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Eine Nacht in deinen Armen

von Ann Hillmore (Autor:in) Melissa David (Autor:in)
113 Seiten
Reihe: HSL, Band 1

Zusammenfassung

Nie hat Becky diese eine wunderbare Ballnacht vergessen, in der sie sich Cole Whitethrone hingegeben hat. Wie könnte sie auch, denn es sind seine Augen, die sie anblicken, wenn sie ihren Sohn ansieht. Als Cole aus den Staaten zurück nach Kanada kommt, setzt Becky alles daran, dass er nie erfährt, dass Liam sein Sohn ist. Sie hat es versprochen und zum Ausgleich dafür eine nicht unerhebliche Summe Geld von den Whitethrones bekommen, die sie damals dringend benötigt hat. Sollte Becky ihr Versprechen brechen, würden sie und ihre Familie alles verlieren. Dumm nur, dass ihrem Herzen das vollkommen egal ist und es schneller schlägt, sobald sie Cole gegenübersteht. Wird es ihr gelingen, ihr Versprechen zu halten, oder wird ihr Herz ihr einen Strich durch die Rechnung machen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Klappentext

 

Nie hat Becky diese eine wunderbare Ballnacht vergessen, in der sie sich Cole Whitethrone hingegeben hat. Wie könnte sie auch, denn es sind seine Augen, die sie anblicken, wenn sie ihren Sohn ansieht. Als Cole aus den Staaten zurück nach Kanada kommt, setzt Becky alles daran, dass er nie erfährt, dass Liam sein Sohn ist. Sie hat es versprochen und zum Ausgleich dafür eine nicht unerhebliche Summe Geld von den Whitethrones bekommen, die sie damals dringend benötigt hat. Sollte Becky ihr Versprechen brechen, würden sie und ihre Familie alles verlieren.

Dumm nur, dass ihrem Herzen das vollkommen egal ist und es schneller schlägt, sobald sie Cole gegenübersteht.

Wird es ihr gelingen, ihr Versprechen zu halten, oder wird ihr Herz ihr einen Strich durch die Rechnung machen?

 

 

Impressum

 

E-Book

300-440-01

Melissa David

Mühlweg 48 a

90518 Altdorf

Blog: www.mel-david.de

E-Mail: melissa@mel-david.de

 

 

Umschlaggestaltung: Melissa David

Bildmaterial: © 123rf.com

 

Lektorat:

Jeanette Lagall

www.lektorat-lagall.de

 

Korrektorat:

Gundel Steigenberger

www.lektoratsteigenberger.de

 

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Eine Nacht in deinen Armen

 

 

 

High Society Love

 

von

Melissa David

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Es war Sommer und bereits am Morgen schon drückend heiß. Ohne das angenehme Lüftchen, das Becky ins Gesicht blies, wäre es an diesem Nachmittag auf der Terrasse nicht auszuhalten gewesen.

Sie lag im Liegestuhl und versuchte, sich auf das Buch in ihren Händen zu konzentrieren. Immer wieder spähte sie über die Lektüre hinweg zu ihrem Sohn Liam. Er hatte keine Lust auf Hausaufgaben und kaute unwillig auf seinem Bleistift herum.

„Deine Mathehausaufgaben erledigen sich nicht von selbst“, erinnerte sie ihn sanft.

„Ist doch mir egal“, schimpfte er, warf den Bleistift auf den Tisch und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

Liam hatte schlechte Laune. Sie hatten nach dem Mittagessen einen unschönen Streit gehabt. Grund dafür waren die Turnschuhe, die sie ihm erst vor wenigen Wochen gekauft hatte und die jetzt auseinanderfielen. Seit er in die Schule gekommen war, hatte Becky drei Mal neue Turnschuhe kaufen müssen. Einmal, weil sie zu klein wurden, zwei Mal, weil Liam nicht aufgepasst hatte und sie kaputt gegangen waren. Ein weiteres Paar konnte sie sich diesen Sommer nicht leisten.

Eine scharfe Erwiderung lag Becky auf der Zunge, doch sie sagte nichts. Hufgetrappel war zu hören. Das Haus, das sie mit ihrem Sohn und ihrem Vater bewohnte, befand sich am Rand der Whitethrone-Ranch. An ihrem Grundstück führte einer der beliebten Reitwege vorbei. Daher wunderte es Becky nicht, dass Walker Whitethrone sich ihnen näherte. Schon von weitem winkte er ihnen zu.

Becky seufzte. Mit Hausaufgaben war es das jetzt gewesen. Liam liebte Walker abgöttisch. Er sprang auf und winkte dem hochgewachsenen Mann zu, der zum Gruß die Hand hob und sein Pferd vor der Holzterrasse zügelte. Mit einer geschmeidigen Bewegung stieg er ab und band die Zügel an der Veranda fest, ehe er mit einem gekonnten Sprung über die Brüstung setzte, anstatt die Stufen auf der anderen Seite zu nehmen.

„Na Kumpel, wie gehts?“, fragte er vergnügt und wuschelte Liam durch das braune Haar.

„Ich muss Hausaufgaben machen“, seufzte der Junge.

Walker nickte ihr über Liams Kopf hinweg zu, ehe er sich neben dem Kind auf einem Stuhl niederließ.

„Ich war in Mathe schon immer schlecht“, flüsterte Walker dem Jungen verschwörerisch zu.

Becky musste grinsen. Sie hatte keine Ahnung, ob das den Tatsachen entsprach, denn Walker Whitethrone stand inzwischen an der Spitze des Familienunternehmens, das Reitsportartikel aller Art herstellte und vertrieb. „Reitsportartikel Whitethrone“ gehörte inzwischen zu den Marktführern hier in Quebec. Wenn einer mit Zahlen umgehen konnte, dann definitiv Walker.

„So schwer sind die Aufgaben doch nicht und wenn du fertig bist, darfst du sicher deinen Großvater besuchen und eine Runde auf Rosa drehen.“

Becky hatte nichts dagegen, dass Liam auf die Whitethrone-Ranch ging und ihren Vater Jacob dort von der Arbeit abhielt. Liam liebte Pferde und es bereitete ihm große Freude, auf Rosa zu reiten, wenn sein Großvater ihn im Kreis führte.

„Das geht nicht“, verkündete Liam frustriert. „Ich habe keine vernünftigen Turnschuhe. Sie sind kaputt und Mom kauft mir keine neuen.“

„Hmm …“

Wieder begegneten sich ihre Blicke über den Kopf des Jungen hinweg, und Becky sah ertappt fort. Sie hatte nicht gewollt, dass Walker davon erfuhr. Sie kamen zurecht – irgendwie.

„Lass uns mal sehen, wie schnell du mit diesen Aufgaben bist.“ Walker tippte mit dem Zeigefinger auf Liams Rechenheft und erhob sich dann, um zu Becky zu gehen.

Sie richtete sich auf und wappnete sich für das Gespräch, das unweigerlich folgen würde. Walker zog sich einen der Gartenstühle heran und setzte sich ihr gegenüber.

„Warum kommst du nicht zu mir?“

Becky wich seinem forschenden Blick aus. Wie immer, wenn er dieses Thema ansprach, schnürte es ihr die Kehle zu.

Bewusst ließ sie seine Frage unbeantwortet und beschloss, in die Offensive zu gehen. „Du solltest nicht so oft herkommen.“

„Das ist meine Entscheidung. Ich mag Liam.“

Becky schluckte aufgebracht. Liam mochte Walker und sie mochte ihn auch. Für sie war er so etwas wie ein Freund geworden. Dennoch war es nicht richtig, ihn auf diese Art und Weise auszunutzen.

„In Saint-Marianne wird geredet“, sprach sie das aus, was sie schon länger beschäftigte. Wie ein Lauffeuer hatte sich damals die Nachricht verbreitet, dass Becky Carrick ein Kind bekommen würde. Und danach blieb sie nicht nur unverheiratet, sondern schwieg sich auch noch über den Vater aus. Als dann ausgerechnet Walker – ein Whitethrone und ein verheirateter Mann – begann, Becky zu unterstützen, brodelte die Gerüchteküche über. Konnte man daher jemandem verübeln, dass bis heute alle annahmen, Walker wäre Liams Vater?

„Das ist mir egal“, entgegnete Walker aufgebracht.

Becky blickte auf und konnte in den blauen Augen von Walker lesen, dass er die Wahrheit sprach. Whitethrone-Augen, ging es ihr durch den Kopf. Wie die Brüder Walker, Cole und Jeffery sie besaßen – und wie Liam.

„Das weiß ich“, flüsterte sie und blickte hilflos auf ihre Hände.

„Hör endlich auf, dir so viele Gedanken zu machen, und lass dir helfen.“ Er drückte ihr einen gelblichen Schein in die Hand. Becky musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass es sich um hundert Dollar handelte. Wie immer zu viel Geld.

Bevor sie es ihm zurückgeben konnte, erhob Walker sich und schlenderte, als ob nichts passiert wäre, zu Liam.

„Ich fürchte, ich muss jetzt gehen, aber vielleicht sehen wir uns später auf der Ranch, wenn du und deine Mutter neue Turnschuhe für dich gekauft haben.“

Liam hob den Kopf und warf Becky einen fragenden Blick zu.

Beckys Hand schloss sich fester um das Geld. Es war nicht richtig, es zu nehmen, dennoch würde sie es tun. Für Liam. Langsam nickte sie und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Jungen aus.

Walker verabschiedete sich, schwang sich auf sein Pferd und ritt davon.

Kapitel 2

 

Der Kies knirschte unter den Reifen, als Cole Whitethrone sein Auto zum Stehen brachte. Da war er. Nach acht Jahren wieder zurück auf der Ranch. Nichts hatte sich hier verändert. Vor ihm befand sich das Haupthaus. Das riesige Holzhaus, in dem er aufgewachsen war, stand auf einem massiven Steinsockel. Die Fassade war in den letzten Jahren neu gestrichen worden, denn sie strahlte in einem warmen Braun. Die Dachschindeln waren etwas heller als die Klappläden der Fenster. Cole stieg aus und ließ seinen Blick über die gepflegte Einfahrt gleiten. Weiter hinten war der Stall zu sehen und auf der angrenzenden Weide erblickte er ein paar Pferde. Wie lange war es her, seit er das letzte Mal im Sattel gesessen hatte?

Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Haupthaus. Entschlossen schritt er darauf zu. Die massive Eingangstür war offen, wie immer tagsüber. Nichts hatte sich verändert. Der Eingangsbereich sah genau so aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. An den Garderobenhaken hing ein verbeulter Hut, ebenso wie Walkers dunkle Reitjacke. Er ging weiter, registrierte die frischen Blumen auf dem kleinen Beistelltisch und warf einen schnellen Blick in den darüber hängenden Spiegel. Konnte er seiner Mutter nach der langen Autofahrt so gegenübertreten? Die zermürbende Reise war nicht ohne Spuren an ihm vorübergegangen und seine blauen Augen sahen müde aus. Zumindest der Maßanzug eines New Yorker Designers saß wie angegossen. Das hellblaue Hemd hatte er am Hals offen stehen lassen, wie er es immer trug, wenn er keine offiziellen Termine hatte. Das braune Haar war etwas zu lang, aber es gefiel ihm so. Würde er den Ansprüchen seiner Mutter genügen? Er wusste, wie viel Wert sie auf Äußerlichkeiten legte.

„Cole?“, hörte er die vertraute Stimme seiner Mutter. „Cole, bist du das?“

Ehe er antworten konnte, erschien Abigail Whitethrone auf der Treppe. Sie blieb stehen und sah ihn eine ganze Zeit lang stumm an. Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht und sie beeilte sich, ihm entgegenzugehen.

„Cole, endlich bist du zurück.“

Cole lächelte und schloss sie in seine Arme. Er überragte sie um etliche Zentimeter. Ein vertrauter Geruch nach Wärme und Geborgenheit, Lavendel und Heu stieg ihm in die Nase und rief Kindheitserinnerungen wach. Vorsichtig schob er sie ein wenig von sich, um sie in Ruhe ansehen zu können. Die Zeit war nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Die Haut war faltiger, die Schläfen leicht ergraut. Dennoch trug sie, wie früher, kunstvoll die Haare hochgesteckt. Sie löste sich von ihm und winkte ihn mit einer charakteristischen, grazilen Bewegung ins offizielle Wohnzimmer. Seine Mutter, die unangefochtene Königin von Quebec, was Stil und selbstauferlegte Etikette betraf. Ungeachtet der Tatsache, dass sie sich auf einer Ranch befanden, trug sie ein knielanges, schlichtes Kostüm in Dunkelblau und Pumps.

„Wo bleiben Walker und Laura?“ Suchend sah sie sich um und wartete ungeduldig an der Tür, bis Cole den Wohnraum betrat.

„Setz dich!“, forderte sie ihn auf. Erwartungsvoll zog sie ihn zu einem Sessel und nahm ihm gegenüber auf dem Sofa Platz. „Erzähl! Wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen? Ich bin ja so froh, dass du endlich zurück bist. Es ist wundervoll, dass du mit ins Familienunternehmen einsteigen wirst.“

Jetzt fiel ihm wieder ein, warum er nur Walker von seiner Rückkehr erzählt hatte und es ihm überlassen hatte, die restliche Familie inklusive seiner Mutter darüber zu informieren. Sie nervte ihn schon jetzt. Vermutlich hatte sein jüngster Bruder Jeffery alles richtig gemacht, indem er die Schule abgebrochen hatte und verschwunden war. Seit Jahren hatten sie keinen Kontakt zu ihm, wussten nicht, wo er lebte.

Abigail schniefte. „Dein Vater wäre so glücklich, könnte er diesen Tag miterleben.“

„Mutter.“

Sie winkte ab. „Er wäre überaus stolz auf dich.“

Das bezweifelte Cole, sagte aber nichts dazu. Sein älterer Bruder war immer der Stolz von Tate Whitethrone gewesen. Egal was Walker tat, der Vater war begeistert gewesen. Ebenso bei Jeffery, der das Nesthäkchen der Familie war. Derjenige, der sich alles herausnehmen konnte und grundsätzlich aus der Reihe tanzte. Und er, Cole? Er hatte nie richtig dazugehört. Das war der Hauptgrund, warum er nach dem Studium so schnell fortgewollt hatte. Er hatte damals das Gefühl gehabt, in Quebec nicht genug Luft zu bekommen. Die Millionenstadt Montreal war zu nahe an der Ranch und so hatte es ihn zuerst nach London und dann nach New York verschlagen. Warum er überhaupt zurückgekommen war? Der Grund dafür trat in diesem Moment durch die Tür.

„Unfassbar, du bist tatsächlich zurück“, begrüßte Walker ihn lachend, zog ihn in eine feste Umarmung und schlug ihm auf den Rücken.

„Du meintest, du könntest Unterstützung gebrauchen.“

Walker lachte noch immer, als er einen Schritt zurücktrat und Cole von oben bis unten musterte.

„Das tue ich. Wer ist besser dafür geeignet, das Unternehmen international fit zu machen, als einer, der in Europa und den Staaten gearbeitet hat.“ Die unverhohlene Anerkennung seines Bruders ließ ihn um ein paar Zentimeter wachsen. Er freute sich auf die Zusammenarbeit mit ihm. Walker war schon immer derjenige gewesen, der die Familie zusammengehalten hatte. Über all die Jahre hatten sie stets Kontakt gehalten und Cole müsste lügen, wenn er behauptete, er wäre derjenige gewesen, der regelmäßig zum Telefon gegriffen hätte.

„Ich hoffe, du setzt nicht zu große Erwartungen in mich.“ Etwas unwohl war ihm schon bei der Sache. Er wusste, worauf es ankam, hatte in riesigen Konzernen gearbeitet, die weltweit exportierten. Dennoch hatte er noch nie einen internationalen Vertrieb auf die Beine gestellt und auch, wenn er sich auf die Herausforderungen freute, hoffte er inständig, die Familie nicht zu enttäuschen.

„Das tue ich, aber die wirst du erfüllen“, entgegnete Walker überzeugt.

Eine Bewegung an der Tür veranlasste Cole, seine Aufmerksamkeit dorthin zu lenken. Für einen Augenblick erstarrte er und hoffte, dass niemand seine Betroffenheit bemerkt hatte. Die blasse Frau, die in der Tür stand, hätte er auf der Straße nicht wiedererkannt. Laura, die Frau von Walker, war schon immer eine schlanke Frau gewesen, doch sie hatte seit ihrer letzten Begegnung noch einmal ordentlich abgenommen. In der langen Palazzo-Hose und der viel zu weiten Bluse wirkte sie regelrecht dürr.

„Laura“, begrüßte er seine Schwägerin und gab ihr die Hand.

Ihre Wangenknochen zeichneten sich deutlich in dem abgemagerten Gesicht ab. Sie lächelte, doch es vertrieb die dunklen Schatten in ihren Augen nicht.

Walker trat an ihre Seite und legte seiner Frau einen Arm um die Schulter. Laura zuckte zusammen und wand sich unbehaglich in der Umarmung, bis er sie losließ.

„Vermutlich möchtest du zuerst auspacken und dich umziehen, bevor es Abendessen gibt“, sprach seine Mutter Cole an.

Der nickte. „Das übliche Zimmer?“

„Selbstverständlich.“

„Dann hole ich mein Gepäck.“ Mit einem entschuldigenden Kopfnicken in Richtung Walker und Laura machte er auf dem Absatz kehrt, um seine Koffer zu holen.

Kapitel 3

 

Die Woche hatte aus Einarbeiten bestanden. Inzwischen war Cole es gelungen, sich in der Firma einen Überblick zu verschaffen. Walker hatte gute Arbeit geleistet. Die Reitsportartikel für Reiter liefen deutlich besser als die für Pferde und so würde er sich zuerst auf diese Produktlinie konzentrieren. Wenn die Infrastruktur einmal stand, wäre es keine große Umstellung, die Pferdeartikel mit aufzunehmen.

Um in Ruhe denken zu können und zwischendurch etwas anderes zu sehen, als die Hochhäuser von Montreal, hatte er die gesammelten Unterlagen mit auf die Ranch genommen. Dort saß er am Nachmittag auf der Terrasse hinter dem Haus mit einem wunderbaren Blick auf den Stall und die direkt angrenzende Pferdekoppel und ging die Papiere durch. Der Laptop stand aufgeklappt vor ihm, damit er sich immer wieder Notizen machen konnte.

Aus der Küche hatte er sich eine selbstgemachte Limonade geholt und als er sich zurücklehnte, um eine Pause einzulegen, nahm er einen Schluck. Mit einem zufriedenen Lächeln sah er den Pferden zu, die auf der Koppel grasten. Jacob Carrick verschwand mit einer heubeladenen Schubkarre in den Ställen. So lange Cole denken konnte, arbeitete der Stallmeister für seine Familie. Er war derjenige gewesen, der ihn das erste Mal auf den Rücken eines Pferdes gesetzt hatte. Nicht müde werdend, hatte er ihn an der Longe geführt und später auf dem Handführpferd begleitet, bis er in der Lage gewesen war, alleine auszureiten. Meine Güte, wann war er zuletzt geritten? Konnte man das verlernen?

Jacob kam aus dem Stall, sah zu ihm hinüber und tippte sich grüßend an die Kappe. Dann verschwand er hinter der Scheune. Es juckte Cole, sich ein Pferd zu satteln und auszuprobieren, wie gut er noch im Sattel saß. Mit Anzug würde er auf dem Pferd jedoch keine berauschende Figur abgeben. Während er noch grübelte, kam Jacob mit einem Eimer und einem Strick beladen zurück und marschierte in Richtung der Hangkoppel davon, die sich etwa eine Meile nordöstlich befand. Damit hatte sich das Thema Reiten vorerst erledigt, denn ohne die Empfehlung eines geeigneten Pferdes würde er sich nicht auf ein Tier wagen. Einige Zeit sah Cole ihm hinterher und bedauerte ein wenig, seine Reitstunde verschieben zu müssen.

Unwillkürlich tauchte in seinem Geist eine Person mit hellbraunem Haar auf, die ihn mit großen warmen Augen ansah. Nach dem Studium war er für ein paar Wochen auf die Ranch zurückgekehrt, bevor er ins Ausland gezogen war. In diesen wenigen Wochen auf der Ranch war er Becky Carrick nähergekommen. Sie war ein paar Jahre jünger als er und er hatte ihr nie Beachtung geschenkt. Umso größer war seine Überraschung, dass es das zahnspangentragende, pummelige Mauerblümchen nicht mehr gab. Stattdessen hatte er einer sportlichen und wunderschönen Frau gegenübergestanden. Wo sie nun lebte und was sie tat? Sie hatte studieren und Tierärztin werden wollen. So zielstrebig wie sie damals gewesen war, hatte sie ihre Träume sicher verwirklicht.

„Jacob?“, hörte er eine Kinderstimme rufen. „Jacob?“

Irritiert, ein Kind auf der Ranch zu hören, erhob Cole sich, um nachzusehen, wer da auf der Suche nach dem Stallmeister war. Gab er Kindern aus der Gegend Reitunterricht?

Cole umrundete den Stall und entdeckte am Eingang der Koppel einen Jungen, der etwa in dem Alter sein musste, in dem man mit Reiten begann.

„Hallo“, grüßte er ihn und ging auf ihn zu.

Irritiert blickte der Junge zu ihm auf.

„Kann ich dir helfen?“, erkundigte Cole sich.

Mit großen blauen Augen sah der Junge ihn an, musterte ihn von oben bis unten, offenbar überlegte er, ob er ihm vertrauen konnte. Schließlich sagte er: „Ich suche Jacob.“

Wissend nickte Cole. „Ich habe ihn vorhin gesehen, aber ich fürchte, er ist auf die Koppel am Hang gegangen.“

Die Unterlippe des Jungen schob sich enttäuscht vor.

„Möchtest du zu mir auf die Terrasse kommen und dort auf ihn warten?“, schlug Cole vor.

Befangen musterte der Junge ihn, dann schüttelte er den Kopf.

„Ich heiße Cole und wer bist du?“ Er streckte seine Hand aus, ging dabei instinktiv in die Hocke, um mit dem Jungen auf Augenhöhe zu sein.

Zögernd reichte das Kind ihm die Hand. „Liam.“

„Liam, freut mich dich kennenzulernen. Hast du Lust, auf der Terrasse mit mir eine Limo zu trinken?“, wiederholte Cole sein Angebot.

Der Junge presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Mrs. Whitethrone mag mich nicht. Solange sie mich nicht sieht, darf ich auf der Ranch sein.“

Die Aussage des Kindes überraschte ihn. Er hatte seine Mutter immer als kinderlieb empfunden. In den letzten Tagen hatte sie mehrmals Andeutungen darüber gemacht, dass es Zeit für Enkelkinder war. Da Walkers Ehe bisher kinderlos geblieben war, setzte Abigail Whitethrone nun ihre Hoffnung in Cole.

„Ich kann dir versichern, dass meine Mutter nichts dagegen hat, wenn ich mir Besuch einlade.“ Verschwörerisch zwinkerte er Liam zu.

In dem Gesicht des Kindes waren die Gefühlsregungen deutlich abzulesen. Seine Befangenheit verwandelte sich in ungläubiges Staunen. „Bist du Walkers Bruder?“

Cole nickte. „Kennst du Walker?“

„Er kommt mich ab und an besuchen.“

Cole legte den Kopf schief und betrachtete den Jungen nachdenklich. Was hatte Walker mit dem kleinen Kerl zu schaffen?

„Ich hätte gerne eine Limo“, verkündete Liam.

Cole grinste als Liam wie selbstverständlich die Hand in seine schob. Gemeinsam kehrten sie auf die Terrasse zurück.

Eilig räumte Cole die Ordner und Papierstapel zusammen und klappte den Laptop zu. Liam setzte sich auf einen der Stühle und sah den Pferden zu.

„Ich hol dir eine Limonade“, erklärte Cole, bevor er im Haus verschwand.

Als er zurückkehrte, war Liam nicht mehr allein. Eine Frau stand mit dem Rücken zum Haus auf der Terrasse. Selbst von hinten konnte er anhand ihrer angespannten Körperhaltung erahnen, dass sie aufgebracht war. „Du weißt doch, dass du hier nichts zu suchen hast. Wenn Mrs. Whitethrone dich sieht, gibt es Ärger und dann darfst du nicht mehr zu den Pferden.“

Cole trat auf die Terrasse hinaus, um der empörten Frau zu erklären, dass er Liam eingeladen hatte. „Ich fürchte, ich bin der Schuldige.“

Die Frau drehte sich schwungvoll zu ihm herum und funkelte ihn zornig an. Cole erstarrte, als er in bekannte, haselnussbraune Augen blickte. Die Person vor ihm war keine Unbekannte. Es war Becky Carrick. Verwundert sah er von ihr zu Liam und wieder zurück. Es war nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen.

„Becky Ca…“ Er unterbrach sich. War sich nicht sicher, ob sie ihren Mädchennamen noch trug.

Der Zorn in ihrem Gesicht war etwas anderem gewichen, das er nicht genau benennen konnte. War es Furcht? Da musste er sich täuschen. Sie war mit Sicherheit ebenso überrascht wie er.

„Cole“, krächzte sie mit erstickter Stimme und starrte ihn an.

„Mom, das ist Walkers Bruder“, erklärte Liam stolz. „Er hat mich auf eine Limo eingeladen.“

Jetzt kam Bewegung in Becky. „Das geht nicht!“ Mit einer anmutigen Drehung machte sie auf dem Absatz kehrt und wandte sich dem Jungen zu. „Wir hatten eine Abmachung.“

„Aber …“, verteidigte der Junge sich.

Becky schüttelte entschieden den Kopf.

Cole beeilte sich, die Limonade auf dem Tisch abzustellen. „Vielleicht möchtest du dich setzen. Ich kann für dich etwas zu trinken holen“, bot er großzügig an.

Becky sah ihn nicht einmal an, als sie verneinte. Sie ergriff Liams Hand und zerrte ihn vom Stuhl.

„Es tut mir leid, Cole. Wir müssen gehen. Einen schönen Tag.“

Ohne ihm die Chance zu lassen, sie umzustimmen, zog sie Liam mit sich davon und ignorierte den flehenden Protest des Kindes.

Verwirrt über die ganze Situation sah Cole den beiden nach und fragte sich, was da passiert war. Er ließ sich in den Stuhl fallen, auf dem kurz zuvor Liam gesessen hatte, griff nach dessen Limo und trank das Glas in einem Zug aus. Schade, dass es nichts Hochprozentiges war. Auf den Schreck hätte er das gut gebrauchen können. Kopfschüttelnd starrte er vor sich hin, konnte immer noch nicht glauben, dass er soeben Becky wiedergetroffen hatte. Sie hatte einen Sohn. Natürlich. Wie hatte er annehmen können, dass eine Frau wie sie ungebunden war? Und sie war noch hübscher geworden.

Cole schloss die Augen und verdrängte Bilder, die er von einer verheirateten Frau definitiv nicht haben sollte. Er musste sich ablenken und das ging am besten mit Arbeit.

Kapitel 4

 

Becky zitterte noch immer. Die Begegnung mit Cole hatte sie total aus der Bahn geworfen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass er wieder auf der Ranch war. Seit wann? Warum hatte ihr Vater nichts erzählt? Wenigstens Walker hätte etwas andeuten können. So war sie absolut unvorbereitet auf das Treffen mit ihm gewesen. Sie musste sich jedoch eingestehen, dass sie sich auf diese Begegnung niemals richtig hätte vorbereiten können. Beckys Kehle war trocken. Cole hatte atemberaubend ausgesehen. Wie ein Mann von Welt in seinem schicken Anzug. Genau das war er. Er war in der Weltgeschichte herumgereist, hatte die schönsten Frauen getroffen. Nüchtern betrachtet hatte sie noch nie in seiner Liga gespielt, nun aber trennten sie Lichtjahre voneinander. Cole war älter geworden, was ihn noch attraktiver machte. Becky schloss die Augen, um die Bilder loszuwerden, die sich so eindrücklich in ihr Gedächtnis gebrannt hatten und ihre Fantasien von dem jüngeren Cole in den Schatten stellten. Seit wann war er zu Besuch? Er musste zu Besuch sein, denn sie konnte sich ihn nicht dauerhaft auf der Ranch vorstellen. Das wäre eine furchtbare Katastrophe.

„Du bist echt blöd“, schimpfte Liam.

„Liam Samuel Carrick“, wies sie ihn automatisch zurecht. Es missfiel ihr, dass Liam sie beschimpfte, und sie konnte ihm dieses Verhalten nicht durchgehen lassen, egal, wie durcheinander sie war.

Schmollend presste Liam die Lippen aufeinander, konnte dennoch nicht an sich halten. „Cole ist nett. Er hat mich eingeladen.“

„Das ist egal.“

„Ist es nicht!“, protestierte Liam. „Es ist nicht fair von dir.“

„Du weißt, was ich davon halte, wenn du dich mit fremden Männern unterhältst.“

Sie hatten die Wiese überquert und liefen den Reitweg entlang, der direkt an ihrem Haus vorbeiführte.

„Cole ist nicht fremd. Er ist Walkers Bruder.“

Das mochte stimmen, trotzdem konnte sie nicht zulassen, dass Cole und Liam sich noch einmal trafen. Je weniger sie sich sahen, umso besser war es für sie alle. Cole war nicht Teil ihres Lebens und durfte es nie werden. Der Preis wäre zu hoch und würde nicht nur sie, sondern auch ihren Vater in den absoluten Ruin treiben. Was auch immer geschah, sie musste dafür sorgen, dass Liam und Cole sich nicht noch einmal begegneten.

„Ich möchte, dass du ihn nicht mehr siehst“, verlangte sie von ihrem Sohn.

Als Liam den Mund öffnete, um ihr zu widersprechen, sah sie ihn fest an. „Sonst werde ich dir verbieten, auf die Ranch zu gehen.“

Erschrocken riss ihr Sohn die Augen auf und schloss den Mund unverrichteter Dinge wieder. Er war sauer auf sie und das zu Recht. Wütend machte er sich los und rannte den restlichen Weg voraus. Becky ließ ihn gewähren.

Als sie sich dem Haus näherte, sah sie einen blauen Pick-up stehen und seufzte innerlich auf.

Auch das noch.

Sie kam nicht einmal bis zur Terrasse, da kam Scott ihr schon mit einem breiten Lächeln entgegen.

„Ich hatte in der Gegend zu tun und dachte, ich schau mal bei dir vorbei.“

Becky rang sich ein Lächeln ab und hoffte, dass er nicht zu viel hineininterpretierte. Mit Scott hatte sie bereits gemeinsam die Schulbank gedrückt. Auch er war in Saint-Marianne geblieben, hatte die Autowerkstatt seines Vaters übernommen. Scott überragte sie um einige Zentimeter, war muskulös gebaut und trug wie immer eine schmutzige Jeans und ein Flanellhemd, das bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt war. Mit seinen blauen Augen und den blonden Haaren war er absolut kein hässlicher Kerl, aber er war einfach nicht Beckys Typ. Er konnte es noch so sehr versuchen, zwischen ihnen würde es nie funktionieren.

„Wie geht es dir?“

„Gut“, log sie. Sie wollte ihm nicht von der verstörenden Begegnung mit Cole erzählen und noch viel weniger über den Streit mit Liam.

„Hast du Lust, mit mir heute Abend nach Montreal zu fahren?“

Becky wusste, worauf das hinauslief. Er wollte sie schick zum Essen ausführen und anschließend mit ihr ins Kino gehen oder dergleichen. Unterm Strich würde er erwarten, dass sie verliebt in seine Arme sank.

„Ich kann nicht.“ Sie schob sich an ihm vorbei und eilte der Haustür entgegen.

„Becky.“

Sie blieb stehen, schloss die Augen, um sich kurz zu sammeln, dann drehte sie sich um.

„Scott“, begann sie und wusste nicht, was sie sagen sollte. „Das ist echt nett von dir, aber das mit uns wird nichts.“

Sie sah den entschlossenen Ausdruck auf seinem Gesicht. „Ich werde nicht aufgeben, Becky.“

Das hatte sie befürchtet. „Bitte nicht“, murmelte sie, sodass er es nicht hörte. Scott war ein netter Kerl und hatte etwas Besseres verdient als sie. Er brauchte eine Frau, die ihn liebte und das konnte sie ihm nicht geben.

„Wir sehen uns.“ Er winkte zum Abschied, stieg in seinen Pick-up und fuhr davon.

Becky wandte sich dem Haus zu. Liam suchen und ihn zu den Hausaufgaben zu überreden, stand als Nächstes an.

Kapitel 5

 

Als Cole mit den beiden leeren Limonadengläsern ins Haus zurückkehrte, empfing ihn seine Mutter. Abigail Whitethrone trug ein auffälliges weinrotes Kostüm und hatte sich ausgehbereit zurechtgemacht. Sie saß auf der Kante des Sessels, mit kerzengeradem Rücken und die Beine sittsam zur Seite gelegt.

„Möchtest du ausgehen?“, erkundigte sich Cole mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.

„Ich treffe mich mit ein paar Freundinnen in Montreal“, setzte sie ihn in Kenntnis.

„Gut.“ Er ging an ihr vorbei, um die Gläser in die Küche zu bringen.

„Cole?“

Er hatte geahnt, dass sie auf ihn gewartet hatte.

„Ich heiße es nicht gut, dass dieser Junge sich auf unserer Ranch aufhält. Dass sein Großvater ihm Reitunterricht gibt, darüber kann ich hinwegsehen, aber ich will ihn nicht auf der Terrasse sitzen haben.“

Verwundert blickte Cole seine Mutter an. Warum mochte sie Liam nicht? Er war ein netter, aufgeweckter Junge, wie er in dem Alter sein sollte. Hatte sie Sorge, dass er etwas kaputt machte?

„Was hast du gegen ihn? Er ist ein bezauberndes Kind.“

„Gegen ihn?“ Sie erhob sich und strich den Rock glatt. „Nichts. Seine Mutter ist das Problem“, entgegnete sie spitz.

„Becky?“ Problem? Er verstand die Welt nicht mehr.

„Rebecca Carrick ist kein Umgang für unsere Familie. Diese Person ist einfach …“ Sie ließ den Satz unvollendet und Cole verstand nun noch weniger als zuvor.

„Was ist mit Becky?“, verlangte er zu wissen.

„Unverheiratet mit Kind. Ich möchte nicht wissen, durch wie viele Betten sie sich geschlafen hat und ein bodenständiger Kerl wie Scott ist ihr nicht gut genug. Bestimmt, weil er nur ein Mechaniker ist.“

Cole musste die Informationen für sich erst sortieren. Becky war also nicht verheiratet. Das fand er grundsätzlich nicht schlecht. Scott? Scott Farnway und Becky? Nun, er war zu lange fortgewesen, um das beurteilen zu können. Die Vorstellung, dass Becky mit sämtlichen Männern aus Saint-Marianne intim gewesen sein sollte, verursachte ihm ein unangenehmes Stechen in der Brust. Erklären konnte er sich das nicht, denn auch er hatte die letzten Jahre bestimmt nicht enthaltsam gelebt, und mehr als diese eine Nacht war zwischen ihm und Becky nicht gewesen. Es stand ihm weder zu, Ansprüche zu stellen, noch sie zu verurteilen.

„Und was hat Beckys Verhalten mit dem Jungen zu tun?“, wollte er wissen.

„Eine solche Mutter kann ein Kind nicht ordentlich erziehen. Ich dulde die beiden auf der Ranch, weil Jacob ein langjähriger und treuer Mitarbeiter ist. Mit der Frau und dem Kind will ich nichts zu tun haben und ich würde es zu schätzen wissen, wenn du meinen Willen auf dieser Ranch respektieren würdest.“ Mit erhobenem Haupt stolzierte seine Mutter auf ihn zu. „Und jetzt lass uns von etwas anderem reden.“

Erwartungsvoll blickte er sie an. Den Themenwechsel hieß er nicht gut, denn für ihn war das Thema noch nicht ausdiskutiert. Er fand es Liam gegenüber unfair, ihn für den Lebenswandel seiner Mutter zu bestrafen und gerade, weil er es im Leben nicht leicht hatte, bedurfte er der Unterstützung. Doch für den Moment ließ er es auf sich beruhen.

„Der Grund warum ich noch hier bin, ist, dass ich auf dich gewartet habe“, fuhr Abigail unbeirrt fort. „Ich bin unglaublich stolz, dass du endlich zurückgekommen bist, um sesshaft zu werden.“

Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er diesen Satz in der letzten Woche gehört hatte. Seine Mutter streckte die Hand aus und hielt ihm ein kleines, abgewetztes Schmuckkästchen entgegen. Er blinzelte. Die Schatulle verschwand nicht. Was sich darin befand, wusste er sehr genau. Dafür musste er nicht hineinsehen.

„Dieser Ring ist in unserer Familie, seit die Whitethrones sich in Kanada niedergelassen haben.“

Das brauchte man ihm nicht zu sagen, das wusste er. Die Geschichte war oft genug erzählt worden und jeder in seiner Familie kannte sie auswendig.

„Ich hoffe, dass du schon sehr bald diesen Ring einer Frau anstecken wirst.“

Sie drückte ihm das Schächtelchen in die Hand. Alles in ihm wehrte sich, es anzunehmen. Er wollte es nicht, bedeutete es doch, noch mehr unter Druck zu geraten.

„Findest du nicht, er wäre bei Walker besser aufgehoben gewesen?“ Schließlich war dieser der älteste Sohn.

Seine Mutter schnaubte entrüstet. „Er hat eine aus den Staaten geheiratet.“

Bis jetzt war Cole nicht klargewesen, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen Frauen aus den Staaten und Kanada gab. Er wusste, dass seine Mutter von Laura nie begeistert gewesen war. Aber Walker hatte sie geliebt und sich über den Willen von Abigail hinweggesetzt.

„Du wirst eine Kanadierin heiraten“, prophezeite sie ihm und schob überzeugt hinterher: „Sie wird standesgemäß sein und würdig, diesen Ring zu tragen.“

Cole zögerte noch immer, den Ring einzustecken. Er war durchaus bereit, sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. Dazu gehörte die richtige Frau und die hatte er bisher nicht gefunden. Keine hatte ihn so sehr interessiert, dass er es in Betracht gezogen hätte, sein Leben mit ihr zu teilen.

„Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät.“ Abigail rauschte an ihm vorbei. Mit der Hand an der Türklinke hielt sie inne und wandte sich zu ihm um.

„Wir bekommen heute Abend Besuch. Ich habe die Milbourns von nebenan eingeladen und erwarte dich pünktlich um acht Uhr zum Abendessen.“

Dann war sie fort.

Cole blieb zurück. Abendessen mit den Milbourns. Auf der Whitethrone-Ranch hatte sich tatsächlich kaum etwas verändert. Nun gut. Er würde seiner Mutter zuliebe pünktlich erscheinen. Vielleicht mochte der Abend ganz unterhaltsam werden. Sein Blick fiel auf die abgewetzte Schatulle. Behutsam öffnete er sie und blickte auf den auf blauem Samt gebetteten goldenen Ring mit den dezenten, aber überaus stilvollen Brillanten. Als sein Vater noch lebte, hatte seine Mutter diesen Ring immer getragen. Nach dessen Tod hatte sie ihn abgenommen und nun wartete das kostbare Erbstück auf eine neue Besitzerin. Und diese sollte Cole finden. Das Projekt „Rückkehr auf die Whitethrone-Ranch“ hatte soeben ungeahnte Ausmaße angenommen und er war sich nicht sicher, ob er dem gewachsen war.

Kapitel 6

 

Energisch scheuerte Becky die Pfanne, die sich vor ihr im Spülbecken befand. Ihr Leben war in bester Ordnung. Sie war zufrieden, so wie es war. Der Job bei Bill sorgte dafür, dass sie über die Runden kamen und solange keine großartigen Sonderausgaben auftauchten, reichte das Geld. Sie konnte bei ihrem Vater leben. Liam war ein ausgeglichenes Kind und hatte alles, was er benötigte. Am meisten ärgerte sich Becky über sich selbst. Immer wieder dachte sie an Cole. Warum war er zurückgekommen? Was trieb ihn auf die Whitethrone-Ranch? Wie hatte sie jemals annehmen können, dass er nie zurückkommen würde? Ahnte er womöglich etwas?

„Was ist los, Becky?“ Sie ließ die Pfanne ins Spülwasser sinken und griff nach einem Handtuch, ehe sie sich zu ihrem Vater umdrehte. Jacob saß am Küchentisch und las in der Tageszeitung, wie er es jeden Abend tat, nachdem Liam ins Bett gegangen war.

Becky wusste, dass es sinnlos war, ihren Vater anzulügen. Fragen brannten ihr auf der Seele und vielleicht konnte er zur Klärung beitragen.

„Cole ist zurück“, platzte sie heraus.

„Ja, schon seit einer Woche.“ Er kniff die Augen zusammen und musterte Becky aufmerksam.

„Warum erzählst du mir so etwas nicht?“, fragte sie resigniert und warf die Arme in die Luft.

Er schlug die Zeitung zu. „Ich habe nicht gedacht, dass das wichtig für dich ist.“

Röte schoss ihr in die Wangen. Sie hatte Jacob nie die ganze Wahrheit erzählt. Auch er wusste nicht, wer tatsächlich Liams Vater war. „Ist es nicht“, beeilte sie sich zu antworten.

Jacob Carrick mochte über sechzig sein, doch sein Verstand funktionierte hervorragend. „Was ist mit Cole?“

„Nichts.“ Hastig drehte Becky sich um und begann erneut, den Pfannenboden zu schrubben.

Es herrschte eine Zeit lang Stille in der kleinen Küche. Dabei spürte sie die bohrenden Blicke ihres Vaters im Rücken.

„Er hat Liam heute auf eine Limo auf die Terrasse eingeladen“, sagte sie schließlich.

„Oh.“

Becky fuhr herum. War das alles, was er zu sagen hatte? „Stell dir vor Mrs. Whitethrone hätte ihn gesehen.“ Verstand er nicht, wie knapp sie einer Katastrophe entkommen waren?

Ihr Vater blieb vollkommen ruhig. „Es geht um das Geld, das sie dir gegeben hat, um die Arztkosten deiner Mutter zu bezahlen.“

Sie hatten nie darüber gesprochen. Ihr Vater wusste von dem Geld, wusste auch, dass es von Abigail Whitethrone gekommen war, hatte jedoch nie näher nachgefragt. Und das war besser so.

„Wir hätten es nicht annehmen sollen.“

Becky schluckte. Ihr Mund war trocken. „Wir haben es gebraucht.“

„Damit hat sie dein Schweigen erkauft.“

Stumm nickte sie, hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

„Es war nicht richtig, aber es ist bestimmt nicht allein deine Schuld. Walker hätte …“

Becky schüttelte heftig mit dem Kopf. Jacob Carrick nahm doch nicht an, dass Walker Liams Vater war? Es war ihr egal, dass man sich im Dorf das Maul über sie zerriss. Damit konnte sie leben. Aber Walker hatte mit der ganzen Sache absolut nichts zu tun. Er kümmerte sich manchmal um Liam und um sie, abgesehen davon …

„Es war nicht Walker, es war Cole“, unterbrach Jacob ihre Gedanken. Er hatte von selbst die richtigen Schlussfolgerungen gezogen.

Becky blieb stumm, wischte sich eine einzelne Träne von der Wange.

„Weiß er es?“, fragte Jacob.

„Nein!“, krächzte sie, ihre Stimme gab nicht mehr her.

„Walker? Weiß er davon?“

Sie wandte sich ab, konnte ihrem Vater nicht ins Gesicht sehen. „Er hat mitbekommen, dass ich bei seiner Mutter war. Ich wollte Coles Adresse, damit ich mich bei ihm melden konnte.“ Sie musste mehrmals tief durchatmen, ehe sie fortfahren konnte: „Statt den Kontaktdaten bot sie mir Geld an, damit niemand erfährt, wer Liams Vater ist.“ Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und ließ sie einfach fließen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752107135
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Liebesroman Kurzer Liebesroman mit Happy End Happy End Liebe Heftroman Groschenroman Erzählungen Kurzgeschichten

Autoren

  • Ann Hillmore (Autor:in)

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin im Bereich Fantasy und (historische) Liebesromane unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Eine Nacht in deinen Armen