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Sein wahres Selbst

von Amalia Zeichnerin (Autor:in)
96 Seiten

Zusammenfassung

London, 1606. Alle Rollen auf den Theaterbühnen Englands werden von Männern gespielt. Geoffrey lernt den Schauspieler Simon kennen und hält ihn zunächst für eine Frau. Simon empfindet bald mehr für ihn, als zu dieser Zeit erlaubt ist und schon bald gibt so einige Verwicklungen ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Vorbemerkung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Danksagung und weitere Bücher

Impressum

Sein wahres Selbst

Amalia Zeichnerin


© Amalia Zeichnerin 2017

 

 

Inhaltswarnungen zu dieser Novelle

Gewalt (wenig), Andeutungen von Transfeindlichkeit, queerfeindliche Slurs, explizite Sexszenen

Vorbemerkung

 

In dieser Geschichte werden teilweise negative historische Ausdrücke für Homosexuelle genannt. Aufgrund des historischen Hintergrundes ist eine Verwendung entsprechend negativ besetzter Begriffe kaum zu vermeiden. Ich persönlich distanziere mich in aller Form von Homophobie sowie von Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder Identität. Diese Novelle enthält explizite, homoerotische Szenen.

Im 17. Jahrhundert waren die Ausdrücke „homosexuell”, „transgender”, “transsexuell”, „Crossdressing” und viele andere noch nicht vorhanden. Zu Shakespeares Zeit wurden alle Frauenrollen in Theatern von Männern gespielt, unter anderem, da der Beruf des Schauspielers als anrüchig galt und man die Gefahr von Prostitution vermeiden wollte. Erst im Jahr 1662 durften auch Schauspielerinnen auf die Bühne.

Dies über alles: Sei dir selber treu!
Und daraus folgt so wie die Nacht dem Tage,
du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.

(William Shakespeare, aus „Hamlet”)

 

1

Mai 1606

Geoffrey

 

Der Vorhang des Theaters wurde geöffnet, gab den Blick frei auf eine Kulisse, die mit wenigen, schlichten Mitteln einen Garten und ein dahinter liegendes Haus andeutete.

Geoffrey saß auf einem der Ränge, er hatte sich einen Sitzplatz gegönnt, um nicht unten in der Menge stehen zu müssen, auch wenn er sich dadurch weiter weg von der Bühne befand.  

Er beugte sich vor und betrachtete die beiden Männer, die vom Bühnenrand her den „Garten“ betraten. Ihre bunten Kostüme mit den weiten Mühlradkragen glichen der Kleidung von niederem Adel, auch wenn sie wohl nicht ganz so kunstvoll angefertigt worden waren.

Bald kamen weitere Männer auf die Bühne. Ihre Stimmen waren bis zu seinem Sitzplatz gut vernehmbar. Und das musste auch so sein, denn es galt die vielen Geräusche zu übertönen, welche aus dem Zuschauerraum drangen: Gelächter, Husten und Gespräche, die ohne Rücksicht auf das Schauspiel laut geführt wurden.

Wer hierher kam, der tat das nicht nur, um ein Stück zu sehen, sondern wollte auch selbst gesehen werden. Entsprechend herausgeputzt wirkten viele Leute, fast so, als säßen sie in ihren besten Sonntagskleidern in der Kirche. Allerdings waren die Dekollétes der Damen weniger züchtig, sondern boten tiefe Einblicke, die oft nur wenig von Schmuck oder Rüschen verborgen wurden.

Geoffrey hatte an einigen Stellen Schwierigkeiten, sich in Anbetracht der Geräuschkulisse auf das Stück zu konzentrieren. Immerhin bekam er genug mit, um der Handlung folgen zu können: Nach dem Tod eines Freiherrn erbte dessen jüngster Sohn Orlando  tausend Kronen, während seine beiden Brüder deutlich mehr bekamen. Als sein Bruder Oliver den Garten betrat, begann Orlando einen Streit mit ihm und wurde handgreiflich.

Die beiden Schauspieler setzten diese Auseinandersetzung mit lauten, aggressiven Stimmen in Szene. Das Publikum wurde ruhiger, weil nun die meisten ihre volle Aufmerksamkeit auf die Bühne richteten.

Oliver beschloss, sich an Orlando zu rächen und beauftragte den Handlanger Charles dafür.

Geoffrey hatte eigentlich nicht erwartet, dass er das Stück spannend finden würde, fühlte sich aber zunehmend in die Handlung hineingezogen. Mit Theatern kannte er sich nicht gut aus, denn in seiner Heimatstadt Greenwich gab es nur selten Schauspiele und er war nicht oft in London. Was seine Aufmerksamkeit bald noch mehr fesselte, waren die beiden Frauen, die in der zweiten Szene auftraten. „Celia” war eindeutig als Mann zu erkennen, denn selbst in dem prächtigen Kleid wirkten ihre Bewegungen etwas kantig. Rosalinde” verblüffte ihn dagegen, denn ihre Gesten waren so fließend und anmutig, dass er kaum glauben konnte, dass sie von einem Mann verkörpert wurde.
Ihre Stimme war weder hell noch dunkel, sondern lag irgendwo dazwischen. Für den Rest des Stückes nahm die Darstellung der Rosalinde Geoffrey mehr gefangen als alles andere, zumal der Dichter des Stückes diese Figur mit Klugheit und einer spitzen Zunge ausgestattet hatte.

Zu einem späteren Zeitpunkt verkleidete sich Rosalinde als Mann, da sie vor einem bösen Herzog fliehen musste. Pikant wurde es, als sie gemeinsam mit Celia Liebesbriefe las, welche jemand für sie an Bäumen in einem Wald aufgehängt hatte. Diese Briefe waren gespickt mit unanständigen Anspielungen, welche für lautes Gelächter im Publikum sorgten.

Aber auch die Dichtkunst wurde aufs Korn genommen.

Celia fragte Rosalinde: „Hast du diese Verse gehört?

O ja, ich hörte sie alle und noch was drüber; denn einige hatten mehr Füße, als die Verse tragen konnten.”

„Das tut nichts, die Füße konnten die Verse tragen.”

„Ja, aber die Füße waren lahm und konnten sich nicht außerhalb des Verses bewegen, und darum standen sie so lahm im Verse.”

Dieser Kommentar sorgte für weitere Lacher unter den Zuschauern.

Sie fand heraus, dass ihr heimlicher Schwarm Orlando die Briefe verfasst hatte und traf diesen bald darauf in jenem Wald, wo er sich mit Freunden in der Verbannung befand.

Das Gespräch zwischen ihnen wurde zu einem gewitzten Wortgefecht, dem Geoffrey mit zunehmendem Vergnügen lauschte. Er fragte sich mittlerweile, ob die Figur der Rosalinde nicht doch von einer Frau gespielt wurde. Sein letzter Theaterbesuch lag schon Jahre zurück. Vielleicht hatten sich seitdem die Gesetze diesbezüglich verändert?

Rosalinde behauptete: „Liebe ist eine bloße Tollheit, und ich sage Euch, verdient ebensogut eine dunkle Zelle und Peitsche als andre Tolle; und die Ursache, warum sie nicht so gezüchtigt und geheilt wird, ist, weil sich dieser Wahnsinn so gemein gemacht hat, daß die Zuchtmeister selbst verliebt sind. Doch kann ich sie mit gutem Rat heilen.”

„Habt Ihr irgendwen so geheilt?”, wollte Orlando wissen.

„Ja, einen, und zwar auf folgende Weise. Er mußte sich einbilden, daß ich seine Liebste, seine Gebieterin wäre, und alle Tage hielt ich ihn an, um mich zu werben.”

Das verblüffte Geoffrey und er fragte sich, was Rosalinde mit dieser Geschichte bezweckte.

Sie stellte sich in Positur, ganz wie ein angeberischer junger Kerl und erklärte, dass sie sich ganz typisch „weibisch” aufgeführt habe — unbeständig, mal in Tränen aufgelöst und ein anderes Mal lachend. Manchmal habe sie ihren damaligen Verehrer von sich gestoßen und ihm dann wieder schöne Augen gemacht. Auf diese Weise habe sie ihn fast in den Wahnsinn getrieben. Am Ende erklärte Rosalinde: „Und so heilte ich ihn, und auf diese Art nehme ich es über mich, Euer Herz so reinzuwaschen, wie ein gesundes Schafherz, daß nicht ein Flecken Liebe mehr daran sein soll.”
Wollte Rosalinde die Tiefe der Gefühle ihres heimlichen Schwarm auf diese Weise prüfen? Geoffrey musste sich daran erinnern, dass dies nur ein Stück war – so sehr nahm ihn das Schicksal dieser beiden inzwischen mit.

Jetzt war es an Orlando, zu antworten. „Ihr würdet mich nicht heilen, junger Mensch”, sagte er mit voller Überzeugung.

Rosalinde trat einen Schritt auf ihn zu. „Ich würde Euch heilen, wolltet Ihr mich nur Rosalinde nennen und alle Tage in meine Hütte kommen und um mich werben.”

Geoffrey war sich nicht sicher, ob er das gerade richtig verstanden hatte. Nach der inneren Logik der Handlung forderte hier ein Mann einen anderen Mann auf, ihn als Frau zu betrachten, als solche auch anzureden und um ihn zu werben. Auch wenn dieser in Wahrheit eine Frau war. Das ist ja ganz schön verdreht. Wie gut, dass es nur ein Theaterstück ist, dachte Geoffrey, schwankte zwischen Verwirrung und Amüsiertheit.
Orlando war sich offenbar nicht zu schade, diesen Vorschlag auszuprobieren. Denn er antwortete: „Nun, bei meiner Treue im Lieben, ich will es; sagt mir, wo sie ist.”

Die Handlung wurde danach noch um einiges verzwickter, aber auch romantischer. Am Ende der Aufführung fühlte sich Geoffrey wie verzaubert. Erfreut stimmte er in den Beifall ein und sah lächelnd zu, wie sich Rosalinde und die anderen auf der Bühne verneigten.

Ein solches Gefühl erlebte er nicht oft, denn er war kein schwärmerischer Mann, sondern eher bodenständig. Vor allem aber wollte er herausfinden, ob Rosalinde nun von einem Mann oder von einer Frau dargestellt worden war. Dass sie zwischendurch als Mann verkleidet aufgetreten war, hatte es ihm nicht leichter gemacht, dies zu erkennen.

Er verließ die Galerie, ging die Treppe nach unten, und direkt zur Bühne. Dort fragte er einen der Bühnenarbeiter, ob er den Schauspieler der Rosalinde kurz sprechen dürfe. Der Mann zuckte mit den Achseln und deutete auf eine Tür im hinteren Bereich des Theaters: „Da lang gehts zu den Garderoben.”

Er bedankte sich und ging zur Tür hinüber. Gleich würde er sicher mehr wissen.

2

Simon

 

Er fühlte sich ein wenig trunken, wie immer nach einer erfolgreichen Vorstellung. Ein Hochgefühl, das erst nach einer Weile wieder abebbte. Wie sehr liebte er es, den Applaus am Ende zu hören! Weil er dabei natürlich immer noch das Frauenkostüm trug, nahm er sich nach jeder Aufführung die Freiheit heraus, wie eine Dame vor dem Publikum zu knicksen. Oft lachten die Zuschauer erfreut darüber oder riefen ihm Scherze zu.

Seine Kollegen hatten sich bereits  umgezogen. Mehrere von ihnen wollten noch feiern gehen. Roger, der Darsteller der Celia, ließ sich von einem Ankleider das Rückenteil seines Kleides aufschnüren.

Theodor, der den Orlando spielte, zog sich ebenfalls um.

Die Rolle des Helden stand Theo gut, fand Simon. Mit seinem gepflegten kleinen Bart, den breiten Schultern und den wachen blauen Augen sah er wie ein typischer Frauenschwarm aus. Simon schwärmte  ein bisschen für ihn, obwohl daraus nie etwas werden würde. Also musste er seine Gefühle im Zaum halten. Er wandte den Blick ab, als Theo sich entkleidete. Gründlich kämmte er die Perücke aus, die er eben noch getragen hatte. Gerade wollte er beginnen, mit einem Tuch die Schminke aus seinem Gesicht zu wischen, als es an der Tür klopfte.

„Erwartest du Besuch?”, fragte Roger, der jetzt nur noch lange Unterhosen, Strümpfe und Schuhe trug.

Simon schüttelte den Kopf.

„Dann bin ich gespannt, wer das wohl ist. Herein!”, rief Theo.

Ein fremder Mann in schlichter, dunkler Kleidung trat ein. Er trug einen braunen Spitzbart und hatte Augen in derselben Farbe, wenn auch etwas dunkler. An den Schläfen zeigten sich bereits die ersten grauen Haare.

Simon legte das Tuch beiseite.

Verzeiht, wenn ich störe, …” Der Fremde räusperte sich. „Ich habe gerade das Stück gesehen und wollte Euch gratulieren. Mein Name ist Geoffrey Barnes.”

Sehr erfreut, Master Barnes”, begrüßte Theo den Besucher, während er sich eine Hose anzog.

Mein Name ist Simon Verey.“ Er deutete auf seinen Kollegen.Und das hier ist Roger Simmons.“

„Ah, das erklärt es mir”, antwortete ihm der Besucher. „Seht Ihr, ich habe mich während der Aufführung ernsthaft gefragt, ob Ihr ein Mann oder eine Frau seid.”

Simon errötete. „Das freut mich. Ich betrachte das als Kompliment.”

„Das könnt Ihr auch. Eure Darstellung war hervorragend.” Er strahlte ihn an. Dann wandte er sich Theo und Roger zu. „Die Euren ebenfalls, meine Herren.”

Theo wurde tagaus, tagein mit solchen Komplimenten beehrt — meistens von kichernden jungen Damen, deren Blicke ziemlich begehrlich wirkten. Simon konnte sie nur zu gut verstehen.

Roger wirkte erfreut und auch Theo lächelte. „Danke, das höre ich häufiger.”

Master Barnes blickte Simon an. „Ich hoffe, es ist nicht unhöflich von mir, aber wäre es vermessen, Euch auf ein Getränk einzuladen? Ich würde gern mit euch  ein wenig über das Theater und das Stück sprechen, wenn Ihr mögt.”

„Das ist sehr freundlich von Euch.”, erwiderte Simon überrascht. Noch nie war er von einem Zuschauer  eingeladen worden.

Ich weiß mehr über das Theater als der junge Simon hier”, mischte sich Theo ein. „Er ist noch nicht so lange bei den King‘s Men. Schließt Euch uns doch einfach an, wir gehen noch auf eine Feier. Der Pub ist groß genug, und das Ale ist gut.”

„Sehr gern.”

Übrigens, mein junger Freund und ich wollten eine Wette beschließen.” Theo deutete mit dem Kopf auf Simon, der seinen Ohren nicht traute. Von einer Wette hörte er zum ersten Mal.

Roger, der soeben die dunkle Perücke auf einem Holzkopf drapierte, hielt in der Bewegung inne.

„Ich wette, dass er sich nicht traut, in dieser Aufmachung  einen trinken zu gehen”, sagte Theo mit einem spitzbübischen Grinsen. Was ihm verdammt gut zu Gesicht stand. Aber das war keine Entschuldigung dafür, dass er ihm auf diese Weise eine Wette aufzwang.

Simon vergaß manchmal, wie selbstgefällig und rücksichtslos Theo sein konnte. Im wahren Leben war er eben ganz anders als Shakespeares Orlando.

Simon setzte ein honigsüßes Lächeln auf. „Natürlich traue ich mich das, auch in Begleitung dieses Herrn. Wenn Ihr nichts dagegen habt, Master Barnes?”

Geoffrey fuhr sich mit dem Finger über den Kragen. „Ja, also … Warum eigentlich nicht?”, sagte er nach kurzem Zögern.

„Wir Theaterleute sind alle ein bisschen verrückt, müsst Ihr wissen”, sagte Theo, dem das alles hier einen Heidenspaß zu bereiten schien.

Simon hätte den Schönling ohrfeigen mögen, aber das traute er sich nicht. Vor dem Fremden wollte er nicht sein Gesicht verlieren.

„Gebt mir einen Moment, dann bin ich vorzeigbar”, bat er.

„Wie Ihr wünscht.” Barnes trat vor die Tür.

Simon begutachtete sein Gesicht im Spiegel — die Theaterschminke war zu dick aufgetragen, als dass er sie an der Öffentlichkeit hätte tragen können. Man würde ihn für eine Hure halten, und das wollte er dem Gentleman, der ihn eingeladen hatte, nicht aufhalsen.

„Lass deinen Verehrer nicht so lange warten”, feixte Theo, der seine Alltagsstiefel anzog.

„Er ist nicht mein Verehrer.”

„Ich mach doch nur Spaß, Dummerchen.”

Auf solche Späße konnte Simon  verzichten. Wenn auch aus anderen Gründen, als Theo vielleicht annahm.
Zu viert gingen sie zur Schenke The Cake and Ale, die sich in der Nähe des Theaters befand. Simon fühlte sich wohl in seiner Aufmachung. Er wusste schon länger, dass er Fremden gegenüber als Frau durchgehen konnte, deshalb fürchtete er weder schiefe Blicke noch Schlimmeres. Die anderen vom Theater würden vermutlich blöde Witze reißen. Aber er war diesen Umgangston längst gewohnt und regte sich darüber nicht mehr auf.

 

Eine Duftmischung aus Schweiß, Parfüm, Bier und Pfeifenrauch wallte ihnen entgegen, als sie die Schenke betraten. Ihre Kollegen hatten mehrere Tische in Beschlag genommen und winkten ihnen zu. Roger und Theo setzten sich zu der feucht-fröhlichen Runde, doch es war kein Platz mehr für Master Barnes und Simon.

„Rückt zusammen, Männer!”, verlangte Theo, aber Simon winkte ab. „Wir können uns woanders hinsetzen.”

„Warum hast du dich eigentlich nicht umgezogen, Simon?”, fragte William Sly, der nicht nur Schauspieler in der Truppe war, sondern auch Anteile an ihren Einnahmen erhielt.

„Ich hab mit ihm gewettet, dass er sich nicht traut”, erklärte Theo mit einem breiten Grinsen.

„Tja, die Wette hast du wohl verloren”, meinte Sly.

„Um was habt ihr gewettet?”, wollte ein Freund von Theo wissen.

Dieser schüttelte den Kopf. „Also das… ”, begann er gedehnt, „bleibt unser Geheimnis.”

Simon war nicht klar, was Theo mit der ganzen Sache bezweckt hatte. Falls der Schönling ihn damit  bloßstellen wollte, war das gründlich daneben gegangen. Was hatte der Kerl denn erwartet? Sie waren unter Theaterleuten, also ihresgleichen. Die kümmerte es wenig, ob jemand im Kostüm neben ihnen in einer Gaststätte saß oder nicht. Vor allem nicht, wenn die ersten Pints1 ihre Kehlen ölten und sie zu singen begannen, so wie jetzt. Simon überlegte. Theo war ein impulsiver Mann – vielleicht war die Idee von der Wette einfach ein weiterer seiner spontanen Einfälle gewesen, mit denen er gelegentlich seine Mitmenschen verwirrte.

Und wer sind Sie?”, erkundigte sich Sly bei Master Barnes.

„Ich war im Theater und habe die Vorstellung gesehen.”

„Ah, mögen Sie das Theater? Sind Sie ein Dichter, oder ein Künstler?”
Lachend schüttelte er den Kopf. „Nein, dafür habe ich kein Talent. Aber ich bewundere Menschen, die solcherlei haben.”

„Verstehe.” Freundlich nickte ihm Sly zu.

„Wollen wir uns  da drüben hinsetzen?”, fragte Simon und deutete auf einen kleineren Tisch am anderen Ende der Schenke, der halb verborgen hinter einer Stützbalken stand. „Dann können wir uns leichter unterhalten.”
Master Barnes nickte ihm zu.

Theo wollte Simon davon abhalten, den Tisch zu verlassen, aber Sly redete auf ihn ein. Simon konnte nicht verstehen, was er sagte, der Gesang ihrer Kollegen war mittlerweile zu laut geworden. Sie intonierten ein mehrstimmiges „Sigh no more, Ladies” aus „Viel Lärm um nichts”.

Beide zogen sich in die ruhigere Ecke zurück. Wie versprochen, spendierte sein Begleiter Getränke für sie beide.
„Wisst Ihr, ich gehe selten ins Theater. Ich lebe in Greenwich, habe jedoch in London geschäftlich zu tun gehabt. Da dachte ich mir, warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?”

„Was arbeitet Ihr?”

Ich bin Tischlermeister”, erklärte Barnes. „Ich habe für einen Kunden einen Wandschrank repariert und mich außerdem mit anderen Leuten getroffen, die mir hoffentlich einen Auftrag erteilen.”

Simon kannte sich mit dem Tischlerhandwerk nicht aus. „Es muss interessant sein, Gebrauchsgegenstände oder gar Möbel mit den eigenen Händen herzustellen. Meine Kunst ist im Vergleich dazu sehr … flüchtig. Sie vergeht bereits in dem Moment, in dem ich sie zeige.”

„Gott segnet die Menschen mit unterschiedlichen Talenten”, sagte sein Gegenüber und trank einen Schluck Ale.

„Wohl wahr. Auf Euer Wohl, Master Barnes.” Simon hob den Becher und prostete dem Herrn zu.

„Und auf das Eure.”

Sie unterhielten sich über das Theater, über London, den Dichter und Schauspieler Shakespeare, der mittlerweile eine ganze Reihe an Stücken veröffentlicht hatte, und ebenfalls bei den King‘s Men Teilhaber war.

Simon fühlte sich in seinem Element und erzählte von den Gedichten, die er selbst verfasste. Irgendwann bekam er den Eindruck, dass er zu viel von sich und seiner Leidenschaft sprach.Verzeiht mir, ich lasse mich manchmal von meiner eigenen Begeisterung davontragen. Bitte, erzählt mir mehr von Euch.”
„Da gibt es nicht viel zu berichten. Ich wurde in Greenwich geboren und lebe dort immer noch. Nach der Ausbildung zum Tischlermeister leite ich eine Tischlerwerkstatt. Zur Zeit habe ich einen Gesellen, der bei mir lernt.”

„Und Eure Familie?”

„Mein Vater lebt noch, meine Mutter schon lange nicht mehr. Ich habe einen Bruder und zwei Schwestern. Alle verheiratet, alle mit Kindern. Ich selbst war ebenfalls vermählt, aber meine Frau ist … sie ist bei der Geburt unseres Sohnes gestorben. Er hat sie nur um wenige Tage überlebt.” Sein Gesicht verdüsterte sich. Er ließ die Schultern hängen. „Fünf Jahre ist das inzwischen her.”

Simon empfand Mitgefühl angesichts der beinahe greifbaren Traurigkeit, die sein Gegenüber ausstrahlte.

„Das tut mir leid für Euch.” Er wollte eigentlich sagen, dass Barnes sicherlich irgendwann eine andere Frau finden würde, aber dann biss er sich auf die Lippen. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt und er kannte ihn kaum.

„Sie war eine gute Frau. Ich vermisse sie noch immer.” Der Tischlermeister trank einen Schluck. „Aber ich möchte Euch nicht den Abend verderben mit meinen traurigen Geschichten. Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, Schauspieler zu werden?”

Ich habe es immer schon gemocht, nicht immer ich selbst sein zu müssen”, antwortete Simon. Das Schauspielen ermöglichte es ihm in gewisser Weise, sein wahres Selbst zu erforschen, indem er in andere Rollen schlüpfte. Aber das war schwer zu erklären. Noch nie hatte er es jemandem in aller Ausführlichkeit erzählt.Wisst Ihr, auf der Bühne haben wir Narrenfreiheit. Wir können Dummköpfe spielen, romantische Helden, intrigante oder mörderische Leute. Auch ganz Unschuldige. Wenn ich etwas mime, dann empfinde ich das, was die Figur spürt. Ich bin dann diese Figur, wenn auch nur für den Moment. Aber alles, was ich spiele, bleibt auf der Bühne. Meistens jedenfalls. Es gibt Schauspieler, die irgendwann nicht mehr klar zwischen ihren Rollen und ihrem eigenen Leben trennen können. Aber das versuche ich zu vermeiden.”

Was die Frauenrollen in Wirklichkeit für ihn bedeuteten, erklärte er nicht. Er kannte diesen Mann kaum und sicher würde dieser es auch nicht verstehen. Sein Zeigefinger wickelte sich um eine Strähne der Perücke.

„Das klingt faszinierend. Aber nicht man selbst zu sein … das stelle ich mir persönlich schwer vor“, murmelte Barnes mit gerunzelter Stirn.

„Wie Ihr schon sagtet, wir alle sind mit verschiedenen Talenten gesegnet.”

Na, dann — auf die Talente!”  Er prostete ihm zu.

Sie saßen eine ganze Weile zusammen. Nach mehreren Bechern Ale2 fühlte Simon sich beschwipst, wenn auch auf angenehme Art. Ihm gefiel der Mann, der freundliche Augen besaß und zudem noch gut aussah. Anders als Theo schien er sich nichts auf sein Äußeres einzubilden. Simon genoss ihre Unterhaltung.
„Es war ein schöner Abend, ich danke Euch”, sagte Barnes später. Eine höfliche Andeutung, dass er aufbrechen wollte.

„Wartet, ich begleite Euch nach draußen.” Beim Aufstehen musste Simon sich am Tisch festhalten, weil ihm schwindlig wurde.

Der Tischlermeister griff nach seinem Arm. „Seid Ihr wohlauf?”, fragte er.

Simon winkte ab. „Aber ja doch, nur keine Sorge.”

Barnes bezahlte die Getränke und sie verließen die Gaststätte. Simon fühlte sich immer noch schwindlig und es bereitete ihm Probleme, gerade zu gehen. Mist, ich hätte das letzte Ale nicht trinken sollen, dachte er bei sich, als sie die Gaststätte verließen. Wenigstens konnte er noch einigermaßen klar sprechen.

„Ich bringe Euch besser zu Eurer Unterkunft”, sagte sein Begleiter besorgt.

„Aber nein, das ist nicht nötig”, wehrte Simon ab, doch damit erntete er ein Kopfschütteln.

„Keine Widerrede. Ich möchte nicht, dass Euch in Eurem Zustand etwas geschieht.”

Es dauerte nicht lang, bis sie das Haus erreichten, in dem Simon ein Zimmer gemietet hatte. Er taumelte mittlerweile so stark, dass der Tischlermeister ihm die Treppe hochhelfen musste, indem er stützend einen Arm um ihn legte. Nur gut, dass ihnen niemand von den anderen Bewohnern begegnete, denn er trug immer noch das Kleid und die Damenperücke. Mit zitternden Händen schloss er die Tür auf und bat seinen Begleiter herein.

„Habt Ihr ein Licht?”, fragte dieser.

Der Zunderstein lag auf dem Fensterbrett. Es dauerte eine Weile, bis es Barnes gelang, die Kerzen auf dem Tisch anzuzünden. Er half Simon, die Perücke mitsamt Haarnadeln und Haube vom Kopf zu nehmen und öffnete ihm sogar die Stiefel, nachdem sich Simon auf den Stuhl setzte.

„Danke. Es tut mir leid. Zuviel … zuviel getrunken.”

Ich muss mich entschuldigen. Auch ich habe nicht Acht gegeben.”

Das war zu viel für Simon — all diese freundlichen Worte und noch dazu dieses Gesicht, das im Schein der Kerzen auf eine wunderbare Weise sanftmütig und anziehend wirkte.

Fast jeden Abend verkörperte Simon romantische Figuren auf der Bühne, doch echte Romantik war in seinem Leben nicht vorhanden. Als ihm das bewusst wurde, stand er auf und schlang die Arme um den Herrn.

„Oh…”, machte dieser überrascht.

In seinem mehr als beschwipsten Zustand wertete Simon das als Zustimmung. Er löste sich aus der Umarmung und küsste Barnes mitten auf den Mund.

Dieser riss sich los und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.Euch sind wohl Eure Frauenrollen zu Kopf gestiegen!”, rief er wütend.

Simons Wange brannte. Schlagartig fühlte er sich wieder nüchtern. Bevor er etwas sagen konnte, stürmte sein Besucher aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Im ersten Moment wollte Simon ihn aufhalten, sich entschuldigen. Er riss die Tür auf, doch Barnes war nicht mehr zu sehen. Dafür waren seine polternden Schritte noch auf der Treppe zu hören.

Simon drückte die Tür zu und ließ sich auf das Bett fallen. Wie dumm von ihm! Wie dumm, zu glauben, dass jener Mann den Kuss erwidern würde. Er fühlte sich elend und spürte eine Welle von Übelkeit in seinem Inneren. Zitternd griff er nach dem Nachttopf und würgte die Getränke hoch, die er zu sich genommen hatte.

 Was bin ich nur für ein elender Dummkopf! Bis eben war es ein so schöner Abend gewesen. Sie hatten sich gut verstanden. Das bildete er sich gewiss nicht nur ein. Aber mit dem Kuss hatte er alles verspielt.

 

Geoffrey

 

Die Vögel zwitscherten, als er aufwachte. Sein Schädel pochte unangenehm, Auch der trockene Mund behagte ihm nicht. Nach und nach fiel ihm ein, was am Abend zuvor geschehen war: Die Theateraufführung, die ihn begeistert hatte. Das Gespräch mit Simon Verey in der Schenke. Und der unerwartete Kuss …

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739490540
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Renaissance queer Queer Romance LGBTQ Shakespeare historisch Gay Romance transgender LGBT trans Historischer Liebesroman Liebesroman Historischer Roman

Autor

  • Amalia Zeichnerin (Autor:in)

Amalia Zeichnerin ist das Pseudonym einer Hamburgerin Autorin. Amalia schreibt Phantastik, Historisches, Cosy Krimis und Romance, gern mit queeren Protagonist*innen und Diversität, denn die Welt ist bunt und vielfältig.
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Titel: Sein wahres Selbst