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Die (falsche) Erbin des Earls

von Ann Hillmore (Autor:in) Melissa David (Autor:in)
116 Seiten
Reihe: HSL, Band 3

Zusammenfassung

Beth Quinn staunt nicht schlecht, als plötzlich William Lymondt, ein waschechter Adeliger, vor ihrer Haustür steht. Er will sie mit nach England nehmen, wo ihr Großvater, ein Earl, sie kennenlernen möchte. Sie folgt der Einladung, bereut dies aber schon bald. Der Earl begegnet ihr reserviert, ihre Cousine Lady Cecil feindselig. Als dann auch noch Zweifel über ihre Abstammung aufkommen, ist sie kurz davor nach Hause zu flüchten, obwohl dort nicht nur Erfreuliches auf sie wartet. Will setzt alles daran, sie zum Bleiben zu überreden, und der Gesundheitszustand des Earls macht ihr eine Abreise unmöglich. Doch auch Lady Cecil hat noch ein Ass im Ärmel.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Klappentext

 

Beth Quinn staunt nicht schlecht, als plötzlich William Lymondt, ein waschechter Adeliger, vor ihrer Haustür steht. Er will sie mit nach England nehmen, wo ihr Großvater, ein Earl, sie kennenlernen möchte. Sie folgt der Einladung, bereut dies aber schon bald. Der Earl begegnet ihr reserviert, ihre Cousine Lady Cecil feindselig. Als dann auch noch Zweifel über ihre Abstammung aufkommen, ist sie kurz davor nach Hause zu flüchten, obwohl dort nicht nur Erfreuliches auf sie wartet.

Will setzt alles daran, sie zum Bleiben zu überreden, und der Gesundheitszustand des Earls macht ihr eine Abreise unmöglich. Doch auch Lady Cecil hat noch ein Ass im Ärmel.

 

 

 

 

Impressum

 

E-Book

300-440-03

Melissa David

Mühlweg 48 a

90518 Altdorf

Blog: www.mel-david.de

E-Mail: melissa@mel-david.de

 

 

Umschlaggestaltung: Melissa David

Bildmaterial: © 123rf.com

 

Lektorat & Korrektorat:

Maria Nitzl

https://mn-lektorat.de/

https://www.facebook.com/mnlektorat

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Die (falsche) Erbin des Earls

 

High Society Love

 

von

Melissa David

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Will Lymondt parkte seinen Mercedes AMG GT direkt vor dem Haus des herrschaftlichen Anwesens. Es war später Nachmittag und der erste Tag seit mindestens zwei Wochen, an dem es nicht regnete. Der Himmel war bewölkt, die Temperaturen für Mai ziemlich frisch.

Er war schon viel zu lange nicht mehr auf Nightingham Hill gewesen, stellte er mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fest. Vermutlich wäre er auch nicht gekommen, wenn sein Großvater nicht darauf bestanden hätte. Will eilte die ausladende Steintreppe hinauf und betätigte den Türklopfer. Es dauerte nicht lang, da öffnete der Butler die Tür.

„Eure Lordschaft“, begrüßte James ihn mit unbewegter Miene.

Will hasste diese Anrede, wusste jedoch auch, dass es Zeitverschwendung war, den Butler zu belehren. Zwar stand ihm der Höflichkeitstitel eines Marquess zu, dennoch war er noch immer ein normaler Bürgerlicher und würde dies bis zum Tod seines Vaters – oder wahlweise seines Großvaters – auch bleiben.

„Wo finde ich den Earl?“, fragte er stattdessen und drängte sich an James vorbei.

„Seine Lordschaft weilt in der Bibliothek“, informierte ihn der Butler steif.

Will drückte ihm seinen Mantel in die Hand und marschierte Richtung Bibliothek. „Ich finde den Weg. Danke, James.“

Er hatte keine Ahnung, warum der Earl ihn sehen wollte, aber es schien dringlich zu sein und so hatte Will beschlossen, sofort aufzubrechen. Wenn es nicht allzu lange dauerte, konnte er am Abend noch zurückfahren. Bis nach Hause benötigte er knapp zwei Stunden. Aber zur Not würde er die Nacht hier verbringen, auch wenn er auf die Gesellschaft seiner Cousine keinen großen Wert legte.

Will klopfte und wartete, bis der Earl ihn hereinbat.

„Mylord“, begrüßte er seinen Großvater höflich. Gleichzeitig erschrak er, als er den alten Mann erblickte. Henry Weatherly, der 4. Earl of Richmond, Viscount Lennox war alt geworden. Nicht nur im Gesicht hatte er merklich abgenommen, sein ganzer Körper wirkte abgemagert und eingefallen. Kümmerte sich Cousine Cecil nicht genügend um ihn? Wieder meldete sich sein schlechtes Gewissen, denn er könnte sich häufiger auf Nightingham Hill blicken lassen, um nach seinem Großvater zu sehen.

„William, Junge“, freute sich der Earl und winkte den Enkel zu sich. Nur sein Großvater nannte ihn so.

„Du batest mich, herzukommen. Ich bin deiner Bitte, so schnell es ging, gefolgt.“

Ein Lächeln umspielte die Lippen des Earls, entspannte seine Gesichtszüge.

„Wie geht es dir?“

Will lächelte unverbindlich und überlegte, was er seinem Großvater erzählen sollte. Er pendelte zwischen London und Windham Castle. Nach dem Studium hatte sein Vater ihn mit der Verwaltung der weitläufigen Güter betraut, doch da es einen fähigen Verwalter gab, hatte er genug Zeit, seinen vielfältigen Hobbys nachzugehen. Mal war er beim Polo anzutreffen, mal beim Segeln oder Tennisspielen. Für die Politik, die seinem Vater sehr wichtig war, interessierte er sich weniger, aber vielleicht kam das noch mit den Jahren.

„Ich würde behaupten, es geht mir besser als dir. Wie steht es um deine Gesundheit?“, umschiffte er gekonnt eine Antwort.

Mürrisch verzog der Earl den Mund. „Es war schon besser. Ich werde leider nicht jünger.“

Nachdenklich nickte Will und legte seinem Großvater eine Hand auf den Arm. Er mochte den Alten und hoffte, dass er noch lange lebte. Die Ländereien würden an Cousine Cecil gehen, deren Vater der zweitgeborene Sohn war. Seine Mutter war die jüngste der drei Geschwister gewesen, aber da er der einzige noch lebende männliche Verwandte des Earls war, würde der Titel auf ihn übergehen. Es war ihm egal. Schon jetzt trug er den Ehrentitel eines Marquess, der in der Rangfolge über dem des Earls stand, und eines Tages würde er der 12. Duke of Dunraven werden.

„Warum wolltest du mich sehen, Großvater?“ Er war zur vertraulichen Anrede übergegangen.

„Ich habe Mr Cameron gebeten, ein paar Erkundigungen einzuholen. Zu meiner Freude ist er fündig geworden. Deshalb bist du hier.“

Will runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach, wer Mr Cameron war. Der Verwalter? Ein Freund seines Großvaters?

„Er ist mein Anwalt“, half der Earl ihm auf die Sprünge.

„Ah“, machte Will wenig konventionell und schürzte die Lippen.

Lord Weatherly seufzte tief. „Ich bin alt und ich werde bald sterben.“

„Großvater“, unterbrach Will ihn, verstummte jedoch, als der Earl gebieterisch seine Hand hob.

„Es ist nur eine Frage der Zeit, machen wir uns nichts vor. Vielleicht wirst du eines Tages der 5. Earl of Weatherly werden.“

Will verdrehte die Augen. „Du weißt, dass mir dieser Titel nichts bedeutet.“ Erst dann ging ihm auf, dass sein Großvater von einer Möglichkeit gesprochen hatte, und das ließ ihn stutzen. „Was meinst du mit vielleicht?“

„Wäre es schlimm, wenn du den Titel nicht erben würdest?“

Darüber brauchte Will nicht lange nachzudenken. Energisch schüttelte er den Kopf. „Du weißt, wie belanglos dieser Titel für mich ist.“

Zufrieden lächelte Lord Weatherly. „Die Frauen stehen auf so etwas.“

Will hatte mit seinen zweiunddreißig Jahren bisher nie das Bedürfnis verspürt, eine Frau heiraten zu wollen. Sollte er es jemals in Betracht ziehen, dann würde es mit Sicherheit keine sein, die ihn nur wegen seines Titels haben wollte. Wenn er die passende Frau nicht fand, würde er eben nie heiraten. Dann starben die altehrwürdigen Adelstitel mit ihm aus. Dass sein Großvater diese Ansicht nicht unbedingt teilte, wusste er, und so sagte er nichts.

„Cameron hat in meinem Auftrag recherchiert“, erklärte der Earl und beugte sich nach vorne. Dabei stützte er sich auf seinen Gehstock.

Interessiert blickte Will seinen Großvater an. Er verstand zwar noch immer nicht, worum es ging, hatte jedoch das Gefühl, dass es spannend werden könnte.

„Er hat herausgefunden, dass John in Amerika verheiratet war und dass aus dieser Ehe ein Kind hervorgegangen ist.“

Will starrte den Earl of Richmond mit großen Augen an. Er kannte seinen Onkel John nur vom Hörensagen. Er hatte England lange vor Wills Geburt verlassen.

„Weißt du, was das bedeutet?“

Will dachte nach, dann nickte er. „Wenn dieses Kind noch lebt und ein männlicher Nachfahre ist, dann bekommt er den Titel und das komplette Erbe. Ist es ein Mädchen, erbt sie nur die Ländereien und der Titel geht auf mich über.“

Zustimmend nickte der Earl.

„Hast du damit ein Problem?“

Will musste nicht lange überlegen und schüttelte entschieden den Kopf.

„Damit habe ich gerechnet und deswegen richte ich meine Bitte an dich. Fahr nach Kentucky und bringe mir meinen Erben.“

Will schluckte überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. „Kentucky in den Staaten?“, hakte er skeptisch nach. Gleichzeitig ratterte es in seinem Kopf. Er hatte für die nächste Woche eine Segeltour geplant und eigentlich keine Lust, in die USA zu fliegen und wen auch immer zu holen.

„Kentucky soll sehr schön sein“, machte der Earl ihm die Reise schmackhaft. „Ich würde selbst hinfahren, wenn es mein Gesundheitszustand zuließe.“

Dem musste Will vorbehaltlos zustimmen. Der Earl of Richmond war definitiv nicht in der körperlichen Verfassung für solch eine anstrengende Reise.

„Kann dein Anwalt nicht fahren?“

Entschieden schüttelte sein Großvater mit dem Kopf. „Es ist eine Familienangelegenheit, da will ich keinen Angestellten schicken. Du gehörst zur Familie und deshalb bist du genau der Richtige.“

Davon war Will zwar nicht überzeugt, aber er wusste, er konnte die Bitte des Earls unmöglich ablehnen. „Kentucky sagst du?“

Eifrig nickte Lord Weatherly und erhob sich schwankend, so dass Will schon befürchtete, er müsse jeden Moment zu ihm hechten, um ihn aufzufangen. Doch der Earl schaffte es, unfallfrei zu einem Sideboard zu gelangen, das aus demselben dunklen Holz war wie die restliche Einrichtung. Dort holte er aus einem Fach einen Brief.

„Hier steht alles Nötige“.

Hastig erhob sich Will, um seinem Großvater entgegenzugehen und ihm den Umschlag abzunehmen.

„B. Quinn. Die genaue Adresse findest du in den Dokumenten.“

Will betrachtete das Kuvert in seinen Händen. Nun gut, dann würde er sich auf den Weg nach Kentucky machen, um dort den Viscount oder die Viscountess Lennox abzuholen.

„Ich danke dir, William.“ Die aufrichtige Wertschätzung seines Großvaters war etwas, das der alte Earl nur sehr selten zeigte, und deshalb genoss er diesen Augenblick im Stillen.

„Bleibst du zum Abendessen?“

Will verneinte mit einem Blick auf die Uhr. „Ich fahre noch nach Windham Castle.“

„Dann wünsche ich dir eine gute Fahrt“, entließ Lord Weatherly seinen Enkel.

„Ich melde mich bei dir“, versprach Will, verabschiedete sich und verließ Nightingham Hill, damit er Cecil nicht doch noch in die Arme lief.

Kapitel 2

 

Endlich war das Schuljahr geschafft. Das vergangene Jahr war schrecklich gewesen und Beth wollte alles nur hinter sich lassen. Sie parkte ihren alten Honda vor dem Haus, griff nach ihrer Tasche und stieg aus.

Dieses Haus war ihr immer noch vollkommen fremd. Obwohl sie hier nun schon ein Jahr lebte, war es nicht ihr Zuhause geworden. Sie hatte es vom Erbe ihrer Eltern gekauft, als sie bei Mike auszog, schließlich musste sie irgendwo unterkommen. Und es war kein Zufall, dass sie Nevada verlassen hatte, um neu zu beginnen. Verzweifelt hatte sie versucht, in diesem kleinen verschlafenen Städtchen im Bluegrass State Fuß zu fassen. Sie arbeitete als Lehrerin an der örtlichen Schule, engagierte sich für soziale Projekte und sang sogar seit einem halben Jahr im Kirchenchor. Und trotzdem fühlte sie sich hier wie eine Fremde.

Mike hatte es ihr prophezeit, hatte ihr gesagt, sie würde zu ihm zurückkommen. Tatsächlich gab es ab und an ein paar schwache Momente, in denen sie mit dem Gedanken spielte. Aber letztendlich wusste sie, dass wenn sie zu ihm zurückgehen würde, es ihr Ende bedeutete.

Die letzten Wochen waren extrem anstrengend und das war gut, denn die viele Arbeit lenkte sie von ihren Problemen ab. Mit Ertönen der Schulglocke, die die Sommerferien einläutete, legte sich eine andere schwere Last auf ihre Schultern. Was sollte sie mit all der freien Zeit anfangen? Zu viel Zeit, in der sie nachdenken konnte. Sie hatte für die Ferien nichts geplant, Urlaub konnte sie sich nicht leisten. Vielleicht würde sie den Gartenzaun streichen oder damit beginnen, den Garten umzugestalten.

Beth schloss die Tür auf, ließ ihre Tasche zu Boden gleiten und schlüpfte aus den Sandalen. Barfuß ging sie in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen.

Kurz darauf saß sie mit einer dampfenden Tasse Kaffee in den Händen auf der Terrasse, die sich mit den schiefen Steinplatten zweifelsfrei zu einem Sommerprojekt anbieten würde. Allerdings hatte Beth so überhaupt keine Ahnung von Steinplatten verlegen und verschob die Entscheidung auf später. Sie hatte zwei Gartenstühle gegenüber gestellt und die Füße hochgelegt. Genießerisch nahm sie einen großen Schluck und schloss die Augen.

Mike stand vor ihr, flehte sie an, nicht zu gehen. Sein Bitten ging in wüste Beschimpfungen über. Sie riss die Augen auf, wollte nicht daran denken, was passiert war.

Es klingelte.

Widerwillig erhob sie sich, fragte sich, wer um diese Uhrzeit etwas von ihr wollte. Hatte Mike sie gefunden? Vielleicht ein Nachbar, der ein Paket für sie angenommen hatte. Hatte sie etwas bestellt?

Sie sah durch den Spion. Vor der Eingangstür stand keiner ihrer Nachbarn, sondern ein hochgewachsener, schlanker Mann mit glatten, hellbraunen Haaren, braunen Augen und einer markanten Adlernase. Er war nicht im klassischen Sinne schön, hatte aber dennoch etwas an sich, das sie sofort faszinierte. Es war nicht das Klientel, mit dem Mike verkehrte. Nur deshalb öffnete sie die Tür.

„Ja, bitte?“, fragte sie reserviert.

Wenn es einer dieser Handelsvertreter war, der ihr einen Staubsauger oder Mixer andrehen wollte, hatte sie keinen Bedarf.

„Beth Quinn?“, konterte er mit einer Gegenfrage.

„Wer will das wissen?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und trat vor die Tür, darauf bedacht, dass er an ihr vorbei nicht in die Wohnung schauen konnte.

„Mein Name ist William Lymondt.“

Skeptisch musterte sie ihn von oben bis unten. Mit seinem eleganten Mantel, dem offensichtlich maßgeschneiderten Anzug und den schwarzen, rahmengenähten Schuhen wirkte er einem englischen Unterhaltungsfilm entstiegen. Selbst der Akzent war passend.

„Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.“

„Ich wüsste nicht, über was ich mit Ihnen sprechen sollte.“ Sie hatte es geahnt. Mike hatte sie gefunden!

„Es geht um ihren Vater.“

Irritiert starrte Beth den Fremden weiter an. Da könnte ja jeder kommen!

„Ich möchte mit Ihnen über John Weatherly sprechen. Er hat …“

„Mein Vater ist Turner Quinn“, beeilte sich Beth zu sagen und war erleichtert, dass anscheinend eine Verwechslung vorlag.

Mr Lymondt seufzte kaum hörbar und zog ein Schriftstück aus der Innentasche seines Sakkos.

„Auf dieser Geburtsurkunde ist John Weatherly als Ihr Vater eingetragen.“

Beth entriss dem Mann das Dokument und starrte es an. Es kam ihr bekannt vor, eine Abschrift davon hatte auch sie. Doch wie kam dieser Mann an eine Kopie ihrer Geburtsurkunde?

„Turner war mein Vater“, bekräftigte sie noch einmal. „Den Mann, der da steht, habe ich nie gesehen. Er war mit meiner Mutter verheiratet, starb aber kurz nach meiner Geburt.“ Sie wusste selbst nicht, warum sie so viel über ihr Privatleben preisgab. Normalerweise war sie nicht so redselig.

„Miss Quinn, vielleicht bitten Sie mich hinein und wir sprechen in Ruhe darüber“, schlug der Mann vor und nahm die Geburtsurkunde wieder an sich.

Beth wusste nicht, ob man sie überhaupt jemals mit Miss angesprochen hatte. Der Typ kam definitiv nicht aus Kentucky, vielleicht nicht einmal von diesem Kontinent. Aber es interessierte sie, was er zu erzählen hatte und so gab sie sich einen Ruck. Unwillig trat sie beiseite, und ließ den Fremden in ihr Haus eintreten. Sie schloss die Tür und ging voraus auf die Terrasse.

„Bitte, setzen Sie sich!“ Hastig rückte sie die Stühle ordentlich an den Tisch.

„Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“

Er schüttelte den Kopf und setzte sich. Beth tat es ihm gleich und war froh, ihre Hände um die Kaffeetasse legen zu können. So hatte sie etwas, an dem sie sich festhalten konnte.

„Also, Mr Lymondt.“ Sie war sich nicht sicher, ob sie den Namen richtig verstanden hatte. Da aber kein Protest folgte, fuhr sie fort: „Was möchten Sie mit mir besprechen?“

Kapitel 3

 

Will wusste nicht, was er von der jungen Frau halten sollte. Er war quer durch Kentucky gereist, um mehr über Johns Kinder herauszufinden. Sie war häufig umgezogen, hatte zuletzt in Los Angeles gewohnt. Die Quellen waren dürftig, hatten ihn aber letztendlich in diese Kleinstadt geführt. Die letzten zwei Tage hatte er sich mit vielen Bewohnern unterhalten, um sich ein Bild von Beth Quinn zu machen.
Sie war achtundzwanzig Jahre alt und Lehrerin an der örtlichen Grundschule. Sie lebte allein und laut einer redseligen Nachbarin hatte noch nie ein Mann das Haus betreten. Angehörige gab es nicht. Sie war Einzelkind und ihre Mutter war vor etwas mehr als einem Jahr mit ihrem zweiten Ehemann Turner Quinn bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Beth war Mitglied einer Kirche im Ort und sang im Kirchenchor. Vor einem Jahr war sie hierhergezogen und führte seitdem ein einfaches, beschauliches Leben.

Irgendwie konnte Will das nicht in Einklang bringen mit der äußerst faszinierenden Frau, der er jetzt gegenüber saß. Sie hatte blonde, lange Haare, die blausten Augen, die er je gesehen hatte, und eine zierliche Figur. Das lange Sommerkleid umschmeichelte ihre schmalen Konturen und barfuß wirkte sie eher wie eine Elfe als irgendetwas, das er mit der Familie Weatherly in Verbindung gebracht hätte.

„Bitte nenn’ mich Will. Laut diesem Dokument …“, er deutete auf die zwischen ihnen liegende Geburtsurkunde, „… bist du meine Cousine.“

Sie sah sie ihn erschrocken an.

„Ich habe keine Verwandten.“

Er lächelte wohlwollend. „Hier vielleicht nicht, aber in England. Dein Großvater würde dich gern kennenlernen. Wenn er nicht so alt wäre, hätte er die Reise selbst unternommen. So schickt er mich.“

Er kam aus England. Sie hatte es geahnt. Beth nahm hastig einen Schluck Kaffee und verschluckte sich dabei fast.

„Das ist gerade etwas viel“, gestand sie und klammerte sich an der Kaffeetasse fest. „Ein Großvater?“

Will nickte.

„Der Vater meines …“ Sie unterbrach sich, schüttelte den Kopf. „Mein Vater war Turner Quinn und das wird er immer bleiben. John Weatherly ist ein Fremder für mich. Er hat Familie.“

Will sah sie eindringlich an. „Du hast Familie.“ Es verlangte ihm einiges an Geduld ab, ruhig zu bleiben. Aber er wusste, sie brauchte Zeit, das erst einmal zu verarbeiten. Wenn er sie mit sämtlichen Details überschüttete, würde sie ihn vermutlich hochkant hinauswerfen und sein Plan, sie mit nach England zu nehmen, würde sich in Luft auflösen. So bestand zumindest der Hauch einer Chance.

„Was weißt du über John Weatherly?“

Sie zuckte mit den Schultern, schürzte die Lippen und bot dabei einen zuckersüßen Anblick. Will blinzelte und ermahnte sich, dass er seiner Cousine gegenüber saß. Die Richtung, die seine Gedanken nahmen, war absolut nicht angebracht.

„Nichts. Wie ich schon sagte, ich habe ihn nie gesehen. Er war vor meinem Vater – Turner – mit meiner Mutter verheiratet.“

„Als du geboren wurdest, waren sie aber noch verheiratet.“ Zumindest war das der Grund, warum sein Name auf ihrer Geburtsurkunde stand.

„Ja, schon. Aber Turner lebte bereits mit meiner Mutter zusammen. Später hat er mich adoptiert. Er ist der einzige Vater, den ich kenne.“

Will wusste nicht, ob er Beth bedauern oder ob sie sich glücklich schätzen sollte, dass sie John nie kennengelernt hatte. Er schien kein sehr angenehmer Zeitgenosse gewesen sein. Ständig hatte er Ärger mit Geld und Alkohol, was Will auch als Trennungsgrund von Beths Mutter vermutete.

„Das ist vollkommen in Ordnung“, gestand er ihr zu. „Dennoch würde sich dein Großvater sehr freuen, dich kennenzulernen.“

Die Vorbehalte standen Beth ins Gesicht geschrieben und er musste unwillkürlich schmunzeln. „Er ist schon ziemlich betagt und eines Tages wird es auch um sein Erbe gehen.“

Aus ihrem erschrockenen Gesichtsausdruck schlussfolgerte er, etwas Falsches gesagt zu haben. „Erbe?“ Verängstigt sah sie ihn an.

„Ländereien, ein Haus und Geld“, fasste er kurz zusammen. Da sie eine Frau war, würde der Titel nach wie vor an ihn gehen.

„Ich habe doch ein Haus“, stellte Beth fest.

Bei dem Vergleich musste Will laut lachen. Ihr Haus war eine Streichholzschachtel, verglichen mit Nightingham Hill und den dazugehörigen Ländereien.

„Es geht doch nicht darum, dass du es brauchst. Vielmehr geht es darum, dass es den Nachkommen von John zusteht, und das bist nun einmal du. Großvater würde es sehr viel bedeuten.“

„Dass ich sein Haus erbe?“

Will nickte ernsthaft.

„Er kennt mich doch überhaupt nicht.“

Will lächelte und griff in seine Manteltasche. Aus einem länglichen Umschlag holte er ein Flugticket für den morgigen Tag und legte es auf die Geburtsurkunde. Er hatte extra bis heute gewartet, hatte geahnt, dass sie erst den letzten Schultag hinter sich bringen musste, bevor sie sich auf dieses Abenteuer einließ.

„Lerne ihn doch erst einmal kennen. Mehr möchte ich nicht.“

Entgeistert starrte sie ihn an. „Was ist das?“

„Dein Flugticket. Ich fliege morgen zurück nach England und würde mich sehr über deine Begleitung freuen.“

„England? Morgen?“, hastig schüttelte sie den Kopf.

„Hier sind doch jetzt Ferien“, argumentierte er. „Lass es dir in Ruhe durch den Kopf gehen. Entweder du bist da oder nicht. Großvater möchte dich in erster Linie kennenlernen. Das ist alles.“

„Aber ich weiß doch überhaupt nicht, wo ich in England unterkommen soll.“

Will schmunzelte und war versucht, ihr die Identität ihres Großvaters und damit die Tragweite ihres Erbes zu offenbaren. Doch er wollte nicht, dass sich in ihre Augen dieser gierige Blick einstellte, den er schon so oft bei anderen Menschen gesehen hatte. Er mochte Beth genau so mitnehmen, wie sie war: unbedarft und unverstellt. Sie würde früh genug erfahren, wer Henry Weatherly war, und welche Pflichten und Annehmlichkeiten mit diesem Namen verbunden waren.

„Großvaters Haus ist groß genug. Selbstverständlich kannst du bei ihm unterkommen. Ich werde dich hinbringen und wenn es dir dort nicht gefällt, kannst du jederzeit zurückfliegen.“

Sie blinzelte.

„Den Rückflug musst du selbstverständlich nicht bezahlen.“

Er schob ihr die Unterlagen zu, doch sie konnte dieser Aufforderung nicht nachkommen.

Abermals griff Will in die Manteltasche und zog eine Visitenkarte heraus. Es war nicht seine eigene, sondern die des Hotels, in dem er übernachtete. Auf der Rückseite hatte er jedoch seine Handynummer vermerkt.

„Hier kannst du mich erreichen. Ich freue ich mich, dich morgen am Flughafen zu treffen. Pack deinen Koffer, vergiss deine Ausweispapiere nicht und um alles weitere kümmere ich mich.“ Er legte die Karte auf den Stapel aus Geburtsurkunde, Flugticket und Umschlag und erhob sich. Damit riss er Beth aus ihren Gedanken, die sich besann, ihn zur Tür zu bringen. Er hätte den Weg allein gefunden, doch das wäre unschicklich gewesen.

Es war Beth anzusehen, dass sie ziemlich durch den Wind war und die Neuigkeiten, die er ihr mitgeteilt hatte, erst verdauen musste. Am liebsten hätte er sie in seine Arme gezogen und ihr versichert, dass alles gut werden würde. Das Leben mochte zwar ein paar Überraschungen für sie parat haben, aber er würde dafür sorgen, dass sich alles zum Guten wendete.

„Auf Wiedersehen“, er deutete eine Verbeugung an, ehe er zu Fuß davon ging, um zu seinem Leihwagen zu gelangen, der ein paar Straßen weiter parkte.

Kapitel 4

 

Beth verspürte keine Lust mehr, sich auf die Terrasse zu setzen. Der Kaffee war inzwischen kalt und so kippte sie ihn in den Abfluss der Küchenspüle und setzte neuen auf. Mit der beruhigenden Wärme und dem vertrauten Duft einer frischen Tasse Kaffee wollte sie es sich auf dem Sofa bequem machen. Sie fröstelte, obwohl es warm war, und breitete die Sofadecke über sich aus.

Gequält schloss sie die Augen. Was sollte sie jetzt tun? Sie kannte Will nicht. Konnte sie es wagen, mit ihm nach England zu fliegen? Ihre Menschenkenntnis war nicht die beste, schließlich hatte sie sich auf Mike eingelassen.

Sie musste an den unbekannten Mann denken, der angeblich ihr Vater sein sollte. Er war ihr immer egal gewesen. Wenn sie so darüber nachdachte, glaubte sie sich zu erinnern, dass ihre Mutter erwähnt hatte, John Weatherly sei Engländer gewesen. Viel mehr wusste sie jedoch nicht. Ihr Vater war immer Turner gewesen und diese Rolle hatte er ausgezeichnet übernommen.

Umso mehr beschäftigte Beth nun, dass es da einen Großvater geben sollte, der Interesse an ihr hatte. Wollte sie diesen unbekannten Familienzweig kennenlernen? Konnte sie diese Menschen wirklich als ihre Familie betrachten? Wenn sie alle so waren wie Will, könnte das durchaus angenehm werden. Der junge Mann gefiel ihr, er war sympathisch und so typisch englisch, wie es nur ging.

Dumm nur, dass sie so überrumpelt gewesen war, dass sie überhaupt nicht daran gedacht hatte, ihn über ihren Großvater auszufragen. Gab es noch weitere Familienangehörige? Wo genau lebte die Familie? Beth zog ihr Handy heraus und gab in die Suche England ein. Es sah winzig aus, so zerrissen auf der Landkarte. Sie musste einmal quer über den Atlantischen Ozean. Beth wurde beim Betrachten der Karte etwas mulmig zumute. Wollte sie wirklich dorthin fliegen? Sie hatte schon immer davon geträumt, zu verreisen, und das Flugticket wurde ihr sogar bezahlt. Konnte sie dieses einmalige Angebot ausschlagen?

Das Telefon klingelte. Gedankenverloren griff Beth danach und meldete sich.

„Hallo?“, fragte sie in den Hörer, als sie nur ein Schnaufen vernahm.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Hatte Mike sie gefunden?

„Hallo?“ Ihre Stimme war nun leiser, ängstlich.

Da sich niemand meldete, legte Beth hastig auf. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Anrufer Mike war. Wenn er ihre Telefonnummer herausgefunden hatte, würde es nicht lange dauern, bis er vor ihrer Tür stand. Sie musste fort. Am besten jetzt.

England erschien ihr als Reiseziel eine sehr gute Idee zu sein. Dort würde Mike sie nie im Leben finden.

Sie hatte eine Entscheidung getroffen und sprang auf, um ihren Koffer zu suchen. Wenn es morgen schon nach England gehen sollte, hatte sie bis dahin noch vieles zu erledigen.

Kapitel 5

 

Würde sie kommen? Diese Frage stellte sich Will immer wieder. Langsam wurde er unruhig. Er rechnete fest mit Beths Erscheinen, doch die Zeit wurde langsam knapp. Zum hundertsten Mal blickte er auf seine Senator-Armbanduhr, Edition Alfred Helwig, ein Geburtstagsgeschenk seines Vaters. Wie sollte er dem Earl erklären, dass er mit leeren Händen zurückkam? Beth war etwas Besonderes, das war ihm klargeworden, als er ihr gegenüber stand. Nur zu gern hätte er sie mit nach England genommen, in eine völlig andere Welt, um sie in den Hochadel einzuführen.

Ein weiteres Mal ließ er seinen Blick über den Wartebereich schweifen, aber eine blonde Frau mit strahlend blauen Augen war nirgends zu sehen. Er griff in seine Manteltasche und zog sein Handy hervor. Nicht mehr lange, und er würde in das Flugzeug einsteigen müssen. Gedankenverloren trank er den Rest seines Tees aus.

„Da bin ich.“

Will zuckte zusammen und verschluckte sich dabei. Er war unaufmerksam gewesen und als er sich umdrehte, erblickte er Beth. Sie war gekommen. Sie war tatsächlich gekommen. In Jeans und Turnschuhen und einer hässlich grauen Jacke, die nicht so aussah, als würde sie einen Tropfen Wasser abhalten. Auch einen Rucksack hatte sie sich über die Schulter geworfen. Sie wirkte vollkommen fehl am Platz in der exklusiven Umgebung des VIP-Wartebereichs des Flughafens und das war wohl auch ihr bewusst, denn sie sah sich verlegen um.

„Hey“, murmelte sie schüchtern und wurde sogar rot.

Ja, sie war wirklich bezaubernd und er würde gut auf sie achtgeben müssen, damit Cecil sie nicht in der Luft zerriss.

Ein Angestellter vom Servicepersonal erschien und bat beide, ihn zum Flugzeug zu begleiten.

„Wo sind die anderen Passagiere?“, wunderte sich Beth und sah sich in dem ziemlich leeren Wartebereich um.

„Das ist ganz normal für die First Class. Gehen wir“, sagte Will, ergriff ihren Arm und führte sie hinter den Servicemann her.

„First … Class?“, stammelte Beth und zog umständlich das Flugzeugticket aus dem Seitenfach des Rucksacks. „Tatsächlich.“ Langsam blickte sie auf und warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Fliegen alle Engländer erste Klasse?“

Will lachte auf. „Sicher nicht.“ Er schob Beth Richtung Schalter. Eigentlich wäre jetzt der richtige Augenblick, ihr zu sagen, wer ihr Großvater war. Doch noch war das Flugzeug nicht in der Luft und Beth könne sich jederzeit umentscheiden und das Weite suchen.

„Die Ausweise, bitte!“, forderte die Stewardess auf und Will reichte seinen Reisepass hinüber. Sie glich den Namen auf dem Ticket damit ab und reichte ihm das Dokument zurück. „Eine angenehme Reise, Mr Lymondt“, wünschte sie und klimperte mit ihren langen Wimpern. Er trat einen Schritt zur Seite und wartete darauf, dass auch Beth durchgelassen wurde und die bereitstehende Stewardess sie auf ihre Plätze führen würde.

„Fliegen wir wirklich First Class?“, fragte sie aufgeregt, als sie hinter ihn trat.

„Ja, das tun wir. Aber lass es dir nicht anmerken. Komm!“ Er legte ihr eine Hand auf den Rücken und führte sie den schmalen Gang entlang.

In einem Durchgang standen ein Steward und seine weibliche Kollegin, die ihnen freundlich zunickten. Die Kollegin, die sie hergebracht hatte, verabschiedete sich und machte kehrt. Der Steward führte sie durch die noch leeren Reihen der Economy Class. Durch einen Vorhang betraten sie die geräumige First Class mit den deutlich weiter voneinander entfernten Sitzen.

Der Steward deutete auf zwei Plätze. „Bitteschön. Darf es vor dem Start etwas zu Trinken sein?“

„Nein, danke“, lehnte Will für sie beide ab, nachdem Beth den Kopf geschüttelt hatte. Er zog seinen Mantel aus und reichte ihn dem wartenden Steward. Dann nahm er Beths den Rucksack ab, wartete, bis sie sich aus ihrer unförmigen Jacke schälte, und gab beides an den Steward weiter, der das Gepäck mit geübten Handgriffen verstaute.

„Wir haben dann alles“, schickte er den Mann fort, der gut geschult war und sofort verstand.

Beth setzte sich ans Fenster und strich gedankenverloren über die Holzverkleidung.

„Das ist wirklich alles edel“, flüsterte sie ihm leise zu.

Er schmunzelte. Wenn sie das schon beeindruckte, wie würde sie erst beim Anblick von Nightingham Hill reagieren?

„Ist es dein erster Flug?“, lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.

Zuerst zögerte sie, dann schüttelte sie den Kopf. „Aber ich bin noch nie so weit geflogen“, erklärte sie hastig. „Und noch nie First Class.“ Sie blickte ihn mit ihren klaren blauen Augen an. „Ich mag fliegen nicht“, gestand die leise.

Will lachte herzhaft, besann sich dann aber auf seine Manieren, schließlich waren sie nicht vollkommen allein. Zwei Reihen hinter ihnen saß ein älterer Herr, wie er aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte.

Gedämpfte Stimmen waren hinter dem Vorhang zu hören. Die restlichen Passagiere wurden ins Flugzeug eingelassen.

„Wir schaffen das!“, versprach Will und legte seine Hand auf Beths, die verkrampft auf der Armlehne lag. Aufmunternd grinste er sie an und sie erwiderte seinen Blick scheu. Als sie sich entspannte, nahm er seine Hand fort.

Der freundliche Steward, fragte, ob sie für den Start alles hätten und bat sie, sich anzuschnallen. Beth wurde merklich nervöser. Er reichte ihr seine Hand. Als sie begannen, loszurollen, krallte sie sich fast schmerzhaft an ihm fest. Er ließ es zu, saß ganz ruhig und sah ihr dabei zu, wie sie mit geschlossenen Augen auf das Abheben wartete. Er spürte das leichte Kribbeln im Bauch, den Moment, wo sie abhoben, und dann schwebten sie steil nach oben, bis sich die Nase des Flugzeuges senkte und sie ihre Flughöhe erreicht hatten.

Beth atmete erleichtert aus, zog ihre Hand zurück und sah mit neuem Interesse zum Fenster hinaus.

„Alles okay bei dir?“

Sie wandte sich ihm zu und strahlte ihm an, als ob nichts gewesen wäre. „Jetzt ja.“

Will lehnte sich in seinem Sitz zurück und Beth tat es ihm gleich.

„Kannst du mir etwas über Großvater erzählen?“, bat sie.

Will atmete tief durch. Jetzt war es Zeit, ihr reinen Wein einzuschenken.

„Henry Weatherly, dein Großvater“, begann er, „ist der 4. Earl of Richmond.“

Beth schnappte nach Luft und setzte sich aufrecht hin. „So etwas sagst du mir erst jetzt?“

„Hast du danach gefragt?“

Ungläubig starrte sie ihn an. „Ein richtiger Earl?“

Er nickte.

„Hat er auch ein Schloss?“

Amüsiert lachte Will. „Nightingham Hill hat vielleicht die Ausmaße eines Schlosses, wird aber als Landhaus bezeichnet.“

„Wow“, seufzte Beth beeindruckt.

Er sah sie aufmerksam an, suchte in ihren Augen diesen habgierigen Blick. Doch alles, was er darin fand, war Staunen gepaart mit Unglaube.

„Hätte es etwas geändert, wenn ich es dir früher gesagt hätte?“ Die Frage war Will wichtig und Beth schien das zu spüren, denn sie ließ sich mit der Antwort Zeit. Unmerklich hielt er die Luft an.

Hilflos zuckte Beth mit den Schultern. „Ich glaube, ich wäre nicht mitgeflogen“, gestand sie schließlich.

Diese Antwort war so ehrlich, dass Will nicht anders konnte, als breit zu grinsen. Sie war einfach unglaublich. Die meisten anderen Frauen, die er kannte, hätten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um nach England zu kommen.

„In erster Linie ist er dein Großvater“, sagte Will ruhig. „Er mag manchmal etwas grob sein, aber im Grunde seines Herzens ist er ein guter und aufrichtiger Mensch.“

Beth blickte wieder aus dem Fenster und er fürchtete schon, sie hätte ihm nicht zugehört.

„Du hast recht. Ich sollte ihm eine Chance geben. Was kann er schon dafür, dass er in einem schlossähnlichen Haus wohnen muss und ein Earl ist.“

Und wieder schaffte Beth es, ihn zu verblüffen. Dieses amerikanische Mädchen schien absolut keine Ahnung von englischer Aristokratie zu haben und gerade das, machte sie so sympathisch.

„Du wirst ihn mögen“, versprach er. „Und er dich“, fügte er leiser hinzu.

Eine Stewardess bot ihnen Decken und Kissen an. Beth nahm beides dankbar entgegen und machte es sich in ihrem Sitz bequem, den sie in eine liegende Position brachte. „Ich werde eine Runde schlafen“, verkündete sie und kuschelte sich in die Decke.

Will war nicht müde. Er saß da, beobachtete Beth beim Schlafen und bestellte sich schließlich einen Tee.

 

 

 

Kapitel 6

 

Nach dreizehn Stunden Flug, mit einem zweistündigen Aufenthalt in Chicago, während dem Will Beth in einem noblen Flughafenrestaurant zum Essen eingeladen hatte, erreichten sie endlich London.

Überall waren Menschen, doch Will führte sie abseits der Massen zu einem Seitenausgang in eine Tiefgarage. Dort stand ein Auto bereit. Ein Servicemitarbeiter lud das Gepäck in den Kofferraum und Will drückte ihm dafür einen Schein in die Hand. Der Mann wünschte ihnen eine gute Fahrt und verschwand unauffällig.

„Wir haben noch zwei Stunden Fahrt vor uns“, sagte Will mit einer eleganten Verbeugung und hielt ihr die Beifahrertür auf.

Beth rührte sich nicht. Für einen Moment war sie mit der Situation vollkommen überfordert. Wollte sie wirklich hier in London sein? Wollte sie diesen Earl kennenlernen, der ihr Großvater sein sollte? Es war doch alles ein bisschen viel und jetzt, da sie London erreicht hatten, plötzlich viel zu real. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln.

Will wurde ungeduldig „Was ist mit dir? Willst du nicht mitfahren?“

Sie wusste es nicht. Sie wusste nicht, ob sie in dieses Auto einsteigen und zu ihrem Großvater fahren wollte. Was erwartete er von ihr? Was erwartete Will von ihr? Sie war eine Enttäuschung für alle. Zumindest hatte das Mike immer behauptet. Was, wenn er damit recht hatte. Was, wenn sie Will ebenso enttäuschte wie ihren Großvater?

„Was ist nun?“

Jetzt war sie schon so weit gekommen, da würde sie doch nicht so kurz vor dem Ziel Panik bekommen und umdrehen. Beth gab sich einen Ruck und stieg ein. Wortlos schnallte sie sich an.

Will umrundete den Wagen, setzte sich neben sie und fuhr los. Schnell ließen sie das Parkhaus hinter sich und er fädelte sich in den Londoner Verkehr ein. Beth klebte regelrecht an der Fensterscheibe und sog die fremdartigen Eindrücke in sich auf. Obwohl es in London erst Nachmittag war, war es ziemlich düster. Der Himmel war wolkenverhangen und hüllte die Straßen in ein tristes Grau. Den Pfützen auf dem Asphalt nach, musst es vor kurzem stark geregnet haben.

Beth staunte. Es sah alles so anders aus als zu Hause. Sie hatte gelesen, dass manche Bauten in Europa älter waren als Louisville, die größte Stadt in Kentucky. So recht hatte sie sich das nie vorstellen können, aber da sie nun die wuchtigen Steingebäude vor sich sah, war es plötzlich sehr real.

Irgendwann ließen sie London und seine letzten Ausläufer hinter sich. Die Gegend wurde zunehmend grüner und die vereinzelten Städtchen und Dörfer kleiner. Die Vegetation unterschied sich ganz eindeutig von der ihrer Heimat.

Will blickte konzentriert auf die Straße und steuerte das Auto sicher ihrem Ziel entgegen.

„Was geht dir durch den Kopf?“, fragte Will und warf ihr einen schnellen Blick zu.

„Warum ist er ein Earl? Also mein Großvater …“, stotterte Beth.

„Wie meinst du das?“

„Wie wurde er zu einem Earl?“

Nachsichtig lächelte Will vor sich hin. So eine Frage hatte ihm noch nie jemand gestellt, denn jeder, den er kannte, wusste über solche Dinge Bescheid. „In der Regel gibt es zwei Möglichkeiten, Angehöriger des britischen Hochadels zu werden. Entweder man wird in den Stand eines Adeligen auf Lebenszeit erhoben. Oder man erbt ihn, wobei das inzwischen ziemlich selten ist und man einer sehr alten Familie angehören muss.“

Aufmerksam folgte Beth seinen Ausführungen. „Und in deiner Familie wird der Titel vererbt?“

„Ja. In unserer Familie“, korrigierte er sie.

„Habe ich dann auch einen Titel?“ Ihre Augen wurden groß, so als könne sie dies nicht glauben. War sie dann eine Earlin?

Will musste lachen. „Die englischen Titel werden nur an männliche Nachfahren vererbt. Deshalb wird der Kelch an dir vorübergehen und ich bekomme ihn. Wärst du allerdings ein Mann, dann wäre der Titel deiner, weil du ein Nachfahre des Erstgeborenen bist.“

„So eine Ungerechtigkeit.“ Dabei ging es Beth nicht um den Titel, aber sie empfand es als äußerst ungerecht, dass sie, nur weil sie dem falschen Geschlecht angehörte, weniger Rechte besaß.

„Du könntest mich heiraten, dann wärst du eines Tages Countess of Richmond. Auch wenn du dem Adel nicht rechtlich angehörst, dürftest du dann den Titel tragen.“

Beth prägte sich die weibliche Form des Earls ein. Gleichzeitig stutzte sie. Hatte Will das als Scherz gemeint? Es musste so sein. Sie konnte ihn nicht heiraten. Das war unmöglich. Außerdem waren dort wo sie her kam Ehen im engeren Verwandtschaftsgrad verboten und das schloss auch ihre Beziehung zueinander mit ein. Aber es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, schließlich war sie mit dem Heiraten durch. Ein für alle Mal.

„Das würde ich nie tun“, lehnte sie strikt ab. „Du bist mein Cousin. Ich würde dich nie heiraten.“ Peinlich berührt wusste sie nicht, wo sie hinsehen sollte.

Will sah tief getroffen aus. „Schade, aber da kann man wohl nichts machen.“

Entsetzt starrte Beth ihn an, doch da entdeckte sie das amüsierte Zucken um seinen Mundwinkel.

„Du …“, schnaubte sie und stieß spielerisch gegen seinen Oberarm.

Er lachte laut auf.

Sie war beinahe erleichtert, dass er es nicht ernst gemeint hatte. Auch wenn ein kleiner Teil in ihr das sehr bedauerte. Was war nur mit ihr los. Sie hatte genug Lehrgeld bezahlt.

Dankbar registrierte sie, dass Will fortfuhr: „Von Adel ist nur der Titelträger. Schottische Titel können auch in der weiblichen Linie vererbt werden, englische nicht.“

Beth empfand sofort Sympathie für die Schotten, die ihr deutlich emanzipierter erschienen als der Rest des Landes.

„Spreche ich ihn dann mit Earl an?“ Sie kam sich etwas doof vor, aber lieber gab sie sich vor Will die Blöße, als dann vor der adeligen Verwandtschaft als dummes amerikanisches Mädchen dazustehen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752107159
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Liebesroman Erbe Earl England Happy End kurzer Liebesroman mit Happy End Familie Liebe Heftroman Groschenroman Erzählungen Kurzgeschichten

Autoren

  • Ann Hillmore (Autor:in)

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin im Bereich Fantasy und (historische) Liebesromane unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Die (falsche) Erbin des Earls