zog der junge Krieger Ellenie mit einem kräftigen Ruck in die Höhle. Zitternd drückte Ellenie sich gegen die kahle Felswand und schloss die Augen. Sie war am Leben.

„Hier bist du in Sicherheit“, erklärte Jadoch. Dabei schien er nicht einmal ein klein wenig außer Atem zu sein.

Ellenie dagegen keuchte immer noch heftig. „Danke“, stieß sie atemlos hervor.

Wie aus dem Nichts tauchte im Laufschritt ein grauhaariger Krieger auf, dicht gefolgt von Doron. Der Grauhaarige lief an ihnen vorbei, Doron dagegen verlangsamte sein Tempo.

„Wo bist du gewesen?“, schnauzte er Jadoch an. Dorons Blick fiel auf Ellenie und seine Miene verdüsterte sich. Sich unwohl fühlend, sah sie zu Jadoch hinüber, der ertappt den Kopf senkte.

„Schau, dass du in die Abflughalle kommst“, schickte Doron den Krieger fort.

Jadoch nickte und rannte hastig davon.

Ellenies Puls begann sich langsam wieder zu normalisieren und sie wollte gerade ansetzen, Doron zu erklären, dass sie Jadoch ihr Leben verdankte, als er sie unterbrach: „Du kannst in meinem Zimmer warten!“, knurrte er und machte sich dann in das Innere der Höhle davon.

Ellenie blieb verdutzt stehen und starrte ihm hinterher. So ein Benehmen war sie nicht gewöhnt. Sie war die Königstochter, sie ließ man nicht einfach stehen. Doron hatte im Moment mit Sicherheit Wichtigeres zu tun, als sich um sie zu kümmern, schließlich musste er seine Leute organisieren. Dennoch verunsicherte sie sein Verhalten. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Sie sprachen kaum miteinander, das war schon immer so gewesen, und Ellenie hatte das Gefühl, er hielt mit Absicht einen gewissen Abstand zu ihr. Aber gleichzeitig, wenn sie von ihm trank, war er ihr so unsagbar nahe und dann war er sanft, beinahe zärtlich. In seiner Nähe fühlte sie sich beschützt.

Sie atmete tief durch und ging zu der Tür, hinter der Dorons Zimmer lag. Die Holztür befand sich ein Stück tiefer in der Drachenhöhle. Die Räumlichkeiten waren ihr vertraut. Es war der einzige Raum, den sie in dieser unterirdischen Höhle je betreten hatte.

Vom Eingang der Höhle her hörte sie das Geschrei der Harpyien und war dankbar, hier unten in Sicherheit zu sein. Langsam ging sie weiter hinein und öffnete die Tür zu Dorons Zimmer. Mit einer einfachen Handbewegung entzündete sie die Fackeln an den Wänden. Hier unten gab es keine Fenster und Ellenie fragte sich, warum es keine magischen Lichter gab. Es wäre so viel einfacher gewesen, als immer die Feuerfackeln entzünden zu müssen. Ihr als Magierin fiel es nicht schwer, diese zu entzünden, aber sie hatte gesehen, wie lange Doron brauchte, um die fünf Fackeln an den Wänden in Brand zu stecken. Auch wenn die Krieger selbst keine Magie besaßen, waren die Wandlichter so konzipiert, dass selbst Niedere, Personen ohne einen Funken Magie, diese entzünden konnten. Abgesehen davon, dass es praktischer gewesen wäre, hätten magische Lichter auch mehr Helligkeit in die dunklen Gewölbe gebracht.

Ellenie sah sich um. Alles war wie gewohnt. Kein Luxus, die Einrichtung war karg, ein massives Holzbett mit weißen Bettlaken, eine Truhe und eine Kommode, die Ellenie bis zu den Hüften reichte. Es standen oder lagen keine persönlichen Gegenstände herum. Im Eck war eine Tür eingelassen und sie vermutete, dass dahinter das Bad lag. Mehr gab es nicht.

Auf das Bett zu setzen, traute sich Ellenie nicht. So lehnte sie sich an die Kommode und wartete auf Doron.

KAPITEL 2


Ein Angriff bedeutete immer Stress. Während seine Männer in die Abflughalle rannten, um in die Fluganzüge zu steigen, blieb Doron mit Ealwen in der Kommandozentrale zurück, um die Verteidigung zu koordinieren. Doron flog nicht, weil dies ein Teil der Vereinbarung war, die er mit König Yathel geschlossen hatte, der sichergehen wollte, dass Doron weiterhin überlebte und damit auch das Leben seiner Tochter sicherte.

Ealwen war seinerseits ein brillanter Stratege und andererseits in der Luft nicht mehr so beweglich wie die jüngeren Drachen. Ealwen zu verlieren, kam nicht in Frage. Sie waren ohnehin viel zu wenige, als dass sie auch nur auf einen verzichten konnten. Seit sie in das Höhlensystem gezogen waren, hatte Doron nur einen seiner Männer verloren. Kilgard, einen draufgängerischen Krieger, der sich allein mit einem ganzen Schwarm Harpyien angelegt und dies nicht überlebt hatte. Sie hatten ihn gepackt und er war nie wieder gesehen worden.

Dass Ellenie zum Zeitpunkt des Harpyienangriffs in der Höhle war, missfiel Doron. Dass sie mit Jadoch unterwegs gewesen war, missfiel ihm noch viel mehr. Was hatte der Jungspund mit Ellenie zu schaffen? Hatte er sich nicht klar und deutlich ausgedrückt? Die Kikar waren tabu und Ellenie war nicht nur eine von ihnen, sie war sogar eine Magierin. Und als ob dies alles noch nicht ausreichen würde, war sie auch noch die Tochter des Königs. Sie war gefährlicher als jeder Wächter, tödlicher als jeder Harpyienbiss. Sie mussten sich, soweit es ging, von ihr fernhalten – sie alle.

Zu wissen, dass sie auf ihn wartete, lenkte ihn ab. Er musste sich auf den Kampf konzentrieren, dafür sorgen, dass seine Männer wohlbehalten zurückkamen.

Ealwen war bereits voll in seinem Element, er hatte den Kommunikationspoint gestartet und die dreidimensionale Karte mit dem Abbild der Festung Sodaar und deren Umland aufgerufen. Durch ein magisches Netz, das jede Luftbewegung wahrnahm, wussten sie zu jeder Zeit, wo sich die Angreifer, dargestellt durch rote Punkte, und die Krieger, aktuell als blaue Punkte, befanden.

Ealwen stützte sich am Rand des Tisches ab und bellte unablässig Befehle in den Kommunikationspoint, der über der Karte schwebte. Dieser Point garantierte ihnen eine direkte Kommunikation mit den Kriegern in den Kampfanzügen. Doron trat auf die andere Seite des Tisches. Er griff nach einem zweiten magischen Handschuh, den er entweder bei sich trug, oder der, wie in diesem Fall, in der Kommandozentrale für ihn bereit lag, und tippte zwei blaue Punkte an, die sich bei Berührung gelb färbten. „Ich übernehme euch, Ajend und Barkley.“

„Aye“, hallte synchron von den Kriegern durch den Kommunikationspoint, der als Empfänger und Sender gleichermaßen fungierte.

Ealwen berührte den Punkt von Fondan. „Zwei von hinten.“

Einer der roten Punkte erlosch. „Getroffen!“, brüllte Fondan triumphierend. Der zweite rote Punkt entfernte sich.

Ein weiterer Punkt erschien, blinkte, bis Doron ihn berührte und er sich gelb färbte. Jadoch war einsatzbereit. Erneut berührte Doron Jadochs Punkt und gab ihm Einsatzbefehle.

Ealwens Hand schnellte nach vorne, stieß Dorons fort und übernahm Ajend und Barkley, während er ihnen hastig Befehle zubellte. Die Harpyien, die von überall her heranflogen und den beiden Kriegern gefährlich nahe gerückt waren, erloschen einer nach dem anderen.

„Du bist unkonzentriert!“, brüllte Ealwen Doron an.

Keiner seiner Männer wagte, so mit ihm zu sprechen, keiner außer Ealwen. Er war der Älteste von ihnen, ein Urgestein. Er war schon grauhaarig gewesen, als Doron noch ein kleiner Junge gewesen war. Ealwen hatte Dorons Aufstieg und Sturz als König miterlebt.

„Würdest du dich jetzt vielleicht konzentrieren?“, schnauzte Ealwen ihn erneut an. „Sonst schmeiße ich dich aus der Kommandozentrale!“

Den Anpfiff hatte er mehr als verdient. Wenn Ealwen nicht aufgepasst und seinen Job übernommen hätte, hätten sie jetzt mindestens einen oder sogar zwei Krieger verloren.

Doron riss sich zusammen. Verdrängte alle Gedanken an Ellenie und Jadoch in den hintersten Winkel seines Gehirns. Ealwen hatte recht, er musste sich konzentrieren.

„Ich übernehme“, informierte er Ealwen und wies Ajend und Barkley wieder seiner Farbe zu. Ealwen kümmerte sich in der Zwischenzeit um Fondan und Ishul, die einen Doppelangriff starteten. Der Alte behielt aber weiterhin den Überblick und Doron spürte seinen kontrollierenden Blick. Noch immer standen sie sich gegenüber, die dreidimensionale Karte von Sodaar und dessen Umland zwischen ihnen. Doron war jetzt konzentrierter, kommandierte seine Leute mit gewohnter Routine und so dauerte es nicht lange, bis die Anzahl der Harpyien deutlich abnahm, bis schließlich alle verschwunden waren.

„Wuhuuu!“, hörte er Fondans übermütiges Schreien und konnte sich lebhaft vorstellen, wie der Krieger im Fluganzug einen Looping flog.

Alle fünf Krieger waren am Leben – und unverletzt. So langsam spürte Doron die Müdigkeit und ließ sich auf den Hocker sinken.

„Kommt zurück!“, befahl Ealwen und schaltete den Kommunikationspoint aus. Die dreidimensionale Karte und die Punkte der Krieger erloschen.

„Danke!“, murmelte Doron und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er fühlte sich furchtbar. Je länger er über seinen Fehler nachdachte, umso wütender wurde er. Er war zu nichts zu gebrauchen.

„Wir alle haben heute gute Arbeit geleistet“, entgegnete Ealwen und schlug Doron im Vorbeigehen auf die Schulter. „Geh zu ihr, solange die anderen noch nicht da sind. Sie bringt immer so viel Unruhe mit.“

Unwillkürlich verspannte sich Doron. Ellenie befand sich in seinem Zimmer und wartete auf ihn. Diese Unruhe verdankten seine Männer ihm. Die Drachen waren miteinander auf einer geistigen Ebene verbunden und Ellenie sorgte dafür, dass Doron unausgeglichen war. Das übertrug sich auf seine Leute. Umso weiter sie voneinander entfernt waren, umso weniger bekamen die anderen von seinem Gemütszustand mit. Und da er heute noch schlimmer drauf war als bei Ellenies bisherigen Besuchen, war es sicher gut, die Magierin schnellstmöglich wieder loszuwerden. Er hatte noch etwas Zeit, ehe seine Leute aus der Abflughalle zurückkehrten. So lange benötigten sie, um die Kampfspuren zu beseitigen und die Fluganzüge wieder einsatzbereit zu machen.

Doron wollte sich gerade auf den Weg zu seinem Zimmer machen, als Jadoch plötzlich auftauchte. Doron starrte den jungen Krieger an, seinen Sohn. Dennoch waren sie sich fremd. Er hatte nie der Vater sein können, den der Junge verdient hatte und irgendwann war es einfach zu spät gewesen. Ajend, sein Stellvertreter, war für den Jungen viel mehr ein Vater, als Doron es je hatte sein können. Das schmerzte, war jedoch nicht zu ändern.

Jadoch senkte schuldbewusst den Blick und Doron ahnte, warum er gekommen war. Es war eines dieser Gespräche, die er zutiefst verabscheute, denen er gerne aus dem Weg ging. Emotionen schwappten zu ihm hinüber. Er spürte die Sympathie, die der junge Drache für das Magiermädchen empfand. Er konnte Jadoch keinen Vorwurf machen, dennoch würde er alles daransetzen, dass der Junge sich von Ellenie fernhielt.

„Ich mag sie“, sagte Jadoch und wagte es, Doron direkt anzublicken.

Doron spürte nur zu deutlich wie sehr Jadoch Ellenie mochte. Er ballte die Hände zu Fäusten. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Sie war eine Kikar, eine Magierin und sie war ...

„Sie ist nicht wie die anderen“, erklärte der junge Krieger.

Schweigend starrte Doron ihn an. Der Kerl hatte keine Ahnung, worum es ging. Mit seinen achtundsiebzig Jahren war er damals noch nicht geboren gewesen und wusste daher nicht, was geschehen war.

„Finger weg!“, sagte Doron mit dunkler Stimme und ging an Jadoch vorbei.

„Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden, mit wem ich mich unterhalte!“, rief Jadoch ihm aufgebracht hinterher.

Doron fuhr herum. „Sie ist tabu! Ich will sie nie wieder in deiner Nähe sehen. Haben wir uns verstanden? Was hattest du überhaupt mit ihr zu schaffen?“

„Wir haben uns auf der Wiese getroffen.“

Dorons Augen verengten sich zu Schlitzen. „Was hast du überhaupt auf der Wiese zu suchen gehabt?“

Ertappt senkte Jadoch den Kopf. Doron spürte, dass da etwas in dem Jungen war, das ihm fremd war. So sehr Jadoch ein Teil von ihm war, floss durch seine Adern auch noch etwas anderes. Gut, dass der junge Krieger davon keine Ahnung hatte. Doron fürchtete den Tag, an dem die Wahrheit ans Licht kam.

 „Die Wiese gehört zu Sodaar. Du kennst die Regeln und wenn du dich nicht daran hältst, fliegst du hier raus.“ Die Drohung war hart, aber Doron konnte sich keine Kompromisse leisten. Er musste sich zu hundert Prozent auf seine Leute verlassen können.

„Das wagst du nicht.“

Warnend zog Doron eine Augenbraue nach oben und Jadoch verstummte augenblicklich. Er war Doron. Zwar mochte er kein König mehr sein, aber dennoch befehligte er seine Männer.

„Sollte ich noch einmal mitbekommen, dass du meine Befehle missachtest, werde ich meine Klinge in Harpyienblut tränken und sie dir in die Rippen stoßen. Danach kannst du in Sodaar darum betteln, im Kerker zu schlafen.“ Damit ließ er Jadoch stehen und marschierte aufgebracht davon.


* * * 


Es war tatsächlich gut, dass die anderen Krieger noch nicht wieder in der Höhle waren. Doron war noch immer aufgebracht, als er die Tür zu seinem Zimmer aufstieß und Ellenie erblickte. Er verharrte einen Augenblick, konnte nicht anders, als sie anzustarren.

Sie war wunderschön. Für eine Magierin ziemlich groß gewachsen, dennoch ging sie ihm nur bis zur Schulter. Das rote Kleid schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Oberkörper, betonte ihre kleinen Brüste aufs Vortrefflichste und ließ ihn wünschen, sie in seine Arme ziehen zu können. Er kämpfte gegen das aufsteigende Verlangen an, musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass es Ellenie war, die vor ihm stand. Sie war die Tochter des Königs, das todkranke Mädchen, das nur durch sein Blut überlebte.

Doch das verträumte Mädchen mit den roten Zöpfen und den Sommersprossen, das sich am liebsten hinter einer Lesetafel vergrub und auch bei seinen Besuchen kaum den Lesestoff aus der Hand legen konnte, gab es nicht mehr. Sie war zu einer jungen Frau herangewachsen. Zu einer wunderschönen, begehrenswerten Frau, die einer anderen so ähnlich sah, dass es Doron immer wieder in Erstaunen versetzte. Dasselbe rotglänzende Haar, dieselben zarten Gesichtszüge und die unwahrscheinlich schönen, eisblauen Augen, die ihn in diesem Augenblick ansahen.

Er gab sich einen Ruck und trat ein.

„Es tut mir leid, dass ich ungelegen gekommen bin“, entschuldigte sie sich.

Wie kam sie auf diese Idee? Laut ihrem Vater kam sie nie ungelegen. Alles was er tat, musste er Ellenie unterordnen. Sie war seine oberste Priorität. So hieß es in dem Vertrag, den er mit König Yathel geschlossen hatte. „Lass uns anfangen“, sagte er.

Er trat weiter in den Raum hinein, zog die magischen Handschuhe aus, die ihm erlaubten Magie zu wirken, obwohl er soviel Magie wie ein Stück Holz besaß.

„Ich muss auch schnell zurück nach Sodaar“, erklärte Ellenie und machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu. „Geht es allen gut?“, fragte sie beinahe ängstlich.

„Meine Krieger erfreuen sich bester Gesundheit.“ Was auf Sodaar passiert war, wusste er nicht, aber er ging davon aus, dass dort mehr Verluste zu beklagen waren.

„Das freut mich.“

Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu ergründen, ob Ellenie die Worte ernst meinte oder ob sie die leeren Floskeln einer Magierin waren.

Mit einer wegwerfenden Handbewegung schleuderte er den Handschuh auf das Bett. Er spürte aufkeimende Wut in sich – völlig unbegründet, konnte sie aber auch nicht einfach abschalten. Ellenie ging ihm unter die Haut. Daran konnte er nichts ändern, so sehr er sich auch jedes Mal ins Gedächtnis rief, dass sie nicht Florenie war. Ellenie hatte nie etwas getan, was ihm geschadet hätte. Dennoch konnte er das Vergangene nicht einfach ausblenden. Die Erinnerungen holten ihn ein, wann immer er sie sah.

Wortlos streifte er sein Hemd ab und warf es ebenfalls aufs Bett. Sehnlich wünschte er sich die Unbefangenheit der früheren Jahre zurück. Einst hatte er sie auf seinem Schoß gehabt, wenn sie von ihm trank, doch das hatte er vor einiger Zeit unterbunden. Er war ein Mann und sein Körper reagierte nur allzu bereitwillig auf die betörende Schönheit Ellenies. Sie durfte nie erfahren, welche Macht sie über ihn besaß. Er versank in ihren Augen, die noch immer so unschuldig wie die eines Kindes waren. Eines Tages würde ihr ein Mann diese Unschuld nehmen, würde sie unwiderruflich zu einer Frau machen. Das kleine Mädchen hatte er bereits verloren, die Frau würde ihm nie gehören.

Mit einem Lächeln trat Ellenie auf ihn zu. Im Gegensatz zu ihm schien sie keine Probleme in seiner Gegenwart zu haben. Unzählige Male hatte sie ihn schon mit entblößtem Oberkörper gesehen, hatte ihn berührt und dabei keine Ahnung gehabt, welches Feuer sie in ihm entfachte.

Der vertraute Geruch von Holz gepaart mit Fäulnis hüllte ihn ein. Ihr Duft war ihm inzwischen so vertraut wie sein eigener und er wusste, dass, wenn sie von ihm getrunken hatte, nur der süße Duft von Ebenholz übrig bleiben würde. Ihr Geruch war dann lieblich, so klar, ganz anders als der Florenies. Sie hatte wie ein opulentes Blumenbukett geduftet. Es war immer ein Hauch zu viel gewesen. Auch wenn sich Vergangenheit und Realität vermischten: Während er den Blumengeruch abgrundtief hasste, verband er mit Ebenholz nur gute Erinnerungen.

Ellenie stand vor Doron und sah ihn abwartend an. Er zog den Dolch aus seinem Gürtel und umrundete Ellenie, sodass er hinter ihr stand. Dann streckte er seinen rechten Arm vor und umfing sie. Mit der anderen Hand führte er den Dolch an seinen Unterarm und ritzte sich. Der vertraute Schmerz floss durch seine Glieder und er ließ die Hand mit dem Dolch sinken, während Ellenie mit beiden Händen nach seinem Arm griff und die Wunde zu sich zog. Er spürte ihre Lippen auf seinem Arm und wie sie zu saugen begann.

Verschwunden war alle Wut auf sie, was blieb war pures Begehren. Er schloss die Augen, konzentrierte sich ganz auf ihren Duft, versuchte, sich klarzumachen, dass es nicht Florenie war, die er festhielt. Das mochte einst funktioniert haben, aber über diesen Punkt war er längst hinaus. Er biss sich auf die Lippen, um ein Aufstöhnen zu unterdrücken. Sein Schwanz war hart und mit jedem Schluck, den sie nahm, wünschte er sich mehr, ihren Mund an anderen Stellen auf seinem Körper zu spüren. Wenn er sie nur ein wenig nach vorne bog und ihr Kleid nach oben schob, hätte er einen wunderbaren Zugang zu ihrem schönen Körper. Sie konnte weitertrinken, während er sich von hinten in sie schob.

Nach Atem ringend schloss er die Augen und verharrte reglos. Die Folter schien sich endlos in die Länge zu ziehen und so sehr er sich ein Ende wünschte, umso mehr sehnte er bereits das nächste Mal herbei.

Ellenie ließ ihn los. Hastig zog er seinen Arm zurück und floh regelrecht ans andere Ende des Raumes. Es war gut, dass er Distanz zwischen sie brachte, denn sonst hätte er sie an sich gezogen und sie geküsst. Er wollte seinen Geschmack auf ihren Lippen schmecken, wollte ...

„Ich werde in Sodaar erwartet“, unterbrach sie seine Gedanken und er war beinahe dankbar dafür.

„Natürlich.“ Seine Stimme war viel zu rau.

Sie ging zu Tür.

Wenn er jetzt nichts sagte, würde sie einfach verschwinden.

„Ellenie?“

Überrascht drehte sie sich zu ihm um und sah ihn fragend an.

„Geh Jadoch aus dem Weg.“

Ihre Augen weiteten sich unmerklich. Dann sah er die Veränderung. Eine gewisse Entschlossenheit spiegelte sich in ihren Pupillen.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

Die Ellenie, die jetzt vor ihm stand, war eindeutig die Prinzessin von Usha. Sie nahm keine Befehle an und sie beide wussten, er hatte nicht das Recht, ihr Anweisungen zu geben. Sie gehörte dem Königshaus an, er war lediglich ein Gefangener, auch wenn er keine Ketten mehr trug. Aber es war egal, wie groß ihre Standesunterschiede waren, es war wichtig, dass sie sich von Jadoch fernhielt.

„Es ist zu seinem Besten“, schob er deswegen nach.

„Und darüber hast du zu entscheiden?“ Herausfordernd legte sie den Kopf schief und lächelte ihn in ihrer unnahbaren Art an.

Sie war zu jung, um zu verstehen, welche Tragweite hinter seinen Worten steckte. Sie begriff einfach nicht, was davon abhing, und er konnte und wollte es ihr nicht sagen. Nicht einmal Jadoch wusste es.

„Er ist mein Sohn.“ Die Worte waren ihm entschlüpft, ehe er es hatte verhindern können und er war froh, dass dies nur ein Teil des Geheimnisses war.

Vor Überraschung öffnete Ellenie ihren Mund und schloss sie gleich darauf wieder.

Nein, sie hatte es nicht gewusst. Ihre Reaktion war eindeutig. Und da gab es noch so viel mehr, was sie nicht wusste, was in Vergessenheit geraten war. Doron starrte sie an. Sie war keine Verbündete, sie war der Feind. Das musste er sich nur immer wieder ins Gedächtnis rufen.

„Ich muss jetzt gehen!“, erklärte Ellenie mit einem Mal hastig und verschwand, ehe er sie erneut aufhalten konnte.

Reglos stand Doron da und starrte die Tür an. Er hatte ihr ein Geheimnis offenbart, das nur wenige kannten. Eigentlich hatte er ihr das nicht anvertrauen wollen. Je weniger die Menschen über Jadoch und ihn Bescheid wussten, umso besser war es. Er konnte nur hoffen, dass Ellenie es nicht weitererzählte. Es hatte lange gedauert, bis es in Vergessenheit geraten war. Jadochs Geburt lag lange Zeit zurück und kaum jemand, der zu dieser Zeit in Sodaar gedient hatte, lebte noch. Die Lebenszeit der Menschen war so viel kürzer als die der Drachen und das war ihre einzige Waffe.

Eines Tages, wenn ihre Anwesenheit vollkommen in Vergessenheit geraten war, würden die Drachen sich das zurückholen, was ihnen gehörte.

KAPITEL 3


Ellenie war froh, als sie endlich zur Festung zurückkehren konnte. Die Stimmung in der Drachenhöhle war merkwürdig aufgeladen gewesen. In letzter Zeit hatte sie schon bemerkt, dass Doron sich ihr gegenüber seltsam abweisend verhielt. Er war noch nie gesprächig gewesen.

Als kleines Mädchen hatte sie sich immer vorgestellt, er wäre ihr heimlicher Beschützer. Instinktiv hatte sie damals schon gespürt, dass die Erwachsenen und gerade die Hohen Magier ziemlichen Respekt vor dem Krieger hatten. In Ellenies Träumen war er derjenige gewesen, der ihrem Vater die Meinung sagte, nachdem der mit ihr geschimpft hatte. Wenn sie sich ungerecht behandelt gefühlt hatte, war Doron ihr zu Hilfe gekommen, ihr Held in strahlender Rüstung.

Mit zunehmendem Alter hatte sie einsehen müssen, dass Doron nicht so war. Stattdessen hatte sie sich gewünscht, er wäre ihr Vater. Sie hatte immer gedacht, er hätte keine Familie. Dass er jetzt doch einen Sohn haben sollte – und dass dies ausgerechnet Jadoch sein sollte – schmerzte sie auf eine Art und Weise, die ihr so fremd war, dass sie das Gefühl nicht näher benennen konnte.

Nun, dann hatte er eben einen Sohn. Das erklärte die Distanz, die seit kurzem zwischen ihnen herrschte, auch nicht. Fakt war, sie hatte sich in Dorons Nähe immer wohl gefühlt, beschützt. Jetzt war das anders. Immer, wenn sie bei ihm war, hatte sie das Gefühl, unerwünscht zu sein, und das tat weh.

Er hatte nie Einzelheiten über den Pakt mit ihrem Vater erwähnt. Ebenso wie ihr Vater schwieg auch Doron darüber, dennoch wusste sie, dass ihr Überleben der Preis war, den der Anführer der unsterblichen Krieger für seine Freiheit und die seiner Krieger zahlte. Ellenie blinzelte die Tränen fort. Das Wissen darüber, dass Doron sie nur ertrug, weil er musste, stimmte sie traurig.

Als Ellenie vorhin über die Wiese gelaufen war, war alles friedlich gewesen. Der blaue Himmel, die blühenden Blumen und der herrliche Duft nach Freiheit. Jetzt roch es nach verkohltem Holz und das Wehklagen und die Schreie der Verletzten drangen an ihr Ohr. Es war ein großer Angriff gewesen und wieder hatten die Feuerstöße der Magier nicht nur Harpyien, sondern auch Häuser entzündet. Ellenie beeilte sich, die Festung zu erreichen. Durch einen Seiteneingang schlüpfte sie in das Innere der Mauer. Ein schmaler Gang führte von dort in den Innenhof.

Das Bild, das sich ihr bot, war erschreckend. Überall waren Verletzte – Magier, Begnadete und Niedere. Das Haus, in dem die Schlafsäle für die Niederen gewesen waren und das bei Angriffen als Krankenstation genutzt wurde, war nur noch ein verkohltes Gerippe. Immerhin hatte das Feuer gelöscht werden können. Eine Frau versuchte, einen Wächter zu stützen. Doch dieser war zu schwer und beide schwankten beträchtlich. Ellenie eilte zu ihnen und legte sich den Arm des Mannes über die Schultern, um ihn halten zu können.

„Prinzessin“, hauchte die Frau ehrfürchtig. Sie hatte ein freundliches, rundliches Gesicht, das von tiefen Falten durchzogen war. Unter der Haube lugten graue Haare hervor. Ihr einfaches Baumwollkleid wies sie als Niedere aus.

„Wohin mit den Verletzten?“, fragte Ellenie und sah sich suchend um.

Die Frau deutete mit einem Kopfnicken Richtung Hauptgebäude. Dort lagen die Wirtschaftsräume und unter anderem auch der Speisesaal der Niederen. „Einige Verletzte haben sie bereits dorthin gebracht.“

Ellenie warf einen Blick auf den Wächter, der zwischen ihnen hing und kaum ansprechbar war. Seine rechte Seite war von Blut rot verfärbt und Ellenie hoffte, dass es kein Harpyienbiss war. Diese waren wesentlich schwerer zu heilen als einfache Wunden, denn es kam darauf an, wie viel Gift aus dem Speichel der Harpyie in den Körper eingedrungen war. 

„Bringen wir ihn hinüber“, entschied Ellenie.

Sie kamen nur langsam vorwärts. Der Krieger war schwer und die Frau auf der anderen Seite war ebenfalls verletzt und humpelte leicht.

„Wie heißt du?“, wollte Ellenie wissen.

„Gelda, Prinzessin.“

Der Wächter zwischen ihnen stöhnte.

„Weißt du, wer er ist, Gelda?“

Die Niedere schüttelte den Kopf. Ellenies Bewunderung für die Frau stieg. Sie war eine Niedere, kannte diesen fremden Wächter nicht, der in der Rangordnung mindestens ein Begnadeter war und damit weit über ihr stand. Dazu war sie selbst verletzt und dennoch half sie dem Mann. Und so war es nicht nur in Geldas Fall. Egal, wohin Ellenie blickte, überall strömten die Menschen zusammen, egal aus welcher Schicht, und brachten Verletzte aus allen Teilen der Festung. Das Gedränge wurde dichter und schließlich ging nichts mehr vorwärts. Ellenie und Gelda standen ein paar Meter vom Haupthaus entfernt und konnten es doch nicht erreichen.

„Warum geht es nicht weiter?“, rief eine Frau hinter Ellenie.

„Kein Platz mehr“, war die Antwort von weiter vorn.

Ellenie sah sich suchend um. Das konnte doch nicht sein. Den Menschen musste geholfen werden. Es konnte doch nicht sein, dass es keinen Platz mehr für sie gab. Es waren viele, so unendlich viele.

Die Minuten verstrichen. Nichts tat sich. Sie standen da und warteten, dass es weiter ging. Immer wieder hob Ellenie den Kopf, beobachtete den Himmel. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Harpyien ein zweites Mal angriffen. Doch zum Glück war über ihnen nichts Außergewöhnliches zu sehen.

Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge.

„Was ist los?“, wollte ein Mann, der zwei Reihen hinter Ellenie stand, wissen.

„Sie lassen nur noch Magier ins Haus“, kam wiederum von vorn die Antwort.

„Warum?“ Die Worte waren über Ellenies Lippen gekommen, ehe sie es verhindern konnte.

Prompt beantwortete jemand ihre Frage: „Sie haben keinen Platz mehr. Zuerst werden die Magier geheilt, dann die Begnadeten.“

„Also können wir uns darauf einstellen, dass wir keine Hilfe bekommen“, brummte ein Mann niedergeschlagen.

Eine Frau begann zu weinen.

Ellenie blickte sich um, sah all das Leid und die Verzweiflung. Das hier waren Menschen, die Hilfe benötigten. Sie verdienten es, dass man ihnen ebenso half wie den Magiern.

„Achtung!“, brüllte jemand.

Einige Umstehende reckten die Köpfe und auch Ellenie sah sich suchend um.

„Zur Seite!“, war die unfreundliche Stimme erneut zu hören.

Eine Frau neben Ellenie bekam einen Stoß und drängte Ellenie zur Seite. Langsam, aber zielsicher schob sich ein Wächter durch die Menge. Ihm folgten zwei weitere Männer, die einen Verletzten trugen.

„Wir alle benötigen Hilfe!“, rief ein Mann verärgert.

Die Wächter blieben in der Nähe von Ellenie stehen, und einer von ihnen hob drohend seinen Magiestab. „Zuerst die Magier, dann die Begnadeten.“

„Wir gehen weiter!“, kommandierte der andere Wächter.

Die Umstehenden wichen hastig zur Seite und machten Platz. Ellenie starrte den Männern hinterher. Der Magier, den sie bei sich hatten, musste einer der Gäste sein, denn Ellenie hatte ihn nicht erkannt.

„Sollen wir die Verletzten anderweitig unterbringen?“, fragte eine Frau kleinlaut.

Ihr Begleiter schüttelte den Kopf. „Die Heiler sind im Haupthaus. Wir können sie nicht einfach irgendwo ablegen und krepieren lassen.“

Ellenie musste die aufsteigenden Tränen hinunterschlucken. Das hier war ihr Volk und dabei war es vollkommen egal, welcher Schicht sie angehörten. Ihnen allen stand Heilung zu.

„Gelda, nimm deine Schürze ab und bette seinen Kopf darauf“, befahl sie der verdutzten Frau, die sie verständnislos anstarrte.

„Na los!“, drängte Ellenie und nahm Gelda den verletzten Wächter ab, damit sie beide Hände frei hatte, um den Knoten ihrer Schürze zu lösen. Unsicher kam Gelda Ellenies Aufforderung nach, faltete den Stoff zusammen und half Ellenie den Kopf des Wächters darauf zu betten. Kaum lag er, kniete sich Ellenie neben ihn und riss ihm die losen Teile des Kampfanzuges herunter. Sie musste die Wunde sehen, damit sie ihn heilen konnte. Das Kalginit hatte dem Mann vermutlich das Leben gerettet. Doch trotz des schützenden Metalls klaffte eine ordentliche Wunde an seiner Seite. Ellenie zog den restlichen Stoff zur Seite und sah drei parallel verlaufende tiefe Kratzwunden. Deutliche Spuren von den Krallen einer Harpyie. Zumindest war es kein Biss. Das erhöhte seine Überlebenschancen wesentlich.

Es war Ellenie egal, dass alle sie sehen konnten. Es war ihr egal, dass sie sich in diesem Moment als Heilerin zu erkennen gab. Sie hielt beide Hände über die Wunden und schloss die Augen, um sich auf die Magie zu konzentrieren. Es kribbelte in ihren Fingern und sie spürte, wie die wachsenden Moleküle sich verwebten. Die Verletzung hörte auf zu bluten und schloss sich langsam unter ihren Händen.

„Eine Heilerin!“, rief eine aufgeregte Frauenstimme und zog damit sämtliche Aufmerksamkeit auf Ellenie.

„Das ist die Prinzessin“, keuchte ein Mann entsetzt.

„Hier ist auch ein Verletzter!“, schrie ein Mann.

„Könnt Ihr meinem Mann helfen?“ Jemand zerrte an Ellenie.

Der Wächter war soweit wiederhergestellt. Seine Atmung war langsam, aber stabil.

„Bitte!“, flehte eine Frau und sah Ellenie tränenüberströmt an.

„Gleich.“ Bestimmt schob sie die Frau fort und wandte sich Gelda zu. „Zeig mir deinen Fuß.“

Hastig schickte sich die Niedere an, ihr Kleid nach oben zu schieben. Ellenie kniete sich hin, betastete vorsichtig den Knöchel. Zum Glück war nichts gebrochen, nur etwas verstaucht. Aber es war Gelda anzusehen, dass sie Schmerzen hatte und die Berührung verschlimmerte den Zustand.

„Einen Moment“, erklärte Ellenie und zog Gelda den Schuh aus.

„Aber Ihr müsst nicht ...“, stammelte Gelda und verstummte, als Ellenie begann ihre Magie wirken zu lassen.

Im Handumdrehen waren die Verstauchung und die Schmerzen fort.

„Ich danke Euch“, flüsterte Gelda gerührt, während sie sich hastig ihren Schuh wieder anzog.

Ellenie warf einen Blick auf den Wächter, der noch immer am Boden lag.

„Er braucht viel Flüssigkeit“, erklärte Ellenie der Niederen. „Besorge ihm etwas zu trinken.“

Eifrig nickte Gelda, erhob sich und begann sich durch die Menge zu drängen.

„Bitte, helft meinem Mann“, flehte die Frau mit dem tränenüberströmten Gesicht erneut. Ihr lockiges Haar klebte an der Stirn und sie war über und über mit Ruß bedeckt.

Ellenie wandte sich dem Mann zu, der am Boden saß und hustete. Sein Gesicht war ebenfalls geschwärzt. Sein Hemd war am Arm aufgerissen und eine tiefe Fleischwunde war zu sehen.

Sie ging in die Hocke und besah sich die Wunde.

„Ich brauche hier auch Hilfe.“

Ellenie ignorierte die Rufe. Sie konnte nur einem nach dem anderen helfen. Beherzt griff sie zu und riss den Ärmel des Hemdes ab. Der Mann stöhnte und hustete erneut.

Seine Frau schrie auf und schlug sich entsetzt die Hände vor den Mund, als sie das Ausmaß der Verletzung sah.

„Es wird alles gut“, versprach Ellenie. Es war kein Harpyienbiss. Nicht ganz einfach, aber gut zu heilen.

Bevor sie die Wunde jedoch verschließen konnte, musste sie zuerst alle Fremdkörper entfernen. Sie ließ ihre Hand über der klaffenden Wunde schweben und konzentrierte sich. Bei all den Menschen um sie herum, war es schwer, sich auf die Magie zu konzentrieren. Wie sie die Magie dazu nutzen konnte, etwas anzuziehen, hatte sie erst vor einigen Wochen gelernt. Ihr Lehrer Elrael war alles andere als begeistert von ihren ersten Versuchen gewesen. Er hatte ihr zugesichert, es in den nächsten Wochen noch einmal mit ihr durchzugehen. Doch dazu waren sie bisher nicht gekommen und jetzt brauchte sie dieses Wissen. Ellenie konzentrierte sich, versuchte alles um sich herum auszublenden.

„Du kannst alles schaffen, wenn du es nur willst“, hatte Doron einmal zu ihr gesagt. Diese Worte waren für sie ein Lebensmotto geworden und auch jetzt halfen sie ihr, sich vollkommen auf das Wesentliche zu fokussieren. Sie spürte, wie die winzigen Splitter vibrierten. Weit entfernt hörte sie jemanden brüllen, merkte, wie etwas an ihr zog. Ellenie war jedoch so in einem Tunnel, dass sie nichts um sich herum wahrnahm. Sie starrte die Wunde an, sah, wie sich die winzigen Splitter lösten und nach oben schwebten. Mit einer einfachen Handbewegung schleuderte sie die Holzspäne zur Seite und schüttelte das schmerzende Handgelenk aus. Sie ballte die Hand zur Faust, öffnete sie dann wieder und streckte die Finger, um sie zu entspannen.

„Es brennt wie verrückt“, jammerte der Mann und wollte sich an die verletzte Stelle fassen. Gerade noch rechtzeitig konnte Ellenie seine unverletzte Hand fortziehen. Die Wunde blutete, aber das war gut, denn so reinigte sich der Körper selbst. Wieder ließ Ellenie ihre Hand schweben, sammelte erneut Energie. Moleküle verdoppelten sich, verformten sich und bekamen eine Aufgabe zugewiesen. Ellenie webte, verschloss Blutgefäße und ließ die Wunde zuheilen.

Staunend sahen die Umherstehenden zu. Manche von ihnen hatten scheinbar noch nie die Kunst des Heilens mit eigenen Augen gesehen.

Ellenie hörte erst auf, als nur noch unverletzte Haut zu sehen war. Erschöpft, aber zufrieden mit dem Ergebnis atmete sie durch. Der Schweiß stand auf ihrer Stirn und sie strich ihn sich mit dem Handrücken fort.

„Wir brauchen auch Hilfe!“, rief ein Mann.

Es war vollkommen egal, wo Ellenie hinblickte. Alle benötigten Heilung. Sie schloss kleinere Platzwunden, renkte eine Schulter ein und heilte eine Verbrennung am Arm. Angeknackste Rippen waren etwas aufwendiger zu richten und für einen offenen Bruch am Bein brauchte sie ziemlich lange. Aber dann konnte der Patient wieder aufstehen und herumhüpfen, als ob nie etwas gewesen wäre.

Die Sonne war beinahe untergegangen und es wurde nicht nur merklich kühler, sondern auch immer dunkler. Unermüdlich arbeitete Ellenie weiter. Sie war nicht bereit, sich eine Pause zu gönnen. So viele Menschen benötigten ihre Hilfe.

„Ihr solltest nicht hier sein, Prinzessin.“ Ein Wächter ragte über ihr auf.

Sie half einem Geheilten auf, der seine staubige Hose abklopfte und dann mit seinen Begleitern fortging.

„Ich werde hier gebraucht“, sagte Ellenie und wollte sich dem nächsten Verletzten zuwenden, als ihr ein zweiter Wächter in den Weg trat.

„Es ist besser, wenn Ihr uns begleitet.“

Ellenie starrte die Wächter finster an. Sie trugen das Wappen des Hauses Rawner, und gehörten damit zu Miraels Leuten. Eigentlich hatten sie ihr überhaupt nichts zu sagen. Doch ihr Anliegen war vernünftig und so beschloss sie, den Wächtern zu folgen. Noch immer konnten die Harpyien jederzeit angreifen, und wenn sie das täten, wäre der Innenhof eine Falle, aus der Ellenie nicht entkommen konnte. Doch das Herz der Heilerin schmerzte bei dieser Vernunftentscheidung.

„Ihr werdet mich nicht in mein Zimmer bringen, wo ich warte, bis hier alle versorgt sind.“ Ellenie machte eine ausladende Handbewegung. „Ich bin Heilerin, ich werde gebraucht.“ Dabei stemmte sie die Hände in die Hüfte.

Die Wächter tauschten verunsicherte Blicke. Immerhin war Ellenie in der Hierarchie die Höhergestellte.

„Wir bringen Euch in einen Schutzraum“, schlug der ältere Wächter versöhnlich vor.

Ellenie schüttelte den Kopf. Es war sehr unwahrscheinlich, dass ein erneuter Angriff drohte. Doch wenn die Harpyien heute noch einmal angriffen, würden alle Menschen sämtliche Eingänge der schützenden Gebäude verstopfen. Eine Flucht aus dem Innenhof wäre kaum möglich und Ellenie wäre schutzlos den Bissen der hässlichen Viecher ausgeliefert.

„Dann wenigstens ins Haus.“

„Ihr könnt auch dort heilen“, ergänzte der ältere Wächter. „Je mehr Heiler im Saal heilen, umso mehr Menschen können aus dem Innenhof in Sicherheit gebracht werden.“

Das war eine Argumentation, die Ellenie einleuchtete.

„In Ordnung, aber es wird reingelassen, wer vor der Tür steht“, bestimmte sie.

Ratlos sahen die Wächter sich an. „Das kann ich nicht entscheiden, aber Ihr könnt gerne mit dem Verantwortlichen sprechen.“

Ellenie nickte. „Wo ist Elrael?“ Das würde sie tun und dann dafür sorgen, dass so schnell wie möglich alle Verletzten in Sicherheit gebracht wurden.

Die Wächter nahmen sie in die Mitte und begleiteten Ellenie durch die Menschenmenge. Wüste Beschimpfungen, weil sie sich durchdrängte, wurden ihr hinterhergerufen. Ellenie ignorierte sie. Die Menschen waren verzweifelt, aber sie konnte ihnen helfen und das würde sie tun.

Es dauerte, denn die wenigsten machten freiwillig Platz. Doch letztendlich schafften sie es, das Gebäude zu erreichen.


* * *


Die Tische und Stühle waren zur Seite geräumt worden. Soweit das Auge reichte, lagen Menschen am Boden. Manche von ihnen in stummer Qual, andere schrien. Ein ekelhafter Gestank nach Schweiß und Urin lag in der Luft und raubte Ellenie für einen Moment den Atem. Hastig schlug sie eine Hand vor den Mund und versuchte, die aufkeimende Übelkeit zu verdrängen. Für eine Sekunde wünschte Ellenie sich zurück in den Innenhof. Dort hatte es zumindest frische Luft gegeben.

„Wir können Euch auch von hier fortbringen“, schlug einer der Wächter vor.

Entschieden schüttelte Ellenie den Kopf.

„Findet lieber Elrael und sagt ihm, dass ich mit ihm sprechen muss“, befahl sie.

In der Zwischenzeit wollte sie nicht untätig herumstehen. Sie wandte sich dem Erstbesten zu, einem Wächter, dessen Gesicht vom Feuer zur Hälfte versengt worden war. Er wimmerte vom Schmerz benommen vor sich hin. Ellenie besah sich die Wunde. Das Auge war schwer getroffen und die Hautschichten darum weggebrannt. Sie würde zwar die Haut wiederherstellen können, das Auge jedoch war vermutlich nicht mehr zu retten.

„Er ist nur ein Begnadeter. Komm zu mir und hilf mir. Ich bin ein Magier.“

Ellenie warf dem Mann einen finsteren Blick zu. Er trug die typischen Gewänder eines Naturverbundenen. Sie kannte ihn nicht, er musste zu den Gästen gehören.

„Später“, sagte sie bestimmt und hielt ihre Hände über die Verbrennung. Sie spürte die Wärme unter ihren Händen und begann die Haut zu modellieren. Das verbrannte Haar konnte sie nicht rekonstruieren, aber die Schmerzen würden verschwunden sein, wenn sie fertig war.

„Hey, Heilerin. Das ist ein Befehl!“, brüllte der Magier sie an.

„Sprich nicht so mit ihr!“, entgegnete eine vertraute Stimme ziemlich verstimmt. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wen du vor dir hast? Das ist Prinzessin Ellenie.“

Ellenie blickte auf und sah in das vertraute Gesicht von Elrael. Sie lächelte, als er sich auf der anderen Seite des Mannes niederließ und seine Hände neben die ihren hielt. Gemeinsam heilten sie die verletzte Haut. Kunstvoll formte Elrael das Ohr neu. So gut hätte Ellenie es nie hinbekommen. Staunend sah sie zu und modellierte die Augenbrauenpartie.

Das Wimmern des Mannes hatte aufgehört. Er lag nun ganz still da, hatte sein unverletztes Auge geschlossen.

„Das war’s“, erklärte Elrael und berührte den Wächter sanft an der Schulter. Der schlug das unverletzte Auge auf und setzte sich auf. Vorsichtig betastete er seine ehemals verletzte Gesichtshälfte.

„Die Schmerzen sollten weg sein“, sagte Ellenie freundlich.

„Das sind sie.“ Er lächelte sie schief an und betastete die kahle Stelle am Kopf.

„Die Haare und auch das Auge können wir leider nicht rekonstruieren“, entschuldigte sich Ellenie.

„Ich lebe und ich habe keine Schmerzen mehr. Das ist die Hauptsache.“

Elrael half dem Wächter hoch, der sich noch einmal überschwänglich bedankte und dann fortmarschierte.

„Hey, könnt Ihr euch jetzt um mich kümmern?“, protestierte der unfreundliche Magier.

Ellenie hob gebieterisch die Hand und machte damit deutlich, dass er still sein sollte.

„Wir müssen über die vielen Menschen im Innenhof sprechen“, sagte Ellenie bestimmt zu Elrael.

Elrael stöhnte auf. „Es ist ein riesiges Desaster. Unser üblicher Ort für die Verletzten ist abgebrannt und es sind zu viele unnütze Menschen auf Sodaar, die nicht wissen, was sie tun sollen. So viele Verletzte hatten wir noch nie und es sind eindeutig zu wenig Heiler.“ Er ließ seinen Blick durch den Saal schweifen. Ellenie folgte seinem Blick. Bei den vielen Verletzten, die sie sah, wurde ihr flau im Magen. Allerdings sah sie auch einige Heiler. Sogar der Hohe Magier Karael war am anderen Ende des Raumes mit einem Patienten beschäftigt.

„Wer hat angeordnet, dass zuerst die Magier geheilt werden?“, wollte Ellenie wissen.

Ratlos zuckte Elrael mit den Schultern. „Ich frage nicht, aus welcher Schicht sie kommen, ich heile, wo ich kann.“

Ellenie zog Elrael in Richtung Tür, bis sie hinaus auf den Innenhof blicken konnten und die Massen an Verletzten zu sehen waren. „Das sind vorwiegend Niedere. Auch sie müssen dringend versorgt werden.“

Sie spürte, wie Elrael sich neben ihr versteifte. „Ich habe nicht geahnt, dass es noch so viele sind. Wenn nur der Schlafsaal nicht abgebrannt wäre.“ Mit einem Mal wirkte der Magier erschöpft.

Ellenie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wir schaffen das. Gemeinsam.“

Elrael atmete tief durch und nickte. „Wir brauchen nur mehr Platz, um die Leute ins Gebäude zu schaffen.“ Mit neuer Energie drehte der Heiler sich um und winkte einem Wächter zu. „Ich möchte, dass ihr weitere Räume leer macht. Wir brauchen mehr Platz. Schafft die Verletzten ins Haus. Ich möchte in einer halben Stunde niemanden mehr im Innenhof sehen.“

Die Augen des Mannes weiteten sich, dann nickte er hastig und eilte davon.

Elrael wandte sich Ellenie zu. „Ich habe versucht, ein wenig zu sortieren. Auf der Fensterseite sind die offenen Wunden, die zügig geheilt werden müssen. Auf der Türseite sind diejenigen mit den Brandwunden und ganz hinten haben wir die mit den Bissen untergebracht.“

„Ich werde nach hinten gehen“, entschied Ellenie, doch Elrael hielt sie auf.

„Um sie kümmert sich Karael. Wenn einer eine Chance hat, dann er. Gehe du zur Fensterseite“, wies Elrael ihr eindeutig die leichteste Aufgabe zu. Ellenie wollte schon widersprechen, doch auch die vermeintlich leichter verletzten Menschen benötigten Hilfe. Jede Minute, die sie hier herumstand und mit Diskutieren verbummelte, konnte einem Menschen das Leben kosten.

„Also gut“, entschied sie, schob die Ärmel ihres Kleides nach oben und marschierte in Richtung Fensterseite. Sie erreichte die ersten Verletzten und ließ sich neben einem Mann nieder, dessen Schulter brutal ausgerenkt worden war. Der Knochen stand unnatürlich unter der Haut hervor. Ellenie ließ ihre Hände über der Verrenkung schweben, weichte die Moleküle auf und ordnete sie neu an. Sie sammelte Energie und drückte dann den Knochen in seine richtige Position. Der Mann schrie aus Leibeskräften, aber dann war es geschafft. Seine Schulter war wieder in Ordnung.

Ellenie wartete nicht einmal ab, bis sich der Mann bei ihr bedankt hatte, sondern ging sofort zum Nächsten. Danach folgte ein weiterer Patient und noch einer. Ellenie wusste nicht, wie lange sie schon damit beschäftigt war, Menschen zu heilen. Ihr Kopf schmerzte von der stetigen Anstrengung. Ihre Finger fühlten sich taub an von der Magie, die hindurchgeflossen war.

Es war längst tiefste Nacht und nur die magischen Lichter erhellten den Raum. Sie ging von einem Patienten zum Nächsten, wollte einfach nicht aufgeben. Es gab noch so viele, die Hilfe brauchten, so viele, die sie heilen musste.

„Ihr solltet Euch ein wenig ausruhen“, sagte irgendwann ein Wächter zu ihr. Er griff nach ihrem Arm und führte sie fort. Ellenie ließ es geschehen. Sie war zu erschöpft, um aufzubegehren, und wenn sie ehrlich war, benötigte sie dringend ein paar Minuten Ruhe.

Der Wächter brachte sie in einen Nebenraum, in dem notdürftig ein paar Stühle zusammengetragen worden waren. Dankbar ließ Ellenie sich auf einen davon fallen und nahm ein Glas Wasser entgegen, das ihr eine Frau reichte. Als sie Gelda erkannte, lächelte sie ihr dankbar zu.

„Ruht Euch etwas aus, Prinzessin!“ Gelda knickste hastig und verschwand, um weitere Gläser mit Wasser zu bringen.

„Ich brauche fünf Minuten“, hörte sie eine Stimme, die ihr seltsam vertraut vorkam. Jemand ließ sich auf dem Stuhl neben sie fallen und als sie aufblickte, saß dort Karael. Auch er wirkte erschöpft. „Kann ich etwas zu trinken haben?“, fragte er.

Sofort eilte Gelda an seine Seite, um ihm ein Glas Wasser zu reichen. Der Hohe Magier leerte das Glas in einem Zug. „Noch eins bitte!“ Augenblicklich wurde ihm das leere Glas abgenommen und Gelda eilte los, um Nachschub zu holen.

„Du bist eine begabte Heilerin“, sagte Karael und lehnte sich erschöpft zurück.

Ellenies Wangen röteten sich. Das Lob vom Hohen Magier der Heilung bedeutete ihr unendlich viel.

„Vielen Dank.“ Verlegen senkte sie die Lider.

„Ich hatte nicht geahnt, dass du schon so weit bist.“

Seine Worte brachten sie noch mehr in Verlegenheit. Für gewöhnlich war sie nicht so stark, doch sie hatte vor wenigen Stunden erst getrunken und Dorons Blut verlieh ihr viel Extraenergie.

Diese war jedoch so gut wie aufgebraucht. Das Heilen war so anstrengend, dass sie morgen mit Sicherheit wieder zu Doron gehen musste, weil sie sich nur noch müde und schlapp fühlen würde. Aber das war ein geringer Preis, wenn sie an die vielen Menschen dachte, denen sie hatte helfen können.

„Ich gehe zurück an die Arbeit“, erklärte sie und erhob sich, um zu den Menschen zurückzugehen, die auf ihre Hilfe warteten.

KAPITEL 4


Nach dem Angriff hatte sich die Lage etwas beruhigt. Doron war aufgewühlt und hatte es in der Höhle nicht länger ausgehalten. So war er in die Abflughalle gegangen, wo Jolim damit beschäftigt war, eine neue Erfindung zu verfeinern.

„Wie funktioniert das?“ Doron beugte sich über das Hologramm, das der Begnadete Jolim auf seinem Arbeitstisch aufgerufen hatte. Es zeigte einen ganz gewöhnlichen Magiestab und so sehr Doron sich auch anstrengte, er konnte keinen Unterschied zu den Waffen, die sie bisher bei Angriffen benutzt hatten, feststellen.

„Du brauchst zwei davon. Einen Sender und einen Empfänger“, erklärte der junge Mann.

Immer wenn der Hohe Magier Mirael nach Sodaar kam, brachte er eine Erneuerung mit. Er hatte ein paar Jahre gebraucht, bis Doron klargeworden war, dass der Magier zwar die Umsetzung veranlasste, die Ideen jedoch in der Regel von Jolim kamen.

„Das heißt, wir müssen die Harpyien nicht direkt berühren, nicht so nah an sie heranfliegen?“, wollte Doron wissen und scheute sich nicht, seine Begeisterung durchklingen zu lassen. Je weiter seine Krieger sich von den gefährlichen Harpyien entfernt halten konnten, umso besser.

„Ganz so einfach ist es nicht“, gab Jolim zu und erhob sich, um es Doron zu demonstrierten

„Stell dich bitte hier hin“, bat er ihn und wies auf eine etwas freier gelegene Stelle. Dann drückte er Doron einen Magiestab in die Hand und aktivierte ihn, etwas, zu dem Doron allein nicht in der Lage war. Einfache magische Spielereien konnte er mit seinem Handschuh aktivieren, doch die Kampfanzüge und die Waffen funktionierten nur, wenn ein Magier oder ein Begnadeter sie aktivierte.

Eine Sicherheitsmaßnahme, wie Mirael ihn von oben herab hatte wissen lassen. Doron verdrängte den Gedanken an den furchtbaren Magier und sah Jolim zu, der sich einen zweiten Magiestab gegriffen hatte und durch die Halle rannte. Etwa zehn Meter entfernt blieb er stehen und hob seinen Magiestab hoch.

Doron sah, wie die Spitze des Stabs weiß glühte. Magie sammelte sich und erinnerte ihn unwillkürlich an die Zeit, in der es an der Tagesordnung gewesen war, dass die Wächter ihn und seine Brüder mit Magiestößen gequält hatten. Nur zu lebhaft waren diese Erinnerungen und es war kaum vorstellbar, dass es wirklich erst zwanzig Jahre her sein sollte, dass sie damit aufgehört hatten. Er musste an Ellenie denken. Sie war winzig gewesen. Ein stinkendes Bündel mit einer Lebenserwartung von ein paar Stunden.

Rückblickend war die Entscheidung, sich auf den Handel einzulassen, die beste Entscheidung gewesen, die Doron hätte treffen können. Die Drachen hatten davon profitiert – in mehr als einer Hinsicht.

Ein Lichtblitz schoss auf ihn zu und Doron wollte schon in Deckung gehen, als ihm einfiel, dass er einen Magiestab in der Hand hielt. Er konnte, da er aktiviert war, ohne Probleme einen Magiestrahl zurückschleudern, was den Magieblitz verpuffen lassen würde. Er hob ihn hoch, doch sein Magiestab funktionierte nicht. Er schüttelte das nutzlose Ding und sah dann staunend, wie sein Stab Jolims Magieblitz einfach aufsaugte. Dorons Stab vibrierte vor Energie und als er ihm einen leichten Schlag versetzte, schoss die Magie heraus, steuerte direkt auf Jolim zu, der sie geschickt mit seinem Magiestab auffing.

„Stell dir vor, zwischen uns befindet sich eine Harpyie“, erklärte Jolim grinsend.

Das konnte Doron sich leicht vorstellen. Der lederartige, blaugraue Körper, zuckend am Boden liegend, das war eine Vorstellung, die ihm durchaus gefiel. Bewundernd verfolgte er mit den Augen die Magieblitze, die sich zwischen ihnen hin und herbewegten. Stück für Stück wich Jolim zurück, immer weiter, bis er das Ende der Halle erreicht hatte.

Doron vermutete, dass es gut fünfzig Meter sein mussten. Erst da brach die Verbindung der beiden Stäbe ab. Seine losgeschickte Magie verpuffte nutzlos im Raum, weil der Empfänger zu weit entfernt war.

Jolim deaktivierte seinen Magiestab und rannte auf Doron zu.

„Hast du gesehen, was ich meine?“

„In der Tat, eine sehr nützliche Erfindung. Wir müssen aber unbedingt ein paar Trainingseinheiten anberaumen, bevor wir die neuen Stäbe mitschicken.“

Jolim nickte und machte sich ein paar schnelle Notizen auf seinem Kommunikationsbrett.

Doron konnte sich gut vorstellen, dass Fondan und Ishul begeistert von dieser Neuerung sein würden. Die beiden kämpften zusammen viel effektiver als allein und mit diesen Magiestäben ausgestattet wären sie eine tödliche Bedrohung für jede Harpyie, die sich zu nahe an Sodaar heranwagte.

„Jolim!“, donnerte eine herrische Stimme, während sich eilige Schritte näherten.

Unwillkürlich zog Jolim den Kopf ein, versteckte sein Kommunikationsbrett und drehte sich hastig um.

Doron wusste, wer da kam. Wenn es nicht so ausgesehen hätte, als ob er floh, hätte er die Halle verlassen, doch diese Blöße wollte er sich vor Mirael nicht geben.

Der Hohe Magier betrat die Abflughalle. Er trug wie immer einen Kampfanzug, der sich durch ein paar äußerliche Besonderheiten, wie den purpurnen Umhang, von denen der Wächter unterschied. Die schulterlangen schwarz-grau melierten Haare trug er offen, sodass sie ihm ständig ins Gesicht fielen.

Für einen kurzen Moment spiegelte sich Überraschung auf dem Gesicht des Magiers, als er Doron sah.

„Wir haben die neuen Magiestäbe ausprobiert“, beeilte sich Jolim zu erklären.

Doron mochte Mirael nicht und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Vielleicht lag das an der Tatsache, dass Doron ihm den Zutritt zum Höhlensystem und damit zur Kommandozentrale verweigerte.

Nach dem Machtwechsel im Amt des Hohen Magiers der Technik, hatte Doron einen Schlupfwinkel in der Vereinbarung mit König Yathel genutzt. Georgiel, der zur Zeit des Bündnisses der Hohe Magier der Technik gewesen war, war in der Vereinbarung namentlich erwähnt worden. Und so musste Doron nur ihm und keinem anderen Zugang zur Kommandozentrale gewähren. Weder König Yathel noch Mirael besaßen dazu die Befugnis die Höhle zu betreten und so konnten sie sich entweder Dorons Willen beugen oder sich gewaltsam Zutritt verschaffen. Letzteres hätte einen Bruch des Paktes zur Folge gehabt. König Yathel war ziemlich schnell eingeknickt und hatte den Drachen ihre Unabhängigkeit zugestanden. Mirael dagegen akzeptierte dies bis heute nicht. Er ärgerte sich weiterhin darüber, weil er gerne die Angriffe in der Kommandozentrale überwacht hätte. Doron war dies egal. Er sah keinen Grund, nachzugeben.

„Wie funktionieren die neuen Magiestäbe?“

„Sie haben gerade die Probe am Boden bestanden. Jetzt fehlt nur noch der Praxistest in der Luft“, informierte Jolim seinen Vorgesetzten.

„Es ist eigentlich eine Verschwendung, dass wir sie nicht direkt an den Kriegern ausprobieren können“, seufzte Mirael und warf Doron einen abschätzigen Blick zu.

Der blieb stumm. Sollte Mirael es wagen, einen Magiestab gegen ihn zu erheben, würde Doron nicht zögern und den Magier angreifen. Pakt war Pakt, und wenn er von der Gegenseite gebrochen wurde, würde auch Doron nicht zögern. Am liebsten hätte er den ersten Schritt gemacht. Nur zu gerne hätte er den Magiestab in seiner Hand an dem Hohen Magier ausprobiert. Seine Hand klammerte sich fester um den Stab. Er musste sich beherrschen, ihn nicht zu zerbrechen. Zu dumm, dass er ihn nicht aktivieren konnte.

So stand er da und wartete ab, doch Mirael beachtete ihn nicht weiter, ging um Jolims Schreibtisch herum und begutachtete ein paar Zeichnungen, die dort lagen.

„Was ist das?“, verlangte Mirael zu wissen, und deutete auf eine Zeichnung von Jolim.

„Das ist noch nicht fertig“, wich dieser geflissentlich aus und schob Mirael stattdessen ein anderes Blatt zu. „Aber ich habe ein paar Veränderungen für die Kampfanzüge erarbeitet. Ich würde gerne die Panzerung der Anzüge verstärken.“

Doron hielt Jolim für überaus fähig. Es war ihm schleierhaft, warum es bei dem jungen Mann nicht zum Magier gereicht hatte. Jolim war brillant und Dorons Einschätzung nach hatte er deutlich mehr auf dem Kasten als Mirael, dessen Haus er angehörte. Im Gegensatz zu dem Hohen Magier lebte Jolim dauerhaft auf Sodaar und war für die technischen Belange der magischen Geräte und vor allem der Fluganzüge zuständig.

Verächtlich verzog Mirael den Mund. „Warum?“

„Damit die Krieger noch sicherer sind.“

Gelangweilt zuckte Mirael mit den Schultern. „Die Sicherheit der Krieger interessiert mich nicht.“ Er schob das Blatt zur Seite, beugte sich über Jolims Schreibtisch und betrachtete stattdessen wieder die erste Skizze.

„Das sollte es aber. Denn wenn keiner mehr von uns übrig ist, gibt es niemanden mehr, der Sodaar beschützt“, zischte Doron und ärgerte sich im nächsten Moment über sich selbst.

Mirael blickte auf, sah Doron direkt an. Dann richtete er sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und trat um den Schreibtisch herum.

 Doron überragte Mirael um mehr als einen Kopf, doch der Hohe Magier war furchtlos. Er wusste um seine Macht und fürchtete sich nicht.

„Eines Tages werdet ihr überflüssig sein“, versprach Mirael. „Und nun geh mir aus den Augen.“ Demonstrativ wandte er sich wieder Jolim zu, sodass Doron nur den Rücken des Magiers sah.

Es brodelte in ihm. Er wollte dem Magier an die Gurgel gehen, doch er hielt sich zurück. Entschlossen wandte er sich ab und verließ die Abflughalle in Richtung des Höhlensystems.


* * *


Es gab Hammel. Seit Doron und seine Brüder die Höhle bezogen hatten und für sich selbst verantwortlich waren, durften sie auch das Essen selbst zubereiten. Der König gestand ihnen sogar eine monatliche Ration Fleisch zu. Magier mochten sich von Pflanzen ernähren und damit glücklich sein, doch die Drachen brauchten die Energie, die nur Tiere lieferten.

Sie saßen zu siebt am Tisch und aßen schweigend. Wie immer nach einem Angriff, blieben die Drachen in Alarmbereitschaft. Jederzeit konnten die Harpyien zurückkehren und dann mussten sie schnell reagieren. Die Stimmung war dementsprechend aufgekratzt. Barkley, der von der Größe her als einziger von ihnen als Mensch durchgegangen wäre, hatte gekocht. Doron war aufgewühlt und konnte seine innere Unruhe nicht verbergen. Natürlich übertrug sich das auf seine Männer. Lustlos stocherte er auf seinem Teller herum und aß, obwohl er keinen Appetit verspürte. Er musste bei Kräften bleiben.

„Ich gehe auf mein Zimmer“, sagte Jadoch, obwohl die Mahlzeit noch nicht beendet war. „Hier halte ich es nicht länger aus.“ Er warf Doron einen finsteren Blick zu und ging.

Doron starrte auf seinen Teller, versuchte, die anderen Krieger auszublenden und sie aus seiner Gefühlswelt auszuschließen. Doch das war ein chancenloses Unterfangen. So lange er so nah bei ihnen war, wusste jeder, was Doron fühlte.

Endlich war das Essen beendet.

„Wer spielt mit mir Karten?“, fragte Ishul und holte ein kleines Holzkästchen mit den Papierkarten hervor.

Doron erhob sich und ging wortlos in den Gemeinschaftsraum. Er setzte sich in seinen Sessel und schloss die Augen. Nebenan hörte er Barkley, Ishul und Fondan Karten spielen. Die Kommentare waren bissig und alle drei waren auf Krawall gebürstet – zum Glück nur verbal.

Ajend und Ealwen kamen zu Doron, setzten sich an den Ecktisch und begannen, den Angriff zu analysieren. Eigentlich hätte Doron sich zu ihnen setzen müssen, doch dazu war er viel zu unkonzentriert. Lieber hing er seinen düsteren Gedanken nach, die immer wieder um Jadoch kreisten und schließlich bei Ellenie hängen blieben.

Ajend drehte sich zu ihm um. „Deine Feindseligkeit ist kaum auszuhalten“, stöhnte er genervt. „Möchtest du dich prügeln, damit wir danach endlich wieder Ruhe haben?“

Ajend war sein engster Vertrauter. Der Einzige von ihnen, mit dem er schon vor dem Sturz befreundet gewesen war. Er hatte Ajends Frau gekannt, seine zwei Kinder. Der glatzköpfige Hüne war der Einzige, der sich traute, Doron zum Kampf herauszufordern.

So verlockend das Angebot auch war, sich die Köpfe einzuschlagen, so unklug war es zum derzeitigen Zeitpunkt. Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung waren Drachen nicht unzerstörbar. Sie heilten nur viel schneller, aber auch das brauchte Zeit. Wenn er sich nun mit Ajend prügelte, wären sie in den nächsten Stunden nicht einsatzfähig und sollten die Harpyien tatsächlich noch einmal angreifen, würde das einem Desaster gleichkommen.

„Nein!“, brummte Doron.

„Solltest du es dir anders überlegen, ich bin da.“ Ajend wandte sich wieder Ealwen zu und sie diskutierten weiter darüber, warum die Anzahl der Harpyien in der letzten Zeit so enorm angestiegen war.

„Du hast beschissen!“, brüllte Barkley von nebenan und man hörte einen Stuhl rutschen.

„Wenn du zu blöd bist zum Spielen“, kam prompt die Antwort von Ishul.

„Ich werde dir zeigen, wie blöd ich bin“, knurrte Barkley.

„Hey!“, schrie Fondan dazwischen. „Setzen! Alle beide!“

Doron erhob sich. Er konnte sich und seinen Gefühlszustand den Männern nicht länger zumuten. „Ich bin in der Grotte“, erklärte er.

Er brauchte dringend Distanz und die Grotte war dafür der perfekte Ort. Sie gehörte noch zum Höhlensystem und wenn es Alarm gab, würde er es mitbekommen. Gleichzeitig war sie der am weitesten entfernte Punkt vom Zentrum der Höhle. Jeder Meter, den er sich von seinen Männern entfernte, war gut.

Der Weg zur Grotte war dunkel. Doron trug einen magischen Handschuh und hätte problemlos Licht entzünden können, doch ihm war nicht danach. Die eine oder andere Ritze, durch die Tageslicht drang, spendete genug Licht. Außerdem bewohnte er seit zwanzig Jahren dieses Höhlensystem. Er hätte sich blind zurechtgefunden.

Schon von weitem hörte er das gleichmäßige Plätschern des Wassers. Manchmal, wenn den Drachen danach war, nutzten sie den unterirdischen See zum Schwimmen. Doch heute war Doron nicht darauf aus. Er sehnte sich lediglich nach einem Ort der Stille und so setzte er sich auf einen Felsen und starrte in die Dunkelheit.

Die Ruhe und Abgeschiedenheit taten ihm gut. Die Präsenz seiner Brüder war verschwunden. Doron spürte nur noch sich selbst und musste seine Emotionen nicht länger unterdrücken.

Er griff in seine Hosentasche und zog eine feingliedrige Kette heraus. Der Anhänger war ein roter Zirkon, der sich in einer goldenen Fassung befand. Diese Kette stand für so vieles, was er hasste, was er verabscheute und mit ihr vor Augen konnte er sich seiner Wut und dem Schmerz ganz hingeben. Es tat höllisch weh und Doron badete in diesem Schmerz.

 Als er das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können, schloss er die Augen und begab sich auf die andere Ebene. Sein Drache lag zusammengerollt am Boden. Die gelben Augen funkelten ihn an und kleine Rauchwölkchen entstiegen seiner Nase.

„Bin ich frustriert oder auch du?“, fragte er und ließ sich neben der Echse nieder.

Ein Schnauben war die Antwort.

„Ich weiß, dass du unzufrieden bist mit der Situation“, sagte Doron leise. „Glaub mir, das bin ich auch.“

Ein erneutes Schnauben.

„Du hast sie gesehen“, stellte er überflüssigerweise fest. Natürlich sah der Drache die Außenwelt durch seine Augen und er spürte die Abneigung, die der Drache Ellenie entgegenbrachte.

„Sie ist nicht wie Florenie.“

Der Name entlockte dem Drachen ein Knurren.

„Ellenie ist anders. Sie ist unschuldig und rein.“

Doron sah dem Drachen in die Augen und verstand, was er ihm sagen wollte.

„Sie wird nicht immer so bleiben. Das weiß ich auch.“

Der Drache blinzelte.

„Ich werde vorsichtig sein und ich werde auch Jadoch vor ihr beschützen“, versprach er seinem anderen Ich. Er würde alles daransetzen, dass sein Sohn sich von Ellenie fernhielt.

Doron spürte die Anwesenheit von jemand Anderem, noch ehe er etwas hören konnte. Einer seiner Krieger näherte sich der Grotte. Es war Ajend. Seufzend tätschelte Doron den Kopf seines Drachen, verabschiedete sich so von ihm und kehrte zurück.

Er ignorierte Ajend, der sehr wohl wusste, dass er unwillkommen war. Ohne jedoch darauf einzugehen, setzte Ajend sich wortlos neben Doron. Schweigend saßen sie da, betrachteten die glitzernde Oberfläche des kleinen Sees.

„Hast du an sie gedacht?“, fragte Ajend mit einem Kopfnicken auf die Kette, die Doron immer noch fest umklammerte.

Doron stopfte das Schmuckstück hastig in seine Hosentasche zurück. Er wollte nicht mit Ajend über Florenie sprechen. Eigentlich wollte er überhaupt nicht mit ihm reden.

„Warum bist du hier?“

Es dauerte einen Moment, bis Ajend ihm antwortete: „Wir machen uns Sorgen. Um dich und um Jadoch.“

Doron grummelte. „Um mich braucht ihr euch keine Sorgen zu machen, ich komme schon klar.“

„Die Stimmung ist nicht besser geworden, seit du gegangen bist. Jadochs Aggressivität nimmt zu. Er versteht nicht, warum du ihn wegen des Mädchens so angegangen bist und vor allem, warum er sich von ihr fernhalten soll.“

„Ellenie“, korrigierte Doron ihn automatisch.

„Du musst es ihm sagen!“, beharrte Ajend.

Doron wandte sich ab, fixierte den Punkt, an dem das Wasser von oben in den See fiel. „Dazu ist er nicht bereit.“

„Bist du dir sicher? Oder bist du nicht dazu bereit?“

Er hasste es, wenn Ajend so mit ihm sprach. Es führte ihm vor Augen, wie unfähig er in Wirklichkeit war. Als Vater war er ein kompletter Versager, auch als König und als Anführer taugte er nicht viel.

„Jadoch ist dir unglaublich ähnlich. Früher oder später wird er sich in sie verlieben.“

Freudlos lachte Doron auf. Als ob er das nicht wüsste.

Ajend fuhr fort: „Es reicht, dass sie dir den Kopf verdreht hat.“

„Das hat sie nicht“, sagte Doron brüsk.

Ajend lachte in die Dunkelheit hinein. „Sie wird ihr mit jedem Tag ähnlicher, findest du nicht auch?“

„Das Kapitel ist abgeschlossen.“ Doron hatte keine Lust, sich darüber zu unterhalten. Mit Ajend am Allerwenigsten. Sie hatten nie über Florenie gesprochen und damit würde er jetzt auch nicht anfangen. Keiner seiner Brüder wusste, was damals tatsächlich geschehen war. Alles, was mit dieser Frau zu tun hatte, hatte er aus seinem Dasein verbannt – bis Ellenie ein Teil seines Lebens geworden war und ihn jede Sekunde an Florenie erinnerte. An seine bedingungslose Liebe, an seine Naivität und seine Dummheit. So etwas würde ihm nie wieder passieren. Nie wieder würde er einer Frau so viel Macht über sich geben. Und genau das war der Grund, warum er sich von Ellenie fernhalten musste. Auch Jadoch.

„Ich habe mit ihm geredet und ihm gesagt, dass ich ihn nicht mehr zusammen mit Ellenie sehen möchte.“ Genau genommen war es keine Unterhaltung gewesen, sondern ein strikter Befehl, der keine Widerworte duldete.

„Was ist, wenn er ihr nicht aus dem Weg geht?“

„Lass das mein Problem sein“, knurrte Doron.

Ajend lachte auf und Doron spürte eine Welle der Frustration.

„Du hast keine Ahnung, wie ähnlich er dir ist.“

Doron knurrte und verfluchte die Tatsache, dass er sich nicht in einen Drachen verwandeln konnte. Nur zu gerne hätte er die ganze verdammte Höhle in Feuer getaucht.

Noch immer spürte Doron Ajends deutliche Enttäuschung über den Verlauf des Gesprächs.

„Habe ein Auge auf ihn“, bat Doron. Egal, wie es nach außen hin wirkte, Jadoch war ihm wichtig.

Der Krieger fuhr sich mit der Hand über seine Glatze und stöhnte frustriert. „Das ist nicht gut, Doron. Das ist alles andere als gut.“

Das wusste er auch, aber er war nicht dazu in der Lage, Jadoch alles zu erzählen. Noch nicht.

„Auf dich hört er“, schob Doron nach und hatte die leise Hoffnung, dass er das Gespräch auf Ajend abwälzen konnte.

„Ich bin nicht sein Vater“, wehrte dieser entschlossen ab.

Ajend war ein guter Vater gewesen, ein viel besserer, als Doron jemals gewesen war. Er hatte ihn mit seinen beiden halbwüchsigen Jungen gesehen. Sie waren ungezähmt und wild, wenn es aber um etwas Ernstes ging, wohlerzogen und sittsam. Genauso wie junge Drachen sein sollten.

„Ich bin auch nicht sein Vater, nicht wirklich“, gestand Doron sich ein.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739470672
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
König Drachen Magie Romance Familiensaga Gefährten Liebe Prinzessin Magier Fantasy Episch High Fantasy Liebesroman

Autor

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Die Chroniken von Usha - Der Drachenkönig