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Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Mörderische Ostern

von Amalia Zeichnerin (Autor:in)
155 Seiten

Zusammenfassung

England, 1890. Eine Einladung aufs Land über Ostern? Das wollen sich die Groschenromanautorin und Gelegenheitsdetektivin Josephine Murray und ihre Freundin Constance nicht entgehen lassen. Doch einen Tag nach ihrer Ankunft wird der Ehemann der Gastgeberin tot aufgefunden. Keiner der Gäste kann das Anwesen verlassen, denn ein später Wintereinbruch hat dafür gesorgt, dass sie eingeschneit sind. Schon bald wird Miss Murray klar, dass mehrere der Anwesenden ein Motiv für den Mord hat. Ist der Mörder mitten unter ihnen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Nachwort

Danksagung

Impressum

 

 

Die mysteriösen Fälle der Miss Murray:

Mörderische Ostern

 

Teil 3 der „Miss Murray“-Reihe

 

 

© Amalia Zeichnerin 2019

 

 

 

Inhaltswarnungen zu diesem Roman

 

sexuelle Belästigung, Mordfall, ohne dass Gewalt gezeigt wird, Transfeindlichkeit

Prolog

Sonnabend, 8. März 1890 – London

 

Liebes Tagebuch,

ich bin sehr gespannt auf den heutigen Abend, denn Lady Thelma hat Constance und mich extra eingeladen, ihren Salon zu besuchen. Sonst finden die Treffen dort ja zu festen Terminen zweimal monatlich statt und jede Dame kommt so, wie sie mag und Zeit hat. Aber heute scheint es wohl um etwas Besonderes zu gehen. Lady Thelma wollte nicht verraten, worum genau, hat aber von einer Überraschung geschrieben, auf die ich sehr neugierig bin. Himmel, was soll ich nur anziehen?

 

*


Lady Thelmas Salon für Damen war gut besucht an diesem Abend. Vermutlich hatte die Gastgeberin mit ihrer mysteriösen Ankündigung viele ihrer Besucherinnen neugierig gemacht. Musik und Gespräche hallten durch den hohen, hell erleuchteten Raum. Zahlreiche Kerzen brannten hier und die goldenen Ornamente auf den Möbeln und Bilderrahmen glänzten ebenso prachtvoll wie die vornehmen Kristallgläser in den Händen der anwesenden Damen.

Millicent spielte eine romantisch-verträumte Elegie am Klavier, die rotblonde Annabelle und ihre Freundin Lydia kicherten über irgendeinen Witz, während einige Frauen sich über die neuen Theaterstücke unterhielten, die man sich im West End anschauen konnte. Josephine fing einige dieser Gesprächsfetzen auf. Eine der Anwesenden erwähnte das Royal Haymarket Theater. Das ließ Josephine an den vergangenen Dezember denken, als nicht nur die Polizei, sondern auch sie selbst dort wegen eines Mordfalls ermittelt hatte. Danach hatte sie von Theaterbesuchen jeglicher Art erst einmal genug gehabt.

Josephine schenkte ihrer Freundin Constance und sich selbst etwas von dem Punsch ein, der auf einem Teewagen bereit stand. Da sie nicht wussten, was sie an diesem Abend erwartete, hatten sie sich herausgeputzt und sich besonders viel Mühe mit den Frisuren gegeben. Constance hatte ihr aschblondes Haar so lange gebürstet, bis es wunderbar glänzte. Josephine trug ihr bestes Kleid, das fliederfarbene aus schimmerndem Taft, welches mit dunkler Spitze gesäumt war.

Die Gastgeberin strahlte in die Runde, sicherlich war sie erfreut, dass heute Abend so viele ihrer Einladung gefolgt waren. Sie trug ein glänzendes lavendelfarbenes Kleid, das mit weißen Ornamenten verziert war. Lady Thelma schlug mit einem Löffel gegen ein Glas. Das feine „Ping” war mehr als deutlich zu hören. Die Gespräche im Salon verstummten und alle wandten sich ihr zu.

„Meine Lieben, es freut mich, dass Sie heute so zahlreich erschienen sind”, begann sie. „Ich habe eine Ankündigung der etwas anderen Art, die ich bereits in meinen Einladungen an Sie angedeutet habe. Ich möchte Sie gern zu einer kleinen Verlosung einladen, falls Sie an den
Osterfeiertagen noch nichts vorhaben. Meine gute Freundin Amanda Harrington, die Gattin eines Unternehmers, hat Eliza und mich über die Feiertage zu sich nach Essex eingeladen. Sie wünscht sich ein volles Haus und lernt immer gern neue Leute kennen. Deshalb hat sie mich gebeten, noch zwei weitere Damen einzuladen, die Eliza und mich begleiten.”

Sie machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr. „Ich bin in mich gegangen und habe überlegt, wen wir einladen könnten. Ich habe auch schon ein, zwei Damen gefragt, die allerdings bereits andere Pläne für Ostern haben. Von diesen abgesehen, sah ich mich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass ich mich nicht entscheiden kann, wen ich einladen sollte. Dann brachte mich meine liebe Eliza”, sie warf ihrer Lebensgefährtin einen Blick zu, „auf die Idee, eine Verlosung zu machen. Und genau das möchte ich nun tun. Die Verlosung ist folgendermaßen gedacht – nur eine einzige Person wird gewinnen. Und diese kann sich dann aussuchen, wen sie mitnimmt.”

„Eine schöne Idee!”, sagte Lydia, die nun mit Annabelle zu tuscheln begann.

„Machen Sie bitte nur bei der Verlosung mit, wenn Sie über Ostern Zeit für eine Reise haben”, gab Lady Thelma zu bedenken. „Und machen Sie sich keine Sorgen wegen der Anreise, selbstverständlich können Sie bei Eliza und mir in der Kutsche mitfahren.”

„Ich habe noch nie bei einer Verlosung mitgemacht”, sagte Constance leise. „Hoffentlich mache ich nichts verkehrt.”

„Ich glaube, da kann man nicht viel falsch machen”, erwiderte Josephine und schenkte ihrer Freundin ein Lächeln.

„Das finde ich beruhigend”, erwiderte Constance und lächelte nun ebenfalls zaghaft.

Lady Thelma ging mit einer Hutschachtel herum, in der jede Menge kleine Zettel und einige Bleistifte lagen. „Nehmen Sie sich einen Zettel und schreiben Sie Ihren Namen darauf, wenn Sie an der Verlosung teilnehmen wollen. Falten Sie das Papier, so dass man Ihren Namen nicht sehen kann und legen Sie es zurück in die Hutschachtel. Wenn alle fertig sind, ziehe ich einen der Zettel und das ist dann die Gewinnerin.”

Einige der Damen verzichteten. „Ich bin über die Feiertage bei meinen Verwandten in Surrey”, erklärte eine und auch andere hatten über Ostern schon andere Verabredungen. Mittlerweile tuschelten die meisten der Anwesenden untereinander. Einige kicherten. Eine Verlosung, das gab es nicht alle Tage.

Josephine war gespannt, wer gewinnen würde.

Die Vorbereitungen dauerten eine Weile.

„Kommen wir nun zur Ziehung”, verkündigte Lady Thelma feierlich. Zunächst schloss sie die Hutschachtel mit deren Deckel und schüttelte sie ein paar Mal. Danach öffnete sie das Behältnis und zog einen einzelnen Zettel heraus.

„Die Gewinnerin ist Constance Blackmore. Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe.”

Constance errötete, als die anderen Anwesenden spontan applaudierten.

„Wen möchten Sie mitnehmen?”, fragte Lady Thelma.

„Da muss ich nicht lange nachdenken, Josephine natürlich.”

„So soll es sein. Wunderbar.” Lady Thelma nickte ihr zu.

Josephine freute sich sehr über Constances Worte. Im Überschwang der Gefühle drückte sie ihr einen Kuss auf die Wange und umarmte sie. „Mensch, Constance, ich freue mich sehr!”

„Ich mich auch”, sagte ihre Freundin und strahlte.

Die Aussicht, die Feiertage auf einem Landsitz zu verbringen, versetzte Josephine in Aufregung. Schließlich konnte sie sich sonst keine Reisen leisten, höchstens gelegentliche Ausflüge in die nähere Umgebung Londons. Aber sie fühlte sich auch ein bisschen nervös, denn schließlich kannte sie weder Mrs Harrington noch deren Gatten. Andererseits waren diese offensichtlich gut bekannt mit Lady Thelma. Josephine kannte die Adlige mittlerweile gut genug, um ihr zu vertrauen. Sicherlich waren ihre Bekannten in Essex ganz reizende Leute. Also was sollte schon schiefgehen?

1

 

Karfreitag, 4. April 1890 – Essex

 

Eine lange Allee führte zum Haus der Harringtons, das sicherlich schon zweihundert Jahre alt war; ein beeindruckendes zweistöckiges Gebäude aus hellgrauem Stein mit hohen Fenstern und einer breiten Treppe vor dem Eingang. Ein kleiner Park und mehrere stattliche Bäume, die ihre Äste noch größtenteils kahl in den Himmel streckten, umgaben das Haus.

Der Speisesaal, in dem sie sich nun befanden, war ebenfalls prächtig anzusehen: Schimmernder Kerzenschein wurde von vergoldeten Bilderrahmen reflektiert, seidig glänzende Ornamente prangten auf der dunkelgrünen Tapete. Die Gemälde an den Wänden zeigten farbenfrohe sommerliche Landschaften, aber auch einige Portraits, sicherlich Vorfahren der Harringtons. Auf dem Esstisch befand sich ein dekoratives Arrangement – die ersten Frühlingsblumen in einer Vase, darunter eine niedrige Schale mit mehreren bunt bemalten Ostereiern und etwas Moos.

Obwohl Josephine solchen Prunk bereits aus Lady Thelmas Haus ein wenig gewohnt war, schüchterte sie es ein bisschen ein und sie kam sich fehl am Platze vor. Aber immerhin war sie nicht allein hier. Verstohlen drückte sie Constances Hand unter dem Tisch. Ihre Freundin erwiderte die Berührung, sie streichelte einen Moment lang Josephines Finger.

„Eine entzückende Idee, das mit der Verlosung”, sagte Amanda Harrington zu Lady Thelma. Die Ehefrau des Hausherrn war von mittlerem Alter, mit krausem dunkelbraunem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen und zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt war. Sie hatte eine lange, schmale Nase und spitze Gesichtszüge, die ihr etwas Strenges verliehen. „Zu Ostern habe ich immer gern ein volles Haus, deshalb kam mir spontan die Idee, dass Sie noch zwei weitere Damen einladen könnten.”

Lady Thelma nickte ihr zu. „Es ist mir eine Freude.”

„Vielen Dank für die Einladung”, sagten Josephine und Constance fast gleichzeitig. Josephine musste lachen, und auch Mrs Harrington lächelte. Constance wurde ein bisschen rot und trank einen Schluck Wein.

Acht Gäste saßen an der Tafel, in ihrer besten Abendgarderobe. Neben Mrs Harrington saß das Ehepaar Bradley. Der Mann, der von drahtiger Figur war, hatte sich als Doktor vorgestellt, offenbar war er ein Arzt. Seine Frau war etwas jünger als er und hatte eine eher rundliche Figur. Sie trug zwei dekorativ floral geformte, silberne Kämme im dunklen Haar.

Mister Harrington räusperte sich. Er war ein gutaussehender Mann von Mitte Fünfzig mit eisblauen, leicht stechenden Augen. Um die Taille war er ein wenig füllig. „Wie hätte ich meiner lieben Gattin den Wunsch abschlagen können? Sie sind uns sehr willkommen.”

Er lächelte Josephine an, oder galt sein Blick eher Constance, die neben ihr saß? Oder ihnen beiden? Sie war sich nicht sicher und lächelte vorsichtshalber zurück.

Ein junger Diener trug gemeinsam mit dem Butler den ersten Gang auf, eine köstlich duftende Suppe. Der junge Mann fiel ihr auf, da er eine gewisse Ähnlichkeit mit Constance Bruders Eddy hatte. Allerdings war sein Haar etwas heller, in dunkelblonden, kurzen Wellen umrahmte es sein Gesicht. Josephine saß neben einem Herrn, der sich als Mister Atwood vorgestellt hatte, ein Mann mit buschigen Augenbrauen, die ihm etwas leicht Finsteres verliehen. Er war ungefähr in Mister Harringtons Alter, vielleicht auch ein wenig älter.

„Sind Sie auch Unternehmer, Sir?”, erkundigte sich Josephine bei ihm, um ein wenig gepflegte Konversation zu betreiben.

„Ja, das bin ich, in der Tat. Ich bin auch in derselben Branche wie unser Gastgeber tätig, in der Metallverarbeitung.”

„Ah, heißt das, Sie sind Konkurrenten?”, fragte sie. Im nächsten Moment bereute sie diesen Vorstoß, denn vermutlich war ihre unverblümte Frage ziemlich unhöflich.

Doch Mister Atwood lachte. „Das könnte man so sagen. Aber es heißt schließlich auch, Konkurrenz belebt das Geschäft. Und was machen Sie, wenn ich fragen darf? Oder sind Sie verheiratet? Ach, nein, dann wäre Ihr Mann ja sicherlich auch hier, nicht wahr?“

Die Vorstellung, mit einem Mann verheiratet zu sein, hatte etwas sehr Befremdliches für Josephine. Aber sie konnte diesem Herrn natürlich auch nicht erzählen, dass sie seit einigen Monaten eine Lebensgefährtin hatte.„Nein, ich bin nicht verheiratet. Ich arbeite als Schriftstellerin.”

„Oh, das ist ja interessant”, sagte Harriet Atwood, eine hochgewachsene, attraktive Frau mit rotbraunen Locken, die an einigen Stellen schon grau wurden.

Erwartungsvoll blickte sie Josephine an. „Veröffentlichen Sie denn unter Ihrem Namen? Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal etwas von Ihnen gelesen zu haben.”

„Ich vermute, das haben Sie auch nicht, denn ich schreibe Heftromane. Wissen Sie, diese Geschichten, die man für wenige Pennys bekommt.”

Mrs Atwoods Lächeln verschwand. „Oh, ach so. Ich verstehe. Nein, so etwas lese ich nicht.”

Alles andere hätte Josephine auch gewundert. „Was lesen Sie denn gern?”, fragte sie.

„Lassen Sie mich kurz überlegen. Ich mag die Bücher von Mary Elizabeth Braddon sehr gern. Sie hat ja schon eine ganze Reihe veröffentlicht. Kennen Sie Das Geheimnis der Lady Audley? Das ist schon etwas älter, aber ich glaube, es ist ihr bekanntestes Werk.”

Josephine schüttelte den Kopf.

„Ich kann es sehr empfehlen”, sagte Mrs Atwood lächelnd. „Eine spannende Geschichte mit einigen kriminellen Elementen.”

„Das hört sich gut an. Danke, ich werde es mir merken“, erwiderte Josephine lächelnd. Sie freute sich immer über Buchtipps. Sie unterhielten sich noch eine Weile weiter über Literatur. Auch Constance, die sich mittlerweile wie Josephine gelegentlich Bücher aus der Bibliothek nahe des Ravenscourt Parks in Hammersmith auslieh, klinkte sich mit ins Gespräch ein.

Josephine erzählte von der Detektivgeschichte Eine Studie in Scharlachrot von Arthur Conan Doyle, die sie mit einigem Vergnügen gelesen und in guter Erinnerung behalten hatte.

„Ist das so etwas wie diese Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe … wie hieß die doch gleich? Irgendetwas mit einer Straße…” Mrs Atwood legte die Stirn in Falten.

„Meinen Sie die Geschichte Die Morde in der Rue Morgue? Da geht es ja auch um einen Detektiv, also insofern gibt es schon gewisse Ähnlichkeiten. Bei Mister Doyle gibt es zum Beispiel auch einen Freund des Detektivs, einen Arzt, der die Geschichte erzählt.”

„Ja, genau das war es, mir fiel nur eben der Titel nicht ein“, erwiderte Mrs Atwood. „Also ich muss ja gestehen, solche Kriminalgeschichten sind mir oft zu unheimlich. Es reicht ja schon, was man alles über Verbrechen in der Zeitung liest.”

Josephine hätte gern geantwortet, dass das Interesse der Leser an Kriminal- und Schauergeschichten dennoch hoch war. Oder vielleicht gerade deshalb? Weil man sich hier mit Schrecken, wie sie sich tagtäglich in der Welt ereigneten, in fiktiver Form und einem sicheren, geschützten Rahmen beschäftigen konnte. Wenn es einem zu viel wurde, konnte man das Buch, die Zeitung oder das Literaturmagazin schließlich jederzeit zuklappen. Auf diese Weise konnten sich Leserinnen und Leser möglicherweise auch mit eigenen Ängsten auseinandersetzen. Aber Josephine verkniff sich einen entsprechenden Kommentar, denn vielleicht hätte Mrs Atwood nicht verstanden, worauf sie hinauswollte.

„Ich bin ja der Ansicht, dass Frauen ins Haus gehören”, meldete sich Mister Harrington zu Wort, der ihrem Gespräch offensichtlich gefolgt war. „Sie sollten heiraten und sich um den Haushalt und die Kinder kümmern. Bücher setzen den Frauenzimmern doch meistens nur Flausen in den Kopf. Aber wenn sie nebenbei noch die Zeit für eine Beschäftigung finden, wie das Schreiben – von mir aus.”

Constance räusperte sich. „Nicht jeder Frau ist es vergönnt, zu heiraten, Sir. In London gibt es gewiss tausende unverheirateter Frauen, die allen möglichen Beschäftigungen nachgehen.”

„Ja, das ist mir bekannt, aber es muss doch eine Plage für sie sein”, widersprach ihr der Hausherr.

„Warum sollte es das? Mir macht meine Tätigkeit Freude, auch wenn sie gelegentlich anstrengend ist. Und Josephine geht es ähnlich, ist es nicht so?”

Josephine nickte. „Ja, in der Tat. Ich möchte es nicht missen. Und ich möchte wetten, dass auch in Ihrer Fabrik einige Frauen arbeiten, oder?”

„Das ist wahr”, gab Mister Harrington zu. „Dennoch, mir tun diese Leute leid. Es heißt doch nicht umsonst, Frauen seien das schwache Geschlecht. Harte Arbeit ist viel zu anstrengend für sie. Außerdem werden sie öfter krank, oder schwanger, und dann können sie nicht weiter arbeiten. Männer sind robuster. So ist es doch, nicht wahr, mein Freund?” Er wandte sich an Mister Atwood.

„Nun, ich würde sagen, es kommt drauf an”, antwortete dieser. „Auf jeden Fall sollte jeder Bürger die Möglichkeit haben, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Und wenn eine Frau nun einmal nicht verheiratet ist, bleibt ihr ja nichts anderes übrig, als sich eine Arbeitsstelle zu suchen.”

„Trotzdem, ich finde, es ist ein Jammer”, beharrte Mister Harrington.

In diesem Moment wurde ihr Gespräch unterbrochen, da die Bediensteten das Hauptgericht, einen saftigen Braten mit allerlei Beilagen, servierten.

„Das sieht ja ganz hervorragend aus”, sagte Constance.

„Ich wette, es schmeckt auch so”, erwiderte Josephine. Sie sollte recht behalten.

Eigentlich hätte sie gern noch mit dem Hausherrn weiterdiskutiert, aber vielleicht war ein Themenwechsel von Vorteil. Schließlich wollte sie nicht gleich am ersten Abend den Ehemann der Gastgeberin verärgern, indem sie im Gegensatz zu ihm eher progressive und aus männlicher Sicht wohl unbequeme Ansichten vertrat. Deshalb lobte sie erst einmal lieber das köstliche Essen und ließ es sich schmecken.

2

 

Nach dem Abendessen zogen sich die Herren vorerst ins Raucherzimmer zurück, während die anwesenden Damen in einen Salon hinübergingen, in dem ihnen der junge Diener Sherry und andere geistige Getränke servierte, ehe er sich zurückzog.

Im Kamin knackte und knisterte ein Feuer. Josephine war froh über die angenehme Wärme, denn die Fahrt hierher war kalt und ungemütlich gewesen. Immerhin hatte Lady Thelma auch angesichts der strengen Witterung auf eine Kutschfahrt verzichtet, die wohl fünf Stunden oder länger gedauert hätte. Stattdessen waren sie alle mit der Eisenbahn angereist, was ihre Fahrtzeit um mehr als die Hälfte verkürzt hatte.

Die Adlige hatte darauf bestanden, die Bahnbilletts zu bezahlen. Angesichts ihrer bescheidenen finanziellen Verhältnisse hatten Josephine und Constance dieses Angebot nur allzu gern angenommen. Unterwegs hatte es fortwährend geschneit und das, obwohl es bereits Anfang April war.

Der Butler der Harringtons, Mister Abbott, hatte sie vom nahegelegenen Bahnhof mit einer Kutsche abgeholt. Eigentlich wäre das die Aufgabe des Kutschers gewesen, doch der Butler hatte ihnen berichtet, dass sich dieser ein Bein gebrochen habe und daher die Ostertage bei seiner Familie verbringen würde.

„Lebt die Familie Ihres Mannes schon lange in diesem Haus?“, erkundigte sich Josephine bei der Gastgeberin.

„Oh ja, es wurde vor rund zweihundert Jahren gebaut. Die Harringtons haben das Land hier gekauft. Sie hatten bereits damals eine Manufaktur mit Metallwaren, diese war zu jener Zeit in Wickford, also gar nicht weit von hier. Fredericks Großvater hat vor etwa dreißig Jahren die Fabrik in Chelmsford errichtet – dort waren mehr Arbeitskräfte – und im Laufe der Zeit wurde sie natürlich auch modernisiert.“

„Haben Sie eigentlich Kinder?“, fragte Constance.

Mrs Harrington lächelte. „Ja, einen Sohn. Raymond dient in der Armee, im Essex Regiment, das vor neun Jahren gegründet wurde – ein Linieninfanterie-Regiment. Er ist allerdings über das Wochenende bei Freunden, sonst wäre er auch hier. Später wird er einmal die Fabrik und das Haus hier erben. Und hoffentlich wird er es dann später seinen eigenen Kinder vermachen können.“

„Ist er denn bereits verheiratet?“, hakte Lady Thelmas Lebensgefährtin Eliza nach.

Ein Schatten huschte über Mrs Harringtons spitze Gesichtszüge, was ihr plötzlich ein düsteres Aussehen verlieh. „Nein, noch nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.“ Sie hielt kurz inne. „Wären wir zu viert, könnten wir Bridge spielen. Aber was halten Sie von einer Partie Rommé?”

Josephine fühlte sich ein wenig überrumpelt angesichts des plötzlichen Themenwechsels. Mrs Harrington machte den Eindruck, als sei es ihr unangenehm, über ihren Sohn und dessen unverheirateten Stand zu sprechen. Vielleicht hatten er oder seine Eltern in dieser Hinsicht irgendetwas Trauriges erlebt? Josephine hätte gern nachgefragt, aber das stand ihr nicht zu.

„Wenn Sie so freundlich wären, die Regeln zu erklären?”, bat Constance. „Ich kenne dieses Spiel nicht.”

„Oh, das macht nichts, meine Liebe, es ist nicht schwer“, erwiderte Mrs Harrington, die mit einem Mal fast übertrieben munter klang. „Kommen Sie, gehen wir hier an den Tisch, dort ist mehr Platz.”

Sie alle setzten sich an einen großen, rechteckigen Tisch, der im hinteren Bereich des Salons in der Nähe eines Klaviers stand. Mrs Harrington holte Spielkarten aus einer Anrichte, mischte diese und verteilte sie reihum. Währenddessen erläuterte sie die Regeln. „Das Ziel des Spiels ist es, alle Karten von der Hand zu bekommen. Sie müssen dazu jeweils vierzig Punkte sammeln, zum Beispiel Zehner, Buben, Damen, Könige oder auch Straßen, die Sie dann ablegen. Außerdem müssen Sie immer jeweils eine Karte vom Stapel aufnehmen und eine ablegen.” Mrs Harrington erklärte die weiteren Details der Spielregeln, während Constance ihr konzentriert lauschte.

Josephine war froh, dass die Gastgeberin dieses vergleichsweise einfache Spiel vorgeschlagen hatte. Das machte es ihrer Freundin gewiss einfacher. Aber auch sie selbst war froh, noch einmal die Regeln zu hören, denn sie besaß kein Kartenspiel mehr, seit sie nach London gezogen war. Abgesehen von gelegentlichen Spielen in Lady Thelmas Salon kam sie nicht dazu.

Verstohlen musterte sie ihre Freundin. Constance schien das Spiel schon bald zu gefallen, ihre Wangen röteten sich. Ihre Augen leuchteten hin und wieder auf. Vermutlich ein Anzeichen dafür, dass sie eine gute Karte erwischt hatte?

Josephine hatte weniger Glück, die Karten erschienen ihr wie Kraut und Rüben. Darunter waren auch viele von nur geringem Wert. Sie brauchte sehr lange, bis sie einige gute gesammelt hatte und diese ablegen konnte. Aber auch das brachte ihr nicht viel für den weiteren Spielverlauf. Bei dieser Partie war das Glück weder Constance noch ihr hold. Stattdessen freute sich Lady Thelma, welche das Spiel für sich entscheiden konnte.

„Ich bestehe auf eine Revanche”, sagte Mrs Harrington lachend. „Sind Sie dabei, meine Damen?”

„Aber gewiss doch”, sagte Harriet Atwood und fuhr sich durch die rotbraunen Locken.

„Ja, warum nicht? Ich finde gerade Gefallen an diesem Spiel”, bemerkte Constance mit einem fast schelmischen Lächeln, das ihr zwei Grübchen in die Wangen zauberte.

Bei der zweiten Runde hatte Josephine immerhin so viel Glück, einen Joker zu bekommen. Aber das verhalf ihr nicht zum Sieg, auch wenn sie diese Karte gut verwenden konnte. Diesmal gewann ihre Gastgeberin, die sich sichtlich freute.

Kurz darauf kamen die Herren zu ihnen in den Salon. Ein leichter Geruch nach Tabak umgab sie. Der junge Diener kehrte zurück und servierte nun auch den Herren Getränke.

Mrs Harrington bat ihre Gäste um etwas musikalische Unterhaltung. Daraufhin setzte sich Mrs Atwood ans Klavier und spielte einige heitere Frühlingslieder, die zum Mitsingen einluden. Die Gastgeberin, Lady Thelma und einige andere begannen zu singen. Eliza Thorpes melodiöse Stimme kam hier bestens zum Einsatz.

Josephine verzichtete lieber. Sie kannte zwar den Text, konnte aber nicht besonders gut singen. Constance hörte ebenfalls einfach zu. Sie lächelte und schien die Darbietung zu genießen.

„Ich mache mir ein bisschen Sorgen wegen des Wetters”, sagte Mister Harrington später. „Es ist ja nichts Ungewöhnliches, dass es im März oder auch Anfang April noch etwas Schnee gibt, aber es hört gar nicht auf zu schneien, und es wird immer stürmischer.”

„Hoffentlich schneien wir nicht ein”, sagte Mrs Atwood mit banger Miene.

„Sie übernachten ja ohnehin alle hier”, sagte die Gastgeberin und zupfte an ihrem funkelnden Collier. „Gästezimmer haben wir glücklicherweise genug. Und bis morgen hat sich die Wetterlage hoffentlich beruhigt.”

„Wir können von Glück reden, dass es hier keine Tornados gibt”, sagte ihr Mann. „Ich habe vor wenigen Tagen erst in der Zeitung gelesen, dass es im Mississippi Valley Gebiet in den Vereinigten Staaten mehrere Tornados gegeben hat. Mindestens hundertfünfzig Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Von den zahlreichen Zerstörungen ganz zu schweigen.”

„Furchtbar, nicht wahr?” Seine Frau war ein wenig blass geworden.

„Das kann man sich hier kaum vorstellen“, murmelte Dr. Bradley.

Die weitere Unterhaltung an diesem Abend drehte sich zunächst um Klatsch und Tratsch aus der Londoner High Society und von einigen anderen Personen, die im Licht der Öffentlichkeit standen. Lady Thelma erzählte mit sichtlichem Genuss davon. Josephine konnte zu diesem Thema nichts beitragen, was man nicht auch in der Zeitung gefunden hätte, aber sie hörte interessiert zu. Von den kleinen und größeren Skandalen der oberen Zehntausend zu hören, war nicht selten recht unterhaltsam und gelegentlich brachten sie solche Angelegenheiten auf Ideen für neue Geschichten.

Lady Thelma wusste unter anderem von einer populären Music-Hall-Darstellerin zu berichten, die sich angeblich mit einem verheirateten Viscount eingelassen hatte. Dies hatte zu einem Skandal geführt, als eine Bedienstete des Adligen ihn zu erpressen versuchte. Der Viscount hatte das Dienstmädchen daraufhin entlassen, doch sie war mit ihrer Geschichte an die Presse herangetreten. Woraufhin sich der Viscount ebenfalls öffentlich zu Wort gemeldet hatte, dass ihre Geschichte nichts als eine Verleumdung sei.

Über Baron Craven, den Josephine im vergangenen Jahr eines abscheulichen Verbrechens überführt hatte, hatte sie neulich Gerüchte gehört. Offenbar hielt er sich weiterhin im Ausland auf, um einem Gerichtsprozess in England zu entgehen. Auch seine Frau und Kinder hatten London wohl verlassen, das Haus am Cavendish Square stand jedenfalls leer. Aber an diesem Abend drehte sich das Gespräch nicht um die Familie Craven, sondern um andere Leute.

Später brachte Mister Atwood die internationale Politik ins Spiel. Ende März hatte der langjährige deutsche Kanzler Otto von Bismarck seinen Rücktritt vom Amt verkündet, offenbar auch weil ihm der deutsche Kaiser die Unterstützung entzogen hatte.

„Man wird sehen, wie es nun mit der Politik in Deutschland weitergehen wird”, sagte Atwood, der sich nachdenklich anhörte. „Kaiser Wilhelm II. ist noch relativ jung – gerade mal um die Dreißig und erst seit zwei Jahren Kaiser. Ich habe Verwandte in Deutschland, deshalb verfolge ich die Politik dort, so weit es mir möglich ist.”

Sie unterhielten sich noch eine Weile über die ausländische und die einheimische Politik. Lady Thelma kam auf die Frauenrechtsbewegung zu sprechen, die sie mit einigem Interesse verfolgte. Sie führte auch einen Text von Mary Wollstonecraft ins Feld, die darin bereits vor circa hundert Jahren für mehr Rechte für Frauen plädiert hatte. Was Mister Harrington prompt dazu animierte, seine konservativen Ansichten zu Frauen, die einen Beruf wählten, ein weiteres Mal zu untermauern. Er wirkte ziemlich festgefahren in seiner Haltung und ließ selbst stichhaltige Argumente der adligen Witwe nicht gelten. Josephine versuchte gar nicht erst, sich in diese Diskussion einzubringen, auch wenn es ihr schwer fiel. Aber sie war schließlich nicht hier, um sich zu streiten, deshalb überließ sie lieber Lady Thelma das Wort.

„Sprechen wir doch über etwas Angenehmeres“, bat die Gastgeberin, als sich die Unterhaltung wenig später im Kreis zu drehen begann. „Oder spielen wir noch etwas. Was halten Sie von Scharade?“

„Sehr gern“, sagte Harriet Atwood. Eliza und Mrs Bradley stimmten ebenfalls zu. Nach und nach machten es ihnen die übrigen Gäste nach. Josephine war ein wenig erleichtert; sicherlich war eine Partie Scharade unterhaltsamer als ein zähes Gespräch über Politik.

Kurz darauf verteilte Mrs Harrington Zettel und Stifte. Jeder sollte einen Begriff aufschreiben, der dann per Zufall verteilt wurde und pantomimisch dargestellt werden sollte. Eine Weile herrschte Schweigen im Salon, nur das scharrende Geräusch der Stifte war zu hören.

„So, meine Lieben, sind Sie so weit?“, erkundigte sich die Gastgeberin nach einer Weile. „Dann geben Sie mir Ihre Zettel und jeder darf einen ziehen.“ Sie sammelte die zusammengefalteten Papiere ein und mischte diese in einem Zylinderhut, den ihr Mann geholt hatte.

Josephine erwischte den Begriff „Königin von England“. Dieser erwies sich einige Zeit später als recht schwierig, denn es war gar nicht so einfach, pantomimisch eine Krone darzustellen, von England ganz schweigen. Ihre Verrenkungen lösten einiges an Gelächter aus, aber sie nahm es den anderen Gästen nicht übel. Sicherlich bot sie einen komischen Anblick und hätte wohl über sich selbst auch gelacht, wenn sie sich hätte sehen können.

Es gab noch andere Ausdrücke, die auch nicht einfach waren, darunter Lokomotive, Telegraphenamt und Putzmacher. Eliza verzog das Gesicht auf recht amüsante Weise, während sie an der Pantomime versuchte.

Die Scharade lockerte die Stimmung unter den Gästen. Zwischendurch tranken nicht nur die Herren immer wieder geistige Getränke. Schon bald hallte schallendes Gelächter durch den Raum. Später gab der Arzt Dr. Bradley schlüpfrige Anekdoten zum Besten, die nicht nur Josephine die Schamesröte ins Gesicht trieben.

Gegen Mitternacht verabschiedete sich Mrs Atwood als erste, sie wolle sich zur Ruhe begeben. Nach und nach schlossen sich weitere Gäste an. Dr. Bradley schwankte leicht, offenbar hatte er dem Alkohol mehr zugesprochen, als ihm gut tat.

Auch Constance entschuldigte sich, als es auf halb eins zu ging. Josephine hatte noch ein halbvolles Glas vor sich stehen. „Ich werde etwas später zu Bett gehen, ich möchte noch diese Geschichte zu Ende hören, die Lady Thelma gerade erzählt.“

Das war zwar nur Klatsch und Tratsch, aber die Adlige wusste diesen auf spannende Weise zu erzählen. Josephine trank einen weiteren Schluck, während sie lauschte. Der Sherry brannte ihr in der Kehle. Sie fühlte sich ein wenig beschwipst, aber nicht auf unangenehme Weise.

Dass es schon weit nach eins war, wurde Josephine erst bewusst, als sie einige Zeit später feststellte, dass sie mit Mister Harrington allein im Salon saß. Das gefiel ihr nicht, und es war sicherlich auch unschicklich, schließlich war sie eine unverheiratete Frau. Sie stand auf. „Ich werde mich zurückziehen, Sir. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.”

„Warten Sie. Sie haben Ihr Glas doch noch gar nicht ausgetrunken. Es wäre schade um den Sherry. Kommen Sie, setzen Sie sich noch einen Moment zu mir.”

Er deutete auf die Chaiselongue, die mitten im Raum stand. Josephine zögerte. Ihr erster Impuls war, zu verneinen, aber dann erschien es ihr unhöflich. Immerhin war er der Hausherr. Und was konnte es schon schaden, wenn sie ihren Sherry noch austrank und noch einen Moment mit ihm plauderte? Also lächelte sie und nahm neben ihm Platz. Sie strich ihren Rock glatt und nahm das Glas in die Hand. Noch während sie trank, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung neben sich wahr. Nein, das war keine Einbildung, er war wirklich näher gerückt. Was hatte er vor? Sie verschluckte sich fast an dem Sherry, er brannte ihr ein weiteres Mal in der Kehle und sie musste husten.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?” Er wartete ihre Antwort nicht auf, sondern rückte noch näher und klopfte ihr auf den Rücken. Sie fuhr zusammen unter der Berührung. Das war jenseits aller Höflichkeit, selbst wenn er ihr helfen wollte. Er hätte sie zumindest fragen können.

Josephine verfluchte sich selbst, der Sherry war ihr zu Kopf gestiegen und nun war ihr leicht schwindlig. Sie trank sonst fast nie Alkohol und war es nicht gewohnt.

Mister Harrington lächelte sie gewinnend an und ein weiteres Mal fiel ihr auf, dass er sich trotz seines Alters und des Bauchansatzes gut gehalten hatte. Aber sein stechender Blick war ihr unangenehm und sie fühlte sich zunehmend unwohl. Da, nun war ihr Glas leer. Zeit, sich zu verabschieden. Sie machte Anstalten, aufzustehen, doch ihr Gegenüber ließ es nicht zu, im Gegenteil, er hielt sie am Arm fest.

„Nicht so eilig, meine Liebe”, sagte er und mit einem Mal lag in seiner Stimme ein drohender Unterton. Josephine erstarrte. Was um Himmels Willen hatte er vor? Er beugte sich vor, löste die Hand von ihrem Arm und strich ihr über die Wange. Die andere Hand glitt über ihren Ausschnitt. Josephine zuckte zusammen. Die Berührung war sanft, doch seine Hand war kalt und ließ sie schaudern.

Und er machte auch nicht halt, als sie zurückwich, im Gegenteil, er strich über den Rand ihres Ausschnitts und ließ seine Hand weiter nach unten wandern, bis in ihren Schoß. Das ging so schnell, dass sie gar nicht wusste, wie ihr geschah. Sollte sie ihm einfach eine Ohrfeige verpassen? Doch dazu kam es nicht, denn im nächsten Moment trat ein irritierter Ausdruck auf sein Gesicht. Verwirrt betastete er sie dort unten.

Josephine spürte eine Welle von Übelkeit in ihrem Inneren. Plötzlich ließ er sie so schnell los, als ob er sich verbrannt hätte. Das flaue Gefühl in ihrem Magen nahm zu. Sie hatte seine Finger auf ihrem Geschlecht gespürt und die Wölbung unter dem Stoff ihres Rocks war nun unübersehbar.

„Das ist ja … widerlich! Gehen Sie mir aus den Augen, sofort!”, rief er, das Gesicht rot vor Zorn.

Ein kleiner schadenfroher Teil von ihr gönnte diesem Scheusal seinen Schreck. Allerdings machte sie sich Sorgen, ob er sie nun hochkant aus dem Haus werfen würde. Die Übelkeit in ihrem Inneren verstärkte sich.

„Morgen früh verlassen Sie dieses Haus, ist das klar?”, sagte er, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte.

„Ja, Sir. Ganz wie Sie wünschen”, erwiderte sie mit heiserer Stimme und stand hastig auf. Ohne ein weiteres Wort stürmte sie aus dem Raum. Erst als sie schon auf der Treppe war, ging ihr durch den Kopf, ob sie morgen überhaupt angesichts des Schneesturms das Haus würde verlassen können.

Als sie das Zimmer betrat, welches sie sich mit Constance teilte, setzte sich diese im Bett auf. Eine einzelne Öllampe brannte auf dem Nachttisch.

Josephine ließ sich auf das zweite Bett fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Das letzte bisschen an Fassung, was sie eben noch aufgebracht hatte, war dahin.

„Aber Liebes, was ist denn passiert?”, rief Constance. Sie stand auf, setzte sich neben Josephine und legte einen Arm um sie.

„Dieser Schuft … er hat mich belästigt.”

„Was? Wer denn?”

„Mister Harrington. Eben haben sich die letzten Gäste zur Ruhe begeben, seine Frau auch. Ich wollte auch gerade gehen, aber er sagte, ich solle doch wenigstens noch mein Glas Sherry austrinken, es wäre sonst schade drum. Und dann … ist er plötzlich immer näher gerückt und hat – ” Sie stockte. „Er hat mich angefasst!”

„Oh je.” Constance strich Josephine über den Rücken. „Ach, Josie, das tut mir so leid.”

Ihm sollte es leid tun. Jedenfalls … er hat mich auch da unten angefasst und – ” Einen Moment lang konnte sie nicht weitersprechen, denn nun wurde sie von Tränen überwältigt.

Constance umarmte sie, streichelte weiter ihren Rücken.

Josephine brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen. „Er hat gesagt, ich muss morgen früh das Haus verlassen.”

„Aber das kann er doch nicht einfach … ich meine, wir sind doch die Gäste seiner Frau.“

„Ja, aber er ist der Hausherr. Er hat hier das Sagen. Und ich glaube kaum, dass sich seine Frau gegen ihn auflehnen wird. Ich meine, wir kannten uns ja bisher nicht einmal.“

Constance sah sie direkt an. „Aber nach dem, was er dir angetan hat, möchtest du da überhaupt noch hier bleiben?”

Josephine wischte sich über das tränenverschmierte Gesicht. „Ich weiß nicht … ich glaube, eher nicht.”

„Dann sprechen wir morgen früh im Vertrauen mit Lady Thelma. Und Mrs Harrington könnten wir sagen, es gehe dir nicht gut und du möchtest lieber nach Hause.”

„Aber was ist mit dir?”

„Glaubst du etwa, ich möchte in einem Haus bleiben, in dem meine Freundin belästigt wurde? Ich sage einfach, dass ich mir Sorgen um deine Gesundheit mache und du sicherlich jemanden brauchst, der sich um dich kümmert.”

Constance wandte den Kopf und sah zum Fenster. Draußen heulte der Wind. Dicke Schneeflocken landeten auf der Fensterscheibe, blieben dort kurz kleben, bis sie langsam schmolzen. „Hoffentlich beruhigt sich das Wetter bis morgen”, sagte sie.

„Ich glaube, ich lege mich besser schlafen. Mir ist ein bisschen schwindlig”, erklärte Josephine. „Muss am Sherry liegen, ich bin das nicht gewohnt.”

Constance nickte. „Ruh dich aus. Ich werde morgen bestimmt früh wach, dann wecke ich dich.” Sie küsste Josephine. „Soll ich einen Arm um dich legen?”

„Ja, das wäre schön.”

Constance kuschelte sich an sie, was Josephine normalerweise als angenehm beruhigend empfand. Doch in dieser Nacht konnte sie lange Zeit nicht einschlafen. Es war nicht nur das Heulen des Windes und die leisen Geräusche, die man in allen Häusern fand. Sie musste an die Demütigung denken, die ihr der Hausherr zugefügt hatte. Diese wog in gewisser Weise doppelt schwer, weil er ihr Geheimnis entdeckt hatte.

Warum nur hatte ausgerechnet Constance bei der Verlosung gewonnen? Sie hätten Ostern einfach zu Hause in Hammersmith feiern können, vielleicht gemeinsam mit Constances Bruder, der Anfang Januar aus dem Gefängnis entlassen worden war. Dann hätte sie diese abscheuliche Begegnung gar nicht gehabt, die ihr nun den Schlaf raubte …

3

 

Sonnabend, 5. April 1890

 

Constance weckte Josephine. „Guten Morgen, meine Liebe.”

Schlaftrunken setzte sie sich auf. „Hab ich das von gestern Abend nur geträumt? Das mit Mister Harrington?”

Constance strich ihr zart über die Wange. „Du hast mir davon erzählt, erinnerst du dich nicht mehr? Was er mit dir gemacht hat?”

Josephine stöhnte auf. „Doch. Aber eben gerade erschien es mir so völlig absurd, ich konnte es nicht glauben. Verdammt.”

In diesem Moment hörten sie Fußgetrappel und Getuschel, das an ihrem Zimmer vorbei zog. Etwas weiter entfernt erklang ein Schrei.

Constance und Josephine wechselten einen überraschten Blick.

„Was ist denn da los?”, fragte Constance.

„Ich ziehe mich schnell an, und dann können wir nachsehen. Hilfst du mir mit dem Korsett?”

„Aber sicher. Helfen wir uns doch am besten gegenseitig.”

Josephine konnte dieses Kleidungsstück zwar auch allein anlegen, doch mit etwas Hilfe ging es viel schneller. Sie schlüpfte zunächst in ihre Schuhe und band die Schnürsenkel zu, danach schnürte Constance ihr das Korsett über dem Unterhemd, das Josephine ausgepolstert hatte, um einen Busen anzudeuten. Josephine schlüpfte in den Rock und zog sich eine Bluse an. Sie kämmte sich rasch das Haar, welches sie zu einem schlichten Zopf flocht, denn alles andere dauerte ihr heute Morgen zu lang, zumal sie sich auch noch rasieren musste, um wie jeden Morgen die störenden Stoppeln aus ihrem Gesicht zu entfernen.

„Ich bin fertig”, sagte sie schließlich und half nun ihrer Freundin sich anzuziehen.

Constance öffnete kurz darauf die Tür. Im Flur standen einige Bedienstete, die untereinander tuschelten, aber auch schon manche der Gäste. Mrs Harrington schluchzte, sie wurde von Mrs Atwood gestützt, die leise auf sie einredete. Sie trug nur ihr Nachthemd und einen Morgenmantel. Ihr Haar war offen.

„Was ist denn passiert?”, erkundigte sich Josephine.

„Mein Mann … er ist tot”, brachte Mrs Harrington hervor, ehe sie erneut zu weinen anfing. „Der Butler hat ihn eben in seinem Bett gefunden.”

Einen Moment lang starrte Josephine sie einfach nur mit großen Augen an. „Darf ich mir das bitte einmal ansehen?”, fragte sie schließlich zögernd. Sie konnte es nicht glauben, dass der Kerl, der sie gestern Abend noch belästigt hatte, plötzlich das Zeitliche gesegnet hatte. Ob es ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall gewesen war? Wie auch immer, sie musste ihn einfach mit eigenen Augen sehen.

Lady Thelma kam nun ebenfalls in den Flur, auch mit offenen Haaren und einem Morgenmantel. Hinter ihr folgte Eliza in ähnlicher Aufmachung. „Wer hat hier geschrien? Ist alles in Ordnung?”

„In Ordnung? Nichts ist in Ordnung”, sagte die Gastgeberin, die im nächsten Moment von einem weiteren Schluchzer geschüttelt wurde. „Mein Mann ist tot!”, rief sie, als sie sich wieder etwas gefasst hatte.

Lady Thelma schlug eine Hand vor den Mund. Nur wenig später drängten sich mehrere der Gäste in das Schlafzimmer des Hausherrn, so dass es selbst in dem geräumigen Zimmer eng wurde.

Josephine betrachtete den Verstorbenen nachdenklich. Er lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Dr. Bradley beugte sich vor und legte zwei Finger an Harringtons Hals, sicherlich um nach seinem Puls zu fühlen. „Nichts. Und seine Haut ist eiskalt.”

Er betastete den Hals des Verstorbenen. „Haben Sie das gesehen?”, wandte er sich an Mrs Harrington.

Zögernd kam diese näher. „Nein, was ist das?”

Jetzt sah Josephine es auch – rötlich-violette Male an seiner Kehle.

„Es sieht so aus, als ob er erwürgt worden ist”, erklärte der Arzt. „Und sehen Sie hier, diese kleinen roten Punkte auf seinen Wangen? Das sind Blutungen, wie sie beim Erstickungstod auftreten.”

„Oh Gott!” Mrs Harrington brach erneut in Schluchzen aus.

„Wie grauenvoll”, murmelte Mrs Atwood, die bleich wie die Wand war.

„Vielleicht hat der Mörder auch zusätzlich noch ein Kissen verwendet.” Bradley betastete das Kissen unter Harringtons Kopf. „Schwer zu sagen, das muss ich zugeben. Das Kissen sieht unverdächtig aus. So oder so, wir müssen die Polizei verständigen.”

„Ich fürchte, das wird nicht ohne weiteres möglich sein”, erklärte der Butler, der an der Tür stand. „Ich war heute morgen kurz draußen und hatte schon Schwierigkeiten, bis zum Pferdestall zu gelangen. Wir sind über Nacht eingeschneit worden. Der Schnee reichte mir bis zu den Knien. Und wie die meisten von Ihnen ja wissen, ist der nächste Ort fünf Meilen von hier entfernt. Das ist noch nicht alles, es hat wieder zu schneien begonnen. Sehen Sie… ” Er deutete zum Fenster. Dort sah Josephine fast nur weiß und ein kleines Stück grauen Himmel.

Sie musste an die Kriminalgeschichten denken, die sie selbst gelesen hatte. „Es würde auch wenig Sinn machen, wenn einer von uns das Haus verlässt.”

„Wie meinen Sie das?”, fragte Mister Atwood stirnrunzelnd.

„Wenn Mister Harrington tatsächlich ermordet wurde, ist der Mörder möglicherweise unter uns … in diesem Haus.”

Eliza Thorpe gab einen erschrockenen Laut von sich.

Josephine ließ sich davon nicht beirren. „Es besteht zwar theoretisch auch die Möglichkeit, dass der Mörder hier heute Nacht oder am frühen Morgen eingedrungen ist, aber das halte ich angesichts des Schneesturms für eher unwahrscheinlich.”

„Ich habe draußen keine Spuren gesehen, die das nahelegen würden”, gab der Butler zu bedenken. „Allerdings könnte es sein, dass sie verschwunden sind, weil es wieder zu schneien begonnen hat.”

„Wie dem auch sei, wir sollten herausfinden, ob alle, die gestern anwesend waren, heute noch da sind.” Josephine sah den Butler an. „Einschließlich aller Bediensteten.”

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752102369
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
queer viktorianisch Detektivin Ostern Krimi transgender Cosy Krimi lesbisch Historisch

Autor

  • Amalia Zeichnerin (Autor:in)

Amalia Zeichnerin ist das Pseudonym einer Hamburgerin Autorin. Amalia schreibt Phantastik, Historisches, Cosy Krimis und Romance, gern mit queeren Protagonist*innen und Diversität, denn die Welt ist bunt und vielfältig.
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Titel: Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Mörderische Ostern