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Maskiert

von Amalia Zeichnerin (Autor:in)
142 Seiten

Zusammenfassung

Venedig, 1753: Der Karneval ist im vollen Gange. Auf einem Maskenball flirtet der junge Adlige Lorenzo mit einer Dame, die sich kurz darauf als Mann entpuppt. Wutentbrannt über die Täuschung, verlässt Lorenzo das Fest. Später will er den Anderen zum Duell herausfordern, da er sich in seiner Ehre verletzt fühlt. Doch wer ist der Mann hinter der Maske?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog, Nachwort und Danksagung

Impressum

 

 

 

 

Maskiert

historische Gay Romance Novelle

 

 

 

© Amalia Zeichnerin 2018


 

Inhaltswarnungen zu dieser Novelle

Tod eines wichtigen Charakters, Andeutungen von Gewalt, explizite Sexszenen

„L'amore di carnevale muore di quaresima.”

Italienisches Sprichwort –

„Karnevalsliebe stirbt zur Fastenzeit.”

 

1

11. Februar 1753 – Venedig

 

Lorenzo

 

Ein bunt durcheinander wirbelnder Wirrwarr aus Masken, raschelnden Kleidern und glitzerndem Schmuck flog an ihm vorüber, als er sich an den Rand der Tanzfläche begab. Die heitere Musik eines Menuetts mischte sich mit perlendem Gelächter, während der blumige Duft von Parfüm die Luft ebenso erfüllte wie der Geruch von Schweiß und warmen Speisen.

Lorenzo nahm ein Glas Rotwein von einem der Tabletts, mit dem ein Bediensteter herumging. Seine Halbmaske, die als Bauta bekannt war, erleichterte das Trinken und Speisen, denn die Kinnpartie war leicht vorgewölbt. Dennoch musste er sich etwas verbiegen, um den Becher an seinen Mund führen zu können.

Der Karneval war in vollem Gange, überall in den Gassen Venedigs liefen kostümierte, maskierte Menschen herum, und auch in den Gondeln sah man sie über die Kanäle fahren. Stand und Status spielten kaum noch eine Rolle in diesen Tagen, weil sich ein Großteil der Bevölkerung hinter Masken verbarg und angesichts der bunten Kostüme die Zugehörigkeit zu einem Stand kaum noch zu erkennen war.

Am kommenden Aschermittwoch würde der Zauber des Karnevals wieder vorbei sein, doch bis dahin wollte sich Lorenzo dem Vergnügen hingeben, wie so viele andere Venezianer. Er war mit zwei Freunden hergekommen, die er allerdings im Getümmel des vollen Ballsaales längst aus den Augen verloren hatte.

In dem hohen Raum dominierten rosenfarbene Tapeten, Landschaftsgemälde in vergoldeten Rahmen und große Kristallleuchter an der Decke, welche für reichlich Glanz und Licht sorgten. Die Gastgeber dieser Feier gehörten zu den angesehensten und reichsten der Stadt. Entsprechend opulent und beliebt waren ihre Bälle. Ihre vier Töchter waren unter den unverheirateten jungen Männern der Oberschicht heiß begehrt gewesen, doch sie alle waren längst versprochen oder verheiratet.

Lorenzo entstammte einer alteingesessenen Patrizierfamilie, den Contarinis. Seine Eltern hatte längst eine Ehe für ihn arrangiert. Cordelia, mit der er sich irgendwann bald verloben sollte, kannte er kaum. Sie hatte ein hübsches Gesicht und ein helles Lachen, was aber bisher nicht ausgereicht hatte, um sein Herz zu erobern. Um genau zu sein, hatte noch nie eine Frau sein Herz gewonnen, auch wenn er es sich mehr als einmal gewünscht hatte.

Gestern war er Cordelia auf einer anderen Karnevals-Feierlichkeit begegnet und hatte mit ihr getanzt, doch sie klagte schon relativ bald über Kopfschmerzen. Höflich, wie es sich geziemte, hatte er mit ihren Eltern gesprochen und Cordelia zusammen mit ihrer Anstandsdame nach Hause begleitet, während ihre Eltern noch auf der Feier geblieben waren. Anschließend stellte er fest, dass es spät geworden war, also ging er nicht zurück zum Fest, sondern schlug den Weg nach Hause ein.

Heute wollte Lorenzo sich vergnügen, bis der Morgen graute, das hatte er sich fest vorgenommen. Mit eleganten Bewegungen glitten die tanzenden Paare an ihm vorüber, in farbenfrohen, reichlich dekorierten Kleidern, die im Schein der Kerzen schimmerten. Eine größere Frau in einem weiß-goldenem Kleid fiel ihm auf. Ihr Gesicht lag verborgen unter einer gefiederten Halbmaske mit einem Spitzenschleier, der ihr Kinn bedeckte.

Lorenzo nahm sich vor, sie um den nächsten Tanz zu bitten, deshalb wartete er bis zum Ende des Menuetts. Er folgte der Dame, deren Tanzpartner sie in die andere Richtung führte, während die Musiker die letzten Töne spielten. Lorenzo verneigte sich schwungvoll vor ihr. „Darf ich euch um den nächsten Tanz bitten, Siôra Maschera?”

Herrin Maske, das war die offizielle Anrede für alle Maskenträger, unabhängig von ihrem Geschlecht.

„Ihr dürft, Siôra Maschera”, erwiderte die Dame. Versteckt unter der Maske, war ihr Gesichtsausdruck nicht zu erkennen und auch ihre Stimme klang ein wenig dumpf.

Für Lorenzo war das einer der Reize der Maskierung – man blieb unerkannt, auch was eigene Absichten und Gefühle betraf. Außerhalb des Karnevals diente die Bauta den venezianischen Adligen als Gesellschaftsmaske. Bei einigen politischen Abstimmungen war das Tragen dieser Maske sogar Pflicht, damit der Träger anonym bleiben konnte.

Ein zarter Rosenduft wehte von der Dame in seine Richtung, als er sie auf die Tanzfläche zog. Wie gern hätte er ihr Gesicht gesehen, aber vorerst blieb ihm nichts anderes übrig, als es sich vorzustellen.

Die Musiker spielten nun eine fröhliche Gavotta, bei der die Tänzerinnen und Tänzer schnelle, hüpfende Schritte vollführten und immer wieder die Partner inmitten des Tanzes wechselten. Lorenzo wurde ein wenig schwindlig dabei, außerdem schwitzte er unter seiner Maske. Gleichzeitig fühlte er den Rotwein zu Kopf steigen. Die raschen Drehungen um die eigene Körperachse machten es nicht besser, außerdem rutschten seine Schuhe auf dem glatten Marmorboden. Unter der Maske verlor er kurzzeitig seine Dame aus den Augen, die nun mit einem anderen Herrn tanzte, wie es der Tanz vorgab. Doch am Ende der Gavotta war sie wieder an seiner Seite.

„Verratet mir Euren Namen”, bat er sie.

Sie klappte ihren Fächer auf. „Aber mein Herr, im Karneval sind wir nichts als Masken. Wir werden zu unseren Masken.”

„Wohl wahr…”, musste er ihr recht geben, schließlich war es Tradition. „Dann sagt mir wenigstens, ob Ihr vergeben seid.”

Sie kicherte leise, während sie sich Luft zufächelte. „Auch das ist eine Frage, die im Karneval keine Rolle spielt, nicht wahr?”

Was sollte er darauf erwidern? Wieder hatte sie Recht. Ob er wohl bei ihr auf mehr als nur einen Tanz Chancen hatte? Das ließ sich sicher bald herausfinden. Dieser Palazzo war groß – gewiss gab es hier Zimmer, die sich für ein Schäferstündchen eigneten.

Vielleicht lag es am Wein, der ihm zu Kopf gestiegen war, doch Lorenzo fühlte sich abenteuerlustig. Oder vielleicht wollte er sich etwas beweisen. Möglicherweise konnte diese Dame sein Herz gewinnen? Ein flüchtiger Gedanke an Cordelia, den er allerdings beiseite drängte. Noch waren sie nicht verheiratet.

Die Nacht war schon weit fortgeschritten. Lorenzo wollte lieber gleich sein Glück versuchen, ehe ihm ein anderer Mann dazwischen kam.

„Würdet Ihr mich begleiten, Siôra Maschera? Ich möchte mich ein wenig im Palazzo umsehen.”

Sie zögerte kurz, dann nickte sie. Die Dame klappte ihren Fächer zu und ergriff die ihr dargebotene Hand.

Gemeinsam verließen sie den Ballsaal. Helle Stuckverzierungen schmückten den Flur bis hinauf zur Decke, die mit mythologischen Gestalten bemalt war, und auch hier brannten einige Kerzen, die in Haltern an der Wand hingen. Sie beleuchteten die zarten, von Perücken umrahmten Gesichter der Familienportraits. Lorenzo hatte allerdings keinen Blick für diese Galerie, sondern nur für die Dame an seiner Seite.

Im ersten Raum, dessen Tür er einen Spalt breit öffnete, hatten es sich vier Leute auf einem langen Canapé bequem gemacht. Lorenzo zuckte überrascht zusammen, als er bemerkte, was sie dort machten. Sie bereiteten einander auf verschiedene Weise Lust – natürlich ohne dabei ihre Masken abzunehmen.

Lorenzo schoss bei diesem Anblick die Schamesröte ins Gesicht, obwohl er ähnliches mit der weiß-golden gekleideten Dame vorhatte. Wenn sie denn einwilligte.

Einer der Männer im Raum blickte auf. Der Mund unter seiner Halbmaske verzog sich zu einem anzüglichen Grinsen. Eine Dame kniete vor dem Herrn, verdeckte seine Leibesmitte mit ihren hochgetürmten Frisur, in der mehrere Blumen steckten. Lorenzo konnte sich nur allzu gut vorstellen, was sie dort trieb. Der Gedanke daran sandte eine warme Flamme in seinen Unterleib. Es erinnerte ihn an vergangene Erlebnisse, an Besuche in den Bordellen der Stadt.

Rasch schloss er die Tür wieder, ehe einer der Anwesenden ihn ansprach. Hoffentlich hatte seine Dame nichts von dem Treiben gesehen. Vermutlich hätte sie dann die Flucht ergriffen? Oder zählte sie gar zu den Frauen, die … nein, darüber wollte er lieber nicht weiter nachdenken. Er würde bald ohnehin mehr über sie in Erfahrung bringen. Zumindest hoffte er das.

Gemeinsam wanderten sie den Flur weiter entlang. Die Dame schwieg und er war mit einem Mal zu verlegen, um etwas zu sagen. Stattdessen öffnete er eine weitere Tür. Eine Bibliothek, voll mit Regalen und Büchern aller Art. Davon einmal abgesehen standen hier nur ein Stuhl und ein Sessel. Auch nicht das, was er suchte.

„So viele Bücher …” Sie blieb in der Tür stehen.

„Meine liebe Siôra, wir sind nicht zum Lesen hier. Oder vielmehr … möchte ich lieber in Euch lesen.”

Sie verbarg sich einen Moment lang hinter dem Fächer und kicherte ein weiteres Mal.

Ein Diener in entsprechender Uniform – mit dunklem Gehrock und Kniebundhosen – kam an ihnen vorbei, deutete eine Verbeugung an, sagte aber nichts. Es stand ihm nicht zu, die Gäste anzusprechen, vor allem nicht im Karneval.

Die Dame wedelte hektisch mit ihrem Fächer.

„Ist Euch nicht gut?”, fragte Lorenzo.

„Oh doch, mir ist nur ein wenig warm.”

Der Flur war schier endlos, noch viele Türen lagen vor ihnen – viele Räume, die erforscht werden konnten. Manche Türen waren verschlossen, andere Zimmer waren leer bis auf die Möbel, die zum Teil mit Tüchern verhängt waren.

Was seine Freunde wohl gerade machten? Hatten sie auch eine Frau – oder zwei – gefunden, mit denen sie sich vergnügen konnten? Falls dem so wahr, gönnte er es ihnen von Herzen.

Schließlich fand Lorenzo, wonach er suchte: Ein leeres Schlafzimmer, sicher für Gäste. Ein Doppelbett stand in der Mitte, das über einen Baldachin verfügte. Lorenzo machte eine auffordernde Geste, die Dame sollte eintreten.

Sie folgte ihm nach drinnen, was er mit Freude zur Kenntnis nahm. Schließlich hätte sie ihm auch eine Ohrfeige geben und ihn fragen können, was ihm denn einfalle. Aber angesichts des Bettes mussten ihr seine Absichten vollkommen klar sein.

Lorenzo entzündete einige Kerzen, damit sie hier nicht völlig im Dunkeln umher tappen mussten. Allerdings erreichte deren Lichtschein nicht alle Ecken des Zimmers. Ihm war das gleichgültig, denn er würde die Dame schließlich nicht nur sehen, sondern auch spüren.

„Ihr wollt also in mir lesen, mein Herr? Dann lasst euch gesagt sein, dass ich vielleicht offenherzig sein mag, aber kein offenes Buch bin.”

„Das erwarte ich auch gar nicht von Euch.”

„Dann schlagt gern ein, zwei Seiten auf, doch lasst mir mein Kleid. Wäre ich gänzlich entblößt und man fände uns hier, könnte das unangenehme Folgen für uns beide haben.”

Er stutzte. Was meinte sie damit? Sie waren durch ihre Masken getarnt. Oder fürchtete sie, jemand würde sie anhand ihres nackten Körpers erkennen können? Das würde bedeuten, dass sie sich schon durch so manches Bett geschlafen hatte. In seinem erhitzten Zustand störte ihn diese Vorstellung keineswegs, sondern erregte ihn eher noch mehr.

Es war nicht notwendig, ihr das Kleid auszuziehen. Auch wenn es ihn gereizt hätte, ihre Brüste zu berühren, die unter Stoff und Spitze gänzlich verborgen waren.

„Dann legt Euch bitte hin, meine Teuerste.”

Sie legte ihren Fächer beiseite, ehe sie auf das Bett rutschte, bis nach oben zu den voluminösen Kissen. Sie streckte sich ihm entgegen.

Lorenzo streichelte über ihren Hals und die halb entblößten Unterarme, bedeckte sie mit sanften Küssen. Er wollte den Schleier am unteren Rand ihrer Maske anheben, doch sie drehte den Kopf beiseite.

Die Siôra gab sich also keusch, wollte nicht auf den Mund geküsst werden. Was das Feuer in seinem Inneren nur noch heißer entfachte. Ihren Hals und die weichen Ohren ließen sich ebenso gut küssen, was sie mit einem Seufzen quittierte.

Das ermutigte ihn, so dass er sich vor sie auf das Bett kniete und ihre Röcke hochschob. Mit beiden Händen strich er über ihre seidenen Strümpfe, ihre Beine hinauf. Dabei sah er immer wieder zu ihr, die sich in die Kissen zurücklehnte – vielleicht, so hoffte er, in freudiger Erwartung?

Ihre Röcke bildeten ein Knäuel auf ihrem Unterleib, doch er schob seine Hände darunter, bis er jenseits der Strümpfe auf nackte Haut stieß. Er stockte, als er ihren Schritt erreichte, dort spürte er etwas fleischiges, längliches.

Oh, nein! Unfähig zu begreifen, was er vor sich hatte, griff er danach, betastete es. Die Erkenntnis dämmerte in ihm. Welch falsches Spiel spielte man hier mit ihm! Kaltes Grausen packte ihn, ein flaues Gefühl erfasste seinen Magen. Er schrie auf vor Wut, was den Kerl zusammenzucken ließ. „Wie konntet ihr nur?”

Am liebsten hätte er den elenden Maskierten auf der Stelle verprügelt. Wenn ihm nur von dem Wein nicht so schwindlig gewesen wäre. Er sprang vom Bett auf, froh, sich noch nicht entkleidet zu haben. Er musste hier weg, auf der Stelle!

Ohne sich noch einmal umzudrehen, taumelte er nach draußen, den Flur entlang, bis er ein Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite mit einem Balkon fand, der über dem Kanal hing. Lorenzo öffnete rasch die Balkontür. Er trat hinaus und beugte sich über die Brüstung, denn er musste würgen. Ätzend schwappte ein dünnes Rinnsal seine Kehle hinauf und bahnte sich einen Weg über seine Lippen. Es war ein Fehler gewesen, so viel Wein zu trinken. Zumindest angesichts dieser Situation, die ihn völlig aufwühlte.

Einen Moment lang hing er weiter über der Brüstung und atmete tief durch. Die kalte Nachtluft tat ihm gut. Mit beiden Händen stützte er sich auf dem Geländer ab und schaute auf das schwarze Wasser des Kanals hinunter, welcher an einigen Stellen von Fackeln oder Laternen beleuchtet wurde, deren tanzende Lichter schimmernde Reflexe auf die dunklen Fluten zauberten.

Eine Gondel schipperte träge vorbei, von maskierten Passagieren besetzt, die ebenfalls Laternen dabei hatten. Verhaltenes Gelächter drang zu ihm herauf, von weiter weg der sirrende Klang einer Geige.

Er starrte hinunter auf den Kanal und sah der Gondel nach. Als ihm zu kalt wurde, verließ er den Balkon. Nach Hause, das war sein einziger Gedanke. Für ihn war dieses Fest vorbei.

Auf dem Heimweg gingen ihm verbotene Gedanken durch den Kopf. Wie seltsam, dass er hier einem als Frau verkleideten Mann begegnet war. Auf der anderen Seite wusste er, dass es nichts Ungewöhnliches im Karneval war – manche Männer verkleideten sich als Frauen und auch umgekehrt manche Frauen als Männer.

Als er über die merkwürdige Begegnung nachsann, empfand er eine diffuse Erregung. Schon oft hatte sich in seiner Seele etwas geregt, für das er keine Worte fand. Wann immer er gutaussehende Männer betrachtete, spürte er Empfindungen, die gewiss sündig waren. Ein Ziehen im Unterleib oder gar eine Hitze, die sich darin ausbreitete… Anfangs hatte er geglaubt, es hinge einfach mit seiner Schwäche für Schönheit zusammen, die man ja sowohl bei Frauen als auch bei Männern finden konnte. Er sah einfach gern Schönes. Aber das ging gewiss vielen Menschen so und es erklärte nicht, warum ihn der Anblick eines attraktives Mann zu erregen vermochte.

So ging es ihm schon seit gewiss zehn Jahren. Niemandem hatte er sich anvertraut, zu viel Angst hatte er vor Unverständnis und Strafen. Er beging sogar die Sünde, dies nicht zu beichten, auch wenn er damit zum Lügner wurde. Eine innere Stimme hatte ihn davor gewarnt, mit anderen darüber zu sprechen.

Auf der anderen Seite empfand er auch Erregung, wenn er mit einer Frau zusammen war. Zumindest war es ihm so mit den Frauen in den Bordellen ergangen, die seine Freunde und er besucht hatten.

Sicherlich war er wirklich ein Sünder, und gewiss verdammt. Manchmal träumte er nachts von Männern. Sie waren wunderschön, wie die Statuen alter Künstler, die halbnackt waren. Wie der beeindruckende „David” des Michelangelo, den er bei einem Besuch in Florenz gesehen hatte.

In seinen Träumen waren es manchmal mehrere Männer oder auch nur einer. Der lag dann neben ihm im Bett oder sie saßen gemeinsam auf einem Diwan und kamen sich so nah, dass es ihm den Atem raubte. Sie gaben sich einander hin, im Liebesspiel, wie Mann und Frau, und doch wieder anders. Diffuse Träume zumeist, er konnte sich danach nie an alle Einzelheiten erinnern. Meistens waren sein Nachthemd oder auch die Laken feucht nach einem solchen Traum und sein Geschlecht zeigte deutlich seine Erregung.

Gelegentlich träumte er auch von Frauen auf diese Weise, doch es kam seltener vor. Cordelia dagegen tauchte nie in seinen Träumen auf und wenn er ehrlich zu sich selbst war, konnte er sie sich auch kaum in einer solch sündhaften Situation vorstellen.

Nachdenklich ging er weiter, vorbei an einer fröhlich lärmenden Gruppe Kostümierter, die ihn johlend begrüßte. Er nickte ihnen nur zu und hastete weiter. Wie es schien, war er in diesem Karneval vom Pech verfolgt – erst die Sache mit Cordelia und nun das. Hätte er doch eine andere Frau zum Tanz aufgefordert statt dieses verkleideten Mannes!

2

Felicio

 

Was für eine Misere! Warum hatte er sich auf dem Fest nicht genauer ausgedrückt? Seine Worte waren viel zu vage gewesen, um dem Herrn auf dem Fest deutlich zu machen, dass er ein Mann in einem Kleid war. Das Kleid, welches er nun ordentlich zusammengefaltet und in der Truhe verstaut hatte.

Aber der Andere war hinaus gestürmt, ehe er überhaupt mit ihm sprechen oder sich entschuldigen konnte. Felicio hatte sein Kleid glatt gestrichen und war ihm nachgeeilt, doch der Fremde war bereits verschwunden.

Wieder einmal hatte Felicio das Gefühl, vom Pech verfolgt zu werden. Rund sieben Monate war es her, dass er aus Florenz geflohen war. Hier in Venedig konnte er tun und lassen, was er wollte – solange das Geld reichte. Er griff nach dem Beutel mit den Münzen. Viele waren es nicht mehr. Eine Zeitlang konnte er davon noch leben, dann musste er sich etwas einfallen lassen.

Die vergangene Nacht, die Schmach, beides nagte an ihm. Er würde durch die Stadt flanieren, vielleicht konnte er so den Kopf frei bekommen. Außerdem hoffte er darauf, seinen Bekannten Giuliano wiederzusehen, der in der Nähe wohnte. Er nahm sich die zweite Maske, die er besaß, eine schlichte weiße Larva, welche das Kinn frei ließ. Im Karneval war vieles möglich – aufwändige Kostüme oder einfach nur alltägliche Kleidung, zu der eine Maske getragen wurde. Heute wollte er nicht auffallen, deshalb beließ er es bei der Larva und seinem Dreispitz.

Die bunt gekleideten Gaukler, Akrobaten, Zauberkünstler und andere Schausteller auf dem Markusplatz, die sonst mit ihren Possen seine Aufmerksamkeit fesseln konnten, ließ er heute hinter sich. Der Platz bildete ein stattliches längliches Viereck, welches auf drei Seiten von Prachtbauten, auf der vierten Seite von der Kirche San Marco abgeschlossen wurde. Direkt daneben befand sich die ebenfalls längliche Piazetta, die vom Dogenpalast und der Bibliothek eingefasst wurde und sich bis ans Meer erstreckte.

Unzählige Male war Felicio schon an diesen Wahrzeichen der Stadt vorbeigekommen, allerdings mied er die beiden Granitsäulen, die sich am südlichen Ende des Platzes in der Nähe des Kais befanden.

Die eine trug einen geflügelten Bronzelöwen – das Symbol des Evangelisten Markus – die andere eine Marmorstatue des heiligen Theodor. Zwischen den Säulen wurden nicht nur Staatsgäste empfangen, sondern manchmal auch Hinrichtungen durchgeführt. Das war ihm unheimlich, deshalb hielt er sich von dort fern.

Ein Meer aus Masken wogte durch die Straßen bis hin zu den kleineren Gassen und auf den zahlreichen Brücken, welche die Kanäle überspannten. Felicio hielt nach Giuliano Ausschau, dessen Maske er jederzeit wiedererkennen würde. Und wenn nicht diese, dann in jedem Fall dessen schrille Stimme, mit denen sein Bekannter den Passanten gern zotige Sprüche hinterher rief.

Er musste nicht lange nach ihm suchen. Giuliano stand in einer der Gassen hinter der Kirche San Marco, mit Kleid, Schürze und Haube, dazu die Gnaga-Maske mit dem Katzengesicht. Mit einem katzenhaften Miauen griff er nach einem Herrn, doch dieser machte sich los und zog seiner Wege.

Felicio verbeugte sich vor dem Mann mit der Katzenmaske. „Ich bin es, Felicio.”

„Ah, so treffen wir uns wieder …”

„Hat der Herr dir einen Korb gegeben?”

„Ich fürchte, ja.”

„Ähnliches ist mir gestern auf einer Feier passiert.”
„Erzähl mir mehr. Ich liebe Tratschgeschichten, wie du weißt.” Giuliano strich sich mit einer gezierten Geste über die Haube.

„Nicht hier. Können wir woanders hingehen?”

„Gewiss doch. Komm mit zu mir, ja?”

Felicio war schon ein paar Mal bei Giuliano gewesen. Es tat gut, mit einem Freund zu sprechen. Außerdem war es winterlich kalt, allzu lange wollte er nicht draußen bleiben.

Sie durchquerten die Gassen, liefen über einige Brücken, vorbei an anderen Kostümierten. Die Stadt war um einiges größer als seine Heimat Florenz und noch dazu ziemlich verwinkelt. Durch all die Kanäle war sie auch recht unübersichtlich. Im Grunde bestand die Stadt aus hunderten kleinerer und größerer Inseln, die durch die Wasserstraßen und Brücken verbunden waren. Die Häuser in der Nähe waren aus solidem Backstein, geschmückt durch bogenförmige Arkaden, Balkone oder auch durch von Säulen getragenen, offenen Altanen.

Ihr gemeinsamer Weg führte sie nun in den Norden der Stadt. Giuliano lebte im gleichen Stadtteil wie Felicio, in einem Zimmer auf der Rialto-Insel. Nach allen Seiten sah er sich um, ehe er die Haustür öffnete. Felicio wusste warum: Neugierige Nachbarn waren das Letzte, was sein Bekannter brauchen konnte.

Die Gnaga-Maske wurde ausschließlich von Männern in Kleidern getragen – männlichen Prostituierten und anderen, die Interesse an Männern hatten. Die venezianischen Masken waren mit einem mächtigen Tabu belegt: Maskierte zu verhaften, war untersagt, denn nach den Sitten der Stadt wurde der Träger zur Maske und verschwand quasi dahinter. Das schützte die Männer mit den Katzenmasken ebenso wie ihre Freier vor Zugriffen. Dennoch war sich Felicio der Tatsache schmerzlich bewusst, dass die Fleischeslust zwischen zwei Männer streng bestraft werden konnte, bis hin zum Tod. Also war stets Vorsicht geboten.

„Wie schade”, sagte Giuliano, nachdem Felicio ihm sein Leid geklagt hatte über die Ereignisse des gestrigen Abends. „Vielleicht musst du dich nächstes Mal ein wenig deutlicher ausdrücken, mein Freund, damit der betreffende Herr weiß, was du zwischen den Beinen hast – bevor er deine Röcke hochschiebt.”

Kurz darauf tranken sie Wein, während sie Karten spielten. Von der Kirche wurden diese Spiele zwar verteufelt, doch in der ganzen Stadt waren sie beliebt, nicht nur in den Casinos. Giuliano war geschickt darin und hatte diesmal mehr Glück als Felicio, doch sie spielten nur zum Vergnügen und nicht um Geld.

„Lass mich dich trösten, weil du verloren hast, mein hübscher Florentiner.“

Felicio wollte protestieren, aber Giuliano winkte ab. „Heute ist ein Feiertag, da nehme ich kein Geld von dir. Aber erzähle es nicht weiter.”

Das war ein fortlaufender Witz zwischen ihnen, denn Giuliano nahm nie Geld von ihm. Nicht mehr, seit sie sich angefreundet hatten. Giuliano war ein sinnlicher Mann mit viel Erfahrung und einem Händchen dafür, anderen Männern Lust zu bereiten. Felicio hatte sich schon mehr als einmal von ihm verwöhnen lassen, und heute war er dem auch nicht abgeneigt, allerdings fühlte er sich wehmütig.

„Nichts gegen dich, du verstehst dich auf die sinnlichen Freuden. Ich wünschte nur manchmal, ich würde jemanden finden, den ich von ganzem Herzen lieben kann. Und der mich vielleicht ebenfalls liebt.”

„Ich habe dich sehr gern, das weißt du, nicht wahr?”

„Ja, ich mag dich auch. Du bist ein guter Freund. Aber es ist nicht dasselbe…”

Giulianos rundes Gesicht mit den rötlich geschminkten Wangen verzog sich zu einem Lächeln. „Ich glaube, du hast zu viele romantische Bücher gelesen, mein Freund. Auf jeden Fall bist du ein hoffnungsloser Romantiker.“

Felicio zuckte seufzend mit den Achseln. „Ich weiß. Aber nach dem, was in Florenz geschehen ist … ich sehne mich einfach nach ein wenig Glück. Ist das denn zu viel verlangt?“

Giuliano seufzte leise. „Nein, das ist es nicht.“ Dann stahl sich ein anzügliches Lächeln in seine Züge. „Und was das kleine Glück angeht, da kann ich nachhelfen.“

3

 

Juli 1752 – Florenz

Felicio

 

„Leise, sonst wird man uns hören“, sagte Luigi. Felicio hatte die Tür seines Zimmers geschlossen, doch durch einen Luftzug war das lauter als beabsichtig gewesen.

Er schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Sorgen, sicher schlafen alle tief und fest.“ Immerhin war es mitten in der Nacht. Felicio trat auf den Diener zu und küsste ihn. Dabei schob er ihm das Nachthemd hoch und befreite ihn schließlich ganz von dem Kleidungsstück. Luigi machte es ihm nach und kurz darauf standen sie nackt voreinander.

Die brennenden Kerzen auf dem Beistelltisch neben dem Bett jagten tanzende Schatten über ihre Leiber. Felicio konnte sich nicht länger zurückhalten, er zog Luigi zum Bett und im nächsten Moment lagen sie beide nebeneinander. Es war erst das zweite Mal, dass sie sich klammheimlich hier in seinem Zimmer trafen.

Felicio hatte keine Erfahrungen, was den intimen Umgang mit Männern betraf, und Luigi ging es ähnlich. Aber seit er vor kurzem die Stelle des alten Dieners übernommen hatte, war beiden bald bewusst geworden, dass zwischen ihnen eine eigentümliche, knisternde Anziehungskraft lag. Sie konnten sich beide kaum ansehen, ohne verlegen zu werden.

Und eines Tages, als sie allein im Haus waren, war es zu jener ersten Annäherung gekommen – einem unbeholfenen Kuss, der sie allerdings beide entflammte. In der Stunde, die darauf folgte, hatten sie sich in seinem Zimmer ausgezogen und einander erforscht.

Felicio hatte eine ungeahnte Lust empfunden, während Luigi ihn streichelte und küsste. Das alles war für ihn wie ein Schock gewesen. Zwar hatte er gelegentlich schon vorher Anwandlungen dieser Art verspürt, wenn er einen attraktiven Mann gesehen hatte, doch er hatte dies als Hirngespinst abgetan und verdrängt. Eine Zeitlang hatte er versucht, sich ganz auf die Damen zu konzentrieren, die er bei gesellschaftlichen Anlässen kennenlernte, aber auch wenn er die Gespräche mit ihnen durchaus genoss und er ihnen gern Komplimente machte, verspürte er kein Begehren in ihrer Nähe. Lange hatte er sich eingeredet, dass er einfach noch nicht die richtige Frau getroffen hatte. Doch dann war Luigi in sein Leben getreten und seitdem stand sein Weltbild Kopf.

Zärtlich streichelte dieser ihn nun, glitt über seine Brust und noch tiefer. Sie tauschten einen Kuss, der süß und verheißungsvoll war. Einen Moment lang wusste er nicht, wohin mit seinen Händen, doch dann tat er es Luigi gleich und strich sanft über dessen Hals. Er hauchte zarte Küsse auf dessen Brust, während seine Hände sich nach unten bewegten.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Felicio und Luigi fuhren auseinander. Felicios Vater stampfte ins Zimmer. „Das ist ja unglaublich!“, polterte er los.

Felicio machte gar nicht erst den Versuch, etwas abzustreiten. Es hatte keinen Sinn. Sie beide lagen nackt nebeneinander, das war verräterisch genug.

Sein Vater griff nach Luigis Handgelenk und zog ihn aus dem Bett. „Zieh dich auf der Stelle an und dann raus hier. Und morgen verlässt du dieses Haus, ist das klar? Du bist entlassen.“

Luigi nickte nur stumm. Mit fahrigen Bewegungen verließ er das Bett und zog sich hastig das auf dem Boden liegende Nachthemd über. Er sah zu Felicio herüber. Seine Unterlippe zitterte.

Ihre Blicke trafen sich und Felicio fand seine eigene Hilflosigkeit in Luigis Augen wieder. Der Diener wandte sich ab und verließ das Zimmer.

„Und jetzt zu dir...“ Das Gesicht seines Vaters war dunkel vor Zorn. „Zieh dich an. Ich erwarte dich in meinem Arbeitszimmer.“

Felicio brachte kein Wort heraus, deshalb nickte er nur schwach und begann sich anzuziehen.

Das Arbeitszimmer seines Vaters lag im Erdgeschoss. Sein Vater hatte einige Kerzen entzündet und ging in seinem Zimmer auf und ab.

„Was um alles in der Welt hast du dir bloß dabei gedacht?“, herrschte ihn sein Vater an. „Wenn es eines der Dienstmädchen gewesen wäre, schlimm genug. Aber ein Diener?“

Felicio beschloss, alles zu tun, um Luigi in Schutz zu nehmen. „Es ist nicht seine Schuld, Vater. Ich war es, ich habe ihn verführt, das müsst Ihr mir glauben.“

„Er wird dieses Haus so oder so verlassen. Auf gar keinen Fall dulde ich ein solches Betragen, Himmel Herrgott noch mal!“ Er hielt kurz inne. „Wenn du nicht bereits erwachsen wärst, würde ich dir eine Tracht Prügel mit dem Rohrstock verpassen. Aber ich sage dir, was wir tun werden. Es wird Zeit, dass wir für dich eine Ehefrau finden. Du bist erwachsen, Felicio. Du musst deine Pflichten gegenüber dieser Familie übernehmen. Wenn du erst einmal die Freuden der ehelichen Pflichten kennenlernst, wirst du gewiss keinen Gedanken mehr an einen Mann verschwenden. Und wenn dir deine Ehefrau nicht das geben kann, was du begehrst, dann such dir von mir aus eine Mätresse.“

Felicio hörte die Worte seines Vaters wie durch einen Nebel. Alles, woran er denken konnte, war Luigi. Sein Geliebter, der morgen von hier fortgehen musste.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, rief sein Vater.

Felicio platzte fast der Kopf von all den ungesagten Worten, die er seinem Vater gern entgegen gebrüllt hätte. Aber er wusste, er würde den Kürzeren ziehen. Deshalb sagte er nur: „Gewiss, Vater.“

„Du wirst uns zu jedem Ball und jeder Veranstaltung begleiten, auf der heiratswillige Damen anzutreffen sind. Und ich werde Erkundigungen einziehen. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht bald eine passende Partie für dich finden. Ach, ich hätte mich schon längst darum kümmern sollen. Wir reden morgen weiter. Und nun geh ins Bett, Sohn.“

Felicio nickte wie betäubt und stolperte aus dem Raum. Leise stieg er die Treppe hoch. Er musste Luigi unbedingt noch einmal sehen, bevor dieser das Haus verließ.

In seinem Zimmer angekommen, setzte er sich auf das Bett und zog die Decke über sich. In einiger Entfernung hörte er Schritte. Sicherlich sein Vater, der ebenfalls ins Bett ging. Gewiss war es am besten, wenn er noch eine Weile wartete. Ein Sturm der Gefühle tobte in seinem Inneren – Wut auf seinen Vater, Wut auf sich selbst, auf die eigene Dummheit, aber auch Traurigkeit. Er würde Luigi fürchterlich vermissen, soviel stand fest.

Die Aussicht, heiraten zu müssen, versetzte ihn in Angst. Er hatte nichts gegen Frauen, immerhin hatte ihm eine das Leben geschenkt und aufgezogen. Er schätzte seine Mutter sehr. Aber er empfand einfach kein Begehren, wenn er Frauen sah – nicht einmal, wenn sie besonders hübsch waren. Die Gemälde von nackten, antiken Göttinnen und Sagengestalten ließen ihn ebenfalls kalt. Vor einiger Zeit hatten Freunde ihn in ein Bordell mitnehmen wollen. Er hatte Übelkeit vorgeschützt und war zu Hause geblieben. Auch später hatte er Ausreden erfunden, um sich vor solchen Einladungen zu drücken.

Auf der anderen Seite wusste er, dass Eheschließungen kaum etwas mit Begehren oder gar Liebe zu tun hatten. Sie dienten dazu, den Stand einer Familie zu wahren und deren Besitz zu mehren. Weder Männer noch Frauen hatten den Anspruch ihren Ehegatten zu lieben. Aber wenn er heiratete und seine Frau nicht einmal im geringsten begehrte … darüber wollte er lieber nicht weiter nachdenken.

Felicio lauschte in die Stille der Nacht. Im Haus war es ruhig, nur hin und wieder knackte es im Gebälk. Jetzt oder nie… Er stand auf und schlich so leise es ging aus seinem Zimmer und zu den Dienstbotenquartieren. Dort klopfte er leise an Luigis Tür. Der öffnete ihm. Im schwachen Schein einer Kerze sah Felicio, dass sein Geliebter geweint hatte, dessen Gesicht wirkte verquollen.

„Kann ich hereinkommen?“, flüsterte Felicio. „Nur ganz kurz.“

Zögernd gab Luigi den Weg frei und er schlüpfte in den kleinen Raum.

„Es tut mir so leid”, begann Felicio.

Luigi zuckte mit den Schultern. „Vermutlich hätten sie uns früher oder später doch ertappt. Ich werde mir eine andere Arbeit suchen. Irgendetwas finde ich sicherlich.”

„Bitte, ich möchte dich noch einmal sehen. Treffen wir uns morgen, ja? Auf der Piazetta Santa Croce, abends gegen sechs Uhr?”

Dieser Platz hinter der Santa Croce Kirche war weit entfernt von seinem Elternhaus. Weit genug, dass er nicht damit rechnen musste, auf seine Eltern und auf deren Bedienstete zu stoßen.

Luigi zögerte. „Besser übermorgen. Gib mir Zeit, eine neue Bleibe zu finden.”

„Ja, ist gut, ich spreche noch einmal mit meinem Vater. Vielleicht kann ich ihn überzeugen, dass er dir wenigstens ein Arbeitszeugnis ausstellt.”

Luigi schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Ich wette, er ist überzeugt, dass ich dich verführt habe und sicherlich hält er mich nun für eine durch und durch verkommene Person.”

„Ich spreche trotzdem mit ihm. Morgen wird er sich beruhigt haben, vielleicht sieht er die Dinge dann mit anderen Augen.” Er umarmte Luigi und küsste ihn auf die Wange. „Du wirst schon sehen.”

 

Doch sein Vater änderte seine Meinung nicht, als Felicio am folgenden Vormittag das Gespräch mit ihm suchte. Luigi hatte bereits seine Sachen gepackt und das Haus verlassen.

„Du solltest diesen Diener so schnell wie möglich vergessen”, entschied Felicios Vater. „Geh zur Beichte, mein Sohn, dann werden dir deine Sünden vergeben werden. Mehr habe ich zu dieser Angelegenheit nicht zu sagen.” Sein Vater wandte sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu. Offenbar war das Gespräch damit für ihn beendet.

Felicio verbrachte einen Großteil des Sonntages damit in seinem Zimmer zu sitzen und zu grübeln, wie er Luigi weiterhin sehen konnte. Aber ihm fiel nichts Brauchbares ein, zumal er auch nicht wusste, welche Arbeit sein Geliebter bald übernehmen würde.

Außerdem stellte sich ihm die Frage, wie er einer Eheschließung entgehen konnte. Kurzzeitig spielte er mit dem Gedanken, sich einem seiner wenigen Freunde anzuvertrauen, aber das war gewiss keine gute Idee. Sie würden ihn auslachen oder versuchen, ihm seine Liebschaft auszureden, die ohnehin keine Zukunft hatte. Oder schlimmer noch – vielleicht würden sie ihn als verrückt betrachten, weil er sich mit einem Mann eingelassen hatte und nie wieder ein Wort mit ihm reden wollen.

Was sollte nur aus Luigi und ihm werden? Sein Vater würde alles tun, um zu verhindern, dass sie sich wiedersahen. Ob er sich seiner Mutter anvertrauen konnte? Nein, das war gewiss undenkbar, denn sie würde nichts tun, was ihrem Mann missfallen könnte. Abends trank Felicio eine Menge Wein und wälzte sich lange im Bett herum, ehe er einschlief.

 

Am darauffolgenden Tag saß er wie auf Kohlen. Die Arbeit im Handelskontor seines Vaters lenkte ihn kaum ab. Er war nervös und unkonzentriert, so dass er in einigen Berechnungen dumme Fehler machte, die ihm erst später auffielen. Ungeduldig wartete er darauf, dass es Abend wurde. Seine Gedanken drehten sich im Kreis.

Am Nachmittag machte er sich auf den Weg zu ihrem Treffpunkt. Seinen Eltern gegenüber behauptete er, dass er zur Beichte gehen wollte.

Auf der Piazza di Santa Croce setzte er sich auf eine niedrige Steinmauer. Eine laue Brise wehte an diesem Nachmittag, die Hitze des Tages war einer angenehmen Wärme gewichen. Felicio sah den Passanten nach, die vorüber eilten, oder langsam über den Platz schlenderten. Dazwischen fanden sich auch Bedienstete in schlichten dunklen Uniformen, die sicherlich irgendwelche Besorgungen erledigten.

Er wartete und warf gelegentlich einen Blick auf die Kirchturmuhr in der Nähe. Schließlich wurde es sechs Uhr. Nervös hielt Felicio nach Luigi Ausschau. Der Platz leerte sich allmählich, doch seinen Geliebten konnte er nirgends entdecken. Zwanzig Minuten vergingen, ohne dass Luigi auftauchte. Dieser Platz war doch einmalig in Florenz, es gab keinen zweiten mit diesem Namen.

Sollte er sich Sorgen machen? War Luigi irgendetwas passiert? Oder hatte er den vereinbarten Treffpunkt vergessen? Auch nach vierzig Minuten gab es kein Lebenszeichen von ihm. Felicio spürte ein seltsames Ziehen in der Herzgegend. Er wartete noch weiter, bis die Kirchenglocken die siebte Stunde einläuteten. Dann gab er es auf und schlenderte mit hängenden Schultern heimwärts. Eine Hoffnung blieb ihm: Luigi wusste, wo er wohnte und konnte ihm vielleicht eine Nachricht zukommen lassen.

Sein Vater zitierte ihn ein weiteres Mal in sein Arbeitszimmer, als er nach Hause kam.

„So, du warst also beichten?”, rief er höhnisch und schwenkte einen geöffneten Brief herum. „Eine schöne Beichte war das – du wolltest dich mit unserem ehemaligen Diener treffen. Er hat dir eine Nachricht geschrieben, warum er nicht kommen konnte.”

„Ihr öffnet meine Briefe?”, entgegnete Felicio, der nicht wusste, wohin mit seiner brodelnden Wut.

„Gebt ihn mir!”

Sein Vater reichte ihm das auseinandergefaltete Papier mit einem süffisanten Grinsen. „Von mir aus. Du wirst ihn ohnehin nicht wiedersehen. Lies selbst. Ich gebe dir das nur, damit du begreifst, wie aussichtslos diese abgrundtief verdorbene Schwärmerei von dir ist und du nicht weiter nach ihm suchst.“

Felicio schluckte. Er griff nach dem Papier. Ihm sank das Herz, nachdem er die wenigen Zeilen gelesen hatte.

 

Mein lieber Felicio,

Bitte verzeih mir, dass ich nicht zu dem Treffen erschienen bin. Wenn du diese Zeilen liest, habe ich Florenz bereits verlassen, denn ich begleite einen Händler, dessen Diener erkrankt ist, auf einer Handelsreise. Ein Bekannter hat mir diese Arbeit vermittelt. Das Schiff segelt den Arno entlang zur westlichen Küste und von dort geht es weiter nach Genua. Ich hoffe sehr, dass wir uns einmal wiedersehen. Aber es wird wohl eine ganze Weile dauern, bis ich wieder nach Florenz komme, denn die Reise geht noch weiter westwärts, über Frankreich bis nach Spanien.

Alles Liebe,
dein Luigi

 

Luigis Brief war für ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Er wusste, dass eine solche Seefahrt mehrere Tage dauern konnte. Und je nachdem, wo das Schiff in Spanien anlegte, auch noch länger.

Aber wenn Luigi ihm nach seiner Rückkehr wieder schrieb und sein Vater den Brief abfing, würde er ihn bestimmt vernichten, ehe Felicio ihn lesen konnte. Und vermutlich würde er auch den anderen Bediensteten entsprechende Anweisungen geben. Wie er es auch drehte und wendete, seine Lage war hoffnungslos.

 

In den folgenden Tagen schmiedete Felicio allerhand Pläne, von denen er die Hälfte wieder verwarf. Mal nahm er sich vor, auf weitere Nachrichten von Luigi zu warten, dann wieder erschien es ihm sinnlos.

Seine Eltern nahmen ihn mit zu einigen Abendgesellschaften. Dort wurde er mehreren jungen Damen vorgestellt, die ihn erwartungsvoll anblickten. Ihre blass geschminkten Gesichter mit den rosigen Wangen zogen bedeutungslos an ihm vorbei, während er nur an Luigi dachte. Er konnte sich kaum auf die Unterhaltung mit den jungen Frauen konzentrieren.

Die Gespräche mit seinen Eltern drehten sich nur noch darum, welche der heiratswilligen Damen für ihn als Ehegattin in Frage kam.

Das alles war nur schwer zu ertragen. Er trank übermäßig viel Wein in diesen Tagen und wartete vergeblich auf eine weitere Nachricht von Luigi. Hatte dieser ihn vielleicht längst vergessen? Oder waren seine Briefe abgefangen worden?

Bei einer weiteren Abendgesellschaft hörte er einem Gespräch zwischen zwei Gästen zu. Einer von ihnen, ein gutaussehender Mann von etwa Anfang Dreißig, erzählte von einer Reise. „Ich war vor kurzem in Venedig und wurde dort von einer Frau mit einer Katzenmaske angesprochen. Oder zumindest dachte ich, es wäre eine Frau, denn die Person trug ein Kleid. Aber stellt Euch vor, es war ein Mann – ich habe es an seiner Stimme erkannt, die war zu tief für ein Frauenzimmer. Ich habe später einen der Venezianer gefragt, ob er mir sagen könnte, was das zu bedeuten hätte. Er lachte nur, und meinte, von diesen als Frauen verkleideten Männern gäbe es noch mehr in der Stadt. Sie würden nicht einmal belangt, denn in Venedig stehen Maskierte unter einer Art speziellem Schutz. Das heißt, diese lasterhaften Männern können einfach anderen Männern schöne Augen machen. Was für ein sündhafter Ort...“

Diese Erzählung gab ihm zu denken. Gab es am Ende in Venedig Männer, die ähnliche Neigungen wie er hatten? Und die nicht einmal dafür bestraft wurden? Felicio fand den Gedanken, sich wie eine Frau zu kostümieren, durchaus reizvoll. Schon bald begann ein neue Idee in ihm zu reifen. Wenn alle Stricke rissen, würde er von hier fort gehen und in Venedig sein Glück versuchen.

 

Wenige Wochen später, als er immer noch keine Nachricht von Luigi bekam, wählten seine Eltern bereits eine der jungen Damen im heiratsfähigen Alter als seine Ehegattin aus. Seine eigene Meinung zu diesem Thema behielt er wohlweislich für sich. Die entsprechende junge Dame hatte ein ansprechendes Äußeres, aber sie wirkte sehr schüchtern und sprach nur sehr leise, so dass er Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen.

Bei gemeinsamen Treffen mit deren Eltern schmiedeten seine Mutter und sein Vater Pläne für die Verlobungsfeier, die ihm dann einfach mitgeteilt wurden. Nach Weihnachten sollte er sich verloben und schon im Frühling heiraten. Felicio nickte zu all dem, als sei er einverstanden. Doch insgeheim bereitete er seine Flucht aus Florenz vor...

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739490786
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Venezianischer Karneval queer Venedig Maske Karneval historisch Barock Romance Gay Rokoko Historischer Liebesroman Liebesroman Historischer Roman

Autor

  • Amalia Zeichnerin (Autor:in)

Amalia Zeichnerin ist das Pseudonym einer Hamburgerin Autorin. Amalia schreibt Phantastik, Historisches, Cosy Krimis und Romance, gern mit queeren Protagonist*innen und Diversität, denn die Welt ist bunt und vielfältig.
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Titel: Maskiert