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Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Manege frei für einen Mord

von Amalia Zeichnerin (Autor:in)
150 Seiten

Zusammenfassung

London, 1890. Eine Zirkusvorstellung endet für eine Akrobatin tödlich. Die Polizei legt den Fall schnell zu den Akten, doch der Bruder der Akrobatin beauftragt Miss Murray, weitere Nachforschungen anzustellen. War es tatsächlich nur ein tragischer Unfall? Oder lauern hinter der glänzenden Fassade des Zirkus ungeahnte Abgründe?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Personen der Handlung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Nachwort und Danksagung

Impressum

Die mysteriösen Fälle der Miss Murray:
Manege frei für einen Mord

Teil 5 der „Miss Murray”-Reihe

 

© Amalia Zeichnerin 2019

 

 

Inhaltswarnungen für diesen Roman

 

Tod, Clowns, sexuelle Belästigung (wird nicht gezeigt)

Personen der Handlung

Josephine Murray
– Groschenromanautorin, Gelegenheitsdetektivin
Constance Blackmore
– Josephines Lebensgefährtin, eine Schneiderin
Eddy Blackmore
– Constances jüngerer Bruder


Die Zirkusleute
Jeremy Golden
Der Direktor
Dorothy Golden
– die Tante des Direktors
Lester Langley – ein Trapezartist
Lilianne Langley
– eine Trapezartistin, Lesters Schwester
Trip und Trent – Zwillinge, die Clowns des Zirkus
„Mac der Messerwerfer” MacMichaels
– irischer Zirkuskünstler
Gordon Black
– ein Tierpfleger
Katie Helmsford
– eine Reitakrobatin
Keith Helmsford
– Katies Bruder, ein Reitakrobat
Alistair Helmsford – Katies Cousin, ein Reitakrobat
Henry Helmsford
– ehemaliger Reitakrobat, der „Hausmeister” des Zirkus, Alistairs Vater
Gordon Black
– ein Tierpfleger
Ignacio Ramirez – ein spanischer Dompteur

Weitere Personen
Isobel Thatcher
– eine Freundin von Lilianne Langley
Harry Bayliff
– ein Bekannter von Lilianne

 

1

 

Freitag, 19. September 1890
Ravenscourt Park, Hammersmith

 

Goldgelb leuchtete ihnen das große Zirkuszelt entgegen. Josephine rückte ihren blauen Hut zurecht und schob sich eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. Was das wohl für ein Spektakel werden würde? Constance hakte sich mit einem Lächeln bei ihr unter, während sie gemeinsam mit Eddy durch die Menschenmenge gingen, die auf das Zelt zuströmte. Ein angenehmes Kribbeln der Vorfreude machte sich in Josephines Magen breit. Das hier würde sicherlich eine interessante Abwechslung werden.

Mehrere Familien mit Kindern und Jugendlichen, aber auch junge Erwachsene waren im Park unterwegs, um sich die Zirkusvorstellung anzusehen. Gelächter und Gesprächsfetzen drangen zu ihr herüber. Der Herbsttag war angenehm mild, nur ein leichter Wind wehte und ließ hier und da buntes Laub über den Boden tanzen. Einige Singvögel zwitscherten fröhlich in den Bäumen, während in einiger Entfernung Raben krächzten und der schriller Ruf einer Elster erklang. Das kräftige Grün des Sommers war mittlerweile verblasst und hatte verschiedenen Brauntönen Platz gemacht.

Mittlerweile war es schon eine Weile her, seit sie gemeinsam einen Ausflug nach Brighton unternommen hatten und auch Josephines Geburtstag lag schon einige Tage zurück. Umso mehr freute sie sich auf das vor ihnen liegende Spektakel, zumal sie auch noch nie eine Zirkusvorstellung gesehen hatte. Was sie dort wohl erwarten würde?

Eddy, der noch immer bei Constance und ihr wohnte, da er weiterhin auf der Suche nach einer neuen Bleibe war, hatte ein entsprechendes Inserat im Fulham & Hammersmith Chronicle gelesen und ihnen gezeigt.


 

Das klang natürlich alles recht reißerisch, aber auf diese Weise waren viele Zeitungsanzeigen gestaltet, um noch mehr Aufmerksamkeit zu erzielen. Die Werbung für die Heftromane des Verlags, für den sie arbeitete, strotzte ebenfalls oft von Superlativen wie “Wir versprechen Ihnen höchste Spannung!” oder auch Warnhinweise dieser Art: “Lesen Sie diese schockierende Geschichte nicht vor dem Schlafengehen, sie wird Ihnen die Nachtruhe rauben!”

Eddy jedenfalls war Feuer und Flamme gewesen, den Zirkus zu besuchen. Er hatte seine Schwester überredet, ihn zu begleiten. Constance wiederum wollte nicht ohne Josephine hingehen, also hatte sie sich den beiden angeschlossen und sie war ebenfalls neugierig.

An der Kasse hatte sich eine Schlange gebildet; geduldig warteten sie zu dritt, bis sie an der Reihe waren. In der Nähe befand sich eine Pferdekoppel, doch Pferde waren nicht zu sehen. Vermutlich wurden sie schon für die Vorführung vorbereitet?

Josephine blickte sich um. Rings um das runde Zirkuszelt standen mehrere Wagen, die zum Teil auffällig bunt bemalt waren. Sie bildeten einen weiten Kreis und zwischen ihnen war auch ein größerer Käfig zu sehen. Zu ihrer Überraschung befanden sich darin ein Löwe und ein Tiger, beides ausgewachsene Tiere. Das waren also die exotischen Tiere, welche die Zeitungsanzeige angepriesen hatte. Während der Löwe dösend auf der Seite lag, trottete der Tiger von einer Seite des Käfigs zur anderen und sah immer wieder zu der Menschenschlange hinüber.

Eine beleibte Dame, die schon etwas älter zu sein schien und sie aus kleinen Äuglein durch eine Brille musterte, saß an der Kasse. „Guten Tag”, wandte sie sich an Josephine. „Drei Karten für Sie? Das macht neun Shillings.”

Das war ein stolzer Preis. Hoffentlich war das die Vorführung wert …

Im Zelt roch es intensiv nach Holzspänen, die in der runden Manege ausgestreut waren. Außerdem hingen die intensiven Gerüche von Tieren und Pferdeäpfeln in der Luft. Der Eingang der Darbietenden hin zur Manege war von schweren, roten Vorhängen verdeckt. Um die Manege herum waren Bänke platziert, die weiter hinten nach oben hin anstiegen, wie in einer Arena. Josephine betrachtete die Konstruktion interessiert – vermutlich konnte man diese recht leicht abbauen und transportieren.

Constance, Eddy und sie fanden noch drei freie Plätze nebeneinander, ganz vorn in der ersten Reihe. Unter der mehrere Meter hohen Zeltdecke hingen zahlreiche Seile und zwei Vorrichtungen, die an Schaukeln erinnerten – jeweils eine schmale Stange, die von zwei Seilen gehalten wurde. Ob das Trapezstangen waren? Sie hatte von dieser Art von Akrobatik gelesen, in einem Zeitungsartikel über Zirkusdarbietungen. Diese waren seit Jahrzehnten so beliebt, dass es dafür sogar feste Veranstaltungsstätten in London gab, darunter das Olympia in West Kensington. Aber bisher hatte Josephine noch nie eine entsprechende Aufführung besucht.

Allmählich füllte sich das Zelt mit Besuchern. Ein kleiner Junge in einem niedlichen blau-weißen Matrosenanzug weinte. Eine Frau mittleren Alters redete beschwichtigend auf ihn ein. Mehrere Jugendliche unterhielten sich laut und lachten dabei. Ein anderer Junge schubste seinen kleineren Bruder und wurde vom Vater mit strenger Miene zurechtgewiesen. Fröhliches Stimmengewirr erfüllte das Zelt, während draußen ein Pferd wieherte.

Laute, festlich klingende Musik ertönte, woraufhin unter den Zuschauern Ruhe einkehrte. Die Vorhänge wurden von hinten aufgezogen; ein einzelner Mann mit einem großen Zylinder und einer ungewöhnlichen rotgelben Jacke mit zahlreichen Knöpfen betrat das Rund der Manege betrat.

Ein blecherner Tusch – das klang nach einem Grammophon. Damit verstummte die Musik. Der Mann zog mit einem strahlenden Lächeln seinen Zylinder. Er hatte einen gewaltigen schwarzen Schnurrbart und dunkle Augen.

„Guten Tag, meine Damen und Herren, liebe Kinder! Mein Name ist Jeremy Golden und ich begrüße Sie recht herzlich in meinem Zirkus. Genießen Sie die Vorstellung! Und keine Angst, auch wenn es mal gefährlich aussehen mag, es ist alles ganz harmlos und wir wissen genau, was wir tun. Bleiben Sie bitte in jedem Fall auf Ihren Plätzen sitzen, zu Ihrer eigenen Sicherheit. Beginnen wir nun mit unseren beliebten Pferdeakrobaten – Manege frei!”

Mit diesen Worten verneigte sich der Direktor mit einer ausladenden Armbewegung zum Vorhang hin und zog sich hinter den Eingang der Manege zurück. Verhaltener Applaus erklang, der bald lauter wurde, als drei Akrobaten – zwei Männer und eine Frau – auf Pferden hereinritten. Alle drei trugen bunte, eng anliegende Kleidung, die an den Säumen glitzerte. Der Rock der Dame war geradezu skandalös kurz, so dass der untere Teil ihrer Beine in den enganliegenden Hosen zu sehen war. Aber das war gewiss notwendig, wenn sie Kunststücke auf ihrem Pferd vollführen wollte.

Die drei Zirkusleute erwiesen sich als ausgesprochen gelenkig. Mit geschmeidigen Bewegungen vollführten sie allerhand schwierige Posen. Mitten im Galopp standen sie im Sattel auf, einer von ihnen ließ sich kopfüber seitwärts am Pferd herabgleiten, bis er fast mit dem Kopf den Boden berührte.

Die Dame stellte sich aufrecht hin, während ihr Reittier weiter im Kreis lief. Sie hob eines ihrer Beine an, streckte es nach hinten weg und brachte ihren Oberkörper mit ausgestreckten Armen in eine waagerechte Position, die sie scheinbar mühelos hielt, trotz der schnellen Bewegungen des Pferdes.

Die beiden Männer wechselten im rasanten Galopp sogar auf elegante Weise gegenseitig die Pferde, was für reichlich Beifall sorgte. Die Tiere ließen sich all das gefallen; sie schienen durch nichts aus der Ruhe zu bringen zu sein und liefen weiter im Kreis.

Kurz darauf hielt sich einer der Akrobaten am Sattel fest und brachte seinen gesamten Körper in eine kerzengerade, durchgestreckte Haltung, so dass er vertikal am Pferdeleib hing und darüber hinausragte. Sekunden später wechselte er in eine waagerechte Position und hing nun längsseits des Pferdes, das schnaubend weiterlief. Kurz darauf hielt er sich erneut nur mit einer Hand am Sattel fest und brachte sich erneut in eine waagerechte Haltung, diesmal allerdings knapp über dem Pferderücken.

Die Dame ritt an ihm vorüber, sie machte einen vollkommen geraden Handstand auf ihrem Pferd und verdrehte kurz darauf ihre Beine ebenfalls in eine waagerechte Position. Josephine hielt unwillkürlich den Atem an. Was für eine hervorragende Körperspannung!

Zum Ende der Darbietung hielten die drei nebeneinander an, danach kletterten die beiden Männer zu der Dame auf das mittlere Pferd. Einer von ihnen hob die Akrobatin hoch in die Luft, während der andere ihn festhielt. Die Dame grätschte ihre Beine in einen weiten Spagat und breitete die Arme aus. Applaus brandete ein weiteres Mal auf und verabschiedete die drei und ihre Pferde wenig später.

Anschließend wurden sie durch die Späße von zwei Clowns unterhalten, die grellbunte Kleidung trugen und stark geschminkt waren, mit weißen Gesichtern, schwarzen Strichen an den Augen und knallroten Mündern. Einer von ihnen jonglierte mit Kegeln, während der andere versuchte, ihm diese zu stibitzen, dabei aber kläglich scheiterte, stolperte und mit verdutzter Miene auf seinem Hosenboden landete. Das alles sorgte für reichlich Gelächter und selbst der kleine Junge, der vor der Aufführung noch geweint hatte, klatschte begeistert in die Hände.

Nach den Clowns wurde eine mannsgroße Holzscheibe auf Rollen hereingetragen, während eine Frau folgte – die Reitakrobatin, die nun ein anderes Kostüm mit einem knöchellangen Rock trug. Sie stellte sich direkt an die Scheibe und ihre Hände wurden nun mit Metallschellen an die Scheibe gefesselt.

Ein Mann mit einem weiten Mantel kam herein, den der Direktor als „Mac, den Messerwerfer” angekündigt hatte. Er öffnete seinen Mantel weit – in dessen Innenseite waren zahlreiche Messer befestigt, die gefährlich aufblitzten.

Ein Raunen ging durch die Menge, als er eines davon ergriff und damit auf die Scheibe zielte. Die Waffe surrte durch die Luft und blieb knapp oberhalb des Kopfes seiner Kollegin im Holz stecken.

Beifall antwortete ihm, doch er war noch nicht fertig. In rascher Folge warf er weitere Messer, dann sogar zwei gleichzeitig.

Josephine traute sich kaum hinzusehen. Constance gab einen überraschten Laut von sich, griff nach ihrer Hand und drückte diese. Atemlos verfolgte Josephine die weitere Darbietung.

Bald umgaben die glänzenden Klingen den gesamten Körper der Reitakrobatin. Schließlich drehte sich der Messerwerfer um, stand mit dem Rücken zur Scheibe und warf ein Messer rückwärts. Mit einem zischenden Laut bohrte sich die Waffe in das Holz, Zentimeter entfernt vom Kopf der jungen Dame.

Donnernder Applaus setzte ein, als sich der Messerwerfer mit einem Lächeln verbeugte. Anschließend befreite er die Dame von der Scheibe. Jubelrufe begleiteten die beiden nach draußen, während zwei Männer in schlichter dunkler Kleidung die Scheibe wieder aus der Manege trugen.

Erneut kam der Direktor herein. „Meine Damen und Herren, liebe Kinder, erleben Sie als nächstes, wie die fliegenden Geschwister Langley den Gesetzen der Schwerkraft trotzen – ganz ohne Sicherheitsnetz! Und weil das gar nicht so einfach ist und sie ihre volle Konzentration benötigen, bitte ich für diese Darbietung um absolute Ruhe.” Er legte einen Finger an die Lippen und tatsächlich wurde es still im Zelt.

Mister Golden verließ die Manege. Ein junger Mann und eine etwa gleichaltrige Frau kamen herein. Beide trugen enganliegende blaugrüne Kostüme, bei ihr war zusätzlich ein dünner, fast durchsichtiger Rock angenäht, der ihr nur bis zu den Knien reichte. Ein gewöhnungsbedürftiger Anblick, geradezu skandalös. Obwohl, nein. Balletttänzerinnen trugen schließlich auch nicht mehr am Leib, wenn sie auf der Bühne tanzten.

Die beiden „fliegenden Geschwister” griffen nach zwei Seilen, zogen daran, bis diese tief genug herabhingen, dass sie daran hochklettern konnten. Bei der nun folgenden Darbietung wurde Josephine schon vom Zusehen schwindlig.

Die Dame flog von ihrer Trapezschaukel in Richtung ihres Bruders, dessen eigenes Trapez am anderen Ende des Zeltdaches befestigt war und ebenfalls hin und her schwang. Am höchsten Punkt ihres Fluges drehte sie sich in atemberaubender Geschwindigkeit um sich selbst; Sekunden später ergriff er ihre Beine. Ein Raunen ging durch die Menge, als dies geglückt war. Doch damit war die Nummer noch nicht zu Ende – ein weiteres Mal flog die Akrobatin durch die Luft, zurück zu ihrem eigenen Trapez. Josephine hielt unwillkürlich den Atem an.

Plötzlich riss eines der Halteseile an der Trapezstange. Die Akrobatin konnte sich nicht mehr halten; ihr überraschter Schrei zerschnitt die erwartungsvolle Stille im Zelt. Dann ein dumpfer Laut, als ihr Körper auf dem Boden der Manege aufschlug und dort seltsam verdreht liegen blieb.

Constance gab einen keuchenden Laut von sich und ließ Josephines Hand los. Ein überraschtes Raunen und vereinzelte Schreie drangen aus dem Publikum. Der Akrobat seilte sich rasch ab und eilte zu seiner Schwester.

Der Direktor kam hereingelaufen, beugte sich ebenfalls über die Gefallene. Ihr Bruder schüttelte den Kopf, Tränen liefen ihm übers Gesicht.

Der Direktor straffte sich. „Meine Damen und Herren, nach diesem tragischen Unfall können wir unsere Vorstellung nicht fortsetzen”, wandte er sich an die Zuschauer. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Bitte verlassen Sie nun das Zelt.”

Weitere Leute vom Zirkus kamen mit schockierten Mienen in die Manege gelaufen. Mister Golden rief einem älteren Mann zu, er solle die Polizei verständigen. Der Ältere verließ rasch das Zelt.

Eddy stand auf. „Kommt, gehen wir.”

Josephine schüttelte den Kopf. „Geht ihr ruhig schon, ich will das genauer wissen.”

„Wenn du bleibst, dann bleibe ich auch. Ich warte hier auf dich”, sagte Constance.

Josephine nickte ihr dankbar zu, danach trat sie über die Abgrenzung der Manege und bewegte sich auf die Leute dort zu.

„Bitte, gehen Sie”, wurde sie von einem der Clowns aufgehalten. „Das ist allein unsere Angelegenheit.”

Der Akrobat, der noch immer neben seiner Schwester kniete, blickte Josephine überrascht an, wischte sich die Tränen vom Gesicht.

„Ich wollte nur fragen, ob ich vielleicht helfen kann”, erklärte sie. Der Clown hatte ja Recht, das hier ging sie nichts an, sicherlich war es ein tragischer Unfall, wie der Zirkusdirektor gesagt hatte.

Gemeinsam mit Constance und Eddy, die beide auf sie gewartet hatten, verließ sie das Zelt. Sie schlugen den Weg zu einem der Pfade des Parks ein, so wie viele andere Zuschauer auch. Manche tuschelten miteinander, ein kleines Mädchen weinte leise, während ein älterer Junge ganz blass aussah. Plötzlich erklang eine Stimme direkt hinter ihnen. „Miss?”

Sie drehte sich um, blickte zu ihrer Überraschung in das noch immer tränenverschmierte Gesicht des Akrobaten.

Er trat dicht an sie heran. „Lester Langley ist mein Name”, sagte er leise. „Dürfte ich Sie kurz sprechen?”

„Sicherlich”, erwiderte sie. „Gehen wir ein Stück zur Seite?”

Sie wies auf einen Platz in der Nähe des Zirkuszeltes, etwas abseits von der Menge, die das Zirkusgelände verließ.

Er folgte ihr dorthin. „Hören Sie, ich bin mir nicht sicher, dass das ein Unfall war”, begann er schließlich. „Aber wer weiß, ob die Polizei mir das glauben wird. Wissen Sie, nach meiner Erfahrung haben die nicht gern mit Zirkusleuten zu tun. Für die sind wir praktisch nur fahrendes Volk. Zumal wir nur ein kleiner, nicht allzu bekannter Zirkus sind. Sie sagten vorhin, Sie wollten wissen, ob Sie helfen können … wie meinten Sie das?”

„Ich habe gelegentlich als Detektivin gearbeitet”, sagte sie frei heraus.

„Oh … dürfte ich mich bei Ihnen melden, falls ich Hilfe brauchen sollte? Wir sind noch länger mit dem Zirkus hier, bis Anfang Oktober. Ich meine, zumindest war es bisher so geplant.”

Sie nickte und griff nach einer ihrer handbeschriebenen Karten. „Hier ist meine Adresse.”

Der Akrobat nahm die Karte entgegen, steckte sie in den Ausschnitt seines Kostüms. „Danke.”

„Mein herzliches Beileid”, sagte sie mitfühlend.

Seine Oberlippe zitterte. „Ich kann es noch gar nicht glauben.” Seine Stimme verlor sich zu einem Flüstern.

„Ich wünsche Ihnen viel Kraft für die kommende Zeit, Mister Langley”, sagte sie.

Er bedankte sich und ging mit hängenden Schultern zurück zur Manege.

In einiger Entfernung, an der Kasse vor dem Zirkuszelt, diskutierte ein Mann lautstark mit der Dame, die dort saß. „Ich verlange mein Geld zurück!”

„Aber Sir, Sie haben doch einen Teil der Vorstellung gesehen. Bitte, haben Sie Verständnis, ich kann Ihnen Ihr Geld nicht zurückgeben. In unserem Zirkus arbeiten eine ganze Menge Leute und auch die Tiere kosten uns viel Geld. Wir sind jeden Tag auf die Einnahmen angewiesen.”

„Dann geben Sie mir wenigstens die Hälfte zurück! Und auch das von den Eintrittskarten meinen Kinder und meiner Frau.”

Weitere Leute mischten sich in das Gespräch ein, nun verlangten auch andere ihr Geld zurück.

Kopfschüttelnd ging Josephine zurück zu ihrer Freundin und deren Bruder.

„Haben diese Leute denn gar keinen Sinn für Pietät?”, fragte Constance. „Der Zirkus hat gerade eine seiner Akrobatinnen verloren. Nun haben sie nicht nur die laufenden Kosten, sondern müssen auch noch für eine Beerdigung aufkommen.”

 

*

 

Das Reißen des Seils, die Akrobatin fiel durch die Luft, während eine blecherne, leiernde Musik spielte, die nach einem betrunkenen Orchester klang. Ein Tusch erklang, als die Dame in dem blaugrünen Kostüm hinab auf den Boden stürzte. Doch sie blieb nicht still liegen, sondern hob den Kopf und blickte Josephine mit schmerzverzerrter Miene an, streckte die Hand flehend nach ihr aus.

 

Schweißgebadet erwachte Josephine aus diesem seltsamen Traum. Der Vorfall im Zirkus am gestrigen Nachmittag war schrecklich gewesen. Eine andere Erinnerung flammte in ihr auf – der Todesfall im Royal Haymarket Theater im vergangenen Dezember1.

Nun war sie schon zum zweiten Mal Zeuge eines plötzlichen Todes geworden. Blieb nur die Frage, ob der im Zirkus wirklich ein Unfall gewesen war. Der Bruder des Opfers schien daran nicht zu glauben. Welchen Grund mochte er dafür haben?


1 Was es damit auf sich hat, kann man in „Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Theatergeist” nachlesen.

2

 

Montag, 22. September 1890 – Hammersmith

 

Josephine betrat den Tea Room, der sich in der Nähe des Ravenscourt Park befand. Die Räumlichkeiten waren ein wenig dunkel, wirkten aber sauber und behaglich; die cremefarbenen Tischtücher mit Spitzen verziert, auf den Stühlen befanden sich bequeme samtige Polster. Ein Feuer brannte im hinteren Bereich knisternd im offenen Kamin und sorgte für behagliche Wärme an diesem trüben Herbsttag.

Josephine lief das Wasser im Mund zusammen, als sie den Duft von frischen Scones und Kuchen wahrnahm. Ein älteres Paar grüßte sie höflich, als sie an ihnen vorbeiging. Sie erwiderte den Gruß mit einem Lächeln. In einer anderen Ecke saßen zwei Frauen mittleren Alters und ein halbwüchsiges Mädchen mit langen dunklen Zöpfen in einem geblümten Kleid.

Der Akrobat aus dem Zirkus Golden, Mister Langley, blickte ihr entgegen. Sein Gesicht war grau vor Kummer. Er wirkte anders in seinem schlecht sitzenden Anzug und der graubraunen Tweedmütze auf dem Kopf. Als sie an seinen Tisch trat, stand er auf und deutete eine Verbeugung an. „Miss Murray, guten Tag. Danke, dass Sie gekommen sind.”

Er rückte ihr den Stuhl zurecht.

Ein richtiger Gentleman …

Eine Bedienung kam zu ihnen und nahm ihre Bestellung entgegen.

„Fühlen Sie sich eingeladen”, sagte Mister Langley zu Josephine, als die Dame gegangen war.

„Sehr freundlich, das nehme ich gern an. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, wenn ich gleich zur Sache komme?”

Er nickte, nahm seine Mütze ab und krallte seine Finger hinein, als ob er etwas brauchte, an dem er sich festhalten konnte.

„In Ihrer Nachricht an mich schrieben Sie, dass Sie immer noch Zweifel daran hätten, dass es ein Unfall gewesen ist – was Ihrer Schwester passiert ist. Und Sie haben das ja auch schon bei unserem kurzen Gespräch angedeutet. Was bringt Sie zu dieser Annahme?”

„Dazu muss ich ein bisschen weiter ausholen …”

Sie machte eine einladende Geste. „Gern.”

„Nun, also die Polizei war am Sonnabend da und hat uns alle verhört. Die Beamten haben sich auch das gerissene Seil angesehen und Aussagen zu Protokoll genommen. Sie sind der Ansicht, das sei ein Unfall gewesen. Das Seil wäre wohl aus Verschleiß gerissen. Sie haben Mister Golden außerdem nahegelegt, in Zukunft nur noch Trapezvorführungen mit einem Sicherheitsnetz durchzuführen. Wir haben auch eines im Zirkus, aber Golden wollte darauf lieber verzichten, weil die Darbietung nun einmal ohne ein Netz spektakulärer ist.”

Mister Langley zerdrückte noch immer seine Tweedmütze, während er weitersprach. „Jedenfalls hat dann Henry mit der Polizei geredet. Früher war er selbst Reitakrobat, aber seit einem Umfall kann er das nicht mehr machen. Seitdem kümmert er sich um alle technischen Belange des Zirkus. Er ist gewissermaßen unser Hausmeister, könnte man sagen. Er hat ihnen erklärt, dass er das alte Seil gerade erst neulich durch ein neues ausgetauscht hat. Aber der Beamte meinte, dann hätte Henry wohl versehentlich ebenfalls ein altes Seil erwischt, das ihm jemand als ein neues angedreht hat. Das Alter sieht man Seilen ja nicht direkt an, wenn sie gut gepflegt sind. Das meinte Henry jedenfalls. Nun, die Polizisten haben seinen Einwand einfach vom Tisch gewischt. Ich glaube, die waren froh, den Fall zu den Akten legen zu können. Wir sind halt nur Zirkusleute und noch dazu reisende. Nicht solche Prestigeträchtigen wie manch andere. Zum Beispiel diejenigen, die in festen Gebäuden auftreten.” Er verzog das Gesicht.

Die Bedienung des Tea Rooms brachte ihnen eine Kanne Tee, eine kleinere Kanne mit Milch und duftendes Gebäck. Es war zwar ein wenig trocken und krümelig, aber zusammen mit dem Tee ließ es sich gut essen.

Mister Langley fuhr fort, während sie nach einem der runden Teekuchen griff. „Jedenfalls hat Henry mich später beiseite genommen und mir das Seil gezeigt. Es wäre denkbar, sagte er, dass es jemand angeschnitten hat. Und durch das Gewicht von … von Lilianne ist es dann gerissen. Aber wegen des Risses kann man das nicht erkennen, also ich meine, ob sich jemand daran zu schaffen gemacht hat. Und aus Henrys Sicht ist dieses Seil wirklich neu, da hat ihm niemand ein altes untergejubelt. Aber um ganz sicher zu gehen, müsste man vermutlich einen Seilmacher fragen. Und das will Henry auch noch machen.”

„Das ist eine gute Idee”, stimmte sie zu und rührte in ihrem Tee. „Mister Langley, wenn Sie es wünschen, könnte ich mit allen Leuten aus dem Zirkus sprechen. Falls diese überhaupt zu einem Gespräch bereit sind. Immerhin bin ich eine Außenstehende.”

Einen Moment lang musterte er sie nachdenklich. „Vielleicht ist es sogar gut, dass Sie eine Außenstehende sind. Also, ich meine, Sie hätten dann ja einen unverstellten Blick auf uns alle. Das könnte von Vorteil sein. Wissen Sie, unser Zirkus … da ist nicht alles Gold, was glänzt. Es gibt einigen Zwist.”

„Mögen Sie mir mehr darüber erzählen? Ich hätte ohnehin einiges an Fragen, wenn ich für Sie in dieser Angelegenheit ermitteln soll.”

„Ich wollte eigentlich erst gern wissen, was Ihre … wie sagt man? Wie Ihre Konditionen sind? Damit ich weiß, ob ich mir Ihre Dienste überhaupt leisten kann.”

Sie feilschten eine Weile und einigten sich schließlich auf eine Summe, mit der Josephine zufrieden war. Es war nicht viel, aber sie würde es auf die hohe Kante legen und vielleicht später für einen Urlaub mit Constance nutzen können. Ein willkommener Zuverdienst zu dem, was sie als Autorin verdiente.

„Sie brauchen mir das Geld erst zahlen, wenn meine Ermittlungen … ” Wie sollte sie das ausdrücken? „Wenn ich zu einem Ergebnis gekommen bin.”

Er nickte. „Das klingt fair. Ich werde erst die Beerdigung meiner Schwester zahlen müssen. Ich bekomme zwar auch finanzielle Hilfe vom Zirkus dafür, wir haben dort eine Gemeinschaftskasse. Aber das wird nicht reichen.”

Josephine griff nach dem kleinen Notizbuch, das sie sich für detektivische Zwecke gekauft hatte. Anfangs hatte sie dafür ihr Autorinnenbüchlein genutzt, aber sie wollte beides lieber trennen.

„Nennen Sie mir doch bitte einmal alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zirkus”, bat sie ihn. „Und was diese im Zirkus machen. Beziehungsweise haben Sie selbst eventuell einen Verdacht, wer es auf den Tod Ihrer Schwester abgesehen haben könnte?”

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Lilianne …” Er wischte sich über die Augen, räusperte sich. „Sie war beliebt bei den anderen. Sie war ein sehr humorvoller Mensch, hat uns alle oft zum Lachen gebracht. Ich weiß wirklich nicht, wer sie so sehr gehasst haben könnte.”

„Was ist denn mit der anderen Akrobatin? Die Reiterin?”

„Katie? Nein, die beiden haben sich gut verstanden. Katie ist meine Verlobte. Für sie würde ich die Hand ins Feuer legen.” Sein Gesichtsausdruck wurde ganz weich, als er von ihr sprach. „Wir wollen im Winter heiraten, wenn der Zirkus pausiert. Sie und meine Schwester haben sich keine Konkurrenz gemacht. Lilianne kann … ich meine, sie konnte nicht reiten. Sie hätte keine solchen Kunststücke wie Katie auf dem Pferd machen können. Und Katie, sie hat Höhenangst. Trapezakrobatik, das wäre nichts für sie.”

„Nun, wenn es sich so verhält. Und die anderen Leute aus dem Zirkus?”

„Also, da ist halt Katies Familie, die Helmsfords – Henry habe ich ja schon erwähnt, das ist ihr Onkel, und dann ist da noch sein Sohn Alistair, das ist der Cousin von Katie und ihrem Bruder Keith. Die beiden sind auch Reitakrobaten, Keith und Alistair.”

„Und sie verstehen sich alle gut untereinander?”

„Na ja, die beiden Brüder kabbeln sich manchmal, aber sie arbeiten eigentlich gut zusammen. Und sie haben viel von Henry gelernt.”

„Was ist mit den Clowns?”

„Das sind auch Brüder. Zwillinge, um genau zu sein. Sie nennen sich Trent und Trip – ihre Künstlernamen. Ich kenne sie ehrlich gesagt nur unter diesen Namen. Die beiden sind unzertrennlich. Ich liege ein bisschen im Clinch mit Trip, der kann mich nicht leiden.”

Josephine beugte sich vor. „Oh, und worum geht es da? Ich meine, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber es könnte wichtig sein.”

„Es ist wegen Katie. Trip hatte Interesse an ihr, aber sie hat sich für mich entschieden. Ich hab sie ihm auch nicht ausgespannt oder so etwas … auch wenn er das vermutlich anders sieht.”

„Ach so. Hmm … wie lange geht das denn schon so?”

„Wir sind jetzt rund neun Monate verlobt. Soweit ich weiß, hatte Trip sogar zwischenzeitlich überlegt, den Zirkus zu verlassen, aber Trent hat ihn überredet, doch zu bleiben.”

„Ah ja. Und sagen Sie, wie verstehen Sie sich mit dem Direktor?”

„Ich muss gestehen, Lilianne und ich hatten ein bisschen Ärger mit ihm, weil wir beide mehr Lohn gefordert haben. Aber das haben einige der anderen auch. Unser Direktor ist ein bisschen knausrig. Er jammert immer, dass alles so teuer sei – der Unterhalt für die Tiere, die Materialien, die Abgaben an die Städte und Gemeinden, die er zahlen muss. Aber er kassiert auch ganz schön ab.”

„Wäre das denn ein mögliches Motiv aus Ihrer Sicht – dass er eine unliebsame Akrobatin ins Jenseits befördert, weil sie in seinen Augen zu viel Geld verlangt?”

Mister Langley strich seine zerknautschte Mütze glatt und trank einen Schluck Tee. „Aber warum dann nur sie, warum nicht uns beide? Kann ich mir außerdem bei Golden nicht vorstellen. Er hätte uns ja auch einfach rauswerfen und andere Artisten einstellen können. Das ist zwar nicht gerade üblich, aber so was kommt schon mal vor, auch bei langjährig aktiven Zirkusbetrieben.”

„Und die ältere Dame an der Kasse?”, fragte Josephine.

„Das ist Goldens Tante Dorothy. Sie ist die Älteste im Zirkus und bemuttert die meisten von uns. Allerdings hatte sie kürzlich Streit mit Lilianne.”

„Wissen Sie, worum es da ging?”

Er schüttelte den Kopf. „Sie kam eines Tages von einem Gespräch mit Dorothy wieder und hatte geweint. Aber sie wollte mir partout nicht sagen, wieso. Ich hab dann versucht, mit Dorothy zu reden, aber sie hat mir auch nichts darüber verraten und meinte, das sei eine Sache unter Frauen.”

„Wie lange ist das her?”

„Etwa drei oder vier Wochen, würde ich sagen.”

„Nun, dem werde ich genauer nachgehen. Und wie würden Sie diesen Mac, den Messerwerfer, einschätzen?”

„Mit dem gab’s eigentlich nie Probleme. Er ist ein Draufgänger und keiner von uns weiß so genau, was er eigentlich gemacht hat, bevor er in den Zirkus gekommen ist. Fünf, sechs Jahre ist das nun her. Gerüchteweise saß er einmal im Gefängnis, aber etwas Genaueres weiß ich nicht. Er hält sich da sehr bedeckt. Also, jedenfalls zwischen uns herrscht kein Groll.”

„Ist denn das Messerwerfen seine einzige Nummer, die er im Zirkus vorführt?”

„Nein. Er kann auch einige Zaubertricks. Keine Ahnung, wo er die gelernt hat.”

Josephine überlegte einen Moment lang. „Machen Sie sich eigentlich Sorgen um die Sicherheit Ihrer Verlobten, weil sie ihm bei dieser Messernummer assistiert?”

„Nein, Miss. Mac hat noch nie daneben geworfen. Was das angeht, hat er mein vollstes Vertrauen.”

„Ah, das ist natürlich gut. Gibt es eigentlich noch mehr Leute, die hinter den Kulissen arbeiten? Musiker haben Sie wohl eher nicht, oder?”

„Ach, das ist eine Geschichte für sich. Ein eigenes kleines Orchester, das wäre schon eine feine Sache. Stattdessen steht Henry bei jeder Aufführung am Grammophon, er sorgt für die Musik. Wie gesagt, unser Direktor ist knauserig und spart lieber das Geld. Ansonsten haben wir noch Ignacio Ramirez, den Dompteur, und Gordon Black dabei, das ist unser Tierpfleger.”

„Ah, die Nummer mit dem Dompteur haben wir am Sonnabend ja gar nicht mehr zu sehen bekommen. Ramirez, sagten Sie? Ist er Ausländer?”

Mister Langley nickte. „Aus Spanien. Er ist noch nicht lange in unserem Zirkus, war früher in einem spanischen.”

„Und was hat ihn nach England verschlagen?”

Langley zuckte mit den Schultern. „Das hab ich ihn auch mal gefragt, aber er ist mir ausgewichen. Vielleicht hat er irgendwelchen Ärger in seiner Heimat am Hals, wer weiß.”

„Könnte es eigentlich auch sein, dass dieser Anschlag – wenn es denn einer war, nicht Ihrer Schwester, sondern Ihnen gegolten hat?”

Er schüttelte den Kopf. „Das halte ich für eher unwahrscheinlich. Beziehungsweise wenn es so war, wusste der Täter offensichtlich nicht richtig über unsere Nummer Bescheid. Denn Lilianne war die einzige von uns beiden, die sich bei unseren Darbietungen auf dieses Trapez gesetzt hat. Immer.”

Sie nickte ihm zu und überlegte einen Moment lang.

„Und Gordon Black? Der Tierpfleger?”

„Ach, das ist so ein ganz Ruhiger. Ein schüchterner Kerl. Ich finde ihn ein bisschen farblos. Er kann aber hervorragend mit den Tieren umgehen, das muss man ihm zu Gute halten. Außerdem habe ich bei ihm den Eindruck, dass er keiner Fliege was zuleide tun kann. Und Lilianne mochte er gern. Das war zumindest mein Eindruck. Er war ziemlich schockiert, als er von ihrem … ihrem Tod erfahren hat.”

„Und das sind alle, die im Zirkus Golden arbeiten?”

Langley nickte. „Jeder von uns hat gelegentlich noch kleinere Aufgaben abseits der Darbietungen. Katie und Dorothy reparieren zum Beispiel die Kostüme und der Tierpfleger erledigt auch manches von den Einkäufen. Wir haben das alles aufgeteilt. Vielleicht wäre es gut, wenn Sie als erstes mit dem Direktor sprechen. Er kann dann ein gutes Wort für Sie einlegen, falls sich jemand beschweren sollte. Ich meine, weil Sie nicht von der Polizei sind … und eine Außenstehende.”

„In Ordnung. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, trinke ich meinen Tee aus und begleite Sie direkt zurück zum Zirkus.”

Er schüttelte den Kopf. „Kommen Sie besser morgen Vormittag. In einer Stunde fängt unsere heutige Vorführung an und Mister Golden wird keine Ruhe haben, davor noch mit Ihnen zu sprechen.”

„Ja, das kann ich natürlich verstehen. Dann werde ich ihn morgen Vormittag aufsuchen. Ich hatte eigentlich etwas vor, aber das kann ich auch nachmittags erledigen.”

Er stand auf. „Ich danke Ihnen. Ich werde für uns zahlen. Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss vor der heutigen Aufführung auch noch etwas erledigen.”

„Danke für den Tee und das Gebäck. Ich melde mich morgen bei Ihnen”, erwiderte sie.

Nachdenklich schaute sie ihm nach, als er wenig später den Tea Room verließ.

 

*

 

Später, als sie zu dritt beim Abendessen saßen, erkundigte sich Constance bei ihrem Bruder: „Sag einmal, was macht eigentlich deine Suche nach einer neuen Bleibe?”

Sein Gesicht verdüsterte sich. „Fehlanzeige. In der Nähe des Textilhandels hab ich immer noch nichts gefunden.”

„Und wenn du in den angrenzenden Stadtteilen suchst? Dein Weg damals zum General Post Office war doch auch weiter.”

Er hob eine Hand. „Ja, das stimmt schon, aber ich würde gern lieber in der Nähe der Textilhandlung wohnen. Und es sollte ja auch bezahlbar sein.”

Eddy wohnte nun schon seit dem Sommer bei ihnen, nachdem sein Mitbewohner ihn vor die Tür gesetzt hatte. Angesichts der relativ kleinen Wohnung hier in der Paddenswick Road war das auf Dauer keine Lösung. Sie traten sich fast gegenseitig auf die Füße.

Er schlief im Wohnzimmer auf der Couch, die eigentlich nicht als ständige Schlafstätte geeignet war. Davon, dass er ihre Zweisamkeit mit Constance störte, ganz zu schweigen, auch wenn Josephine keinesfalls vorhatte, das als Argument anzubringen. Schließlich war er Constances Bruder und der einzige Verwandte, mit dem sie noch Kontakt hatte.

Außerdem hatte er eine Menge Pech gehabt seit den Vorfällen im vergangenen Jahr in der Cleveland Street.1 Er tat Josephine leid. Aber eine eigene Bleibe für ihn war auf Dauer sicherlich besser für sie alle, denn die Enge hier in der Wohnung machte nicht nur ihr zu schaffen.

„Ich würde sagen, schau dich trotzdem auch in einiger Entfernung um, vielleicht in Fulham oder Chiswick”, schlug Josephine ihm nun vor.

„Mir bleibt wohl nichts anderes übrig”, murmelte er.

„Ich werde mich auch noch mal umhören”, versprach Constance ihm mit einem aufmunternden Lächeln.


1 Was dort passiert ist, kann man nachlesen in „Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Cleveland Street”

3

 

Dienstag, 23. September 1890 – Hammersmith

 

Josephine klopfte an der roten Tür des bunt bemalten Zirkuswagens, den ihr Dorothy Golden auf ihre Frage hin genannt hatte, wo sie den Zirkusdirektor finden würde. Geometrische Muster und Blumenornamente schmückten den Wagen.

Von drinnen erklang ein „Herein.”

Josephine öffnete die Tür und staunte nicht schlecht. Der Wagen war wie eine kleine Wohnung eingerichtet; an einer Wand hing ein großes, farbenprächtiges Plakat, auf dem der Zirkus zu sehen war. Eine kleine Nische diente offenbar dem Kochen, dort hingen jedenfalls ein Topf und eine Pfanne an Haken, außerdem einige andere Küchenutensilien, darunter einen großen hölzernen Kochlöffel und ein langes Brotmesser.

Weiter hinten war ein Bereich mit einem dunkel gemusterten, blauen Vorhang abgetrennt, möglicherweise ein Schlafplatz. Auf dem Boden des Wagens aus dunklem Holz lag ein schlichter Teppichläufer in rötlichen Tönen.

Mister Golden saß hinter einem schmalen Tisch, auf dem mehrere Papiere lagen. Er hatte ein Buch aufgeschlagen und trug dort einiges mit einer Schreibfeder ein. Als er sie sah, legte er die Feder zurück in den Halter.

„Ah, guten Tag. Sie müssen die Detektivin sein, von der mir Lester erzählt hat, Miss.”

„Ja, genau. Mein Name ist Josephine Murray. Guten Tag, Mister Golden.”

Er musterte sie ganz unverhohlen von oben bis unten. „Bitte, kommen Sie herein.” Der Zirkusdirektor wies auf einen Stuhl, der vor dem Tisch stand und sie setzte sich.

„Ich hätte einige Fragen an Sie”, begann sie ohne Umschweife und strich ihren Rock glatt.

„Ja, das dachte ich mir bereits. Fragen Sie nur. Sollte die arme Lilianne nicht durch einen Unfall gestorben sein, bin ich willens, alles zu tun, um Licht ins Dunkel zu bringen”, sagte er beinahe salbungsvoll, ein wenig wie ein Mann, der sich selbst gern reden hörte.

„Wie lange sind Sie schon mit dem Zirkus unterwegs, Sir?”

„Oh, unser Betrieb hat eine lange Tradition”, sagte er und strich sich über den dunklen Schnurrbart. „Mein Urgroßvater hat ihn gegründet. Meine Eltern sind seit einigen Jahren im Ruhestand, ihnen wurde das Reisen zu viel, denn meine Mutter ist mittlerweile etwas gebrechlich. Aber Dorothy, meine Tante, steht uns weiterhin zur Seite, was ich sehr zu schätzen weiß.”

„Und andere Familienangehörige sind nicht mit dabei?”

„Früher einmal ja … aber es gab einige Zwistigkeiten. Ich habe mich mit meinen Bruder zerstritten. Früher waren wir Teilhaber. Seine Frau war auch im Zirkus beschäftigt und die Kinder waren ebenfalls mit von der Partie. Aber er hat nun schon eine ganze Weile ein eigenes Unternehmen, eine Reitschule, in der Nähe von Brighton. Gelegentlich auch mit Darbietungen.”

„Und Sie selbst sind alleinstehend?”

Er lächelte. „Oh ja, ich bin eingefleischter Junggeselle. Zum Leidwesen meiner Eltern. Aber es gefällt mir so besser. Weniger Verpflichtungen. Ich habe ja schon genug mit dem Zirkus zu tun, wenn Sie verstehen.”

Sie blickte ihn direkt an. „Ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten, aber macht es Ihnen nichts aus, den Familienbetrieb dann nicht weiter vererben zu können?”

Er machte eine wegwerfende Geste. „Nun, die Helmsfords haben Interesse daran signalisiert, den Zirkus zu übernehmen, wenn ich mich zur Ruhe setze und das ist mir recht.”

Sie nickte. „Und seit wann sind die Langleys im Zirkus?”

„Schon eine ganze Weile, es dürften nun an die sieben Jahre sein.”

„Hatten Sie denn jemals Probleme mit einem von ihnen? Oder beiden?”, erkundigte sie sich und beobachtete ihn dabei interessiert.

„Nun, falls Sie schon mit Lester gesprochen haben, wird er Ihnen sicherlich gesagt haben, dass sie beide mehr Geld verlangten. Ihnen ist nicht ganz klar, wie teuer der Unterhalt eines solches Unternehmens ist. Ich habe versucht, es ihnen zu erklären, aber ich bin auf taube Ohren gestoßen. Wir hatten also einigen Streit deswegen. Aber das ist ja kein Grund, eine wunderbare Akrobatin umzubringen. Ich hätte ihr schließlich ebenso gut kündigen und mir jemand anders suchen können, nicht wahr?”

„Da ist etwas Wahres dran”, musste sie zugeben. „Und ist Ihnen jemals zu Ohren gekommen, dass die beiden oder im speziellen Lilianne mit jemandem Streit hatte, oder dass ihr jemand schaden wollte?”

„Darüber habe ich viel nachgedacht seit Sonnabend, das können Sie mir glauben. Aber da fällt mir beim besten Willen nichts ein. Sie war recht beliebt, bei allen hier. Immer fröhlich, immer humorvoll. Manchmal hat sie bessere Witze als Trent und Trip gemacht – das sind unsere beiden Clowns.”

„Und gab es vielleicht jemanden von außerhalb, mit dem Lilianne Probleme gehabt haben könnte?”

„Also, das kann ich Ihnen nicht beantworten. Da müssten Sie ihren Bruder fragen. Er stand ihr ja um einiges näher als ich. Aber wissen Sie, wir reisen schließlich viel. Da bleibt kaum Zeit, um Freundschaften oder Bekanntenkreise gut zu pflegen. Außer natürlich im Winter, wenn wir pausieren.”

„Wie lang ist das?”

„Drei Monate, von Januar bis März. Spätestens Ostern gibt es wieder Vorführungen. Die Tiere sind während dieser Zeit auf einem Bauernhof in Lincolnshire untergebracht. Wir mieten uns dort ein, das ist so mit dem Landwirt vereinbart. Und die Leute vom Zirkus zerstreuen sich während der Pause in alle Himmelsrichtungen.”

„Und wohin gehen die Langleys dann?”

„In der Regel nach Worcestershire, an der Grenze zu Wales. Sie haben dort noch Verwandte.”

„Und Sie reisen mit dem Zirkus quer durch England?”

Unverhohlener Stolz klang aus seiner Stimme. „Ja, das ist richtig. Auch nach Wales und Schottland.”

„Also kommen Sie viel herum. Besteht da nicht die Möglichkeit, dass Lilianne Langley unterwegs Bekanntschaften geschlossen hat?”

„Natürlich. Unsere Leute gehen ja auch gern in die örtlichen Pubs oder Tea Rooms, da kommt man schon mal ins Gespräch mit Einheimischen. Aber das sind lose Bekanntschaften, die in der Regel keine weitere Rolle spielen. Und wir reisen ja immer bald weiter, da ist es wohl eher schwer, in Kontakt zu bleiben.”

„Das kann ich mir vorstellen”, erwiderte sie. „Sagen Sie, wer hat Zugang zu den Seilen, die für die Trapezvorführung genutzt werden?”

„Oh, das ist … nun, im Grunde jeder, fürchte ich. Wir schließen die Zelteingänge zwar ab, allerdings kann theoretisch jeder unter der Zeltplane durchkriechen und sich an den Seilen zu schaffen machen. Eigentlich sind die in erster Linie Henry Helmsfords Aufgabe. Er kümmert sich um die technischen Belange des Zirkus. Aber im Grunde könnte jeder an die Seile heran.”

Was die Zahl der möglichen Verdächtigen nicht gerade verringert …

Sie bedankte sich bei dem Direktor, dass er sich die Zeit genommen hatte.

Er lächelte, schien aber in Gedanken schon anderswo zu sein. Bis er sie erneut mit einem taxierenden Blick betrachtete, der ihr ganz und gar nicht gefiel.

„Gern. Und sollten Sie noch mehr Fragen an mich haben, nehme ich mir wieder Zeit für Sie.”

„Wo finde ich denn die beiden Clowns?”

„Der rote Wagen mit den Clownsgesichtern, nicht zu verfehlen. Er steht links von dem Käfig. Aber ich weiß nicht, ob sie beide gerade da sind. Versuchen Sie einfach Ihr Glück.”

„In Ordnung.”

Sie war froh, dem abschätzenden Blick des Direktors entkommen zu können. An solchen Dingen war wieder einmal zu sehen, dass sie durch ihre Arbeit zu Hause nicht oft unter Leute kam. Zwar passierte es ihr auch in der Stadt immer mal wieder, dass Leute sie neugierig musterten, aber in der Regel wandten sie schnell den Blick ab, wenn Josephine sie ansah.

Einige Minuten später klopfte sie an der Tür des roten Zirkuswagens an. Ein griesgrämig wirkender Mann mit rötlich-blonden Haaren öffnete ihr und beäugte sie misstrauisch. Auf seiner blassen Nase tummelten sich mehrere Sommersprossen.

„Guten Tag, Sir. Mein Name ist Miss Murray. Ich würde Ihnen gern einige Fragen zu dem Tod von Lilianne Langley stellen.”

„Weiß Mister Golden, dass Sie hier sind?”, fragte er mürrisch.

„Ja, ich habe gerade mit ihm gesprochen.”

Einen Moment lang musterte er sie schweigend.

Aus dem Inneren des Wagens fragte jemand: „Wer ist es, Trip?”

Der Angesprochene öffnete die Tür noch etwas weiter und drehte sich nach hinten. „Eine Frau, die ein paar Fragen an uns hat, Trent.” Er wandte sich wieder Josephine zu. „Kommen Sie herein. Aber wir haben nicht lange Zeit.”

„Dann werde ich versuchen, mich kurz zu fassen.”

„Das wäre sehr freundlich.”

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752101508
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
viktorianisch Zirkus Detektivin London transgender trans lesbisch Cosy Krimi Historisch Krimi

Autor

  • Amalia Zeichnerin (Autor:in)

Amalia Zeichnerin ist das Pseudonym einer Hamburgerin Autorin. Amalia schreibt Phantastik, Historisches, Cosy Krimis und Romance, gern mit queeren Protagonist*innen und Diversität, denn die Welt ist bunt und vielfältig.
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Titel: Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Manege frei für einen Mord