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Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Kunstraub in Kensington

von Amalia Zeichnerin (Autor:in)
144 Seiten

Zusammenfassung

London, 1890. Eine Künstlerin wird bestohlen. Die Groschenromanautorin und Gelegenheitsdetektivin Miss Murray macht sich auf die Suche nach dem verschwundenen Gemälde. Dabei ermittelt sie unter anderem in der örtlichen Kunstszene, doch lange Zeit kann sie die einzelnen Puzzleteile des Falls nicht zu einem Bild zusammensetzen ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Nachwort und Danksagung

Impressum

Die mysteriösen Fälle der Miss Murray:
Kunstraub in Kensington


Teil 4 der „Miss Murray”-Reihe

 


© Amalia Zeichnerin 2019

Inhaltswarnungen zu diesem Roman

 

Gewalt (keine Todesfälle)

1

 

Sonntag, 6. Juli 1890 – Edith Grove, Chelsea

 

Ein brütend heißer Sommertag ohne das kleinste Wölkchen am Himmel neigte sich dem Ende zu, der die Straßen Londons gehörig aufgeheizt hatte. Noch immer wehte eine warme Brise an diesem Abend, die Josephine ein wenig die Frisur unter ihrem Strohhut zerzaust hatte, als sie hergekommen war.

In Lady Thelmas Salon glänzte es wie immer an allen Ecken und Enden; die goldenen Verzierungen auf Bilderrahmen und Möbeln schimmerten im Schein der brennenden Kerzen, ebenso wie die Kristallgläser in den Händen der anwesenden Damen, die daraus Limonade tranken – manch eine mit einem Schuss Gin.

Millicent spielte Klavier, während mehrere Gäste miteinander tanzten. Auch Josephine wollte sich dieses Vergnügen nicht nehmen lassen und drehte sich mit Helen Haynes rasant im Kreis, während die vielen Farben im Saal wie in einem Kaleidoskop umherwirbelten. Angesichts der Wärme, selbst zu dieser späten Stunde, bat ihre Tanzpartnerin nach dem Walzer um eine Erfrischung.

„Himmel, ich muss erst mal wieder Atem schöpfen … möchten Sie auch ein Glas Limonade, meine Liebe?”

„Dazu sage ich nicht nein”, erwiderte Josephine, klappte ihren Spitzenfächer auf und fächelte sich damit Luft zu.

„Wo haben Sie eigentlich Ihre Freundin gelassen?” Miss Haynes griff zu einer Karaffe, die auf einem zierlichen Teewagen stand, und goss ihnen beiden etwas ein.

„Constance hat es vorgezogen, zu Hause zu bleiben, um sich auszukurieren. Sie hat sich erkältet, wissen Sie? Vor einigen Tagen ist sie auf dem Heimweg in dieses Sommergewitter geraten und klitschnass zu Hause angekommen.”

„Oh, wie schade.” Bedauernd blickte Miss Haynes sie an. „Bestellen Sie ihr einen Gruß von mir und gute Genesung.”

„Danke, das richte ich gern aus.”

Im Stehen genossen sie das säuerlich-erfrischende Getränk und sahen den Tanzenden zu. Die Künstlerin Fannie Richardson, Miss Haynes’ Freundin, gesellte sich zu ihnen. Vor einigen Wochen waren die beiden zum ersten Mal in Lady Thelmas Salon für Damen erschienen. Die Künstlerin war eine zierliche Frau von Anfang Dreißig, mit hellbraunem, welligem Haar und Augen von fast derselben Farbe. Sie trug ein beigefarbenes Kleid, das bestens damit harmonierte.

Helen bildete einen starken Kontrast zu ihr – sie hatte eine kurvenreiche Figur, ein weiches Gesicht und honigfarbene Locken, die sie aufwändig hochgetürmt hatte. Einzelne Löckchen kringelten sich in ihre Stirn, was der Frisur ein wenig die Strenge nahm. Ihre Haarfarbe bildete einen interessanten Kontrast zu dem lavendelfarbenen Kleid, das am Saum mit dunkelgrauen Stickereien verziert war.

Miss Haynes war wirklich bildschön. Es war nicht verwunderlich, dass sie Fannie – und deren Mann – Modell gesessen hatte, wie sie erzählte.

Also haben die beiden eine Affäre … ob Fannies Mann davon etwas weiß? Natürlich stand es ihr nicht zu, ihren neuen Bekannten eine solch intime Frage zu stellen. Vielleicht lebten sie ja auch in einer Art Dreiecksbeziehung? Adelaide und ihre Freundin Sophronia, die beide Lady Thelmas Salon seit dem vergangenen Herbst regelmäßig besuchten, lebten mit Adelaides Mann in einer ähnlichen Beziehung, zumindest hatte sie einige Andeutungen in diese Richtung gemacht. An diesem Abend waren die beiden allerdings nicht da.

„Finden Sie nicht auch?“, riss Mrs Richardson sie aus ihren Gedanken.

Josephine schoss die Hitze in die Wangen. „Oh, verzeihen Sie, was sagten Sie gerade? Ich war einen Moment lang geistig abwesend.“

„Ich sagte, in Frankreich gibt es ja nun seit einiger Zeit den Pointillismus, haben Sie davon schon gehört?“, fragte die Künstlerin.

„Nein“, musste Josephine zugeben. „Sollte ich ihn kennen?“

Fannie Richardson zuckte mit den Schultern. „Nun, man kann sagen, daran scheiden sich die Geister. Bilder, die in diesem Stil gemalt werden, sind sehr streng durchkomponiert und dann wird alles, wirklich alles, mithilfe von winzigen Punkten gemalt. Daraus ergibt sich dann letztendlich das eigentliche Bild. Allerdings sehe ich drei große Schwächen dieses Stils.“

„Und die wären?“, erkundigte Josephine sich.

„Nun, zum einen gibt es überhaupt keinen Raum für Improvisation, für intuitive Pinselstriche, oder solche, die aus einem inneren Impuls heraus gesetzt werden. Zum anderen ist es ein enormer Zeitaufwand, auf diese Weise zu malen. Außerdem bekommt man während des gesamten Entstehungsprozesses keinen vernünftigen Eindruck, wie das Bild am Ende aussehen wird, weil man erst einmal nur Hunderte von Punkten sieht.“

„Ich verstehe. Denken Sie, dieser Stil wird sich auch hier durchsetzen, Mrs Richardson?“

Die Dame gab ein glucksendes Geräusch von sich. „Nein, nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich gebe diesem Stil fünf Jahre, maximal, dann wird er gewiss wieder verschwinden. Ach, und bitte, nennen Sie mich Fannie.“

„Angenehm. Dann nennen Sie mich bitte Josephine.“

„Wird mir ein Vergnügen sein. Ja, also, ich denke, was eher Aussichten auf längerfristigen Erfolg hat, ist vielleicht eine neue Kunstrichtung. In Frankreich nennen sie diese Art Noveau. Ich habe etwas darüber in einem Künstlermagazin namens L'Art Moderne gelesen, das mir ein Bekannter geliehen hat. Aber hierzulande ist er noch nicht so bekannt. Oder der Impressionismus, der auch aus Frankreich kommt und dort schon seit einigen Jahren Anhänger hat.”

„Ah ja?”, fragte Josephine.

„Ja. Wissen Sie, der Impressionismus, das ist ein Stil, der vom Licht- und Schattenspiel lebt. Ganz anders als der Realismus. Es sind vor allem Landschaftsgemälde, aber nicht nur. Soweit ich weiß, wurde dieser Stil nach einem Bild von einem gewissen Claude Monet benannt – Impression, soleil levant , also ,Impression, Sonnenaufgang‘. Das hat ein Journalist aufgegriffen und nannte die entsprechende Veranstaltung dann ,Ausstellung der Impressionisten‘. Aber ich fürchte, für viele der hiesigen, eher traditionell eingestellten Künstler ist dieser Stil wohl zu progressiv. Er bricht mit sämtlichen Konventionen. Aber so ist es ja meistens mit avantgardistischen Strömungen, nicht wahr? Das gibt es ja auch in der Literatur, ist es nicht so?”

„Ich muss gestehen, das kann ich Ihnen nicht beantworten. Meine Bildung reicht dafür nicht aus. Ich schreibe ja lediglich unterhaltende Heftromane“, erklärte Josephine.

Fannie runzelte leicht die Stirn. „Und reicht Ihnen das für Ihr künstlerisches Streben als Schriftstellerin, wenn ich fragen darf?”

„Im Moment ja”, erwiderte Josephine frei heraus. Sie zuckte mit den Schultern und lächelte. „Aber wer weiß, was noch kommen mag ...”

Einige Zeit später tanzten mehrere der Damen wieder, während Millicent am Klavier einen schwungvollen, fröhlichen Walzer spielte. Fannie wirbelte ihre Freundin über das Parkett. Josephine machte es sich währenddessen in einem Sessel bequem und schenkte sich ein weiteres Glas der erfrischenden Limonade ein.

Plötzlich erklang aus der Eingangshalle wütendes Gezeter. Eine männliche Stimme. Und das hier? Wie war das möglich? Lady Thelmas Salon war ausschließlich Damen vorbehalten. Josephine stellte ihr Glas ab und stand auf. Einige der Gäste tanzten noch immer. In diesem Moment wurde die Tür zum Salon aufgerissen und ein Mann mit rotem Gesicht stürmte herein. Er hatte pechschwarzes Haar und trug einen Schnurrbart, der ihm gut stand.

„Fannie!“, rief er laut. Als er seine Frau Arm im Arm mit Helen Haynes sah, wurde sein Gesicht noch roter. „Das ist ja ungeheuerlich! Ich hab es ja geahnt, dass du und Helen …“

Er brach ab, rang nach Worten. „Ein schöner Salon ist das!“ Er blickte zu der Gastgeberin hinüber, die ganz blass geworden war. „Das wird ein Nachspiel haben, Lady Thelma!“

Lady Thelma straffte sich. Die ältere Dame, die an diesem Abend ein edel schimmerndes, mitternachtsblaues Kleid trug, presste die Lippen zusammen, klappte mit einem schnappenden Geräusch ihren Fächer zu und trat auf den Eindringling zu. „Sie haben offensichtlich einen ganz falschen Eindruck von meinem Salon, Sir.“

„Das glaube ich keineswegs“, blaffte er sie an.

„Meine Gäste haben den Wunsch geäußert, hier ein wenig das Tanzen zu üben, um sich auf Bälle und andere festliche Gelegenheiten vorzubereiten. Ist es nicht so, meine Damen?“, fragte Lady Thelma in die Runde und hob dabei leicht die Augenbrauen.

„Genauso ist es!“, rief die rothaarige Annabelle, die sich von ihrer Freundin Lydia löste. „Wann haben wir denn sonst die Gelegenheit dazu, in Ruhe zu üben, ohne uns vor Nachbarn, Bekannten oder Angehörigen zu blamieren?“

„Siehst du“, sagte Fannie zu ihrem Gatten. „Du hast das offensichtlich falsch interpretiert, mein Lieber.“

„Wir sprechen uns noch, wenn wir zu Hause sind“, sagte er mit drohender Stimme. „Aber darum geht es mir gar nicht.“ Er sprach nun etwas ruhiger, wirkte aber immer noch aufgebracht. „Eines deiner Bilder wurde gestohlen. Aus Mandelbaums Galerie. Ich habe vorhin eine entsprechende Nachricht erhalten.“

„Oh ...“ Fannie schlug eine Hand vor den Mund.

„Komm, gehen wir. Am besten, wir fahren zur Galerie. Und danach verständigen wir die Polizei, immerhin geht es um einen Kunstraub.“

„Ja, natürlich.“ Fannie drückte einen Moment lang Helens Hand. „Mach dir keine Sorgen. Ich bin mir sicher, das klärt sich bald wieder auf. Wir sehen uns bald wieder, ja?“

„Haben Sie noch einen schönen Abend, meine Damen“, sagte Fannie mit einem entschuldigenden Blick in die Runde. Sie deutete einen Knicks an.

„Sollten Sie Hilfe brauchen, zögern Sie nicht, mir eine Nachricht zu senden“, sagte Lady Thelma zu der Künstlerin.

„Danke, aber das wird nicht notwendig sein, schließlich kann sie sich an mich wenden“, entgegnete Mister Richardson mit kühler Miene.

Lady Thelma hob die Hände. „Wie Sie meinen. Ich hoffe, dass sich das verschwundene Gemälde bald wieder anfindet.“

„Das hoffe ich auch“, erwiderte er grimmig, ehe er seine Frau am Arm packte und mit ihr den Salon verließ.

Josephine wandte sich Miss Haynes zu, die wie ein Häufchen Elend in einen der gepolsterten Sessel gesunken war. Sie weinte leise, ihre Tränen bildeten dunkle kleine Flecken auf dem lavendelfarbenen Stoff ihres Kleides.

Josephine ging zu ihr hinüber. „Möchten Sie etwas trinken?“ fragte sie.

„Nein, vielen Dank.“ Miss Haynes schniefte ganz undamenhaft und wischte sich über die Augen. „Ich hätte ahnen sollen, dass es irgendwann so weit kommt. Manchmal hat er mich so seltsam gemustert. Aber ich habe das wohl falsch aufgefasst. Ich dachte, er hätte ebenfalls ein Interesse an mir. Aber für ihn geht die Kunst über alles, dabei sind Fannies Bilder viel besser als seine.”

Die Worte sprudelten rasch aus der jungen Frau heraus. Als ob sie nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, endlich jemandem von ihrer Misere berichten zu können, um diese nicht länger allein mit sich herumzuschleppen. „Sein Interesse an mir war zu Beginn ein rein Ästhetisches. Zumindest dachte ich das, aber er ist offensichtlich eifersüchtig. Mir würde es gewiss genauso gehen, wenn irgendjemand Fannie …” Sie brach ab.

Josephine nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz.

„Wissen Sie, ich hatte noch nie ein gesteigertes Interesse an Männern.“

Da haben wir etwas gemeinsam.

„Sind Sie denn schon lange als Modell für die beiden tätig?“, fragte sie.

Helen Haynes überlegte einen Moment lang. „Fannie und ich kennen uns über ein Jahr. Aber wir sind erst zusammengekommen, seit ich für sie und ihren Mann Modell gestanden habe. Es waren nicht viele Bildmotive und wir waren sehr vorsichtig. Wir haben immer darauf geachtet, dass er außer Haus ist, wenn wir … Sie wissen schon. Er muss trotzdem etwas geahnt haben. Nicht gleich zu Beginn, aber später.“

Ein Schluchzer schüttelte ihren Körper. „Neulich habe ich mich mit Fannie gestritten. Es war nicht das erste Mal. Ich habe sie schon mehr als einmal gebeten, dass sie ihren Mann verlässt. Aber davon will sie nichts wissen. Weil sie ihm nun mal ein Versprechen gegeben hat, bei der Hochzeit. Und sie fühlt sich daran gebunden, auch wenn sie ihn nicht mehr liebt. Oder zumindest nicht mehr so wie früher.“

Josephine fielen keine tröstenden Worte ein. Miss Haynes und Mrs Richardson befanden sich in einer völlig verfahrenen Situation.

 

Als sie später heimkehrte, öffnete Constance ihr die Tür. Ihr blondes Haar war zerzaust, außerdem hatte ihre Freundin gerötete Augen und nieste, als sie hereinkam.

„Gesundheit!”, wünschte sie, schloss die Tür hinter sich und umarmte Constance. „Ach, meine Liebe, es ist schlimmer geworden, oder?”

Constance zuckte mit den Schultern. „Wie heißt es so schön über Erkältungen? Drei Tage kommen sie, drei Tage stehen sie, drei Tage gehen sie. Zum Glück habe ich morgen frei, da muss ich nicht in die Schneiderei. Aber am Dienstag gehe ich wieder hin.” Constances Stimme war noch heiserer als am Morgen und sie hustete.

„Wenn es dir wieder besser geht”, warf Josephine ein.

„Egal, wie es mir geht”, hielt Constance dagegen. „Mister Jones wird mich sonst hochkant rauswerfen.”

Josephine blickte sie streng an. „Constance Phyllis Blackmore, du wirst nicht zur Arbeit gehen, wenn du noch krank bist. Und im Zweifelsfall rede ich mit Mister Jones.”

„Das sehen wir dann”, sagte ihre Freundin ausweichend. „Ich habe eine Hühnersuppe gekocht, aber sie ist etwas versalzen.”

„Ach, das macht doch nichts. Danke.”

Wenig später saßen sie gemeinsam an dem kleinen Esstisch. Ihre Freundin musste sich zwischendurch immer wieder die Nase putzen. Josephine erzählte von dem Vorfall mit dem Künstlerpaar in Lady Thelmas Salon.

„Oh je, müssen wir uns nun Sorgen machen, dass Lady Thelma ihren Salon schließt? Wegen dieser Androhungen von Mister Richardson?”

„Ich weiß es nicht. Hoffentlich nicht. Nun, heute war erst einmal der letzte Termin, sie macht ja nun eine Sommerpause. Ihre Freundin und sie werden nach Brighton reisen. Lady Thelma hat Mister Richardson gesagt, dass die Damen den Salon dazu nutzen, gemeinsam Tanzen zu üben – um später auf Bällen besser mit den Herren tanzen zu können. Und sie klang ziemlich überzeugend, fand ich.”

Constanze seufzte. Sie musste erneut husten. „Ach, es ist ein Jammer. Fannie Richardson und ihre Freundin sind so ein nettes Paar. Aber wenn ihr Ehemann nun hinter diese Affäre gekommen ist … er wird ihr sicherlich verbieten, Helen wiederzusehen.”

„Ja, Fannie – sie hat mir heute angeboten, sie mit dem Vornamen anzureden – und Miss Haynes können einem echt leidtun. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es sein muss, wenn man verheiratet ist und eigentlich das eigene Geschlecht bevorzugt.”

„Aber das Problem haben noch andere Damen aus dem Club, nicht wahr?”

„Ja, schon, aber Margarets Mann hat sich von ihr getrennt. Adelaide und ihre Freundin Sophronia leben mit Adelaides Mann in einer Art Dreiecksbeziehung, jedenfalls haben sie das mal angedeutet. Sophronia ist dabei ganz rot geworden, das weiß ich noch. Erzähl das bloß nicht weiter.”

„Würde ich nie machen und das weißt du.”

Josephine griff über den Tisch und drückte die Hand ihrer Freundin. „Das ist wahr. Annabelle ist aus Surrey abgehauen, aber das ist ja schon Jahre her. Ihr Mann hat sie geschlagen.”

Constance schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Wenn man dir so zuhört, könnte man meinen, du bist eine Klatschtante.”

Josephine grinste. „Ich bin nun mal Autorin. Ich habe ein Interesse an Menschen und deren Geschichten, und nicht nur deshalb.”

Constance lachte, allerdings ging das wieder in ein Husten über. „Schon gut. Ich hoffe, das gestohlene Gemälde von Mrs Richardson findet sich wieder an.”

„Oh, das hoffe ich auch.”

An diesem Abend schliefen sie nicht in ihrem gemeinsamen Bett. Josephine bestand darauf, auf der Couch im Wohnzimmer zu schlafen.

„Ich möchte noch eine Weile schreiben”, erklärte sie. „Und ich möchte mich nicht bei dir anstecken. Ich bin immer so wehleidig, wenn ich erkältet bin, und dann schaffe ich mein Schreibpensum nicht, weil ich Kopfschmerzen habe.”

Constance nickte ihr zu. „In Ordnung. Aber schreib nicht zu lange, du brauchst deinen Schlaf.”

„Ich werde dran denken. Schlaf gut, Liebes.” Sie küsste ihre Freundin auf die Stirn.

Constance umarmte sie einen Moment lang. „Du dann später auch.”

2

 

Dienstag, 8. Juli 1890 – Paddenswick Road, Hammersmith

 

Zwei Tage später war Constance noch immer erkältet und hatte sich doch noch überreden lassen, wenigstens bis Mittwoch zu Hause zu bleiben.

Gleich am Montag war Josephine zur Schneiderei gefahren und hatte ihre Freundin dort entschuldigt. Mister Jones war alles andere als begeistert gewesen und er hatte Andeutungen gemacht, dass Constance nach ihrer Rückkehr einiges an Überstunden machen sollte. Josephine war nicht weiter darauf eingegangen, um ihn nicht noch mehr zu verärgern.

Wieder war es ein brütend heißer Tag gewesen und auch, als es bereits dämmerte, noch immer recht warm. Nachdem Josephine in der Schneiderei gewesen war, hatte sie noch einige Besorgungen in Hammersmith gemacht und war später schweißgebadet heimgekehrt. Was für eine Wohltat, sich zu Hause etwas Luftigeres anzuziehen. Sie wollte sich gerade an ihre Schreibmaschine setzen, als jemand an die Wohnungstür klopfte.

„Erwartest du Besuch?”, fragte Josephine überrascht.

„Nein, du?”

Josephine schüttelte den Kopf und stand auf. „Wollen wir doch mal sehen, wer es ist. Vielleicht ein Bote?”

Kein geringerer als Constances Bruder Eddy stand vor der Tür. Das hellbraune Haar war ungekämmt, seine blauen Augen wirkten verquollen. Der Koffer und die Taschen, die um ihn herum gruppiert waren, sahen nicht gerade nach einer kurzen Stippvisite aus.

„Tut mir leid wegen der späten Störung …”, begann er.

„Komm erst mal herein”, sagte Josephine und half ihm, das Gepäck in die Wohnung zu tragen.

Constance hustete. „Was ist denn passiert?”, fragte sie besorgt, als er im Wohnzimmer mit hängenden Schultern auf der Couch Platz genommen hatte.

Anfang März war er mit einem alleinstehenden Kollegen aus der Papierwaren-Fabrik, in der er nun arbeitete, zusammengezogen. In den unteren Schichten gab es alle möglichen Unterkunftsarrangements, es war keine Seltenheit, dass sich Geschwister oder Alleinstehende des gleichen Geschlechts eine Wohnung teilten. Deshalb konnten Constance und sie hier überhaupt unbehelligt zusammenwohnen, weil ihr Vermieter nichts davon ahnte, dass sie ein Paar waren.

Manche Familien vermieteten sogar ihre Betten für tagsüber, an Leute, die in Schichten arbeiteten und entsprechend teilweise tagsüber schliefen.

Eddy ließ die Schultern hängen. „Stephen hat mich rausgeworfen. Er hat die Sache mit der Cleveland Street 1 spitzgekriegt und dass ich danach im Gefängnis war.”

„Oh, Grundgütiger, wie hat er das denn herausgefunden?”, rief Constance.

„Er war auf dem Postamt, ein Bekannter von ihm arbeitet da. Der hat ihm von dem Skandal erzählt und dann hat Stephen nachgehakt, ob ich denn auch darin verwickelt gewesen bin. Wisst ihr, ich war so dumm und hab mich ihm gegenüber mal verplappert, dass ich früher als Telegrammbote gearbeitet habe.”

„Oh nein.” Constance bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Eddy stand offenbar kurz davor, in Tränen auszubrechen, seine Unterlippe zitterte. „Und ich wette, morgen schwärzt er mich bei dem Direktor der Fabrik an und dann kann ich meinen Hut nehmen.”

Seine Schwester setzte sich neben ihn auf die Couch und umarmte ihn.

„Kann ich bei euch wohnen?”, fragte er. „Nur, bis ich was Neues gefunden habe”, fügte er schnell hinzu.

Constance wechselte einen Blick mit Josephine. „Natürlich kann du das”, sagte sie zu ihrem Bruder.

Josephine verzog einen Augenblick lang das Gesicht, denn sie genoss die Zweisamkeit mit ihrer Liebsten sehr, auch würde es eng werden in der kleinen Wohnung. Aber Eddy befand sich in einer Notlage und er war nun einmal Constances Bruder. Außerdem war er der einzige Verwandte, zu dem sie noch Kontakt hatte, denn ihr Vater war ein schwieriger Mensch und sie hatte diesen schon lange nicht mehr gesehen.

„Du kannst auf der Couch schlafen”, schlug Constance ihm vor.

„Danke. Ich gehe morgen zur Fabrik und schaue, wie dort die Lage ist.”

„Gut, mach das.”

„Ich hoffe ja auf das Wohlwollen des Direktors”, sagte er, ließ aber im nächsten Moment ein weiteres Mal resigniert die Schultern hängen. „Aber große Hoffnungen mache ich mir ehrlich gesagt nicht.”

Sie legte eine Hand auf seinen Arm. „Grübel nicht zu viel, Bruderherz. Morgen weißt du mehr.”

Eine Stunde später arbeitete Josephine noch ein wenig an ihrem aktuellen Krimi weiter, in dem sie wieder ihren Detective Inspector Gleeson und den Constable Blacksmith ermitteln ließ. Bei der sommerlichen Wärme fiel es ihr leichter, in den kühleren Abendstunden zu schreiben.

 

*

 

„Der Raubmörder hat die Scheibe eingeschlagen”, sagte der Constable im Wohnzimmer, welches sich, wie der Rest der Wohnung, im dritten Stock des Gebäudes befand. „Sehen Sie, hier, Sir.”

Detective Inspector Gleeson musterte die blutig verschmierten Überreste des Fensters eingehend. „Das Blut muss erst später daran gekommen sein. Offenbar ist er auch durchs Fenster getürmt.”

Er drehte sich zu dem Leichnam des Hausherrn um, dessen Blut dem hellblauen, floral gemusterten orientalischen Teppich eine braunrote Note verlieh. Die Ehefrau hatte von dem Drama, das sich in ihrem Wohnzimmer nachts abgespielt hatte, nichts mitbekommen, sondern tief und fest geschlafen. Ihr Gatte hatte möglicherweise Geräusche des Einbrechers gehört, war aufgestanden, ohne sie zu wecken und dem Verbrecher mitten in die Arme gelaufen. Die Unglückselige hatte den Leichnam ihres Mannes erst morgens entdeckt und war kurz danach aus einer Ohnmacht erwacht.

Gleeson betrachtete die Wunde am Kopf des Mannes genauer. „Ich tippe auf einen stumpfen Gegenstand. Möglicherweise derselbe, mit dem der Mörder das Fenster eingeschlagen hat.”

Er schaute sich im Wohnzimmer um. Ein Blick zum Kamin. „Nein, warten Sie …” Vor dem Kamin lag ein Schürhaken, an dem ebenfalls Blut klebte.

„Na bitte, wer sagt’s denn? Das dürfte die Mordwaffe sein. Bleibt die Frage, wie der Mörder von außen herauf bis in den dritten Stock gelangen konnte?”

„Glauben Sie, die Katze hat wieder zugeschlagen, Sir?”

Detective Inspector Gleeson seufzte und setzte zu einem kleinen Vortrag an. „Der unbekannte Dieb, den die Schmierfinken von der Presse Katze nennen, kommt lautlos und geht ebenso. Er klettert die Gebäude hinauf wie eine Katze auf einen Baum. Aber dieser Dieb ist kein Mörder. Zumindest war er es bisher nicht, nach allem, was wir bisher über ihn wissen. Wir werden sehen, Constable. Wir werden sehen … Welche Gegenstände wurden entwendet?”

„Nur ein Gemälde, Sir. Das sagte mir die Ehefrau.”

„Ein Gemälde? Langsam wird dieser Fall interessant. Dieses Bild muss ziemlich kostbar sein, dass jemand dafür Willens ist, einen Mord zu begehen. Erzählen Sie mir mehr darüber.”


1 Was dort passiert ist, kann man in „Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Cleveland Street” nachlesen

3

 

Mittwoch, 9. Juli 1890 – Paddenswick Road, Hammersmith

 

Constance und Eddy hatten beide das Haus früh verlassen; er war zur Fabrik aufgebrochen, seine Schwester zur Schneiderei. Sie hustete noch immer etwas, aber mittlerweile ging es ihr dank reichlich Tee und Suppen wieder besser.

Josephine hämmerte wie jeden Tag in die Tasten ihrer Schreibmaschine, als es an der Tür klopfte. Rasch warf sie einen Blick in den Spiegel. Heute war wieder einer dieser Tage, an denen sie mit ihrem Aussehen nicht glücklich war, aber sie sah dennoch weiblich genug aus, dank der Schminke und der minutiösen Rasur, die zu ihrem täglichen Morgenritual gehörte.

In dem Gesicht des jungen Boten, der vor der Tür stand, blühte die Akne. Er überreichte ihr einen Brief. Josephine bedankte sich und drückte ihm einige Münzen in die Hand. Noch im Flur riss sie den Briefumschlag auf.

 

Liebe Josephine,

ich habe Ihre Adresse von Lady Thelma erhalten und hoffe, Sie fassen es nicht als Dreistigkeit auf, dass ich Ihnen schreibe. Ich befinde mich in einer schwierigen Situation. Mein Mann macht mir die Hölle heiß, aufgrund meiner Freundschaft zu H.

Aber das ist nicht der Grund, warum ich Ihnen schreibe. Wie Sie ja gehört haben, wurde eines meiner Gemälde aus einer Galerie gestohlen, doch der Galerist weigert sich hartnäckig, die Polizei einzuschalten, weil er befürchtet, dass dies seinem Ansehen schaden könnte, wenn es sich in seinem Umfeld verbreitet. Das Bild wurde bereits verkauft und sollte von dem neuen Besitzer abgeholt werden. Dieser konnte es nicht gleich direkt mitnehmen. Er hat nun erfahren, dass das Gemälde verschwunden ist, und wie Sie sich bestimmt vorstellen können, ist er nun entsprechend verärgert.

Kein Wunder, dass er sein Geld zurückverlangt – er hat offenbar schon eine Anzahlung getätigt und der Galerist versucht nun, ihn zu besänftigen, dass das Gemälde sicher bald gefunden wird. Mein Mann ist mir im Moment keine Hilfe, weil er so wütend auf mich ist.

Ich habe mit unserer gemeinsamen Bekannten aus Chelsea gesprochen und sie sagte mir, dass Sie schon gelegentlich detektivische Ermittlungen erfolgreich durchgeführt haben. Würden Sie in diesem Fall auch ermitteln? Das würde mich sehr freuen. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich im Gegenzug ein Gemälde für Sie persönlich anfertigen, ganz nach Ihren Wünschen. Ich würde Sie natürlich bezahlen, wenn ich könnte, aber Theodor kümmert sich um unsere Finanzen und wird das wohl nicht zulassen. Daher kann ich Ihnen nur wenig Geld für Ihre Dienste geben, und wie gesagt, ich würde mich mit einem Gemälde revanchieren.

 

Ich verbleibe mit herzlichen Grüßen,

Ihre Fannie Richardson

 

Josephine setzte sich an ihren Schreibtisch und las den Brief ein weiteres Mal. „Unsere gemeinsame Bekannte aus Chelsea”, das war mit Sicherheit Lady Thelma. Fannie hatte auch Helens Namen nicht ausgeschrieben und sprach vage von einer Freundschaft, obwohl die beiden viel mehr verband. Vielleicht hatte sie Angst, dass ihr Brief in falsche Hände geraten könnte?

Ein persönliches Gemälde? Was für eine reizende Idee! Josephine erinnerte sich an einen Besuch in der National Portrait Gallery vor einigen Jahren – ein Ausflug mit einigen Damen aus Lady Thelmas Salon. Staunend hatte sie die historischen Bilder betrachtet. Viele davon waren mit einer unglaublichen Präzision gemalt und wirkten so lebensecht, als würden die Abgebildeten im nächsten Moment gleich aus dem Bilderrahmen steigen. Ein eigenes Portrait … ein Traum, der ansonsten unbezahlbar für sie wäre.

Sie beschloss, der Künstlerin später zu antworten. Josephine zog ein neues Blatt in die Schreibmaschine und tippte weiter an ihrem aktuellen Krimi.

Etwas später klopfte es erneut an der Tür. Sie stand auf und öffnete.

„Kein Glück in der Fabrik?”, fragte sie Eddy, angesichts seiner Leichenbittermiene, als er hereinkam.

Er ballte die Hände zu Fäusten. „Nein. Ich bin gefeuert worden. Und ich wiederhole jetzt lieber nicht, mit was für Schimpfworten mich der Fabrikdirektor rausgeworfen hat. Und diese Blicke von den anderen Arbeitern … So ein verdammter Mist. Ich werde kurz etwas essen und dann mache ich mich auf Arbeitssuche.”

„Ich mache dir erstmal einen Tee. Ich wollte mir ohnehin einen zubereiten.”

„Oh ja, den kann ich gut gebrauchen.”

Als sie später am Esstisch über den dampfenden Tassen saßen, sagte sie: „Mir ist heute Morgen ein Gedanke gekommen – ich könnte meinen Verleger fragen, ob er zufällig in seinem Umfeld etwas von einer freien Stelle oder einer Unterkunft gehört hat.”

Eddys Gesicht hellte sich ein wenig auf. „Das würde mich freuen.”

„Ich habe am Freitag einen Termin bei ihm, da kann ich ihn fragen.”

Eddy blies über die Teetasse und trank einen Schluck. „Danke, Josephine.”

Wenig später verabschiedete er sich von ihr und sie wünschte ihm Glück.

Nachdem sie einige Zeit später ihr tägliches Schreibpensum erreicht und die beschriebenen Seiten in einer Mappe verstaut hatte, schrieb sie einen Antwortbrief an die Künstlerin.

 

Liebe Fannie,

es tut mir leid, von Ihren Schwierigkeiten zu hören. Ich werde gern für Sie ermitteln und würde mich später sehr über ein Gemälde freuen. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass sich meine Kunstkenntnisse in Grenzen halten und ich auch noch nie mit einem Kunstraub zu tun hatte.

Wenn das für Sie kein Hinderungsgrund ist, schlage ich ein Treffen vor Ort in der Galerie vor, dann kann ich auch gleich mit dem Galeristen sprechen. Bitte lassen Sie mir die Adresse zukommen und nennen Sie mir einen Zeitpunkt für unser Treffen – außer am Freitagvormittag, da habe ich einen anderen Termin.

 

Herzlichst,
Ihre Josephine Murray

 

Abends erhielt sie eine weitere Nachricht von Fannie, die sie bat, am folgenden Tag um 14 Uhr in der Galerie Mandelbaum & Son in Kensington zu erscheinen. Der Termin passte ihr gut.

Josephine las ein paar Szenen noch einmal, die sie bereits geschrieben hatte und nahm mit Feder und Tinte einige Korrekturen vor. Anschließend bereitete sie das Abendessen vor.

Kurz darauf kehrte erst Eddy heim, wenig später auch Constance. Josephine umarmte ihre Freundin, die noch immer etwas angeschlagen wirkte. Kurz darauf deckten sie gemeinsam den Esstisch, während der würzige Duft von gebratenem Gemüse und Fleisch durch die Wohnung zog. Josephine lief das Wasser im Mund zusammen.

„Hab noch keine Arbeit gefunden”, erzählte Eddy zerknirscht. „Ich werde morgen weitersuchen. Vielleicht finde ich wenigstens was für Tagelöhner.”

„Ja, das wäre sicher auch eine Möglichkeit, zumindest übergangsweise”, erwiderte seine Schwester, während sie sich gemeinsam zum Essen hinsetzten. Constance hustete ein weiteres Mal.

„Das hört sich aber nicht gut an”, sagte Josephine zu ihr.

Constance zuckte mit den Schultern. „Solange es nicht die Schwindsucht ist …”

„Gott bewahre!”

Die Tuberkulose war eine gefürchtete Lungenkrankheit, weil sie nicht selten tödlich endete. Wenn Constance begann Blut zu husten, dann … nein, diesen Gedanken wollte sie lieber nicht zu Ende denken.
Beim Abendessen erzählte sie Eddy und ihr von dem Brief der Künstlerin, und dass sie deren Ermittlungsauftrag angenommen hatte.

Constance blickte sie überrascht an. „Aber du kennst dich doch gar nicht mit Kunst aus.”

„Ich muss gestehen, dass mich die Aussicht auf ein eigenes Gemälde sehr reizt, das war für mich mit ein Grund, es zu versuchen”, erklärte Josephine. „Wir treffen uns jedenfalls morgen in der Galerie.”

„Aber wie willst du den Dieb denn finden? Der Diebstahl ist schon drei Tage her, ist es nicht so? Das Gemälde kann doch mittlerweile sonst wo sein.”

Josephine nippte an ihrem Tee. „Ich schaue einfach, ob ich in der Galerie mehr herausfinden kann. Und ansonsten sage ich Fannie im Zweifelsfall ab.”

„Ja, das ist auch eine Idee”, erwiderte Constance.

„Wie war es heute in der Schneiderei?”, erkundigte sich Josephine.

„Ach, so das Übliche. Eine Kundin hat ein Kleid zurückgebracht, wegen einer schiefen Naht, dann hatte Meredith Ärger mit Mister Jones, weil ihr wieder mal eine Nadel abgebrochen ist und ich kann keine Blümchenmuster mehr sehen, weil ich nun schon das zehnte Kinderkleid hintereinander genäht habe. Aber mal abwarten, vielleicht ist nächste Woche wieder was anderes dran. Was macht deine Arbeitssuche, Bruderherz?”

„Ich werde morgen die Inserate im Fulham & Hammersmith Chronicle nach Arbeitsstellen durchsehen, vielleicht ist dort etwas Interessantes dabei”, sagte Eddy. „Kostet ja nicht die Welt, nur einen Halfpenny.”

Diese Zeitschrift war recht neu, es gab sie erst seit zwei Jahren und sie berichtete regional aus den beiden Stadtteilen.

„Ich hoffe, du findest dort etwas”, sagte Constance.

„Und ich erst”, antwortete er.

„Ich werde auch mal meine Kolleginnen in der Schneiderei fragen. Vielleicht hat eine von ihnen etwas in der Richtung gehört.”

Er bedankte sich bei ihr und rührte mit nachdenklicher Miene in seiner Teetasse.

4

 

Donnerstag, 10. Juli 1890 – Hammersmith

 

Die Sonne hatte an diesem Tag viel Kraft und wärmte die Luft entsprechend rasch auf – eigentlich ideales Wetter, um ein Picknick im Ravenscourt Park zu machen, oder zumindest einen Spaziergang. Aber Josephine musste einen Abgabetermin einhalten, deshalb saß sie bis mittags an ihrer Schreibmaschine, während eine laue Brise durchs Fenster hereinwehte.

Von draußen erklangen die üblichen Geräusche – fröhliches Gezwitscher der braungrauen Sperlinge, das Gurren von Tauben, klappernde Pferdehufe auf den Pflastersteinen, hin und wieder das Quietschen rostiger Wagenräder, die geölt werden mussten.

Am Nachmittag überprüfte sie ihre Schminke im Spiegel und setzte den Strohhut auf, den sie meistens im Sommer trug. Er war recht schlicht, nur ein blau-weißes Hutband mit einer Schleife zierte ihn. Allerdings war er luftiger als die wenigen anderen Hüte, die sie besaß. Anschließend konsultierte sie ihren Stadtplan. Ob sie zu Fuß gehen sollte? Eine Dreiviertelstunde würde sie ungefähr brauchen, die Galerie war rund zwei Meilen entfernt.

Die Bewegung würde ihr guttun; sie saß viel zu viel an ihrer Schreibmaschine. Auf dem Rückweg konnte sie immer noch mit der Bahn fahren. Josephine nahm ihre Tasche mit dem Notizbuch mit, das sie immer bei sich trug, und machte sich auf den Weg.

Sie lief quer durch Hammersmith, an der dortigen Bahnstation vorbei und weiter westwärts, vorbei an kleineren Geschäften, einigen Pubs und vielen mehrstöckigen Backsteingebäuden. Eine seltsame Kolonne kam ihr entgegen – mehrere bunt bemalte Wagen, die von Pferden gezogen wurden, dazwischen auch einige, die etwas schlichter gehalten waren. Vielleicht Schausteller auf dem Weg zu einem Jahrmarkt? Nein, auf einem der Wagen stand in großen Buchstaben „Zirkus Golden”. Ob dieser Zirkus in Hammersmith gastieren würde, oder war er lediglich auf der Durchreise? Josephine hatte noch nie eine Zirkusvorstellung besucht. Nachdenklich schaute sie den bunten Fahrzeugen nach, ehe sie weiterging.

Auf den Straßen herrschte eine Menge Verkehr. Fuhrwerke und Kutschen fuhren an ihr vorüber, dazwischen ein Mann mit einem Fahrrad. Diese mit Muskelkraft betriebenen Fahrzeuge wurden immer beliebter, allerdings waren sie nicht ganz ungefährlich. In Lady Thelmas Salon hatten sich einige Damen darüber unterhalten. Eine von ihnen, Margaret, nannte ein solches Gefährt ihr Eigen und hatte gelernt, damit zu fahren. Wenn man es geschickt anstellte, war das selbst mit einem Rock möglich. Aber ob sie Margaret darum beneiden sollte? Immerhin musste man auf diesem Fahrzeug stets das Gleichgewicht halten, um nicht herunterzufallen, was gewiss im dichten Straßenverkehr nicht einfach war.

Josephine wanderte weiter. In der Stadt, die das ganze Jahr über nicht gerade für ihre Wohlgerüche bekannt war, stank es – dafür sorgte die Wärme. Der strenge Geruch von Pferdeäpfeln vermischte sich mit dem bitteren von Rost und heißem Metall, mit dem seifigen von Waschlauge, die jemand am Straßenrand entsorgt hatte, und den faulenden Resten von Gemüseabfällen.

Kein Wunder, dass die wohlhabenden Londoner den Sommer lieber auf ihren Landsitzen verbrachten oder verreisten. Lady Thelma und ihre Lebensgefährtin Eliza waren ans Meer gefahren, nach Brighton. Josephine war ein wenig neidisch auf die beiden, aber eine solche Reise und den Aufenthalt in einem Hotel konnten sich weder Constance noch sie selbst leisten. Mehr als ein Tagesausflug war für sie kaum möglich. Umso mehr hatte sie sich über die Einladung nach Essex über Ostern gefreut, bis es dort zu jenem fatalen Mord am Hausherrn und weiteren Verwicklungen gekommen war.1

Ein Passant riss sie aus ihren Gedanken, als er sie anrempelte. Grüßend tippte er an seinen Zylinder. „Verzeihen Sie, Miss.”

„Kein Problem, Sir. Einen guten Tag.”

„Ihnen auch.” Der Mann eilte weiter.

Sie kam am Olympia vorbei, einer großen Veranstaltungshalle, in der es regelmäßig zirkusartige Vorstellungen gab, unter anderem mit Reitakrobatik, wie die Plakate am Eingang andeuteten. Sicherlich ein sehenswertes Spektakel, aber sie hätte ihren Hut darauf verwettet, dass der Eintritt ziemlich teuer war.

Der weitere Weg führte Josephine ostwärts, vorbei an mehrstöckigen Backsteingebäuden mit weißen Fensterrahmen und schwarzen Balkongittern, aber auch helleren, etwas niedrigeren Wohngebäuden und kleinen Geschäften.

Die Galerie Mandelbaum & Son befand sich in der langgezogenen Kensington High Street, im Erdgeschoss eines dreistöckigen Hauses.

Josephine sah auf die kleine Taschenuhr, die an der Chatelaine2 an ihrem Gürtel befestigt war. Sie kam gerade rechtzeitig, also betrat sie die Galerie, in der zahlreiche Gemälde hingen – Landschaftsabbildungen, sonnige Stadtansichten und mehrere Stillleben, darunter einige mit Blumen. Manche der Landschaftsgemälde waren in einem avantgardistischen Stil gehalten. Das Licht- und Schattenspiel darin wirkte erstaunlich. Josephine trat an eines dieser Bilder heran und stellte überrascht fest, dass es aus der Nähe betrachtet fast nur aus einer Ansammlung von Farbflächen und -klecksen ohne Konturen bestand.

Sie hatte allerdings keine Zeit, diese näher zu betrachten, da sie sogleich von einem etwas beleibten Herrn mit graumeliertem Haar begrüßt wurde, der sie von oben bis unten musterte. Erkannte er, dass sie anders war als die anderen Frauen, oder versuchte er anhand ihrer Kleidung ihren gesellschaftlichen Status einzuschätzen?

Im nächsten Moment lächelte er freundlich. „Ich wünsche einen guten Tag. Mein Name ist Saul Mandelbaum. Was kann ich für Sie tun? Gefällt Ihnen dieses Werk? Ein Stil aus Frankreich. Dort nennen sie ihn ,Impressionismus’. Aber es gibt mittlerweile auch einige Künstler hierzulande, die ihn aufgreifen. So wie dieser …”

Sie unterbrach seinen Redeschwall. „Das ist sehr interessant, Sir, aber ich bin aus einem anderen Grund hier. Josephine Murray ist mein Name, ich bin mit Fannie Richardson verabredet. Es geht um ihr gestohlenes Gemälde. Sie hat mich gebeten, zu ermitteln, wenn Sie verstehen, was ich meine.” Sie beobachtete ihn scharf, um seine Reaktion darauf zu sehen.

„Ah – sind Sie eine Privatdetektivin?”, fragte er ohne Zögern.

„So könnte man es sagen, ja.”

„Wie ungewöhnlich. Ich dachte immer, das sei eher eine Arbeit für Herren.”

„Bei mir hat es sich so ergeben”, erwiderte sie nur und lächelte unverbindlich. „Ich würde auch gern mit Ihnen sprechen.”

„Sicherlich, nur zu. Ich möchte wirklich helfen, diesen Diebstahl aufzuklären.”

In diesem Moment betrat Fannie Richardson die Galerie, mit einer relativ großen Mappe in der Hand. Sie trug ein ganz reizendes Nachmittagskleid im selben Farbton wie ihr hellbraunes Haar. Die türkisfarbenen Stickereien an seinen Säumen bildeten einen schönen Kontrast zu dem Musselinstoff.

Die Künstlerin begrüßte Josephine und den Galeristen. „Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen habe, meine Liebe.”

„Sehr gern. Ich wollte gerade Mister Mandelbaum einige Fragen stellen.”

„Bitte, tun Sie das.”

„Aber zunächst habe ich eine Frage an Sie. Was war denn eigentlich auf dem Gemälde abgebildet?”

„Es war ein Stillleben mit blauen Blumen in einer bläulich-violetten Vase. Wissen Sie, zur Zeit der Romantik war die blaue Blume ein Symbol für Sehnsucht und Liebe, außerdem für das metaphysische Streben nach dem Unendlichen.”

„Ah, darüber habe ich, glaube ich, schon einmal gelesen. Und was für Blumen genau haben Sie dafür gemalt?”

Fannie überlegte nicht lange. „Kornblumen, Heliotrop, Veilchen und Gemeine Wegwarte. Kennen Sie diese Blumen?”

„Ich denke, ich werde sie erkennen können.” Josephine machte sich eine geistige Notiz, in der Bibliothek in Hammersmith in einem Buch über einheimische Pflanzen nach entsprechenden Illustrationen zu schauen. Das Aussehen von Veilchen und Kornblumen war ihr bekannt, aber bei Heliotrop und Wegwarte musste sie passen.

„Wo hing denn das Bild?”, erkundigte sie sich.

Der Galerist zeigte ihr eine freie Stelle, zwischen weiteren Stillleben, die recht bunt und realistisch gehalten waren. Sie betrachtete die Wand genauer, in der ein Nagel hing. Eine schlichte, dunkelblaue Tapete bedeckte sie. An der Stelle war nichts Verdächtiges zu sehen.

„Wann haben Sie das Gemälde zuletzt gesehen?”, wandte sie sich an Mister Mandelbaum.

„Das war am Freitagabend, als ich die Galerie abgeschlossen habe”, erklärte er und zupfte an seinem Kragen. „Sonnabends arbeiten wir nicht, da ist Sabbat. Sonntags ist die Galerie auch geschlossen, außer zu besonderen Anlässen. Aber an diesem Sonntagnachmittag wollte ich einige Unterlagen durchsehen und da habe ich gesehen, dass das Gemälde verschwunden ist.”

„Und wer außer Ihnen hat noch einen Schlüssel zu diesen Räumlichkeiten?”

„Nur mein Sohn, er arbeitet ja auch in der Galerie.”

„Ich nehme an, er war am Sonnabend auch nicht hier?”
„Ja, das ist richtig. Er war zu Hause bei seiner Frau und den Kindern, sie haben ebenfalls Sabbat gefeiert.”

„Also waren Sie der Letzte, der vor dem Diebstahl in der Galerie war?”

Mister Mandelbaum nickte.

„Sagen Sie, warum möchten Sie die Polizei nicht einschalten? Nicht, dass ich Sie dazu überreden möchte, aber ich würde es gern wissen.”

„Nun, wenn sich herumspricht, dass bei uns eingebrochen wurde … es würde unserem Ruf als Galeristen schaden. Und meine Familie, nun wir hatten bereits Probleme mit der Polizei. Weil wir jüdische Einwanderer sind. Sie stehen Leuten wie uns mit Misstrauen gegenüber. Es gab da vor zwei Jahren mal einen Vorfall, als es die Morde im East End gab ...” Er räusperte sich. „Das hatte aber nichts mit unserer Galerie zu tun. Jedenfalls, seitdem versuche ich, Kontakt zur Polizei zu vermeiden, wenn es geht.”

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752101492
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Künstler queer viktorianisch London Kunstraub Kensington viktorianischer Krimi transgender trans lesbisch Historisch Krimi

Autor

  • Amalia Zeichnerin (Autor:in)

Amalia Zeichnerin ist das Pseudonym einer Hamburgerin Autorin. Amalia schreibt Phantastik, Historisches, Cosy Krimis und Romance, gern mit queeren Protagonist*innen und Diversität, denn die Welt ist bunt und vielfältig.
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Titel: Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Kunstraub in Kensington