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Vanfarin - Von Untoten und Totems

von Amalia Zeichnerin (Autor:in)
360 Seiten

Zusammenfassung

Eine Untoten-Armee bedroht das Reich Vanfarin. Der Schamane Talahko und der Krieger Brynjar stammen aus verfeindeten Völkern, doch ein Auftrag ihrer Totemtiere bringt sie dazu, gemeinsam in einer von den Untoten eingenommenen Festung nach Gefangenen zu suchen. Später finden sie weitere Verbündete, darunter eine Ogrra-Kriegerin, einen Gelehrten und eine Elfenmagierin. Doch was wird aus ihrer Heimat und der Welt der Totemtiere, wenn ihre Feinde siegen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Landkarte

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Dramatis personae

Glossar

Nachwort

Danksagung

Impressum

 

Amalia Zeichnerin

 

Vanfarin

Von Untoten und Totems

 

High Fantasy Roman

 

 

 

© Amalia Zeichnerin 2018

Inhaltswarnungen zu diesem Roman


Gewalt gegen Tiere und Menschen, Krieg, Tod, Untote, Leichen, Andeutungen von Kannibalismus

Prolog

 

„Ihr verdammten Narren! Ich werde es euch allen zeigen!“ Ungehört verhallte seine Stimme im Kerker. Es war eine Zeit des Krieges. Die Länder Vanfarin und Settinbris standen in Flammen. Der Tyrann, Vanfarins König, hatte Settinbris erobern wollen. Tausende fielen im Kampf, und wer nicht fiel, wurde von den Feinden in Ketten gelegt. Und so war es auch ihm ergangen. Seine Familie, seine Frau hatten in diesem Krieg ein kaltes Grab in der Fremde gefunden.

Ein Gefangener war er, lehnte sich auf gegen seine Peiniger, wieder und wieder, doch er fand keine Gnade. Da verhärtete er sein Herz und sann auf ewige, glühende Rache. Er würde nicht untergehen in diesem dunklen Kerker, das schwor er sich bei allen Göttern, die ihn verlassen hatten.

Er schmiedete seine Rache über viele Monde und Winter hinweg, in jenen Stunden im finsteren Gefängnis. All diesen Narren würde er es zeigen, denn eines Tages würde er triumphieren. Er konnte nicht ahnen, dass es dreißig lange Jahre dauern sollte ...

Kapitel 1

Betäubender Lärm aus Schmerzensschreien, heiserem Gebrüll, klirrenden Waffen und stampfenden Füßen drang zu ihm herüber, zusammen mit den dumpfen Geräuschen von Schilden, die gegeneinander prallten. Ein grün-blaues Banner lag halb zerrissen im Dreck. Ein anderes schwankte weiter vorn zwischen den Kriegern, weiß und blau hob es sich ab vor dem grauen Himmel, doch auch rostfarbene Blutspritzer klebten daran.

Schon seit Stunden hatte Talahko den metallischen Geruch von Blut in der Nase und war selbst mittlerweile blutverschmiert, versuchte jedoch, die grauenvollen Bilder nicht zu sehr an sich heranzulassen.

Die Frontlinie der Schlacht in der Ebene von Dalathrién war noch in ausreichender Entfernung, so dass er sich zumindest im Moment nicht um seine Sicherheit sorgen musste. Doch das konnte sich schon innerhalb von Minuten ändern. Talahko strich sich eine Strähne seiner schwarzen Haare aus der Stirn und wandte sich wieder der Verwundeten zu, die vor ihm lag. Ein Riss klaffte in ihrer Lederrüstung. Die Wunde war nicht tief, zum Glück. Im Lazarett wäre sie dennoch genäht worden. Talahko sah auf und rief einem der Heilerschützer zu: „Wie sieht‘s da vorn aus?”

„Die Frontlinie hält noch”, erwiderte der gerüstete Mann, welcher einen Anderthalbhänder und einen großen Schild trug.

Talahko nickte ihm knapp zu und reinigte die Wunde der Kriegerin mit hochprozentigem Getreidebrand, den er in einem Wasserschlauch mit sich führte.

„Habt Ihr Probleme mit naturmagischen Heilungen?”, fragte er. Immer wieder gab es Patienten, die aufgrund ihres Glaubens oder bestimmter Eigenschaften Heilungen dieser Art nicht vertrugen oder einfach ablehnten.

Mit einem ächzenden Laut schüttelte die dunkelblonde Kriegerin den Kopf, das Gesicht nass von Schweiß und Blut. „Mir ist alles recht, bringt mich nur wieder auf die Beine!“

Talahko atmete einmal tief durch. Bei der nun folgenden magischen Heilung verwendete er die lange Adlerfeder, die er am Gürtel trug, als Fokus. Er strich damit durch die Luft, direkt über der Wunde. Golden leuchtete die Feder auf – unsichtbar für alle, die keine Magie in sich trugen. Ein Pulsieren lief durch das zarte Gebilde, als die magischen Kräfte es erfassten.

Talahko sang ein Lied der Heilung, welches ihm Okahandi, sein Lehrmeister und Schamane seines Dorfes, beigebracht hatte. Rau schallte seine Stimme über das Feld, denn schon lange war er heiser. Doch die uralten heiligen Kräfte strömten noch immer durch ihn hindurch. Talahko war nur der Überbringer dieser Botschaft; nicht er selbst, sondern das magische Wirken der Natur war es, das dafür sorgte, dass sich die Wunde der Kriegerin allmählich schloss.

„Wenn es irgendwie geht, schont Euch noch etwas. Verhindert vor allem, dass Euch jemand auf den Brustkorb schlägt, denn die Wunde ist zwar geschlossen, aber noch empfindlich. Sie könnte wieder aufplatzen. Morgen seid Ihr wieder voll einsatzfähig.”

Die Kriegerin setzte sich auf. „Ich danke Euch.”

Talahko half ihr wieder auf die Füße.

„Mögen Eure Götter mit Euch sein”, sagte er zum Abschied.

Die Kriegerin nickte ihm zu und wankte von dannen.

Mehrere Lazaretthelfer bewegten sich kreuz und quer durch die Schlachtreihen, um Verletzte herauszuschleppen, die nicht mehr selbst laufen konnten. Zum Teil hatten die Helfer Tragen aus grobem Tuch dabei, die stabil genug waren, um sogar voll gerüstete Krieger zumindest eine kurze Strecke lang zu transportieren.

Da, ein hochgewachsener Krieger mit einem Pfeil in der Brust. Das Geschoss war zwischen Lederrüstung und Metallteilen durchgeschlagen. Der Mann taumelte aus der Schlachtreihe, sackte zusammen und ließ sich auf den Rücken fallen. Mit wenigen Schritten hatte Talahko ihn erreicht.

Verdammt! Ein braunes Abzeichen mit einem dunklen Elchgeweih an seinem Gürtel. Ein Norður. Ein großer Stamm aus dem Norden, der mit seinen eigenen Leuten schon seit langer Zeit verfeindet war. In wie so vielen Streitigkeiten zwischen Völkern ging es dabei um Land. Vor Jahren hatten Norður-Krieger seinen Vater getötet, zusammen mit vielen anderen aus seinem Stamm.

Der Kodex des Bundes der Heiler hielt ihn dazu an, jeden Patienten zu behandeln, der auf seiner Seite kämpfte, unabhängig von dessen Rang, Geschlecht oder Volkszugehörigkeit. Allerdings ließ sich der Kodex durchaus großzügig auslegen. Er schrieb keineswegs bis ins Kleinste vor, wie man einen Patienten genau zu behandeln hatte. Hauptsache, man behielt dessen Heilung im Auge. Doch der genaue Weg zu dieser Heilung war jedem Heiler letztendlich selbst überlassen.

Talahko fühlte sich dem Kodex verpflichtet. Er hatte schon mehr als einen Mann der Norður versorgt – wenn auch oft mit Widerwillen – und so wandte er sich jetzt auch diesem Krieger zu.

Allerdings kostete es ihn einige Überwindung. Das Gesicht, die rotblonden Haare und die Bartstoppeln waren so sehr mit Schlamm und Blut verschmutzt, dass es schwer zu sagen war, wie der Kerl darunter aussah.

„Ich werde Euch helfen”, sagte er knapp. Als er ihn berührte, um die Rüstung zu öffnen, zuckte Talahko zurück, denn ein seltsames Kribbeln rann über seine Hand.

Eine fremde Präsenz umgab den Mann. Lag es daran, dass ihre Völker verfeindet waren? Die Tätowierungen an seinem eigenen Hals wiesen ihn selbst klar als Tamahya aus, ebenso wie seine dunklere Haut und die schwarzen Haare. Was bei den Göttern ist das? Talahko begann zu zittern. Seltsam! Aber nein, unmöglich, es konnte nicht daran liegen, dass der Kerl ein Norður war. Er hatte doch schon andere Krieger dieses Volkes behandelt. Keiner von denen hatte solch eine Präsenz ausgestrahlt.

Keine Zeit für lange Überlegungen! Mit dem dünnen Messer schnitt er die Wunde auf, um den Pfeil herauszuholen. Verdammt, die Hände zitterten – das war schlecht. Nur einmal war dies bisher vorgekommen, nach einer Nacht ohne Schlaf, die er im Feldlazarett durchgearbeitet hatte. Aber heute war es anders. Sicher lag es an dieser seltsamen Präsenz. Talahko spreizte einen Moment lang seine Finger, um das Zittern zu unterdrücken. Das half ein wenig.

Pfeile waren tückisch; es gab alle möglichen Arten, die schlimmsten davon jene mit Widerhaken, die man nur schwer wieder aus einer Wunde entfernen konnte. Diese Sorte kam ihm bekannt vor, vermutlich besaß sie eine Knochenspitze, wie sie beim Feind ziemlich verbreitet war.

Talahko sah kurz in Richtung Frontlinie. Er hatte keine Pfeilsonde dabei, deshalb schnitt er die Wunde so weit auf, bis er die Pfeilspitze mit einer Zange erreichen konnte. Der Krieger stöhnte auf, ein dumpfes Geräusch, welches er offensichtlich unterdrücken wollte. Die grünen Augen weiteten sich durch den plötzlichen Schmerz.

„Es dauert nicht mehr lange”, sagte Talahko zu dem Verletzten. Mit der Zange musste er tief in die Wunde greifen, bis er schließlich auch die Pfeilspitze zu fassen bekam. Ein tiefer Ruck, und das tödliche Geschoss war draußen.

Allerdings machte ihm die unerklärliche Präsenz weiterhin Sorgen. Plötzlich nahm er einen Geruch wahr, der nicht auf dieses Schlachtfeld zu gehören schien. Er schmeckte die herben, erdigen Aromen eines Waldes und … etwas Animalisches. Fell. Ein bitterer und zugleich warmer Geruch, welcher von dem Krieger ausging. Dieser überlagerte sogar die metallische Süße des Blutes, das abgewetzte Leder, den Schweiß und Schlamm.
Natürlich … es kann nicht anders sein. Okahandi, sein Lehrmeister, hatte es ihm beigebracht. Jedes Wesen unserer Welt hat ein Totemtier. Auch dieser Norður. Dessen Totemtier wollte sich bei ihm bemerkbar machen, erkannte den Schamanen in ihm. Deshalb also nahm er den sonderbaren Geruch und diese besondere Präsenz wahr. Aber welches Totemtier war es? Eines, das im Wald lebte. Ein Tier mit Fell. Was die Auswahl nicht gerade eingrenzte …

„Was ist jetzt?”, riss ihn der Krieger mit ächzender Stimme aus seinen Überlegungen.

Er musste sich zusammenreißen, seine Arbeit machen! Rasch! „Habt Ihr Probleme mit naturmagischen Heilungen?” Eigentlich hatten das die Norður-Krieger so gut wie nie, so viel war ihm mittlerweile bekannt.

Der Krieger schüttelte den Kopf. Ob der Kerl selbst etwas von seinem Totemtier ahnte? Weiter hinten hörte er wieder den Ruf nach einem Heiler.

Keine Zeit für lange Fragen! Also begann er einfach mit der magischen Heilung, wie schon bei der Kriegerin zuvor. Dabei hielt er die Augen geschlossen, um sich ganz auf die heilenden Kräfte zu konzentrieren, während er die Adlerfeder über der Wunde kreisen ließ. Der Norður sog scharf die Luft ein, blieb aber ansonsten still. Am Ende begutachtete Talahko sein Werk. Die Wunde hatte sich geschlossen, nur eine wulstige rote Linie war noch zu erkennen. Eine Narbe würde bleiben, denn auch die magischen Heilkünste hatten ihre Grenzen.

„Ich bin fertig”, sagte er. „Achtet darauf, dass Euch niemand auf die Wunde schlägt und ruht Euch … ”

Er zuckte zusammen, denn der Krieger setzte sich hastig auf und griff nach seinem blutbesudelten Schwert.

„Was habt Ihr denn vor? Ihr wollt doch nicht etwa …”

Der Mann unterbrach ihn. „Danke. Aber ich muss wieder in die Schlacht”, sagte er in der Sprache der Norður. Seine Stimme klang mindestens so heiser und rau wie seine eigene, aber letzteres lag wohl auch an den oft ruppig klingenden Lauten des Norðurisk.

„Ihr müsst Euch noch ausruhen. Das war eine schwere Verletzung.”

Der Norður gab einen knurrenden Laut von sich. „Die Ihr noch schwerer gemacht habt vor Eurem Zauber”, erwiderte der Krieger, während er sich schon zum Gehen wandte. „Da vorn kämpfen Gefährten von mir. Ich kann sie nicht im Stich lassen!” Ohne auf eine Antwort zu warten, hastete er von dannen.

„Tut, was Ihr nicht lassen könnt”, rief er dem Norður nach. Ob dieser es noch gehört hatte? Vermutlich nicht. Kopfschüttelnd blickte er ihm nach, ehe er sich dem nächsten Verletzten zuwandte. Sollte ihm egal sein, wenn dieser Krieger hier den Tod finden sollte … Talahko hasste das Volk der Norður.

 

 

In der Mittleren Welt lagen graue Schleier über der Ebene von Dalathrién, wie sie von den Elfen genannt wurde. Wie Nebelschwaden waberten diese Dunstschleier umher und hüllten auch die Versammlung der Totemtiere in ihre eisigen Gewänder.

„Brüder und Schwestern, hört mich an!”, rief der Adler Kinjan. Er saß auf dem Ast eines dürren Baumes, blickte auf all die versammelten Tiere: Bären, Füchse, Wölfe, Schlangen, Pferde, Hunde, Hasen, Otter, Berglöwen und viele andere. Im Baum saßen Eulen, Falken, Raben, Krähen, Elstern, Sperlinge, Spechte und noch andere Vögel dicht an dicht, außerdem schwirrten Schmetterlinge, Libellen und andere geflügelte Insekten herum.

Einige der Tiere hatten struppiges Fell, viele waren abgemagert, und selbst die Flügel der sonst bunten Schmetterlinge wirkten blasser, als hätte ihnen jemand die Farben herausgesaugt. Auch die Landschaft wirkte blass unter all dem Grau. Die wenigen Grasbüschel, die hier und dort wuchsen, waren kaum noch mehr als dürre Stängel.

„Unsere Welt ist in Gefahr und es wird schlimmer und schlimmer”, begann der Adler. „Jene Seuche, die Menschen und andere Zweibeiner befällt, greift immer mehr um sich. Sie verwandelt die Wesen in Kreaturen zwischen Leben und Tod. Und mit jeder Verwandlung wird ein weiteres Wesen von seinem Totemtier abgeschnitten! Ich sehe in eure Reihen und ich sehe dort viele, die ihre Schützlinge schon verloren haben. Ist es nicht so?”

Zustimmende Laute waren die Antwort – Knurren, Bellen, Wiehern oder auch Gezwitscher und heisere Rufe von den Raben. Das Flattern von Flügeln, scharrende Geräusche von Pfoten und Tatzen.

„Ich habe alles versucht, um meinen Schützling wiederzufinden, aber ich kann ihn in seiner Welt nicht mehr sehen und in unserer hier schon gar nicht”, sagte ein Berglöwe, dessen einst silbrig schimmerndes Fell stumpf und grau geworden war. Er war hager, glich mehr einem Skelett als einem Raubtier.

„Mit einem Mal konnte ich seine Präsenz nicht mehr spüren und dieses Schicksal mag noch so viele andere treffen. Deshalb bitte ich jeden einzelnen von euch, der noch Verbindung zu seinem Schützling hat: Nehmt Kontakt auf mit ihnen. Manch einer von ihnen weiß nicht einmal, dass es euch gibt. Ihr wacht dennoch über sie, seid unsichtbare Begleiter. Ich bitte euch inständig, geht einen Schritt weiter. Sucht das Gespräch mit ihnen, seien es Elfen, Zwerge, Menschen, Mischwesen oder Ogrra oder noch andere. Vielleicht könnt ihr sie in ihren Träumen erreichen. Sie brauchen uns, mehr denn je! Denn ihre Welt liegt im Sterben und unsere auch. Vor rund einem Jahreslauf hat es begonnen. Damals verließen die Krähen die Hauptstadt Vanfarins. Den Überlieferungen der Menschen nach ist dies ein Zeichen dafür, dass im Land dunkle Zeiten anbrechen. Und genau so ist es gekommen. Die Kreaturen, die zwischen Tod und Leben stehen… sie bringen etwas Finsteres mit sich, etwas Unbekanntes. Den Tod bringen sie über unsere Welten. Wir müssen etwas tun, bevor es zu spät ist!”

„Hört, hört!”, rief ein Marder.

Der Löwe Wengonyama schüttelte seine Mähne. „Ich sage: Wenn die zweibeinigen Wesen nicht zu uns kommen, müssen wir zu ihnen gehen!”

„Wohl gesprochen”, erwiderte der Adler Kinjan.

Bald zerstreute sich die Versammlung der Totemtiere wieder; in kleinen Gruppen trotteten die Vierbeiner davon, in Schwärmen flatterten die Vögel fort von dem Baum. Sie sprachen weiter darüber, was sie für die Zweibeiner tun konnten.

 


Talahko befand sich in der Ebene von Dalathrién, doch jetzt gab es hier weder Krieger noch eine Schlacht.

Die Landschaft wirkte friedlich; auf dem trockenen hellen Boden wuchsen mehrere rote Blumen zwischen einzelnen dürren Sträuchern. Die vertrauten hellen Laute des Adlers erklangen über ihm. Mit einer Hand schirmte er seine Augen ab und blickte nach oben. Einen Moment lang kreiste der Vogel am Himmel, ehe er auf einem Felsen landete. Der Adler leuchtete leicht golden von innen heraus.

„Ich danke dir, dass du gekommen bist, Kinjan.” Er verbeugte sich vor dem Gefiederten.

Dieser Greifvogel war sein Totemtier, der ihn schon seit anderthalb Jahren begleitete. Oft stand er ihm mit Rat zur Seite und war für ihn zu einem Freund geworden, auch wenn er sich anfangs vor ihm gefürchtet hatte. Außerdem war Talahko davon überzeugt, dass der Gefiederte ihn beschützte, selbst wenn er davon gar nichts merkte. Mehr als einmal hatte sein Lehrmeister erklärt, dass das Totem eines Schamanen diesem immer hilfreich zur Seite stand.

Äußerlich glich Kinjan mit seinen braunen Federn einem Steinadler. Nur das goldene Leuchten verriet, dass er mehr war als ein gewöhnliches Tier. Prüfend betrachtete er Talahko aus seinen dunklen, scharfen Augen. Es musste etwas Bedeutsames sein, wenn das Totemtier ihn in seinen Träumen aufsuchte. Doch er wartete, bis Kinjan sprechen würde, denn das war respektvoller, als ihn auszufragen.

„Ein Totem hat einen seiner Schützlinge zu dir geschickt, gestern in der Schlacht”, erklärte Kinjan.

Der Adler bewegte seinen Schnabel nicht, doch Talahko hörte dessen Stimme in seinem Kopf, klar und deutlich. Gestern hatte er eine ganze Reihe an Kriegerinnen und Kriegern geheilt. Meinte Kinjan etwa einen von diesen?

„Ein Krieger vom Volk der Norður, der nichts von seiner Bestimmung ahnt. Aber du wirst etwas gemerkt haben in seiner Anwesenheit, denn sein Totem hat sich dir durch ihn gezeigt.”

Talahko begriff mit einem Mal, wen er meinte: Den rotblonden Mann mit der Pfeilverletzung, der trotz allem seinen Kampfgefährten beistehen wollte.

„Ja, ich habe eine Präsenz bei einem der Krieger gespürt. Welches Totem ist es?”

„Das darf ich dir nicht sagen. Du wirst es selbst herausfinden müssen, zusammen mit dem Krieger.”

„Aber … er ist ein Norður. Und ich weiß weder seinen Namen, noch wo ich ihn finden kann.”

„Das spielt keine Rolle”, erwiderte der Adler. „Finde ihn. Das ist mein Auftrag für dich. Sage ihm, dass ein Totem auf ihn wartet. Und du wirst mit ihm eine schamanische Reise machen, damit er sein Totem findet.”

„Wirst du mir dabei helfen?” fragte Talahko.

„Nein, diesmal nicht. Das Totem des Kriegers hat mir gesagt, das sei allein eure Aufgabe. Aber ich habe Vertrauen in dich. Ihr werdet es gemeinsam schaffen, ganz gewiss. Möge der Große Geist dich behüten.”

Nach diesen Worten stieß Kinjan einen seiner gellenden Rufe aus und flog davon.

Talahko blickte ihm ratlos nach. Schon öfter hatte sein Totem ihm Aufgaben gestellt, doch bisher war keine so bizarr wie diese gewesen. Wie sollte er diesen Krieger wiederfinden? Ganz davon zu schweigen, dass er auf die Gesellschaft eines Norður lieber verzichtet hätte.

Kapitel 2

 


Gemeinsam mit den anderen Gelehrten, die aus dem ganzen Land zusammengekommen waren, saß Hadaschi in der improvisierten Bibliothek, die sich in einem großen rechteckigen Zelt befand. Sie alle waren hier, um mehr über die Untoten herauszufinden, die Vanfarin mittlerweile überrollten. Seit rund einem Jahr befand sich das Land im Dauerkrieg mit diesen unheimlichen Gegnern.

Bisher hatte niemand herausfinden können, ob diese Wesen unabhängig agierten oder von einer geheimen Macht im Hintergrund gelenkt wurden. Hadaschi war extra aus der Landeshauptstadt Semvansin angereist, um sich hier mit den anderen Gelehrten auszutauschen. Ein bunter Haufen hatte sich an diesem trüben Tag versammelt: Heiler und Heilkundler, Alchemisten, Historiker, Naturkundler, aber auch Militärstrategen des Heeres. Noch hatten sie Zeit, die Gelehrten versammelten sich gerade erst.

„Geht es Euch nicht gut?”, erkundige sich die Elfe mit dem kastanienfarbenen Haar, die rechts von ihm saß. Ihrer Robe und den Symbolen darauf nach zu urteilen vermutlich eine Magierin, doch mit Elfenmagie war er nicht vertraut.

Hadaschis nicht mehr vorhandener rechter Arm schmerzte, er verzog das Gesicht. Ein Schmerz, der eigentlich nicht sein durfte und doch immer wieder auftauchte. Wie sehr hasste er die grobe Prothese, die den Arm ersetzte.

„Wisst Ihr”, begann er, „vor drei Wintern war ich auf Reisen und zu Fuß unterwegs. Ein Fuhrwerk eines Bauern kam mir entgegen. Auf der Straße tauchte plötzlich eine Schlange auf, gewiss kennt Ihr sie, eine der giftigen Regenvipern. Die Pferde drehten durch, trampelten über mich hinweg.”

Fahrig holte er Luft, als die Erinnerung an diesen grauenvollen Moment zurückkehrte – wie er stürzte, die Hufe der wild gewordenen Tiere über sich. Nein, er musste diese Gefühle abstellen, er durfte hier in dieser Versammlung sein Gesicht nicht verlieren.

Er zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln. „Die Pferde, schwere Kaltblüter, haben mir den Arm zerquetscht. Der Bauer hat mich zum nächsten Heiler gebracht, doch der war meilenweit entfernt und beherrschte keinerlei magische Heilkünste, die meinen Arm vielleicht hätte retten können. Stattdessen nahm er ihn mir ab. Er sagte, ich wäre sonst wohl an Wundbrand gestorben und er hätte keine anderen Möglichkeiten mehr gesehen. Die Knochen waren allesamt zertrümmert und mein Fleisch kaum mehr als ein blutige Masse.”

„Das tut mir leid für Euch,” sagte die Elfe mit einem mitfühlenden Lächeln.

„Sehr freundlich von Euch. Immerhin bin ich mit dem Leben davon gekommen und habe das hier.” Er deutete auf die Prothese. „Doch ich habe gelegentlich Schmerzen in dem Arm, als sei er noch da. Aber verzeiht, ich vergaß meine Manieren. Mein Name ist Hadaschi Hikaru.”

„Sehr erfreut, ich bin Taobh Gheal den Domhan. Aber Gheal reicht.”

Ihr Name klang ungewohnt in seinen Ohren, wie es Elfennamen oft taten. Sie hatte ihn Ta-oob Giel den Doumhän ausgesprochen.

„Ich versuche es mir zu merken. Ihr seid gewiss eine Magierin?”

„Ja. Dank den Kräften der Natur wurde mir dieses Talent zuteil. Was ist Euer Metier?”

„Ich bin Alchemist. In gewisser Weise arbeite ich ebenfalls mit den Kräften der Natur, nur anders als Ihr. Aber ich beschäftige mich auch mit anderen Wissensbereichen. Ich lese sehr viel.”

„Es gibt Weisheit, die sich in den Zeilen von Schriftrollen findet, und es gibt Weisheit, die man persönlich erfahren muss … ”, sagte sie in einem nachdenklichen Tonfall.

„Oh ja, da gebe ich Euch recht. Wie vieles ist Versuch und Irrtum in der Alchemie?” Er lachte. „Dennoch, man kann vieles aus Schriftrollen und Büchern lernen, sowie aus den Erfahrungen und Berichten anderer.”

„Gewiss. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich die persönliche, praktische Erfahrung allem gelehrten Wissen vorziehe.”

„Für Euch ist es anders, Ihr seid Magierin … ”

„Aber auch Ihr braucht doch die praktische Erfahrung, wenn Ihr Tränke braut oder Salben und andere Dinge herstellt?”

„In der Tat. Und jede Menge Geduld.” Geduld, die er nicht mehr besaß, seit er seinen Arm verloren hatte.

Dieser schreckliche Unfall und der damit verbundene Verlust hielt ihm täglich schmerzlich vor Augen, wie leicht man sein Leben verlieren konnte. Es hatte ihn bitter werden lassen. So bitter, dass er damit seinen damaligen Lebensgefährten Dai vertrieben hatte. Die Erinnerung an ihn schmerzte noch immer. Seit damals hatte er Dai nicht mehr gesehen.

Hadaschi wechselte lieber das Thema, bevor er noch sentimental wurde. Es war besser, sich ganz auf den Anlass der Versammlung zu konzentrieren. „Habt Ihr, oder Gelehrte eures Volkes, eine Theorie zu dem Ursprung der Untoten, Gheal?”

„Nein, immer noch nicht, nur ein Haufen vager Ideen. Nichts, was einer genaueren Betrachtung und gelehrten Beweisführung standhielte. Deshalb erhoffe ich mir, hier das eine oder andere zu hören, was vielleicht Licht in dieses Dunkel, in unsere Unwissenheit, bringen mag.”

„Euer Optimismus ehrt Euch.” Er musterte sie kurz. Sie sah jung aus, aber taten das nicht alle Elfen? Immerhin lebten sie um einiges länger als Menschen. An ihrer rechten Wange bemerkte er eine alte Brandnarbe. Gheals Alter war schwer zu schätzen, wenn man es auf Menschenjahre umrechnen wollte. Und danach zu fragen, war gewiss unhöflich. Hadaschi war sich nicht sicher. Er kannte keine Elfen persönlich, war mit ihren Gebräuchen nicht vertraut.

Er sah sich um. Mehrere Gelehrte aus der Hauptstadt Semvansin hatten sich hier versammelt. Die Akademia Semvansiniana war weithin berühmt und bekannt für ihr umfangreiches Wissen, welches in ihrer Bibliothek gesammelt wurde, und für die klugen Köpfe, die dort forschten.

Er selbst hatte dort zwei Jahre lang studiert, stammte aber eigentlich aus dem Nachbarreich, welches noch weiter südlich lag. Sein geliebtes Hatainé. Wie sehr er es vermisste. Die Sprache, die Sitten, die Speisen. Zwar gab es auch in Semvansin ausgewanderte Hatainésier und entsprechend mangelte es auch nicht an Gaststätten, welche die Speisen seiner Heimat anboten. Aber viele hatten sich so sehr an den Geschmack der Vanfariner angepasst, dass ihnen das gewisse Etwas fehlte. Wenn das alles hier vorbei war, wenn diese Untotenplage endlich beendet war, würde er endlich zurück in seine Heimat reisen und vielleicht endlich wieder …

Ein Mann in Offiziersuniform kam herein, klopfte laut auf den Tisch und riss Hadaschi aus seinen Gedanken. Die Gespräche verstummten.

„Danke. Ich bin Offizier Faolan. Ich bitte um Bericht, ob es neue Erkenntnisse in Bezug auf die Untoten gibt.” Der noch junge Offizier mit den dunkelblonden Haaren formulierte es zwar höflich, doch seine Bitte war ein Befehl, so viel war klar.

Der grauhaarige Gelehrte Belendio, den Hadaschi durch seine Studienzeit an der Akademie kannte, erhob sich. „Ich spreche hier für uns alle. Leider gibt es keine neuen Erkenntnisse. Die magischen Untersuchungen der arkanen Magier haben nichts erbracht. Auch die Magie der Elfen”, bei diesen Worten streifte sein Blick die Elfenmagierin, die neben Hadaschi saß, „konnte uns in Bezug auf die Untoten nicht weiterbringen.”

Offizier Faolan nickte. „Einige der Unteroffiziere und Hauptleute haben mehrere der Untoten verhört”, erklärte er.

Er schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „So wie wir es schon seit Monaten versuchen. Es ist zwecklos. Die Untoten schweigen beharrlich und egal, wie man ihnen droht, sie bleiben vollkommen gleichgültig.”

Was Faolan Drohungen nannte, war vermutlich Folter, doch das sprach Hadaschi lieber nicht laut aus. Offiziell waren Folterungen in Vanfarin schon seit Jahrzehnten verboten. Aber wer mochte schon wissen, was in den Zelten der Militärangehörigen vor sich ging, wenn sie Feinde verhörten?

„Sie scheinen keinerlei Furcht zu kennen”, fuhr der Offizier fort. „Und sie geben nichts preis, weder über sich noch über ihre Befehle, falls sie denn welche haben.”

Er wandte sich die Magistra Severina, eine schmale, ältere Frau in einem hellgrünen Gewand. „Und die körperlichen Untersuchungen? Was könnt Ihr mir darüber sagen?”

„Die Heiler und Anatomiekundigen haben mehrere Untote nach deren finalen Tod auf dem Schlachtfeld aufgeschnitten“, erklärte sie. „Wir haben ihre Organe vermessen, gewogen, ihr Blut untersucht, das noch immer vorhanden ist, wenn auch in geringeren Mengen als bei einem lebenden Wesen. Wir gehen davon aus, dass das Blut weiterhin durch den Körper fließt. Diese Theorie ist bereits vor einigen Wochen entstanden, als wir ähnliche Untersuchungen gemacht haben. Eine weitere Theorie, die es schon seit einiger Zeit gibt, konnte bestätigt werden: Die Untoten erinnern an Sterbende, die an einer schweren Krankheit dahinsiechen. Deutlich wird dies an dem Zerfall ihrer Haut und Augen.”

Die Magistra räusperte sich. „Leider ist uns weiterhin ein Rätsel, warum die Untoten sich trotz dieser Einschränkungen so rasch bewegen können und noch größtenteils Herr ihrer Sinne sind. Wir haben uns auch ihre Gehirne angesehen. Dort ist ebenfalls Zerfall erkennbar, wenn auch nur schwach, und sie scheinen weniger durchblutet zu werden als die Gehirne von Lebenden. Allerdings sind diese Untersuchungen schwierig, denn bei lebendigen Zwergen, Ogrra, Elfen und Menschen sowie Mischwesen gibt es ja schon teilweise einiges an körperlichen Unterschieden, und so scheint es auch bei den Untoten der Fall zu sein.

Bei allen konnten wir feststellen, dass ihre Haut und ihre Kleidung nicht nur mit Staub, sondern auch mit Sand bedeckt waren. Aber das ist ja hier in Dalathrién nichts ungewöhnliches, da der Boden an vielen Orten recht sandig ist.”

„Ich danke Euch, Magistra Severina. Gibt es noch weitere Erkenntnisse?”, fragte Faolan in die Runde.

Ein unbehagliches Schweigen war die Antwort.

Ein weiterer Mann meldete sich zu Wort. Seine Ohren waren ein wenig spitz, doch er hatte nicht die typischen Gesichtszüge eines Elfen. Vielleicht ein Mischwesen, vermutete Hadaschi.

„Herr, einige der Gelehrten diskutieren mittlerweile noch über eine andere Frage … ”, begann er. Seine Stimme war voll und füllte ohne Mühe das gesamte Zelt.

„Welche Frage?”

„Wie ist es mit den moralischen Grundsätzen, die in diesem Land herrschen, vereinbar, dass wir die lebenden Toten endgültig töten, obwohl sie einst offensichtlich lebende Wesen und Bürger dieses Landes waren?”

„Ist das nicht eher eine Frage für das Kriegsrecht?”, entgegnete der Offizier. „Die Untoten töten schließlich die Lebenden.”

„Das ist richtig, doch es wurde ja öffentlich bekanntgegeben, dass die Untoten auf Sicht getötet werden dürfen. Wie Vogelfreie, egal, ob man sie in einer Schlacht antrifft oder in zivilen Bereichen.”

„Wie meint Ihr das? Geht Ihr davon aus, dass es auch friedliche Untote gibt? Mir ist davon nichts bekannt. Hat es solche Fälle gegeben?”

Der Halbelf schüttelte den Kopf. „Das kann ich Euch leider nicht beantworten. Doch in den Gesetzen Vanfarins steht klar zu lesen, dass jeder Bürger des Landes ein Anrecht auf Schutz des eigenen Lebens hat. Ein Schutz, der unter anderem durch die Armee und durch die Gardisten in den Städten und Gemeinden gewährleistet werden soll und der nur bei einzelnen Bürgern in gewissen Fällen verwirkt wird.”

„Seid Ihr ein Rechtsgelehrter?”, hakte Offizier Faolan nach.

„In der Tat, das bin ich. Und als solchem stellt sich mir die Frage: welche Rechte haben die Untoten? Gelten sie weiterhin als Bürger Vanfarins oder ist ihnen der Status von Bürgern aberkannt, da sie einen Bürgerkrieg begonnen haben? So könnte man jedenfalls argumentieren.”

Faolan rieb sich über die Schläfen.

Ein anderer Gelehrter schüttelte den Kopf. „Die Gesetze können gar nicht so schnell geändert werden, wie sich die Verhältnisse in Vanfarin verändert haben. Vor einem Jahr herrschte hier noch Frieden.”

Eine menschliche Frau meldete sich zu Wort. Sie trug das goldgelbe Ornat einer Priesterin, die offensichtlich dem Sonnengott des Südens diente. Dessen Symbol, eine Sonne mit zwölf Strahlen war darauf gestickt; ein Strahl für jede Stunde des Tages.

Faolan erteilte ihr mit einer Geste das Wort.

„In diesem Zusammenhang müssten wir aber auch darüber sprechen, was denn überhaupt Leben ist. Ein Untoter mag sich zwar noch bewegen und Überreste seines Geistes und seiner Sinne haben, doch er weilt nicht mehr vollends unter den Lebenden, scheut vielleicht gar das Sonnenlicht”, sagte sie ruhig. „Insofern kann man das Leben eines Untoten wohl kaum schützen, wenn man das Gesetz wörtlich auslegt. Weil es bei einem Untoten kaum noch etwas Lebendiges zu beschützen gibt.”

Der Offizier antwortete nicht gleich. Er sah von einem zum anderen und machte auf Hadaschi einen etwas ratlosen Eindruck. „Bitte, diskutiert diese Frage weiter. Sie ist in jedem Fall in diesem Zusammenhang wichtig. Falls ihr zu einer Einigung diesbezüglich gelangt, teilt es mir bitte mit. Bis dahin danke ich Euch zunächst für Euren Bericht. Ich werde dies weitergeben an meine Vorgesetzten. Und ich bitte darum, dass Ihr weiterforscht, auch wenn es Euch sinnlos erscheinen mag. Vielleicht findet Ihr noch neue Ansätze oder andere Ideen.”

Hadaschi stimmte ihm insgeheim zu. Irgendetwas mussten sie übersehen oder nicht bedacht haben … Aber auch die Frage, was denn genau Leben sei, beschäftigte ihn nun. Hatten die Untoten noch ein Anrecht auf Leben, oder nicht?

Kapitel 3

 


Der ständige Regen der letzten Tage hatte den Boden in klebrigen Schlamm verwandelt. Kleidung und Schuhe von der dunklen, schmierigen Masse fernzuhalten, war so gut wie unmöglich. Die Kleider der Heilerinnen hatten mittlerweile alle feuchte Schmutzsäume und viele Schuhe waren kaum noch als solche zu erkennen. Aber auch mit Beinkleidern, wie er sie trug, entkam man dem stinkenden Matsch kaum.

Fransen aus weichem, hellen Leder zierten Talahkos Hosen, dazu trug er ein passendes Oberteil mit langen Ärmeln, die er mit einigen gewebten Perlenbändern verziert hatte – die traditionelle Kleidung seines Volkes. Zu seinem Glück gab es im Lazarett des Bundes Heilung für Alle keine Kleidungsvorschriften. Die Heiler wurden lediglich dazu angehalten, lange Schürzen zu tragen, um sich bei der Arbeit vor Blut und giftigen Substanzen zu schützen.

Zu gern hätte er seine Stiefel ausgezogen und wäre barfuß gelaufen, doch die zunehmende Kälte des Herbstes kroch ihm zu sehr in die Glieder. Das ging nicht nur ihm so; im Lazarett husteten mittlerweile nicht nur viele Patienten, sondern auch mehrere der Heiler.

An diesem Morgen nieselte es zwar nur leicht, aber die winzigen Tröpfchen sorgten auf Dauer natürlich ebenfalls für Feuchtigkeit. Talahko war für den Lazarettdienst eingeteilt worden, und obwohl das nicht minder anstrengend war, als im Feld zu heilen, war er an diesem Tag froh darüber. Auf dem Schlachtfeld hätte er durch noch mehr Schlamm kriechen müssen, als es hier der Fall war.

Im Lazarett war die Lage den Umständen entsprechend ruhig. Zwar waren fast alle Betten belegt, doch zumindest im Moment kamen keine neue Patienten herein. Gemeinsam mit einer Heilerschülerin kümmerte er sich um mehrere Verwundete, außerdem weichte er benutzte Verbände in einer Waschlauge ein und reinigte die Heilerbestecke. Diese Reinigungsdienste gehörten mit zur Ausbildung.

Im hinteren Bereich eines der Lazarettzelte saßen zwei der Heiler und unterhielten sich leise. Talahko vermutete, dass sie eine kurze Pause machten und sich mit einem Becher Tee aufwärmten. Der Bund Heilung für Alle arbeitete im gesamten Land, mit Heilerinnen und Heilern aus allen Völkern, darunter auch die Elfen aus dem Westen und die Tamahya.

Viele der Heiler kamen auch aus der Hauptstadt im Süden, Semvansin. Die Norður wiederum lebten sehr autark und blieben eher unter sich. Die meisten ihrer Siedlungen hatten eigenen Heiler und auch eigene Heilmethoden. Vielleicht war es deshalb nicht verwunderlich, dass zumindest in diesem Lazarett kein einziger Norður arbeitete. Talahko war das mehr als recht, denn seit dem, was vor zehn Wintern geschehen war, trug er eine unauslöschliche Wut gegen dieses Volk in sich.

 

Am Nachmittag wurde es chaotisch im Lazarett: In rascher Folge brachten die Helfer neue Verwundete herein. Manche trugen sie, andere wurden gestützt. Alles war dabei, was auf dem Schlachtfeld geschehen konnte – Kopfverletzungen, Pfeilverletzungen bis hin zu abgetrennten Gliedmaßen. Von der Untotenseuche sah er auf Anhieb nichts. Talahko musste einen Anflug von Übelkeit unterdrücken, als er einen Krieger sah, dem eine Hand abgeschlagen worden war. Obwohl er schon lange in der Heilerausbildung war und schon einiges gesehen hatte, kam es immer wieder vor, dass ihm doch ein grausiger Anblick den Atem verschlug.

Wenig später bekam er eine Gänsehaut, doch dies lag nicht an den Verwundeten um sie herum. Trotz der Hektik im Lazarett, dem Stöhnen und Schreien der schmerzerfüllten Verletzten spürte er deutlich jene sonderbare Präsenz – noch ehe er den Krieger sah, von dem dieser Eindruck ausging. Er durchquerte das große Zelt, wich einem Heilerschüler aus und näherte sich jener seltsamen Energie.

Wie er vermutet hatte – der Norður-Krieger mit den rotblonden Haaren. Er lag auf einer der Lazarettliegen, die aus zusammenklappbaren Holzgestellen und reißfesten Liegeflächen bestanden. Diesmal hatte es ihn schlimmer erwischt, doch der Heiler Siochain war bereits bei ihm und versorgte ihn.

Eine Verletzung im Bauchbereich, eine tiefe Schnittwunde, die wohl bereits im Feld notdürftig zugenäht worden war, um ein Verbluten zu verhindern. Siochain schob das blutgetränkte Leinenhemd des Verwundeten hoch. Zum Glück mussten sie ihn nicht auch noch aus einer Rüstung schälen, das hatten offenbar bereits die Heiler im Feld übernommen.

Als Siochain ihn sah, sagte er: „Geh mir zur Hand, Talahko. Ich muss die Wunde wieder aufschneiden und auswaschen, sonst wird er womöglich an dem Dreck darin sterben. Ich brauche den Alkohol zum Reinigen.”

Talahko holte das Gewünschte, einen starken Getreidebrand. Mit einer dünnen Pinzette zog Siochain vorsichtig die Fäden aus dem Fleisch. Sofort blutete die Wunde erneut. „Nimm ein Tuch und drück hier etwas dagegen.” Er deutete auf ein Stück Haut unterhalb der Wunde.

„Zum Glück hat die Waffe ihm nicht die Gedärme oder die Bauchwand durchschlagen, sonst wäre er wahrscheinlich nicht mehr unter den Lebenden oder würde bald sterben. Ich habe schon ein-, zweimal zerfetzte Gedärme genäht, aber das ist meistens ein ziemliches Glücksspiel und oft überleben es die Patienten leider nicht. Zumal in einem Feldlazarett nicht gerade optimale Bedingungen herrschen. Aber man hat ja auch nicht immer die Möglichkeit, magisch zu heilen und manchmal geht ja sogar das nicht gut aus”, erklärte der Heiler, während er mit der Pinzette Fremdkörper aus der Wunde entfernte und sie mit dem Getreidebrand auswusch.

Der Elf mit den feingeschnittenen Gesichtszügen arbeitete trotz des Lärms im Lazarett mit einer Ruhe und Konzentration, als könne ihn überhaupt nichts aus der Fassung bringen. Talahko bewunderte dies. Er ging davon aus, dass er selbst wohl auch in vielen Jahren nicht solch eine Ruhe ausstrahlen würde, zumindest nicht bei der Arbeit als Heiler.

„Nun bist du dran. Zeige mir, was du gelernt hast und nähe die Wunde zu. Ich weiß ja, dass du naturmagische Heilungen wirken kannst, aber manchmal ist nicht die Zeit oder der Ort dafür, nicht wahr?”

„Deswegen bin ich hier, um zu lernen”, erwiderte Talahko und griff nach Nadel und Faden. Trotzdem, es war ihm unangenehm, ausgerechnet einen Norður zu versorgen. In seiner Fantasie nähte er dem Kerl ein hässliches Muster in den Bauch, doch dann riss er sich zusammen. Was für lächerliche, kindische Anwandlungen für einen Heiler, noch dazu bei dem Bund der Heiler. Schließlich wurde bei Heilung für Alle jeder ohne Ansehen der Person, des Geschlechts oder der Volkszugehörigkeit behandelt. Also nähte er so ordentlich und gründlich, wie es ging und vergaß darüber sogar, dass er einen Mann von jenem gehassten Volk unter den Fingern hatte.

Anschließend wies Siochain ihn an, bei dem noch immer bewusstlosen Krieger zu bleiben und zu schauen, ob er wieder zu sich kam.

„Falls er nicht bald aufwacht, sagt mir Bescheid, Talahko. Ich werde dann noch einmal sehen, was ich für ihn tun kann.”

„Ja, Siochain.”

Der Elf richtete sich auf und wandte sich dem nächsten Patienten zu. Mit einem feuchten Tuch wischte Talahko dem Krieger das verdreckte Gesicht ab. Unter dem Schmutz kam ein Gesicht mit Sommersprossen und kantigen Zügen hervor. In Talahkos eigenem Volk waren Sommersprossen und eine solch helle Haut nicht zu finden; auf ihn wirkte es fremdartig. Allerdings hatte der Krieger auch eine Narbe im Gesicht, die sich von der Schläfe bis zur Stirn zog. Das wiederum kannte er von so manchem Krieger aus seinem eigenen Volk. Diese waren sogar stolz auf ihre Narben, da sie deutlich sichtbar von ihren Kämpfen erzählten. Ob Narben wohl bei den Norður auch als Auszeichnung galten?

Zum Glück war der Krieger offenbar so zäh, wie er aussah, denn wenig später kam er wieder zu sich. Bei Talahkos Anblick wurden seine Augen einen Moment lang schmal. Talahko war kein Hasenfuß, dennoch zuckte er zurück vor dem Mann, wegen jener fremdartigen Präsenz, die ihn noch immer umgab.

Sein Herz klopfte ihm in der Brust wie eine Trommel. Dann erinnerte er sich an den Auftrag des Adlers. Er durfte sein Totemtier nicht enttäuschen.

Mit heiserer Stimme verlangte der Krieger nach „Vaten.”

Talahko war mittlerweile so nervös und auf der Hut, dass er einen Moment brauchte, um das Wort innerlich zu übersetzen. Der Kerl wollte Wasser. Etwas zu trinken. Er nickte ihm zu, stand auf und besorgte einen Becher Wasser. Der Krieger war allerdings noch zu schwach, um sich aufzurichten, deshalb hielt Talahko ihm widerwillig den Becher an die Lippen, damit er trinken konnte.

„Wie heißt Ihr?” fragte er auf Vanfas, der offiziellen Landesprache. „Ich bin Talahko.”

„Warum willst du meinen Namen wissen?”, fragte der Krieger auf Norðurisk. Entweder beherrschte er Vanfas nur schlecht – das war diesen Barbaren zuzutrauen – oder er beleidigte ihn absichtlich, indem er demonstrativ seine eigene Sprache verwendete. Die Talahko vor langer Zeit gelernt hatte, weil sein Vater der Ansicht gewesen war, dass es besser sei, seine Feinde zu verstehen.

„Ich bin doch nur ein Patient unter vielen”, sagte der Norður jetzt mit jener rauen Stimme, die Talahko schon auf dem Schlachtfeld aufgefallen war. „Noch dazu aus einem Stamm, der mit deinem wohl verfeindet ist, ist es nicht so? Du bist doch ein Tamahya.”

„Hört mir zu.” Seine eigene Stimme klang ihm heiser in den Ohren. Warum hatte Kinjan ihm nur diesen vermaledeiten Auftrag gegeben? Ausgerechnet ein Norður! Ein tiefes Durchatmen, ehe er zu sprechen begann. „Ich habe ein Anliegen an Euch. Es mag Euch seltsam erscheinen, aber lasst mich zu Ende sprechen.”

„Ich habe ja keine andere Wahl. Der Heiler sagte, ich müsse mich noch mindestens bis zum Abend ausruhen, sonst könne er für nichts garantieren. Aber hör auf, mich zu ihrzen, ich bin weder ein Offizier noch ein Adliger oder sonst jemand von hohem Rang. Ich bin nur ein einfacher Krieger.”

Talahko sah zum Eingang des Lazarettzeltes. Zumindest im Moment warteten dort keine neuen Patienten auf eine freie Liege.

„Also gut. Bleibt … bleib am besten noch einen Moment liegen. Was ich Euch … was ich dir zu sagen habe, dauert nicht lang.”

„Dann sag es schon.”

„In meiner Heimat habe ich eine schamanische Ausbildung machen dürfen, die auch noch nicht vorbei ist. Und ich habe ein Totemtier gefunden. Oder vielleicht hat es mich gefunden. Hast du Kenntnisse von … schamanischen Dingen?”

Fragend hob der Krieger eine Augenbraue. „Warum ist das von Bedeutung für dich? Ich weiß, dass es so etwas gibt, aber etwas Genaueres habe ich darüber nicht erfahren. Die Schamanin meines Heimatdorfes ist vor einigen Jahren durch einen Unfall zu Tode gekommen, ohne einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin ausbilden zu können.”

Das erklärt vielleicht, warum er nichts von seinem Totemtier ahnt...

„Du wunderst dich sicher, warum ich das frage. Es ist so: Mein Totem erschien mir gestern Nacht im Traum. Es sagte mir, du bist, wohl ohne es zu wissen, ebenfalls mit einem Totemtier verbunden. Dein Totem hat mit dem meinen gesprochen und mir den Auftrag erteilt, dich davon in Kenntnis zu setzen.”

„Was für ein Totemtier soll das sein?” fragte der Norður, während eine steile, waagerechte Falte zwischen seinen Augenbrauen erschien.

„Das weiß ich nicht.” Bloß nichts von der feindseligen Präsenz erzählen, die er bei ihm wahrnahm … „Mein Totem darf es mir nicht sagen. Doch wir beide sollen es gemeinsam herausfinden. Wir sollen dein Totem gemeinsam suchen.”

Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich noch mehr. „Wie soll das gehen?”

Einer der älteren Heiler kam auf sie zu, ehe Talahko antworten konnte. „Kann der Patient aufstehen? Dann macht die Liege frei. Ich habe gerade erfahren, dass wir gleich wieder Verwundete hereinbekommen.”

Talahko nickte rasch und half dem Krieger, der ihm immer noch nicht seinen Namen verraten hatte, aufzustehen.

„Es geht schon”, sagte der Norður und richtete sich auf. „Wo sind meine Waffen?” fragte er.

„Ich trage sie für dich.” Das war nichts besonderes, Talahko machte es oft. So griff er auch jetzt nach dem Schwert und Schild, die seitlich an der Zeltwand lehnten. Danach führte er den Krieger nach draußen, vorbei an einigen Lazaretthelfern und Verletzten. „Folge mir. In dem Zelt dort vorn kannst du etwas essen. Es wird dir helfen, wieder zu Kräften zu kommen.” Er selbst fühlte sich ebenfalls hungrig.

Die Lazarettküche versorgte sowohl Patienten, wenn es nötig war, wie auch die Heiler und ihre Lehrlinge oder Schüler. Talahko bat den Krieger, am Tisch Platz zu nehmen, nachdem er seine Waffen in einer offenen Kiste am Eingang deponiert hatte, sodass diese nicht im Weg lagen. Vielleicht war es gut, neben ihm eine kurze Essenspause einzulegen und ihre Angelegenheit weiter zu besprechen, damit er das hinter sich bringen konnte. Anschließend würde er wieder seinen Dienst im Lazarett aufnehmen.

Der Krieger setzte sich schwerfällig hin, kein Wunder angesichts seiner jüngsten Verletzungen.

„Warte hier, ich hole uns etwas zu essen”, sagte Talahko.

„Danke.”

Er ging zu dem Tisch hinüber, an dem die Küchenmägde eine kräftige, dampfende Suppe in Schüsseln austeilten. Die erfahrenen Heiler im Lazarett wurden nicht müde zu betonen, wie wichtig Pausen und Nahrung für jeden einzelnen von ihnen waren. Es hatte schon Heilschüler gegeben, die bis zur Erschöpfung gearbeitet hatten und ohnmächtig zusammen gebrochen waren. Solche Vorfälle wurden dann gern als Beispiele zur Warnung genannt.

Talahko bekam zwei Löffel und Schüsseln mit Suppe ausgehändigt. Er bugsierte dies alles quer durch das Zelt und setzte sich zu dem Krieger. Bis auf sie beide war dieser Tisch gerade leer. Besser so – was er zu sagen hatte, war nicht für jedermanns Ohren bestimmt. Der Norður begann nun allerdings kommentarlos, die Suppe in sich hineinzuschaufeln, in der typischen Manier von Kriegern, die nicht wussten, wie lange sie Zeit vor dem nächsten Angriff hatten.

Talahko begann ebenfalls, seine Suppe zu essen, ließ sich aber mehr Zeit, zumal das Gemisch aus Fleischbrocken, Gemüse und Brühe sehr heiß war. Sollte sich der Norður doch die Zunge verbrennen.

Erst als er aufgegessen hatte, fragte der Kerl: „Also, wie soll das gehen, diese Totemsuche?”

„Mit einer schamanischen Reise. Weißt du, was das ist?”

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Ich habe Verpflichtungen, keine Zeit für eine Reise.”

„Das ist keine Reise im üblichen Sinne. Man reist nur mit dem Geist gewissermaßen, während der Körper an Ort und Stelle bleibt.”

„Ist das gefährlich?”, fragte der Norður mit einem Stirnrunzeln. Er klang skeptisch.

„Nein, meistens nicht. Es sei denn, man trifft auf feindselige Kreaturen. Aber es gibt den einen oder anderen Schutz dagegen.”

„Wie soll ich das verstehen?”

„Wenn dein Geist auf einer solchen Reise angegriffen wird, kann sich das unter Umständen auch auf deinen Körper schädlich auswirken.”

„Na, das fehlte mir gerade noch. Ich habe schon genug mit realen Kämpfen zu tun. Wozu brauche ich denn überhaupt so ein Totemtier? Kann es nicht einfach da bleiben, wo es herkommt und mich in Ruhe lassen?”

Talahko unterdrückte ein Seufzen. „Ein Totemtier ist ein sehr hilfreiches Geschöpf. Es kann dich beschützen, dir Rat schenken und Kraft geben in schweren Zeiten.”

Der Krieger gab einen knurrenden Laut von sich. „Ich brauche weder einen Beschützer, noch jemanden, der mir Kraft gibt. Und wenn ich einen Rat brauche, frage ich meine Gefährten.”

„Bist du dir da so sicher? Schau dich doch nur einmal an, wie schwer du heute verwundet worden bist.”

Jetzt wurde die Miene seines Gegenübers finster. Er schob sich eine rotblonde Strähne aus dem Gesicht und sah Talahko direkt an. „So, du behauptest also, mit einem Totem wäre mir das nicht passiert?”

„Das würde ich so nicht sagen. Auch ein Totem kann nicht verhindern, dass jemand verletzt wird. Aber vielleicht hätte es die Schwere deiner Verletzung vermindern können. Vor allem, wenn du vor dem Kampf ein Kraftritual gemacht hättest, welches dein Totem ehrt.”

Der Krieger fuhr sich über die Bartstoppeln an seinem Kinn. „Also, ganz ehrlich, ich kann mit diesen ganzen schamanischen Dingen nicht viel anfangen.”

„Es gibt noch etwas, was du wissen solltest. Mit einem Totemtier verbunden zu sein, ist eine Ehre, die nicht jedem zuteil wird. Zwar ist es so, dass fast jeder Mensch ein Krafttier, einen Schutzgeist oder ein Totem hat, aber nur bei einigen zeigen sich diese Geister auch. Nur wenige Leute können mit ihnen überhaupt in Kontakt treten, das geht nicht ohne weiteres. Außerdem ist es ungewöhnlich, dass sich ein Totem an ein anderes wendet, um sich mit seinem eigenen Schützling bekannt zu machen.” Talahko sprach jetzt noch eindringlicher. „Es ist deine Bestimmung, verstehst du das? Wer weiß, vielleicht hat dein Totemtier noch Großes mit dir vor. Denn oftmals stellen uns die Totems auch Aufgaben.”

„Ich soll mich von einem Tier herumkommandieren lassen?” Jetzt klang der Norður beinahe belustigt. „Es reicht mir schon, dass mir alle möglichen Feldherren Befehle erteilen.”

„Ein Totem ist viel mehr als ein Tier. Es ist ein mächtiger Geist”, entgegnete Talahko mit fester Stimme.

„Ich muss darüber nachdenken. Ich kann das jetzt nicht einfach so entscheiden.”

„Wie du wünschst. Aber überlege nicht zu lange. Du findest mich hier im Lazarett. Oder wenn es Nago Tahanka, der Große Geist, will, wieder auf dem Schlachtfeld. Wie heißt du überhaupt?”

„Ich bin Brynjar, aus dem Dorf Skölding.”

Kapitel 4

 

Die Frontlinie war lange durchbrochen, auch der Schildwall der Norður am südlichen Ende half nicht mehr gegen den Feind. Auf dem Schlachtfeld herrschte pures Chaos; die Schlachtenformationen hatten sich aufgelöst, die Banner der einzelnen Abteilungen waren kaum noch zu sehen.

Hier kämpften Leute aus Semvansin neben Bewohnern des westlichen Waldes, sie sah Tamahya-Krieger, die mit Speeren und Bögen ausgerüstet waren, dazwischen Kampfmagier, die ihre Gegner mit Feuergeschossen bezwangen, und dann wieder einfache Fußsoldaten aus dem Süden neben Norðurkriegern.

Die Ballistenschützen hatten bis eben noch mit Brandbomben gefeuert, doch nun lagen ihre von Pfeilen getroffenen Leichen direkt neben den Geschützen wie zu Boden geworfene lebensgroße Puppen. Rötlichbrauner Staub wirbelte auf, nahm Gorsic sekundenlang die Sicht.

Sie hörte den Angreifer, ehe sie ihn sah. Gorsic riss ihr Schild hoch, um einen geifernden Untoten abzuwehren. Sie wirbelte um die eigene Achse, ihre Filzzöpfe flogen ihr um den Kopf, als sie sich einem anderen Angreifer entgegenstellte. Sie konnte ihm das Schwert in die Seite rammen, weil er kaum gerüstet war.

Einen Moment lang hing Gorsic fest, duckte sich mit einem wütenden Schrei weg, riss das Schwert ruckartig heraus. Der Untote war nur noch Haut und Knochen, die unter seiner zerrissenen Kleidung hervorschauten. Aus blutunterlaufenen Augen starrte er sie an. Was immer sie anblickte, eine Seele war es wohl nicht mehr. Seinen Kopf allerdings schützte er mit einem Helm, der auch das Gesicht bedeckte. Sein Hals war ebenfalls geschützt, ein Plattenkragen lag darauf.

Der Befehl lautete, die Untoten zu enthaupten. Alles andere, bis auf Feuer, hielt diese Wesen der Finsternis nur kurz auf. Diesen hier würde Gorsic keinen Kopf kürzer machen können. Stattdessen bückte sie sich blitzschnell und hieb ihm das Schwert mit voller Wucht gegen die kaum geschützten Beine. Der Untote sackte in die Knie und stürzte, die abgeschnittenen Unterschenkel fielen mitsamt den Füßen zur Seite. Hoffentlich stand der nicht wieder auf!

Direkt neben ihr hackte ein schwarzhaariger Norðurkrieger einem der lebenden Toten den Kopf ab, der auf den Boden rollte, während sein ehemaliger Besitzer wankte und zusammenbrach.

Gorsic stellte sich mit dem Rücken zu dem des Kriegers, gab ihm Deckung und wehrte gleichzeitig weitere dieser Ungeheuer ab. Dort! Ein ungeschützter Nacken! Keine Gedanken mehr, sie reagierte rein instinktiv. Sekundenbruchteile entschieden hier über Tod und Leben, stundenlang.

Die Chance verging, denn der Untote war außerhalb ihrer Reichweite. Stattdessen rammte sie einem anderen, der kleiner gewachsen war, ihren Schild gegen das Kinn. Mit Entsetzen erkannte Gorsic, dass es früher ein Zwerg gewesen sein musste, der noch immer Reste seines Bartes und eine Plattenrüstung trug, die mit den verschlungenen Mustern bedeckt war, die bei seinem Volk so beliebt waren.

Sein Gesicht war leichenfahl, die Augen leuchteten unnatürlich. Unter seinem Bart war kaum zu erkennen, wo sein Kopf aufhörte und sein Hals anfing. Sie schlug einfach zu, bevor er es tat; der stämmige Körper des untoten Zwergs fiel um, wie von einer Sense niedergemäht.

Der Norður hinter ihr brüllte, während er weiter auf die Untoten einhieb. Gorsic erstarrte, als in ihrem Blickfeld ein untoter Oggra auftauchte. Ein Mann aus ihrem eigenen Volk … doch wie fürchterlich sah er aus! Seine Haut war fast weiß wie ein Laken, spannte sich über den Wangenknochen und auch die kleinen Hörner auf der Stirn waren nicht mehr schwarz, sondern grau. Außerdem war seine Haut von grau-schwarzen Geschwüren und Blutspritzern bedeckt. Das Schlimmste aber waren seine Augen – diese wirkten milchig, wie die eines Blinden. Das Haar hing ihm in wirren dunklen Strähnen vom Kopf und war an einigen Stellen ausgefallen.

Gorsic wollte ihren Schild hochreißen, doch der ehemalige Ogrra war schneller, mit einer schartigen Streitaxt schlug er dagegen. Holz splitterte und krachte, mit Entsetzen sah sie die Spitze der Axt nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt. Rasch ließ sie den Schild fallen, wollte sich umdrehen, doch der Ogrra packte sie mit einem röchelnden Schrei, ehe sie auch nur ihr Schwert heben konnte. Warum waren diese grauenvollen Untoten nur so verdammt schnell?

Zu ihrer Überraschung machte er keine Anstalten, sie zu töten. Stattdessen riss er Gorsic das Schwert aus der Hand, warf es beiseite und schleifte sie durch die Kämpfenden hindurch. Sie trat um sich, doch er hielt sie mit eisernem Griff fest.

Gorsic hustete von all dem Staub in der Luft. Dieser allgegenwärtige Geruch nach Blut, Verwesung, Rauch und Feuer drehte ihr den Magen um. Sie merkte, dass ihre Kräfte nachließen, je mehr sie sich zur Wehr setzte. Verdammt, ohne Schild und Schwert fühlte sie sich wie entblößt. Weiter hinten sah sie mehrere Untote brennen. Ein Feuermagier hätte mit ihrem Gegner kurzen Prozess machen können …

Ein anderer Untoter, ein hochgewachsener ehemaliger Mensch mit der Figur eines massiven Schranks, schleppte den dunkelhaarigen Norðurkrieger an ihr vorbei, der sich vergeblich mit wütendem Gebrüll und Tritten gegen seinen Peiniger zu befreien versuchte.

Wo um in alles in der Welt schleiften diese Ungeheuer sie bloß hin?

Kapitel 5

 

Gerade wollte er aus dem Zelt kriechen, als der Heilschüler Velasko hereinkam, mit dem er es teilte. Draußen war es noch dunkel, aber Talahko hatte eine Zeltlaterne entzündet. Sein Zeltmitbewohner musterte Talahko kritisch. „Hier ist jemand, der dich sehen will. Ein Norður, der behauptet, dich zu kennen.”

„Schon gut, lass ihn herein.”

„Bist du sicher?”

„Es ist einer meiner Patienten.” Talahko stand auf und strich sich über die zerzausten Haare. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sie zu kämmen und sich einen Zopf zu flechten.

„Das war mir schon klar, so wie er aussieht. Aber er kann dich doch im Lazarett aufsuchen, oder nicht?”

„Es ist … schwierig zu erklären”, sagte Talahko nach kurzem Zögern.

„Also von mir aus.” Velasko verließ daraufhin das Zelt.

Im nächsten Moment kam Brynjar herein. Er begrüßte ihn nicht, sondern begann einfach drauflos zu reden. „Sie haben meinen Freund Mattis erwischt, diese Bastarde! Und ich konnte ihm nicht helfen.” Sein Gesicht rötete sich vor Zorn.

Talahko schrak zusammen, als der Norður direkt vor ihm stand. Da war sie wieder, diese rätselhafte Präsenz, die ihn umgab.

„Warum kommst du damit zu mir? Ist dein Freund … tot?”, fragte er frei heraus.

„Ich weiß es nicht genau”, gab der Krieger zu. „Sie haben ihn mitgenommen. Vielleicht als Kriegsgefangenen. Als ich gesehen habe, wie sie ihn fortgeschleppt haben, musste ich an das denken, was du gesagt hast. Von diesem Totem, das einem Kraft und Schutz geben kann. Vielleicht ist das doch nicht so verkehrt.”

Talahko fragte sich, ob Brynjar sich nach dem Tod seines Freundes – falls dieser tatsächlich gefallen war – vielleicht davor fürchtete, selbst zu sterben. Was er vermutlich nie zugeben würde. Die meisten Krieger waren sehr auf Stolz und Ehre bedacht, vor allem die aus dem Norden. Furcht vor dem Feind hätte kaum einer zugegeben.

Brynjar riss ihn aus seinen Gedanken. „Aber das ist nicht alles. Heute Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ich war draußen auf dem Schlachtfeld, doch es waren keine Krieger da. Alles war voller Nebel. Irgendwelche Wesen huschten an mir vorbei. Ich glaube, es waren Tiere, aber ich konnte sie nicht erkennen. Es war zu dunkel. Aber ich habe sie gerochen. Es roch nach wilden Tieren, mit Fell.”

Er verzog das Gesicht. „Das ist schwer zu beschreiben. Jedenfalls sah ich plötzlich in der Dunkelheit zwei gelbe Augen aufleuchten. Dann hörte diese Stimme, hier in meinem Kopf. Sie sagte, ‚Wenn du deinem Freund helfen willst, geh zu dem Schamanen.’ Danach bin ich aufgewacht.”

Eindringlich sah der rotblonde Krieger ihn an. „Was hat das zu bedeuten? Sag es mir!” Er ging auf ihn zu, hob die Hände in seine Richtung. Talahko wich keinen Schritt zurück, doch er funkelte den Norður warnend an. Der ließ seine Hände wieder sinken.

Talahko atmete tief aus. Warum nur, Kinjan? Warum hast du mir das aufgetragen, hätte es nicht jemand anderes sein können? Verdammt, er wollte diesem Norður nicht helfen. Aber er musste es. Der Adler würde ihm sonst keine Ruhe lassen.

Er biss sich auf die Lippe, zwang die Worte heraus. „Bist du bereit, eine Reise zu machen, damit wir dein Totem suchen können?”

„Ich weiß nicht, was dieses Traumwesen von mir will, aber ich will es herausfinden. Bei meinem Volk werden Träume als bedeutsam angesehen. Nicht alle sind es, aber ich werde seit heute Nacht das Gefühl nicht los, dieser ist es. Ich werde alles tun, um Mattis zu helfen. Wenn ihm noch zu helfen ist.”

Auch wenn er die Norður hasste, wurde ihm klar, dass dieser Krieger loyal gegenüber seinem Freund war. Das zumindest sprach für ihn. „Ich verstehe. Warte hier. Ich sage kurz meinen Leuten Bescheid.”

Brynjar nickte ihm zu und setzte sich auf den Boden des Zeltes.

Talahko ging hinüber zum Lazarett und wandte sich an die diensthabende Heilerin. „Verzeiht, ich möchte einem Krieger in einer schamanischen Angelegenheit helfen und werde mich daher möglicherweise etwas verspäten. Aber ich eile mich.”

„Ich hänge dem Glauben an Stelaria an”, erwiderte sie. Das war mehr als deutlich zu sehen an der Kette, die sie um den Hals trug. Das sternenförmige Symbol Stelarias als kleines Silberamulett. „Ich kenne mich mit Schamanismus nicht aus … aber wenn man mich eines gelehrt hat, so ist es Respekt vor anderen Glaubensrichtungen.”

Schamanismus an sich war keine eigene Glaubensrichtung, sondern eher eine spirituelle Aktivität, aber hier war weder Zeit noch Ort für eine eingehende Erklärung, deshalb nickte er nur dankbar.

„In Ordnung“, sagte sie. „Aber trete deinen Dienst sobald wie möglich an.”

„Natürlich”, erwiderte er rasch. „Falls Ihr Velasko seht, sagt ihm bitte Bescheid.”

Die Heilerin nickte und wandte sich wieder ihren Aufgaben zu.

Als er in das Zelt zurückkehrte, saß Brynjar mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Er öffnete sie, als Talahko hereinkam. „Wie geht das jetzt?”, fragte der Norður mit gerunzelter Stirn. In seinem Blick lag Misstrauen, aber auch Neugier.

„Ich werde gleich trommeln – nicht mit voller Lautstärke – und mich dadurch in Trance versetzen.”

„Durch Trommeln? Aber das ist doch ziemlich laut.”

„Wenn man in einem gleichförmigen, schnellen Rhythmus trommelt, kommt der Geist zur Ruhe. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber mein Lehrmeister hat es mir so beigebracht, und es wirkt.”

„Also gut. Und dann?”

Wir werden uns beide hier nebeneinander auf dem Boden in uns selbst versenken.”

Ein weiterer skeptischer Blick.

„Es ist leichter, dabei zu liegen, weil sich die innere Ruhe dann besser einstellt”, erklärte Talahko.

„Wenn du meinst.”

„Als nächstes werde ich mit deinem Geist Kontakt aufnehmen. Dazu ist es notwendig, dass wir uns während der Reise berühren.”

Der Norður sog scharf die Luft ein.

„Es reicht, wenn wir uns an den Schultern berühren”, erklärte Talahko rasch.

Der Norður rieb sich über den Nacken. „Wenn es sein muss … ”

„Es muss. Sobald ich deinen Geist gefunden habe, erkunden wir gemeinsam die anderen Welten und suchen nach deinem Totemtier. Ich werde auch mein eigenes Totem bitten, uns dabei zu unterstützen. Alles weitere wirst du dann unterwegs erfahren. Normalerweise geht man übrigens ein wenig anders vor, aber nachdem, was du mir über deinen Traum erzählt habt, schätze ich, dein Totem ist bereits bei dir, doch es hat Schwierigkeiten, zu dir durchzudringen – außer im Traum. Deshalb hoffe ich, dass die Methode, die ich gerade erklärt habe, passender ist.”

Er hielt kurz inne und blickte ihn forschend an. „Bist du bereit? Hast du noch Fragen?”

„Gibt es noch etwas, was ich unbedingt beachten sollte?”
Talahko überlegte kurz. „Nein. Sei einfach ganz du selbst und offen für alles, was da kommen mag.”

„In Ordnung”, sagte der Norður nach kurzem Zögern.

Talahko breitete eine große Decke auf dem Boden aus und bedeutete Brynjar, sich hinzulegen. Nachdem der Krieger seiner Aufforderung gefolgt war, setzte er sich selbst direkt neben ihn und begann schnell, aber eintönig auf seiner flachen Rahmentrommel zu schlagen, wenn auch nicht allzu laut. Im Trommeln lag ein ganz eigener Zauber …

„Schon im Mutterleib hören wir den beruhigenden Herzschlag unserer Mutter”, hatte ihm Okahandi einst gesagt. „Das Trommeln des Schamanen ist verbunden mit dem Herzschlag der Erde. Durch das Trommeln gelangen wir in die anderen Welten, die mit der Erde, aber auch dem Himmel verbunden sind.”

Wie lange hatte er damals gebraucht, um sich durch das monotone Trommeln in eine Trance zu versetzen! Okahandi hatte ihn immer wieder angewiesen, Geduld zu beweisen. Geduld … das war etwas, zu dem er sich bis heute immer wieder anhalten musste.

Trotzdem reichte ihm mittlerweile dank der vielen Übungen eine recht kurze Zeit des Trommelns, bis sich sein Geist beruhigte und er in jenen anderen Bewusstseinszustand hinüberglitt. Deshalb hörte er mit dem Trommeln auf und legte sich neben den Krieger, so nah, dass sich ihre Schultern berührten, wie er es angekündigt hatte. Er spürte die Wärme des anderen neben sich.

Und da war er wieder, der alte Zorn auf die Norður. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte den Krieger hochkant hinaus geworfen. Sein Blick fiel auf den Adler, den er auf die Trommel gemalt hatte. Er durfte sein Totemtier nicht enttäuschen. Dass er hier Schulter an Schulter mit diesem Krieger aus dem Norden lag, war ein Teil des Rituals.

Er atmete einige Male tief ein und aus, bis seine Wut verblasste. Als er die Augen schloss, war alles schwarz um ihn. In seiner geistigen Form rief er nach Brynjar, ohne dies tatsächlich laut zu tun.

Erst einmal tat sich gar nichts in der Dunkelheit.

Schließlich hörte er in der Ferne Brynjars Stimme.

„Wo bist du?”, fragte der auf Norðurisk.

„Ich bin hier”, rief er dem anderen zu. Wenig später sah Talahko den Krieger auf sich zukommen. Seine Gestalt wirkte ein wenig verzerrt, was vielleicht damit zusammenhing, dass er sich nicht vollends auf diese Reise konzentrieren konnte.

„Und wie geht es jetzt weiter?”, fragte er und runzelte die Stirn.

„Jetzt betreten wir gemeinsam die Untere Welt, durch einen Tunnel in der Erde”, erklärte er ihm.

„Die Unterwelt?”, fragte Brynjar und schien noch verunsicherter.

„Aber nicht doch, nicht das Totenreich, wenn du das meinst. Schamanen nennen diese Welt die Untere Welt, weil der Zugang dorthin nach unten führt. Dort gibt es die Totemtiere und andere Geister. Folge mir. Und konzentriere dich bitte, auch wenn es dir vielleicht schwer fällt.”

Mit sichtlichem Widerstreben folgte der Norður ihm. Schon bald fand Talahko den Zugang zur Unteren Welt. Sein Lehrmeister hatte ihm erklärt, dass sich dieser jedem Reisenden anders darstellte. Manche schlüpften durch einen hohlen Baum nach unten, andere durch eine Höhle und manche mussten sogar über Baumwurzeln durch das Erdreich in die Tiefe klettern. Allen war gemeinsam, dass der Weg nach unten ging. Talahko fühlte sich trotz seines gefiederten Totemtieres stark der Erde verbunden. Kein Wunder, dass der Zugang in seinem Fall ein tiefes Erdloch war.

Als sie beide es erreichten, wurde es heller. Im Loch selbst war es dagegen ziemlich finster. Mit einer Geste forderte Talahko den Krieger auf, hinabzuklettern. Dieser bückte sich, betrachtete das Loch voller Misstrauen. „Da gehe ich auf keinen Fall hinein. Ich kann ja nicht mal den Grund sehen.”

„Es gibt keinen anderen Weg”, entgegnete Talahko. Das war so nicht ganz richtig, doch bis dieser ungeübte Mann seinen eigenen Zugang in die Untere Welt finden würde, müsste er wahrscheinlich mehrere Reisen unternehmen und sich noch viel öfter in sich selbst versenken. Dafür hatten sie keine Zeit.

Brynjar verzog das Gesicht.

„Keine Sorge, du wirst ohne Probleme auch wieder herausfinden. In dieser Welt können wir uns anders bewegen als in der alltäglichen. Hab keine Furcht.”

Der Norður schnaubte verächtlich.

Talahko biss sich auf die Lippen. Hätte er das bloß nicht erwähnt!

„Sehe ich etwa aus wie ein Angsthase?”, fragte der Krieger.

„Ganz und gar nicht”, erwiderte er rasch.

Brynjar stellte sich nun an den Rand des Loches und kletterte hinunter.

Talahko folgte ihm.

 

***

 

Kurz darauf riss Brynjar die Augen auf. „Aber … das ist ja wie Schwimmen. Wie ist das möglich? Ich meine, ich kann eigentlich nicht schwimmen und außerdem ist hier doch gar kein Wasser?!” Undeutlich sah Talahko, dass der Krieger tatsächlich schwimmende Bewegungen hinunter in die Tiefe machte.

„Wie ich schon sagte, in dieser Welt sind andere Bewegungen möglich als sonst, weil wir nicht an unseren realen Körper gebunden sind.”

Er selbst ließ sich in die Tiefe fallen. Früher hatte er das furchtbar unheimlich gefunden, aber mittlerweile machte es ihm nichts mehr aus, denn er hatte es oft genug geübt, sodass es ihm vertraut geworden war. Außerdem fiel er hier weniger schnell, als es in der Realität der Fall gewesen wäre. Auf diese Weise war es weniger beängstigend. Schon bald war das untere Ende des Tunnels zu sehen. Ein helles, warmes Licht schien von dort herein.

Wenig später traten beide aus dem Tunnel heraus in eine Landschaft, die anders aussah als die Schlachtfelder von Dalathrién: eine dürre Wiese am Rande eines Waldes. Das Gras dort war bräunlich-grau, wie nach langer Trockenheit. Der Wald wirkte ebenfalls teilweise abgestorben und verdorrt. Das war gar nicht gut. Ähnliches war ihm schon vor einiger Zeit, bei seiner letzten Reise hierher aufgefallen.

Brynjar blickte sich erstaunt um. „Wie ist das möglich? Das sieht so … echt aus. Wie in unserer Welt, bei einer Dürre.”

Talahko lachte. „Ich versichere dir, das hier ist wirklich die Untere Welt. Sie sieht nicht viel anders aus als unsere Alltagswelt. Das ist eigentlich ein Glück, weil wir uns so weniger fremd fühlen.”

„Seltsam … ”

Talahko rief nach Kinjan. Wenig später landete der golden leuchtende Adler neben ihm auf der Wiese. Brynjar zuckte zusammen.

„Lasst mich euch bekannt machen. Das ist mein Totem, Kinjan.”

Der Adler stolzierte um Brynjar herum, der ihn verblüfft musterte. „Willkommen in der Unteren Welt, Menschenkind.”

Brynjar bedankte sich mit großen Augen.

„Kommt mit”, forderte der Adler sie nun auf. „Lasst uns im Wald nach seinem Totem suchen.”

Gemeinsam betraten sie den Wald, wobei Kinjan immer wieder von einem Baum zum nächsten flog.

Ein Rabe flatterte ihnen entgegen und landete auf einem großen Ast. Er leuchtete leicht bläulich von innen heraus. Neugierig beäugte er zuerst Kinjan und dann sie beide. „Seid mir gegrüßt! Was führt Euch her?”, fragte er krächzend.

„Wir suchen mein Totemtier”, erklärte Brynjar.

Der Rabe legte den Kopf schief und musterte den Norður eindringlich. „Geht in den Wald”, sagte er schließlich. „Dort könnte er sein. Oder vielleicht auch nicht.”

„Du sprichst in Rätseln. Welches Totem ist es denn?”, erwiderte Brynjar.

„Das wirst du dann schon sehen, Menschenkind”, antwortete der Rabe und flog krächzend davon.

Im dem schattigen Wald begegneten sie einem braunen Bär, der ihnen entgegen sah. Auch von ihm ging ein Leuchten aus, ein bräunlich-goldener Schimmer. Vorsichtig näherten sie sich dem gewaltigen Tier, doch es brummte nur und wandte sich wortlos ab. Offenbar ein schweigsames Totemtier …

Ein rötlich leuchtender Fuchs trottete an ihnen vorüber, blieb stehen und betrachtete sie aufmerksam.

„Bist du mein Totemtier, Fuchs?”, fragte Brynjar zögernd.

Der Fuchs gab Geräusche von sich, die einem Kichern glichen. „Nein, nein, bei mir bist du falsch. Such weiter, Menschensohn.” Mit weiteren erheiterten Lauten machte sich der Fuchs von dannen und schaute noch einige Male zu ihnen zurück.

Brynjar starrte ihm nach. „Nicht gerade hilfreich, dieser Fuchs. Der Rabe auch nicht.”

„Wir Totemtiere sind sehr unterschiedlich”, erklärte Kinjan. „Den Füchsen sitzt oft der Schalk im Nacken, aber sie sind auch listenreich. Wir haben Glück gehabt – er hätte uns auch in die Irre führen können, einfach um sich einen Spaß daraus zu machen.”

„Ich dachte, ihr sollt den Menschen und anderen Wesen hilfreich zur Seite stehen?”, fragte Brynjar mit verwirrter Miene.

„Das ist richtig, es ist unsere Bestimmung. Doch wir führen auch unser eigenes Leben und jeder von uns ist an ein bestimmtes Wesen in eurer Welt gebunden”, erwiderte Kinjan. „Entsprechend helfen wir auch nicht jedem, der unsere Wege kreuzt.”

Ein Schmetterling flatterte auf sie zu. Er leuchtete in allen Farben des Regenbogens. Brynar sprach ihn nicht an, betrachtete ihn allerdings mit leicht zusammengekniffenen Augen. Kinjan grüßte den Schmetterling mit einem Namen, den Talahko nicht kannte. Das bunt leuchtende Insekt verharrte kurz vor dem Adler, dann flog es mit tänzelnden Bewegungen weiter und verschwand zwischen den Bäumen.

Sie liefen weiter durch den Wald, in den kaum Licht fiel. Die Bäume trugen kaum noch Laub und über ihren Kronen spannte sich ein grauer Himmel. Am Boden überall welke Blätter, kleine Steine und Äste. Talahko erschrak, als er in einiger Entfernung ein diffuses silbernes Leuchten bemerkte, das rasch näher kam. Es entpuppte sich als ein großer Wolf. Das Tier hatte ein schwarz-grau-weiß gesprenkeltes Fell und wache, goldbraune Augen.

Plötzlich begriff Talahko, woher jene Ausstrahlung kam, die er gleich zu Beginn bei dem Norður-Krieger wahrgenommen hatte. Sie stammte von diesem Wolf, anders konnte es nicht sein. Das Knurren des Tieres machte ihn nervös. Auch Kinjan wirkte jetzt unruhig. Er plusterte sein Gefieder auf und behielt den Wolf genau im Blick.

„Warst du das? Das Wesen in meinem Traum?” fragte Brynjar flüsternd.

Der Wolf musterte ihn lange, bevor er sprach. „So ist es. Ich habe lange auf dich gewartet, Brynjar aus Skölding. Ich bin dein Totem. Mein Name ist Veiðar.”

Selbst Talahko konnte seine Worte hören, vermutlich, weil er es so beabsichtigte.

Brynjars kniete sich plötzlich vor dem Wolf nieder und senkte den Kopf in einer demütigen Geste.

Wie seltsam, diesen störrischen Mann auf einmal so zu sehen. Aber es war passend, ging Talahko auf, als er darüber nachdachte, wie Wölfe waren, wie sie miteinander in ihren Rudeln umgingen. Brynjar zollte dem Totemtier auf diese Weise instinktiv seinen Respekt.

Doch dieser schnaubte nur. „Steh auf, Brynjar. Ich bin weder ein König noch ein Wesen, das du anbeten sollst. Ich bin nur ein Bote der Kräfte, die über Himmel, Erde und alle anderen Welten gebieten.”

Brynjar erhob sich wieder. Dann fragte er: „Könnt Ihr mir sagen, wie ich meinem Freund Mattis helfen kann?”

„Das musst du selbst herausfinden in deiner Welt”, erwiderte Veiðar.
Der Krieger richtete sich bei diesen Worten auf; voller Konzentration musterte er den Wolf.

Veiðar wandte sich nun allerdings Talahko zu. „Du bist kein Wolf und ich bin nicht dein Totem, Menschenkind.” Der Wolf sah ihn direkt an, ein intensiver Blick aus glühenden bernsteinfarbenen Augen. Es fiel ihm schwer, dem standzuhalten, aber er wagte es nicht, ihm auszuweichen. „Aber ich habe eine Aufgabe für dich. Du wirst Brynjar helfen, seinen Freund Mattis zu suchen.”

Auch das noch!

„Wenn ihr dies gemeinsam tut, könnt ihr vielleicht mehr über den Feind in Erfahrung bringen. Und das ist nicht nur für die Menschen eures Landes wichtig, sondern auch für die Untere Welt und ihre Bewohner.” Er heulte auf, wie um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen.

„So ist es”, fügte Kinjan hinzu. „Denn die Untoten stören das Gleichgewicht der Welten. Ihre Anwesenheit ist unnatürlich. Wo immer sie hinkommen, stirbt die Natur. Diese Auswirkungen sind sogar hier schon zu spüren, wie ihr seht.”

Talahko war es, als ob eine kalte Hand nach seinem Herzen griff. Zugleich wunderte er sich, warum sein Totem erst jetzt davon sprach …

„Aber warum Talahko?”, fragte Brynjar. „Er kennt Mattis doch gar nicht, und ein Krieger ist er auch nicht.”

„Das stimmt, aber ihr seid im Moment die einzigen hier, die von den besonderen Auswirkungen der Untoten auf die Welt der Totemtiere und der anderen Geister wissen”, sagte Veiðar mit einem leisen Grollen. „Und wir beide, Kinjan und ich, wollen, dass ihr mehr über sie herausfindet. Wir tun hier in unserer Welt, was wir können, um den Schaden zu begrenzen, den sie verursachen. Aber ihr müsst auch etwas in eurer Welt tun. Denn es reicht nicht, die Untoten einfach zu zerstören, sodass sie nicht wieder aufstehen können. Das könnten auch Krieger allein bewältigen. Das eigentliche Problem ist, dass immer wieder neue Untote erscheinen. Findet heraus, warum das so ist.”

„Aber … ich bin nur ein einfacher Nachwuchsheiler, und ich habe noch nicht viel Erfahrung als Schamane.”

„Ihr Menschen habt ein Sprichwort”, entgegnete Kinjan, der ihn jetzt direkt ansah. „Man wächst mit seinen Aufgaben. Das hier könnte vielleicht die wichtigste Aufgabe deines Lebens werden. Bedenkt beide, dass ihr nicht nur viele Menschenleben retten könntet, sondern auch ganze Welten vor der Zerstörung bewahren.”

Talahko begriff allmählich. Dies war größer als er, nein, größer als sie beide. Den Kriegern auf dem Schlachtfeld ging es allein darum, die Untoten zu vernichten. Gewiss, es gab auch Gelehrte und Magier, die sich Gedanken machten, woher diese Wesen eigentlich kamen und wie man ihrer dauerhaft Herr werden konnte. Aber wer dachte an die Totemtiere und ihre Welt? Er musste sich dieser Aufgabe stellen, damit er sich seines Totemtieres würdig erweisen konnte …

„Aber wie können wir Mattis finden?”, fragte der Krieger.

„Ihr müsst Euch unverzüglich auf den Weg machen. Kinjan wird in den Lüften Ausschau halten und ich werde Mattis’ Fährte verfolgen.” Der Wolf trottete um Brynjar herum und schnüffelte. „Da ist ein fremder Geruch an dir.”

Brynjar sah ihn verwirrt an. Blickte an sich herab. Er griff nach einem dreieckigen Stück Leder, das an seinem Gürtel befestigt war. Es war punziert, das verschlungene, stilisierte Muster zeigte einen Baum.

„Das ist von Mattis. Er hat es selbst gemacht und mir geschenkt.”

Der Wolf kam ganz nah an ihn heran und schnüffelte an dem Lederstück. Brynjar blieb stehen, wich nicht zurück. Er beobachtete das Totemtier mit gespannter Aufmerksamkeit.

„Ich kann ihn riechen. Ich werde seine Fährte aufnehmen. Dann kann ich Euch hoffentlich Hinweise geben, wohin er gelangt ist.”

„Aber, wie soll das gehen? In dieser Welt, meine ich?”
„Nicht in dieser. In der Mittleren Welt. Keine Zeit für lange Reden. Talahko wird es dir erklären. Geht beide heimlich, noch heute. Verabschiedet euch gar nicht erst. Eure Freunde und Gefährten würden es nicht verstehen und euch nur aufhalten wollen.”

„Aber wenn wir selbst gefangen genommen werden? Niemand wird uns dann noch retten können”, wandte Talahko ein.

„Deshalb müsst ihr besonders vorsichtig sein. Wir werden euch beschützen. Habt Vertrauen.”

Brynjar presste die Lippen aufeinander. „Das ist doch blanker Selbstmord, wenn wir uns nur zu zweit zum Feind begeben. Selbst wenn wir uns dort einschleichen.”

Der Adler plusterte seine Federn auf. „Vielleicht werdet ihr unterwegs noch Wesen finden, die euch unterstützen können und wollen”, sagte er.

„Aber woher werden wir wissen, ob wir denen trauen können?”
„Meistens merke ich recht schnell, ob jemand lügt. Ich habe ein Gespür dafür”, sagte Talahko.

Brynjar sah ihn zweifelnd an. „Bist du dir sicher, dass das immer klappt?”

„Meistens schon. Es sei denn, derjenige kennt sich mit Magie aus und kann seine wahren Absichten verschleiern.”

„So so.” Brynjar klang noch skeptischer.

Talahko wollte mit ihm nicht erst lange darüber diskutieren. Sie mussten bald eine Entscheidung fällen. Auf der anderen Seite machte er sich Sorgen, was passieren würde, wenn er das Lazarett einfach verließ. Möglicherweise würde man ihn aus dem Heilerbund ausschließen...

Ein noch schlimmerer Gedanke kam ihm: „Auf Desertieren steht die Todesstrafe, und die gilt nicht nur für Krieger, sondern auch für Feld- und Lazarettheiler.”

Der Wolf knurrte unwillig. „Dann lasst euren Ranghöheren eine Nachricht zukommen. Aber eilt euch.”

„Das werde ich. Und dann werde ich Mattis suchen”, sagte Brynjar mit grimmiger Miene. „Weil es sonst niemand tut, und er dann vermutlich verloren wäre.”

Er wandte seinen Blick Talahko zu „Und wie steht es mit dir?”

Talahko sah von ihm zu seinem Totem. Kinjan betrachtete ihn ruhig aus seinen braun-goldenen Vogelaugen. Blieb ihm eigentlich eine andere Wahl? Vielleicht würde er es nicht überleben. Aber zumindest hätte er dann etwas getan, um dieses Land zu beschützen. Verfluchtes Schicksal - warum wurde er vor so schwere Entscheidungen gestellt? Ausgerechnet zwei Norður-Kriegern sollte er helfen!?

Dann erinnerte er sich an etwas, was Okahandi ihm einmal gesagt hatte. „Die Totemtiere sind weiser als wir. Du magst das, was sie dir auftragen, nicht immer verstehen, doch hinterfrage es nicht. Sie sind keine Götter, doch sie sind mit jenen göttlichen Kräften verbunden, die unseren Augen verborgen bleiben und die wir nur im Herzen fühlen können.”

Talahko atmete tief durch und straffte sich. „Also gut, ich komme mit”, erklärte er. „Aber ich werde hier im Zelt eine Nachricht hinterlassen. Damit die anderen zumindest wissen, warum ich verschwunden bin. Ich denke nicht, dass sie nach mir suchen werden, wenn ich ihnen mitteile, worum es geht, und dass ich nicht allein bin.”

„Wenn du meinst”, erwiderte Brynjar.

„Dann eilt euch”, forderte Veiðar.

Talahko und Brynjar verabschiedeten sich von den beiden Totemtieren. Der Wolf trottete davon, während sich der Adler in die Lüfte erhob. Talahko trat mit dem Krieger den Rückweg an und beide bewegten sich schließlich durch den Tunnel zurück nach oben. Auch hier wunderte sich Brynjar wieder, dass er mit schwimmenden Bewegungen aufwärts stieg. Er schien erleichtert zu sein, als sie das Erdloch hinter sich ließen.

„Und jetzt?”, fragte er.

„Jetzt wird es Zeit, dass du wieder mit dem Geist in deinen Körper zurückkehrst. Stell es dir einfach vor. Es ist nicht schwer, denn dein Körper und dein Geist stehen ja in einer engen Verbindung.”

 

***

 

Kurz darauf kehrte Talahko zurück, öffnete die Augen. Brynjar tat dies ebenfalls. Stirnrunzelnd richtete er sich auf und streckte seine Gliedmaßen.

„Ich frage mich gerade, ob ich mir das alles nur eingebildet habe...“, sagte er zögernd.

„Glaube mir, die Welt der Totemtiere ist so real wie die unsere“, sagte Talahko. „Auch wenn wir sie im Alltag nicht sehen und nur mit dem Geist dorthin reisen können.“

Brynjar blickte ihn zweifelnd an. „Sie haben gesagt, sie würden in der Mittleren Welt nach Mattis suchen. Was bedeutet das? Was ist die Mittlere Welt?“

„Man könnte sagen, sie liegt wie ein Schleier über der unseren. Sie ist gleichzeitig damit verwoben, wie ein Flechtwerk. Dort können Geister auftauchen und es ist die Heimat vieler Naturgeister. Für die meisten Wesen ist sie unsichtbar. Auch ich kann sie nur sehen, wenn ich dorthin reise. Die Totemtiere haben auch Zugang in diese Welt, aber leider auch Wesen, die zwielichtig sind.”

„Na, das sind ja schöne Aussichten … ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll.“

„Willst du deine Freund finden oder nicht?“, fragte Talahko.

„Ja, natürlich. Aber...“, begann Brynjar mit gerunzelter Stirn.

„Hab Vertrauen in dein Totem. Der Wolf ist mächtig und weise, das konnte ich deutlich spüren. Außerdem, eine andere Möglichkeit haben wir gerade nicht.“

Brynjar musterte ihn ein Moment lang durchdringend. Talahko hielt dem Blick seiner grünen Augen stand.

„Also gut, lass es uns versuchen“, sagte der Krieger schließlich. „Ich würde alles tun, um Mattis wiederzufinden.“

„Gut.“ Talahko stand auf und packte so rasch wie möglich die wichtigsten Dinge zusammen. Bei seiner Trommel zögerte er. Sie war nicht allzu groß, aber in gewisser Weise sein wichtigster Besitz. Velasko, der sich mit ihm das Zelt teilte, wusste das und würde darauf achtgeben, dessen war er sich sicher. Mittlerweile war es Talahko dank langer Übung auch ohne Trommeln möglich, sich in Trance zu versetzen. Es dauerte dann nur länger.

„Ich muss auch noch etwas packen”, sagte Brynjar.

„Ich schlage vor, wir treffen uns nachher bei der großen Birke hinten bei der Pferdeweide. Dort stehen die Chancen ganz gut, dass wir nicht gesehen werden. Kennst du sie?”

Talahko nickte ihm zu. „In Ordnung, bis gleich.”
Der Krieger verließ das Zelt.

 

Nur wenig später hatte Talahko alles Nötige zusammengepackt, in einen Rucksack aus Lederhäuten mit einem Holzgestell im Inneren, den er auf dem Rücken unter seinem Umhang tragen konnte. Das verlieh ihm zwar das Aussehen eines Buckligen, aber es war verdammt praktisch. Er nahm auch einen halben Laib Brot und drei Äpfel mit – Proviant, der noch im Zelt lag.

Er griff nach Feder und Tinte, verfasste, so schnell es ging, eine Nachricht an Velasko. In der Eile fiel ihm beinahe das Tintengefäß um. Seine Schrift war krakelig, aber das ließ sich nicht ändern.


Ich bin nicht desertiert. Bitte sage der Lazarettleitung Bescheid, zeig ihnen diese Nachricht. Ich bin in Eile. Ein wichtiger schamanischer Auftrag – soll mit dem Krieger, der mich heute aufgesucht hat, einen entführten Krieger suchen und retten. Es hängt viel mehr davon ab als nur sein Leben. Die Untere Welt, die Welt der Totemtiere ist in Gefahr! Bete für mich, für uns, aber suche nicht nach mir. Wir alle sind in den Händen des Großen Geistes. Möge er auch dich und alle hier beschützen.

 

In ganz Vanfarin herrschte seit mehr als hundert Wintern Glaubensfreiheit. Gewissensentscheidungen, die mit dem eigenen Glauben zusammenhingen, wurden respektiert. Entsprechend konnte Talahko hoffentlich mit dieser Erklärung später vor einem Richter schlagkräftige Argumente vorbringen, falls man sie als Deserteure anklagte.

Was für Argumente der Norður wohl hätte? Bis vor ihrer Reise in die Untere Welt wäre es Talahko egal gewesen, doch nun fühlte er sich nicht nur seinem Adler, sondern auch dem Wolf verpflichtet – und damit in gewisser Weise auch dessen Schützling. Auch wenn es nichts an der Tatsache änderte, dass er Brynjars Volk aus tiefster Seele verabscheute, für all das, was sie den Seinen angetan hatten. Doch dieser Krieger war in seinem Alter. Die Kämpfe damals lagen schon Jahre zurück. Brynjar musste – wie er selbst – noch ein Junge gewesen sein. Außerdem hatte er keine Ahnung, wo dieses Dorf namens Skölding lag und ob ihre Feinde aus jenem Ort gekommen waren oder aus einer anderen Norður-Siedlung.

Brynjar wartete bereits bei der Birke, als Talahko dort ankam. Er trug ebenfalls einen Rucksack, Rüstung und Schwert. Auf einen Schild hatte er dagegen verzichtet, vermutlich, weil der zu sperrig war.

Talahko hatte sich hinter den Zelten aus dem Lazarett geschlichen und war auch von den Lazarettwachen nicht weiter aufgehalten worden; Heiler und ihre Schüler waren deutlich an ihrem Abzeichen zu erkennen und durften sich frei umher bewegen, da sie oft genug auch hinaus auf die Schlachtfelder oder zumindest an deren Rändern tätig werden mussten. Das Lager war von einer Palisade umgeben; nur an den Toren kam man herein und heraus.

„Ob die Wachen uns wohl hinaus lassen?”, überlegte er laut.

„Die müssen wir gar nicht fragen, dort drüben ist eine kleine Lücke in der Palisade, die wurde noch nicht ausgebessert. Komm, bevor wir hier noch auffallen.”

Die Lücke, von der Brynjar gesprochen hatte, fand sich versteckt hinter einem Zelt und einigen Sträuchern. Die waren voller Dornen, aber zum Glück nicht allzu hoch. Auch bot sein Schuhwerk einen guten Schutz, denn die Stiefel reichten fast bis zum Knie. Der Norður zwängte sich als erstes durch die Lücke, Talahko folgte ihm. Dabei riss ihm fast das Abzeichen der Heiler vom Gürtel, weil es gegen das Holz scheuerte, aber er konnte es gerade noch retten und stopfte es in eine seiner Gürteltaschen. Nicht weit hinter der Palisade begann der Wald.

„Komm, wir müssen dort hinten entlang”, sagte Brynjar. „Natürlich ist da nicht die ganze Untoten-Armee durchgegangen, aber sie nutzen den Wald für diejenigen, welche sich zurückziehen. Oder für einzelne, kleine Truppen. Vor ein paar Tagen hatte ich ein Gespräch mit einem Mann von der Nachtwache. Sie haben versucht, Wachen am Waldrand aufzustellen, aber die entsprechenden Leute wurden entdeckt und niedergemetzelt. Und du weißt ja, wie es ist, wenn die Untoten Gefangene machen … ”

Das wusste Talahko nur allzu gut. Kriegerinnen und Krieger, die das Pech hatten, von den Untoten verschleppt zu werden, galten als verloren. Zu stark war die Gefahr, dass die Untoten sie auf der Stelle oder aber auf dem Rückzug zu ihresgleichen machten, um ihre Armee zu vergrößern.

„Stattdessen haben sie die Truppen an den Wachtürmen verstärkt.” Brynjar deutete mit dem Kopf auf den nächstgelegenen dieser Türme. Dort standen zwei Wächter, die sie beobachteten. Verdammt. Einer von ihnen legte einen Pfeil in seinen Bogen ein. Talahko griff nach dem Abzeichen des Heilerbundes und hielt es in die Höhe, dazu winkte er. Hoffentlich erkannten die Wächter es auf die Ferne. Einer der beiden Männer winkte ihm schließlich zurück und der andere ließ den Bogen sinken. Allerdings kam nun ein anderer Wächter um die Ecke der Palisade, hielt direkt auf sie zu.

„He, was macht ihr da?”, rief er, mit dem Akzent der Leute aus der Hauptstadt Semvansin.

„Ich bin unterwegs in den Wald auf der Suche nach Heilkräutern, für die Lazarettalchemisten”, erklärte Talahko ohne zu zögern. Er deutete auf den Krieger. „Er bietet mir Geleitschutz.”

Der Wächter überlegte kurz, schob seinen Helm zurecht. „In Ordnung. Aber entfernt euch nicht zu weit vom Lager, das ist zu gefährlich.”

„Haben wir nicht vor”, behauptete Brynjar ohne mit der Wimper zu zucken.

Der Wächter nickte. „Ich muss wieder auf meinen Posten. Glück auf.”

„Danke.”

Der Mann tippte grüßend an seinen Helm und machte kehrt.

Kurz darauf betraten sie den Wald. „Die Untoten haben mit den Gefangenen gewiss den Weg durch den Wald gewählt – hier ist viel mehr Deckung. Wir werden uns nach Spuren umsehen müssen”, sagte Brynjar.

Es war nicht schwer, Spuren zu finden, denn etwas weiter nördlich gab es eine richtige Schneise und der Boden war ziemlich zertrampelt. Die Spuren führten mitten in den Wald hinein.

„Ich würde sagen, wir folgen dieser Fährte”, sagte Talahko.

„In Ordnung.” Brynjar presste die Lippen zusammen.

Sie beeilten sich beide, voran zu kommen. An einigen Stellen waren die Spuren zwar verwischt oder schwer zu erkennen, da auf dem Boden viele welke Blätter oder Äste lagen, aber offensichtlich war hier zuletzt ein größerer Trupp unterwegs gewesen, sodass sie immer wieder Hinweise darauf fanden, wohin sich dieser bewegt hatte. Allerdings waren die Spuren schon etliche Stunden alt, ihre Feinde hatten also bereits einen großen Vorsprung.

Talahko betrachtete den Wald um sich herum mit Sorge. Nebelschwaden waberten zwischen den dunklen Bäumen, die größtenteils wie abgestorben wirkten. Sämtliche Blätter, die er sah, waren welk, jedoch nicht in bunten Herbstfarben, sondern eher grau.

Nach ungefähr zwei Stunden versperrte ihnen ein Fluss den Weg, der um die dreißig Fuß breit war.

Brynjar fluchte. „Ich kann nicht schwimmen.”

„Vielleicht können wir einfach hindurchwaten? Schau, die Spuren hören direkt am Fluss auf. Es scheint, sie haben keinen Umweg genommen, sondern sind hindurch gegangen.”

„Aber dann sind wir klatschnass”, grummelte er.

„Hast du eine bessere Idee?”

Brynjar blickte den Fluss entlang. „Sieh mal dort, da liegen Felsen im Wasser. Vielleicht können wir sie zum Überqueren benutzen.”

Talahko folgte seinem Fingerzeig. Die Felsen waren nicht allzu weit entfernt. Einen Versuch war es sicher wert. „Also gut, warum nicht?”

Brynjar sprang auf den ersten Felsen und tastete sich weiter vor. Dabei starrte er immer wieder ins Wasser hinunter, fast so, als ob ihn der Fluss verschlingen wollte.

Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, Talahko hätte sich das Lachen kaum verbeißen können. Allerdings waren die Felsen tückischer als gedacht, denn plötzlich rutschte der Norður aus, taumelte und stolperte schließlich ins Wasser.

Skita!” Einen Moment lang ruderte er panisch mit den Armen.

„Ist es wirklich so tief?”, fragte Talahko, der auf einem der hinteren Felsen stehen geblieben war.

Brynjar hielt inne und sah ihn irritiert an. „Nein, du hast recht. Ich kann hier stehen.”

„Dann wate doch ans andere Ufer”, erwiderte er.

Er verzog das Gesicht, folgte aber der Aufforderung. „Pass auf, der Felsen da vorn ist glitschig”, riet Brynjar.

Talahko war entsprechend vorsichtig. Weil er vorgewarnt worden war, gelang es ihm, nicht von dem rutschigen Felsen zu fallen. Rasch sprang er auf den nächsten. Doch der Abstand des letzten Felsen zum gegenüberliegenden Ufer war zu groß für ihn. Wenn er jetzt sprang, würde er wohl kopfüber im Wasser landen. Das Risiko wollte er lieber doch nicht eingehen, also nahm er seinen Umhang ab und hielt ihn mit einer Hand nach oben, damit wenigstens dieses Kleidungsstück trocken blieb. Danach kletterte er vom Felsen ins Wasser herunter.

Das Wasser war eisig kalt, so dass er einen Moment lang scharf Luft holte. Dann watete er so rasch wie möglich hindurch.

Brynjar wartete bereits am Ufer auf Talahko. „Tja, sieht so aus, als ob wir beide Pech hatten”, meinte er. „In solchen Momenten wünschte ich, ich hätte magische Kräfte, dann würde ich mich einfach trocken zaubern.” Er grinste. Aus irgendeinem Grund schien ihn die Sache zu belustigen. „Du beherrscht nicht zufällig einen … Trocknungszauber? Ich weiß nicht, wie so etwas heißt.”

Talahko schüttelte nur den Kopf. „Lass uns weitergehen. Je mehr wir uns bewegen, desto weniger wird uns die Kälte etwas ausmachen.”

„Schon gut.”

Sie setzten ihre Reise fort. Talahko fröstelte, stellte aber nach einiger Zeit fest, dass die Bewegung die Kälte zumindest ein bisschen minderte. Sie konnten von Glück reden, dass es erst Herbst und noch nicht Winter war.

Kapitel 6

 

Die Nacht war hereingebrochen. Aus dem Lager ringsum drangen verhaltene Geräusche in das improvisierte Laboratorium, welches man den Gelehrten hier zugestand. Hadaschi beugte sich über die stinkenden Überreste eines Untoten, der auf der Bahre lag, umgeben von mehreren Sturmlaternen, die etwas Licht spendeten. Der Kopf des Unglückseligen und einer seiner Arme waren abgetrennt worden, doch beide Körperteile ruhten am oberen Ende der Bahre.

Vorsichtig strich Hadaschi mit den dünnen Handschuhen über die leicht verschrumpelte Haut eines Armes. Ein leichter Staubfilm, kaum zu sehen im schwachen Licht, blieb an den Fingern der Handschuhe haften. Oder war es Sand? Ja, einzelne Körnchen klebten am Stoff. Seltsam. Die Ebene von Dalathrién war nicht gerade für ihren sandigen Boden bekannt; in den letzten Tagen hatte es oft geregnet, die Erde war in rutschigen Schlamm verwandelt worden. Aber wer mochte schon wissen, woher dieser Untote kam? Vielleicht aus einer der kahleren Gegenden weiter oben im Norden? Ob es dort sandiger war? Geografie war nicht gerade sein Forschungsgebiet.

Die Fragen, die ihn hier in der Nacht umtrieben, allein und im Geheimen, waren ganz andere. Und er brannte auf Antworten.

Welche Kraft war es, die die Untoten antrieb, welches verborgene Geheimnis? Und war es möglich, einzelne Teile von ihnen wieder zu beleben, oder musste der Körper dazu intakt sein? Das würde unglaubliche Konsequenzen haben, für all die Kriegsversehrten, die durch Amputationen Beine oder Arme verloren hatten. Oder Leute wie ihn selbst. Was gäbe er darum, wieder zwei Arme zu haben! Und was wäre, wenn er dem Leichnam den abgetrennten Kopf wieder annähte und dann Wiederbelebungsversuche machte?

Aber letzteres war eine Frage, die er sich für später aufheben wollte. Als erstes der abgetrennte Arm. Vorsichtig strich er über die graue Haut, die toten Finger. Er griff nach einem Elixier, Vitæ, dem eine stark belebende Wirkung innewohnte. Sie war so stark, dass man davon nur wenige Tropfen benötigte – zumindest bei einem Lebenden.

Er hatte die Zubereitung auf der Akademia Semvansiana gelernt. Sie war kompliziert, benötigte teure Zutaten, darunter Goldstaub. Außerdem dauerte der Brauvorgang drei Tage, während derer man mehrere Stunden in der Flüssigkeit rühren musste. Was dabei herauskam, war ein fast unbezahlbares Elixier, das allerdings die Macht hatte, Wesen, die kurz vor dem Tod standen, wieder ins Reich der Lebenden zu holen. Natürlich war das nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich; ein Schwerstverwundeter ohne medizinische Versorgung würde dennoch verbluten, ein Vergifteter durch die Effekte des Giftes ums Leben kommen.

Das Elixier Vitæ half eher bei solchen, die in schwerer Bewusstlosigkeit darnieder lagen und die man nicht mit anderen Mitteln wiederbeleben konnte. Allerdings konnten sich nur Fürsten und andere wohlhabende Leute diesen besonderen Heiltrank leisten.

Er selbst hatte es heimlich in der Akademie gebraut, die Zutaten aus den entsprechenden Vorratsschränken gestohlen, denn von seinem Verdienst als Alchemist konnte er sie sich kaum leisten. Vorsichtig ließ er einzelne Tropfen des Elixiers auf den abgetrennten Arm des Untoten fließen. Dessen Haut begann zu dampfen. Hadaschi wich zurück.

Da, ein Zucken in den Fingern! Vorsichtig berührte er die untote Hand. Deren Finger krampften sich um den seinen, wie bei einem kleinen Kind, das reflexhaft etwas festhielt. Entsetzt stieß er die Luft aus, zog seine Hand zurück. Der Dampf löste sich auf, die krampfartigen Bewegungen der untoten Hand wurden schwächer, bis sie wieder so still wie zuvor auf der Bahre lag.

Er notierte sich die Effekte in sein Notizbuch. Das war definitiv ein Fehlschlag. Entweder brauchte man gewaltige Mengen des Elixiers … oder die belebende Wirkung war einfach nicht genug. Und für weitere Experimente dieser Art hatte er nicht genug Vitæ …

Hadaschi kaute einen Moment lang geistesabwesend auf dem Stift herum, mit dem er die Notizen schrieb. Wie es wohl wäre, wenn er sich einen dieser untoten Arme an seinen Armstumpf nähen ließ? Würde sein Körper diesen als Fremdkörper betrachten oder als eine Verlängerung der eigenen Blutbahnen, des Gewebes und der Muskeln akzeptieren?

Vielleicht, wenn man den untoten Arm vorher in eine ausreichende Menge Vitæ tauchte? Aber nein, das war einfach nicht wirtschaftlich. Es musste doch noch andere Wege geben … In seinem Notizbuch spielte er die verschiedenen Möglichkeiten durch:

 

In diesem gesamten militärischen Lager mit seinen Lazaretten werde ich keinen Heiler finden, der sich auf ein solches Wagnis einlassen würde. Von den moralischen Fallstricken, die damit verbunden sein mögen – der Arm ist schließlich der eines Untoten – ganz abgesehen, fehlt es den Heilern hier einfach an Zeit, bei all den Verwundeten, um die sie sich kümmern müssen.

Und wie ist es, wenn dieser untote Arm immer mehr verwest? Ab wann wäre der Punkt überschritten, an dem mein Körper das fremde Gewebe noch annehmen würde, falls er das überhaupt tut? Oder wer weiß, vielleicht werde ich gar selbst zu einem Untoten, weil etwas Unsichtbares in dem Arm dafür sorgen würde? Und selbst wenn es nicht so ist -- die Gefahren, die mit einer solchen Transplantation verbunden sind, vermag ich kaum einzuschätzen. Ich werde diesen untoten Körper weiter untersuchen müssen …

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739490809
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Zombies Untote Dark Fantasy Schamane Fantasy High Fantasy Totemtier Schamanismus Episch

Autor

  • Amalia Zeichnerin (Autor:in)

Amalia Zeichnerin ist das Pseudonym einer Hamburgerin Autorin. Amalia schreibt Phantastik, Historisches, Cosy Krimis und Romance, gern mit queeren Protagonist*innen und Diversität, denn die Welt ist bunt und vielfältig.
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Titel: Vanfarin - Von Untoten und Totems