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Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Cleveland Street

von Amalia Zeichnerin (Autor:in)
164 Seiten

Zusammenfassung

London, 1889. Die alleinstehende Groschenromanautorin Miss Murray lernt die Schneiderin Miss Blackmore kennen und wird von ihr beauftragt, deren Bruder Eddy zu beschatten, der möglicherweise in schlechte Gesellschaft geraten ist. Wenig später ist Miss Murray einem Skandal auf der Spur, der das gesamte West End erschüttern wird ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

1

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5

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18

Epilog

Nachwort und Danksagung

Impressum

Die mysteriösen Fälle der Miss Murray:

Cleveland Street

 

Teil 1 der Miss-Murray-Reihe

 

© Amalia Zeichnerin 2018

 

Inhaltswarnungen zu diesem Roman

Gewalt, sexuelle Gewalt, Transfeindlichkeit

1

 

15. Mai 1889

 

Liebes Tagebuch,

Nur wenige Monate sind vergangen seit dem schrecklichen Mord an Mary Jane Kelly in Spitalfields. Seitdem gab es keine neuen Mordfälle, soweit ich weiß. Aber der Täter wurde bis heute nicht gefasst, das habe ich mehrfach gelesen. Läuft „Jack the Ripper“, wie sie ihn seit einer Weile nennen, dort draußen im East End immer noch herum? Wetzt er schon sein Messer für das nächste Opfer, oder ist er von der Bildfläche verschwunden? So oder so, die armen Frauen von Whitechapel tun mir leid. Hier in Hammersmith gibt es natürlich auch Kriminelle, aber von einem Serienmörder, der diesen Stadtteil unsicher macht, habe ich noch nichts gehört.

Mir ist seltsam zumute, wenn ich darüber nachdenke, dass ich für den Verlag Bostwick & Sons Krimis schreibe, während jene Mordfälle im East End jede Fiktion an Grausamkeit übertreffen.

 

Josephine Murray ließ die Tinte trocknen und legte das Tagebuch beiseite. Die Tasse Tee neben sich hatte sie ganz vergessen, gewiss war das Getränk längst kalt. Sie nippte daran. Wie ich’s mir gedacht habe, typisch für mich, meinen Tee zu vergessen.

Sie streckte sich und warf einen Blick in den kleinen Wandspiegel mit dem verschnörkelt geschnitzten Holzrahmen. Ihre Frisur war leicht zerzaust; windig war es gewesen, als sie auf dem Markt eingekauft hatte. Einzelne Strähnen ihres dunklen Haars hatten sich gelöst, einige widerspenstige Löckchen kringelten sich über die Stirn. Aber was machte es, sie war schließlich alleinstehend und würde heute Abend nicht mehr hinausgehen.

Josephine war nie zufrieden mit ihrem Äußeren, ihr Gesicht war zu grob, zu kantig, der Wuchs der Augenbrauen zu stark, egal wie sehr sie daran zupfte. Außerdem hatte sie Schlupflider.

Seufzend wandte Josephine den Blick vom Spiegel ab, nahm das Tuch von der Remington-Schreibmaschine und spannte ein Blatt Papier ein. Höchste Zeit, dass sie weiter an dem Krimi schrieb – der Abgabetermin rückte näher. In weniger als vier Wochen würde die Geschichte um einige Illustrationen ergänzt und als Heft gedruckt werden, wie man sie für wenige Pennys in Buchhandlungen, manchen Kaufhäusern und anderen Geschäften kaufen konnte.

Mit dem Schreiben hatte sie begonnen, als sie vor acht Jahren nach London gekommen war. Hier in der Stadt war sie auch auf die Heftromane aufmerksam geworden, die sich zunehmender Popularität erfreuten und die es fast an jeder Straßenecke zu kaufen gab. Eine ganze Zeit lang hatte sie einfach für sich geschrieben, sehr viel gelesen und Schreibübungen gemacht. Wie lange war das schon her … Vor vier Jahren hatte sie sich schließlich getraut, einen Krimi und einen Liebesroman an einen Verleger zu senden. Die ersten Verlage hatten sie abgelehnt, aber sie hatte sich nicht entmutigen lassen und schließlich war sie bei Bostwick & Sons gelandet. Was sie seitdem in Serie produzierte, war nicht gerade anspruchsvolle Literatur. Stattdessen eher reißerische, aber hoffentlich auch unterhaltsame Kriminalgeschichten und gelegentlich auch romantische Liebesschnulzen. Mindestens ebenso gefragt waren Schauergeschichten mit übernatürlichen Wesen und unerklärlich-mysteriösen Vorkommnissen – bezeichnenderweise hießen die entsprechenden Heftromane Penny Dreadfuls1. Auch das schrieb sie mittlerweile von Zeit zu Zeit, wenn Mister Bostwick sie damit beauftragte.

Josephine wägte jeden Satz kurz ab, ehe sie ihn mit den Tasten der Remington-Schreibmaschine in das Papier hämmerte. Sie musste Papier sparen, konnte es sich nicht leisten, Seiten zu verwerfen und neue in die Maschine zu spannen.

 

„Das Mordopfer ist ledig und nach der Aussage ihrer Nachbarin dreißig Jahre alt, Sir”, erklärte der Constable.

„Eine alte Jungfer also … Hat sie Verwandte?”, fragte Detective Inspector Gleeson.

 

Josephine hielt inne. Sie selbst war ebenfalls eine alte Jungfer mit ihren dreißig Jahren. Aber sie hatte nie die Absicht gehabt zu heiraten und war froh darüber, mit den Geschichten für Bostwick & Sons mittlerweile ihren Broterwerb bestreiten zu können. Und ihre Verwandten … nein, lieber nicht an sie denken. Es war zu schmerzhaft.

 

„Nein, Sir, keine lebenden Verwandten. Sie war alleinstehend. Die Nachbarin will beobachtet haben, dass sie häufig Herrenbesuch hatte, was natürlich verboten ist.“

„Ein leichtes Mädchen?“, schaltete sich der Arzt Dr. Parsons ins Gespräch ein, der für gewöhnlich die Leichen untersuchte. „Mit dreißig wäre sie dafür schon recht alt gewesen. Aber wenn Sie mich fragen, sie sieht jünger aus. Sehen Sie nur, die Gesichtshaut ist zart und ebenmäßig. Was man auch vom Rest sagen kann. Hat sich gut gehalten.“ Parsons schnitt eine Grimasse. „Für ihren allerletzten Liebhaber.“

„Wie meinen Sie das?“ Gleeson runzelte die Stirn.

„Nichts für ungut, Detective Inspector, das sollte ein Scherz sein. Sie hat sich gut gehalten für den Tod, meinte ich.“

‚Immer diese Ärzte mit ihrem schwarzen Humor‘, dachte Gleeson bei sich und strich sich über den Backenbart.

 

Gelegentlich fantasierte Josephine darüber, einen Krimi mit einer weiblichen Heldin zu schreiben. Als sie ihrem Verleger vor einiger Zeit diese Idee präsentiert hatte, hatte sie einen amüsierten Blick von ihm geerntet.

 

***

 

„Eine weibliche Heldin auf Verbrecherjagd?” Mister Bostwick, ein Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haar, gab ein glucksendes Geräusch von sich. “Nein, nein, das schlagen Sie sich lieber aus dem Kopf. Verbrechensbekämpfung gehört nun mal in männliche Hände. Und überhaupt, wie soll das denn gehen?” Er wartete keine Antwort von ihrer Seite ab. „Die meisten unserer Leserinnen sind verheiratet, oder zumindest schon verlobt. Viele haben auch schon Kinder. Keine verheiratete Frau würde sich jemals als Detektivin betätigen können. Schließlich müssen sie sich darum kümmern, ihren Ehegatten ein schönes Heim zu bereiten und sich um die Kinder kümmern.” Er bedachte sie mit einem fast väterlichen Lächeln, aber immerhin hätte er tatsächlich ihr Vater sein können. „Setzen Sie unseren Leserinnen keine Flausen in den Kopf, meine Liebe. Außerdem wäre eine solche Arbeit doch viel zu gefährlich für eine Dame, das muss ich Ihnen doch nicht erzählen.”

Mister Bostwick wusste, dass sie keine gewöhnliche Frau war, er hatte es ihr gleich bei ihrem ersten Treffen angemerkt, denn sie war heiser gewesen und ihre tiefere Stimmlage hatte sie verraten.

„Miss Murray, Sie schreiben gut”, sagte er nun. „Das ist es, was am Ende des Tages für mich zählt. Ihre Geschichten finden eine Menge Leser. Ihre genauen Lebensumstände sind für mich nicht relevant. Schließlich sind Sie keine Person des öffentlichen Lebens. Und dank des Pseudonyms J. Murray wissen unsere Leser noch nicht einmal, ob Sie ein Mann oder eine Frau sind – und das brauchen sie auch nicht zu wissen. Zumal Krimis und Schauergeschichten eher gelesen werden, wenn der Autor ein Mann ist, wie ich Ihnen ja bereits sagte.”

Was für eine Erleichterung, dass ihrem Arbeitgeber ihr Geschlecht gleichgültig war und er sie allein an ihrer Arbeit beurteilte. In der Vergangenheit hatte sie deswegen oft Schwierigkeiten bekommen. Trotzdem, eines hatte sie sich fest vorgenommen: Irgendwann einmal würde ihr voller Name auf einem Buchtitel stehen.


1 Die Heftromane dieser Zeit kosteten oft nur einen Penny. Dreadful = englisch für “gruselig” oder “schrecklich”

2

 

Montag, 10. Juni 1889

 

Hammersmith war ein recht durchmischter Stadtteil; in ihrer Nachbarschaft wohnten einfache Leute aus der Arbeiterklasse – Handwerker, Fabrikarbeiter, Bauarbeiter und dergleichen. Viele von diesen machten sich für die Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und dergleichen stark - das merkte sie immer wieder an den öffentlichen Aushängen, die zu Gewerkschaftsveranstaltungen und ähnlichen Treffen einluden. Andere Bereiche des Stadtteils wurden eher von traditionell eingestellten Bürgerlichen bewohnt, wie auch das nahegelegene Kensington.

Der Ravenscourt Park am nordwestlichen Ende des Stadtteils war nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, er brachte ein wenig Grün in das Grau der Umgebung. Meistens waren hier nicht viele Leute unterwegs, denn die Arbeiter schufteten von früh morgens bis spät abends, und die Bürgerlichen zog es wohl eher nach Kensington und in den größeren Hyde Park weiter östlich. Deshalb konnte sie hier die beschauliche Ruhe im Grünen genießen, während sie beim Spazierengehen dem Gesang der Vögel lauschte und neue Ideen für Geschichten ersann.

An diesem Tag hatte es sie in die Fleet Street im Temple-Bezirk verschlagen, der von Hammersmith rund sechs Meilen entfernt war. Dort hatte sie eben ihrem Verleger den fertigen Krimi abgeliefert, einen Packen Papier in einer Mappe. Vielleicht würde er noch Änderungen verlangen, aber dann würde er sich melden.

Die Fleet Street war das Pressezentrum der Stadt. Alles, was in dieser Branche Rang und Namen hatte, war hier ansässig — Zeitungen, Druckereien und Verlage. Sie schätzte, jeder Zweite hier war entweder ein Verleger, ein Journalist oder ein Autor. Manche von ihnen erkannte man unschwer an den Tintenflecken an den Händen, die mitunter recht hartnäckig waren und sich nicht leicht abwaschen ließen.

Sie erinnerte sich an das erste Gespräch mit Mister Bostwick. Bis zum Hals hatte das Herz ihr geklopft, als der Mann mit dem grau melierten Vollbart sie prüfend musterte, während sie sich ihm mit heiserer, rauer Stimme vorstellte. Schließlich hatte er ihr einfach zugenickt. „Es freut mich, dass wir uns heute persönlich kennenlernen. Ihre beiden Manuskripte haben mir gefallen, sie sind für unseren Verlag geeignet. Noch etwas Feinschliff, und sie sind druckreif. Bis wann können Sie die Texte überarbeiten? Die Anmerkungen habe ich in roter Tinte dazu geschrieben.”

Was für ein Stein war ihr damals vom Herzen gefallen, als er mit ihr die Bedingungen des Vertrages besprochen hatte. Die Zusammenarbeit hatte sich als lohnend erwiesen und sie wollte den Verlag nicht missen, der ihr ihren Lebensunterhalt sicherte. Zwar lebte sie in bescheidenen Verhältnissen, aber immerhin hatte sie mehr Freiheiten als eine verheiratete Frau sie gehabt hätte, denn als solche hätte sie wohl nicht mehr arbeiten dürfen. Ein Leben ohne Schreiben, ohne Geschichten zu ersinnen? Das konnte sie sich inzwischen nicht mehr vorstellen.

Sie schlenderte die vornehme Temple Avenue hinunter bis zur Themse, von dort wollte sie zur Station „Temple” und mit der Inner Circle Bahn stadteinwärts fahren, dann umsteigen in die Metropolitan Railway, die sie bis nach Hammersmith weiter im Westen bringen würde.

Die hölzernen Waggons der Underground wurden mit Gas beleuchtet, allerdings wurde in den Abteilen der dritten Klasse an Lampen gespart. In diesem Zwielicht saßen an diesem Abend Männer in Arbeitskluft. Ihre Gesichter wirkten grob – oder vielleicht lag es auch an den Schatten im Abteil — die Hände und Kleidung verschmutzt, vielleicht von Bauarbeiten oder Fabrikarbeit. Dazwischen eine verhärmt wirkende Frau mit vier Kindern, alle in ärmlicher Kleidung und mit Rotznasen. In der stickigen, warmen Luft im Abteil roch es nach Schweiß und Maschinenöl. Jedes Mal, wenn der Zug bremste, ging ein scharfer Ruck durch das Abteil, so dass sie sich an der Lehne der hölzernen Bank festhalten musste, um nicht vom Sitz zu fallen.

In Hammersmith angekommen, dämmerte es bereits und sie beschleunigte ihre Schritte. Vor einem etwas heruntergekommenen Pub, der gern von Arbeitern frequentiert wurde, stieß sie mit jemandem zusammen und sah überrascht auf.

Sie erblickte eine Frau, ungefähr in ihrem Alter, mit einem Strohhut und Stoffblumen darauf, mit aschblondem Haar und einem auffällig großen Muttermal am rechten Mundwinkel. Ein schwacher Duft nach Veilchen umgab sie, vermutlich ein Parfüm der günstigen Sorte. Josephine wollte sich gerade für das Anrempeln entschuldigen, als hinter ihnen ein schmieriges “He, Missus!” erklang.

Im nächsten Moment wallte ihr der saure Geruch von Bier entgegen. Auch das noch. Ein Betrunkener, der hinter der Dame stand; ein unansehnlicher grobschlächtiger Kerl mit zerzauster Frisur und roter Nase.

„Was wollen Sie von der Dame?”, fragte sie ihn.

„Das geht Se gar nix an, Miss!” lallte der Mann und grapschte nach dem Arm der aschblonden Frau. Josephine fühlte Wut in sich aufsteigen; dieses despektierliche Verhalten wollte sie nicht hinnehmen. Was fiel diesem Kerl ein?

„Lassen Sie mich los!”, rief die Dame – sie schien zwischen Angst und Verärgerung zu schwanken. Doch der Betrunkene hielt sie weiter fest. Josephine hätte ihm am liebsten einen Kinnhaken verpasst, aber das wollte sie sich doch lieber für den Notfall aufheben. Vielleicht war eine andere Taktik hier klüger…

„Und ob mich das was angeht, die Dame hier ist nämlich meine Nachbarin. Kommen Sie, meine Liebe. Sie wollten mir doch noch von dem neuen Geschäft auf dem Markt erzählen, Sie wissen schon, das mit den Kurzwaren und den hübschen Stoffen, von denen Sie so geschwärmt haben.” Sie sprach immer weiter im Plauderton und hakte sich bei der Dame unter. Verwirrt ließ der Kerl die blonde Dame los, trat aber nicht zur Seite.

„Ja ... das stimmt”, sagte die Frau nun nach einigem Zögern. „Vielleicht können wir dort einmal zusammen hingehen, es ist auch nicht allzu teuer, und die Stoffe sind wirklich schön.”

Josephine sagte zu dem Betrunkenen: „Einen schönen Abend noch, Sir.”

Die Höflichkeit schien ihm jeden Wind aus den Segeln zu nehmen. Er tippte an seine Mütze und erwiderte den Abschiedsgruß.

Sie ging ein paar Schritte untergehakt mit der Dame, ehe sie sich von ihr löste. „Verzeihen Sie, aber es erschien mir ein einfacher Weg, diesen Herrn wieder loszuwerden.”

Das Lächeln ihres Gegenübers zauberte im Licht einer Straßenlaterne zwei Grübchen auf ihre Wangen. „Danke, dass Sie mir zur Rettung geeilt sind”, sagte sie.

„Ich bin mir sicher, Sie wären den Kerl auch ohne meine Hilfe wieder losgeworden.”

„Ich weiß nicht. Manche Herren können ziemlich hartnäckig sein, vor allem, wenn sie … einen im Tee haben.”

„Wem sagen Sie das?”, fragte Josephine. Mit dieser Sorte Mann hatte sie in der Vergangenheit selbst schon Bekanntschaft geschlossen und es hatte ihr ganz und gar nicht gefallen. „Soll ich Ihnen noch Gesellschaft leisten auf Ihrem Weg nach Hause?”

„Das würde mich freuen, nach diesem Schreck. Aber was war das für ein Kurzwarengeschäft, von dem Sie sprachen? Sie haben mich neugierig gemacht.”

Josephine lachte. „Ach, das. Das habe ich frei erfunden.”

Die blonde Dame blieb stehen. „Oh. Einfach so?”

„Wissen Sie, ich bin Schriftstellerin. Ich bin es gewohnt, mir etwas aus den Fingern zu saugen.”

Ihre Begleiterin lächelte zögernd. „Ah, ich verstehe. Da habe ich ja Glück gehabt, dass Sie gerade vorbei kamen. Darf ich mich vorstellen? Constance Blackmore.”

„Sehr erfreut, Miss Blackmore. Oder Mrs? Ich bin Miss Josephine Murray.”

„Ich bin nicht verheiratet. Eine alte Jungfer, wenn Sie so wollen.”

„Dann haben wir etwas gemeinsam”, erwiderte Josephine. Miss Blackmore wurde ihr allmählich sympathisch. Sie hätte ihr gern noch mehr Fragen gestellt, zum Beispiel warum sie nicht verheiratet war, aber Josephine wollte nicht neugierig erscheinen und es war unhöflich, eine neue Bekanntschaft gleich mit Fragen zu überhäufen.

Sie schlenderten die Ravenscourt Road hoch, am gleichnamigen Park entlang. „Wussten Sie, dass hier vor kurzem im Ravenscourt House die erste öffentliche Bibliothek von Hammersmith eröffnet worden ist?”, wandte sie sich an Miss Blackmore.

„Nein, das war mir neu. Das ist für Sie als Autorin gewiss interessant?”

„Ja, aber ich habe noch nicht die Zeit gefunden, der Bibliothek einen Besuch abzustatten.”

In der Paddenswick Road hielt Miss Blackmore vor einem Haus mit einer verwitterten Haustür an, deren blauer Anstrich an mehreren Stellen abblätterte. „Hier wohne ich. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Miss Murray.”

„Mich ebenfalls.” Josephine überlegte. „Warten Sie einen Moment.” Sie öffnete ihre Handtasche, kramte kurz darin herum und zog eine Karte heraus. Ein paar davon hatte sie stets dabei, handbeschrieben mit ihrer Adresse.

Diese Frau war ihr sympathisch und wer wusste, was sich aus dieser Zufallsbekanntschaft ergeben mochte. „Wenn Sie einmal Hilfe bei etwas benötigen, oder sich einmal mit mir treffen möchten, schreiben Sie mir gern.”

Ihre Hand zitterte. Warum war sie mit einem Mal so nervös? Ganz kurz streiften sich ihre Finger, als Miss Blackmore die Karte mit einem Lächeln an sich nahm. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, darauf komme ich gern zurück. Wissen Sie, ich wohne noch nicht lange in Hammersmith und kenne hier nicht allzu viele Leute.” Die Berührung fühlte sich angenehm an. Viel zu schnell verging dieser Augenblick. Eine einzelne Locke kringelte sich aus dem aschblonden Haar in die Stirn von Miss Blackmore. Das stand ihr gut, denn so wirkte die Frisur weniger streng. Josephine rief sich innerlich zur Ordnung - sie musste sich zwingen, Miss Blackmore nicht anzustarren. „Es würde mich freuen, Sie wiederzusehen. Einen schönen Abend.”

„Danke, Ihnen auch.” Miss Blackmore schloss die Haustür auf, winkte ihr noch einmal zu und verschwand im Haus.

Auf dem Heimweg malte Josephine sich ein Wiedersehen mit ihrer neuen Bekannten aus.

3

 

Mittwoch, 19. Juni 1889

 

„Wenn ich es Ihnen doch sage, Sir, das Opfer ging in einem dieser Häuser anschaffen”, erklärte Constable Blacksmith.

„Aber gestern sagten Sie doch, die Nachbarin hätte beobachtet, dass sie Herrenbesuch hatte? Was denn nun?”

„Ich hab noch mal mit anderen Leuten aus der Straße gesprochen. Einer von denen sagte mir, er hätte sie in ein Freudenhaus gehen sehen, hinter der Spitalfields Markthalle.”

„In welcher Straße, Constable?”

„Wilkes Street, Sir.”

„Ist diese Angabe korrekt? Können Sie mir etwas über dieses Bordell sagen?”

„Hatte noch nichts mit den Leuten da zu tun. Aber das Bordell wird in einem dieser Nachtleben-Guides erwähnt.”

„Ah, verstehe.” Detective Inspector Gleeson wusste, dass die Prostitution für manch armes Mädchen und manch junge Frau die einzige Alternative zu einem Hungerlohn war, den viele von ihnen in den Fabriken, in Schneidereien oder als Dienstmädchen erhielten. Natürlich eine höchst unmoralische, unsittliche Tätigkeit, doch zugleich eine, die in der Metropole immer noch heiß begehrt war, so dass es sogar ausführliche Guides über das Nachtleben gab, in denen Bordelle aufgelistet und manche der Huren sogar persönlich vorgestellt wurden. Das war zwar anrüchig, doch auf der anderen Seite erleichterten diese Guides den Polizeibeamten und Ermittlern der Metropolitan Police gelegentlich die Arbeit.

 

Josephine schaute zu dem Nachtleben-Guide herüber, der als Recherchematerial auf ihrem Tisch lag. Nach außen hin wirkte das Buch unscheinbar, es hätte auch einfach ein Roman sein können. Das Innere dagegen hatte es in sich, denn das Buch enthielt nicht nur ausführliche Informationen über die respektablen und weniger respektablen Seiten des Londoner Nachtlebens, sondern war um zahlreiche anzügliche Illustrationen ergänzt worden, die auf manche Leute sicherlich erregend wirkten. Josephine trieben sie eher die Schamesröte ins Gesicht.

Sie wollte sich gerade weiter in die Ermittlungen des Detective Inspectors in ihrem Krimi vertiefen, als ein Klopfen an der Tür erklang. Vielleicht der Vermieter? Aber nein, sie hatte die Miete für diese Woche doch schon bezahlt. Sie sah auf ihre Taschenuhr: Sechs Uhr, ein wenig spät für einen Besucher ohne eine Verabredung.

Ein Blick in den Spiegel … ihre Frisur saß noch relativ gut. Eben war sie von einem Besuch auf dem Markt zurückgekehrt und hatte den Hut abgelegt. Sie griff nach dem Nachtleben-Guide und legte ihn in eine Schublade des Schreibtischs. Danach stand sie auf und ging zur Tür. Zu ihrer Überraschung stand Miss Blackmore vor ihr, in einem türkisblauen Kleid und einem dunkelblauen Hut mit einer weiten Krempe, der auf ihrer Hochsteckfrisur saß. Das Türkisblau passte hervorragend zu ihren blonden Haaren.

„Oh, guten Abend, Miss Blackmore.”

„Guten Abend, Miss Murray. Bitte verzeihen Sie die Störung zu so später Stunde, ich hätte Ihnen eine Nachricht geschrieben, aber es ist … ach, es ist kompliziert. Dürfte ich vielleicht hereinkommen? Ich möchte das ungern hier zwischen Tür und Angel erklären.”

„Gewiss. Kommen Sie.” Josephine bat sie mit einer einladenden Geste herein. „Ich wollte ohnehin gerade einen Tee machen. Bitte, nehmen Sie Platz.” Sie wies auf einen der beiden Sessel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Aber er war noch immer bequem. Sie ging hinüber in die Kochnische, füllte Wasser aus der Kanne in den Teekessel.

„Haben Sie gut hierher gefunden?”

„Ja, danke, Sie wohnen ja in der Nähe des Marktes, es war nicht schwer.”

Josephine nahm das kleine Tablett, stellte Teetassen darauf. „Ich fürchte, ich habe keine Milch im Haus. Nehmen Sie Zucker zum Tee?”

„Gern.”

Josephine sah zu Miss Blackmore hinüber, während sie etwas Zucker aus der Vorratsdose in eine Schale füllte. Ihre Besucherin knetete die behandschuhten Finger im Schoß, zog die Handschuhe aus, knüllte sie zwischen den Fingern, als ob sie sich an etwas festhalten müsse. Dazu die sorgenvolle Miene …

Josephine brannte insgeheim darauf zu erfahren, was Miss Blackmore zu ihr führte. Aber sofort danach zu fragen, war undenkbar – viel zu unhöflich. Lieber erst einmal über das Wetter plaudern, das war immer ein guter Beginn für ein Gespräch mit Bekannten. Sie schenkte ihrem Gast Tee ein. Mit gezierten Bewegungen ihrer schlanken Finger rührte sich Miss Blackmore etwas Zucker in das Getränk. Josephine mochte ihren Tee schwarz und ungesüßt, was praktisch war, weil sie so nicht täglich Milch brauchte und sich den Zucker für Gäste aufheben konnte. „Es ist ziemlich stürmisch heute, nicht wahr?”, fragte sie ihren Gast.

„Ja, schon wieder ein Sturm”, erwiderte Miss Blackmore. „Man sollte meinen, der Herbst ist schon da. Ich musste meinen Hut draußen festhalten, obwohl ich ihn ja mit Haarnadeln fixiert habe.” Sie deutete auf ihre Tasse. „Der Tee ist ganz köstlich.”

„Leider kann ich Ihnen kein Gebäck dazu anbieten.”

„Ich bitte Sie, ich bin ja einfach ganz unangemeldet hier hereingeplatzt. Es ist … wissen Sie, ich arbeite seit kurzem bei einem Schneider hier in Hammersmith und habe hier auch eine Wohnung gefunden. Ich teile sie mir mit meinem jüngeren Bruder, der froh ist, dass er auch von zu Hause ausziehen konnte. Unser Vater ist …” Ihr Gesicht verdüsterte sich bei diesen Worten. „Er ist schwierig. Aber abgesehen von meinem Arbeitgeber, meinen beiden Kolleginnen und meinem Vermieter kenne ich hier fast niemanden. Und ich habe lange Arbeitszeiten, also komme ich nicht viel unter Leute, außer natürlich Kundinnen und Kunden, die zu uns in den Laden kommen. Heute habe ich mir Arbeit mit nach Hause nehmen dürfen, deshalb konnte ich früher gehen.” Sie trank einen Schluck Tee und sah Josephine direkt an. „Sie waren neulich so freundlich zu mir, als mich dieser Kerl vor dem Pub belästigt hat…”

Josephine winkte ab. „Das habe ich gern gemacht.”

„Danke. Wissen Sie, um es frei heraus zu sagen: Ich mache mir Sorgen um meinen Bruder. Eddy arbeitet beim Telegraphenamt als Telegrammbote, und bisher war auch alles in Ordnung. Ich meine, er steht zeitig auf und erledigt seine Arbeit gut, zumindest nach dem, was er mir bisher berichtet hat. Aber in den letzten paar Wochen war er oft bis spät nachts unterwegs. Ich bin aufgewacht, als er zurückgekehrt ist und sich in sein Zimmer verdrückt hat. Mal war er erst um Mitternacht zu Hause, manchmal sogar noch später, und das unter der Woche!” Sie nippte am Tee, ehe sie fortfuhr. „Und am nächsten Morgen war er immer müde und griesgrämig, ganz wortkarg. Ich habe mich nicht getraut, ihn zur Rede zu stellen, was er nachts treibt, aber ich mache mir Sorgen, dass er in schlechte Gesellschaft geraten ist. Oder seinen Lohn in irgendwelchen Pubs vertrinkt.”

„Wie alt ist Ihr Bruder, wenn ich fragen darf?”

„Er ist siebzehn. Aber er sieht jünger aus, eher wie fünfzehn.”

„Und wie lange geht das schon so, dass er nachts lange unterwegs ist?”

Miss Blackmore zuckte mit den Schultern. „Ich habe mir das Datum nicht gemerkt, aber ich schätze, seit drei Wochen. Er ist nicht jede Nacht unterwegs, aber doch zwei, dreimal in der Woche. Jeden Freitag, das ist mir aufgefallen.”

Josephine überlegte einen Moment, ehe sie antwortete. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich Ihnen weiterhelfen könnte. Sprechen Sie doch einfach mal mit ihm.”

„Ich fürchte, wenn ich das mache, denkt er sich irgendetwas aus. Er findet sowieso, dass ich ihn zu sehr bemuttere. Unsere Mutter ist gestorben, als wir beide noch klein waren. Typhus.” Ein Schatten flog über Miss Blackmores Gesicht und sie senkte den Blick.

Das war gewiss nicht einfach gewesen für die beiden Geschwister. Vor allem, wenn der Vater, wie Miss Blackmore angedeutet hatte, einen schwierigen Charakter hatte. „Das tut mir leid für Sie”, sagte Josephine.

„Danke”. Miss Blackmore sah wieder auf, griff nach der Teetasse. „Es ist so lange her. Und seit damals habe ich mich um meinen Bruder gekümmert, ich bin ja acht Jahre älter als er. Eddy würde viel lieber allein wohnen, aber sein Lohn reicht dafür nicht aus. Noch nicht, hoffentlich später, wenn er befördert wird.”

„Ich verstehe. Aber was hat er Ihnen denn gesagt, wo er abends hingeht?”

„Er behauptet, er treffe sich mit Kollegen, mit anderen Telegrammboten”, erwiderte Miss Blackmore.

„In einem Pub, vermutlich?”

„Dagegen lässt sich ja nichts einwenden, es sei denn, er würde dort seinen Lohn vertrinken und könnte die Miete nicht mehr bezahlen. Aber das allein kann es nicht sein, denn die Pubs haben schließlich abends ihre Sperrstunde, zu der sie die Gäste hinauskomplimentieren. Und die ist ja spätestens um zehn oder elf Uhr abends. Aber er kann sich doch nicht stundenlang danach irgendwo mit seinen Kollegen herumtreiben.” Sie stellte die Teetasse wieder auf dem Tisch ab, knüllte ein weiteres Mal die bereits zerknitterten Handschuhe in ihrem Schoß zusammen und sagte ohne aufzusehen: „Sie sagten mir neulich ja, wenn ich bei etwas Hilfe benötige, könne ich mich an Sie wenden.” Ein direkter Blick aus hellblauen, glänzenden Augen. „Deshalb wollte ich Sie um etwas bitten: Würden Sie meinem Bruder an einem Freitag unauffällig folgen, wenn er abends unsere Wohnung verlässt? Ich würde Sie natürlich für Ihren Zeitaufwand bezahlen … oder ich könnte Ihnen im Gegenzug etwas maßschneidern.”

Josephine setzte zu einer Antwort an, doch Miss Blackmore sprach bereits weiter. „Sehen Sie einfach, wohin er geht und berichten es mir dann, das würde mir schon weiterhelfen. Zumindest hoffe ich das.”

„Hmm, das klingt eher nach Arbeit für einen Privatdetektiv…”

Miss Blackmore strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. „Ich muss gestehen, ich habe tatsächlich daran gedacht, einen Detektiv damit zu beauftragen. Ich habe mit zwei verschiedenen gesprochen. Aber deren Preise konnte ich mir nicht leisten.”

Josephine überlegte, ob sie für einen solchen Auftrag Zeit finden würde. Wenn es nur ein Tag war, sicherlich. Ihr Schreibpensum würde sie trotzdem schaffen.

Die Aussicht auf etwas Maßgeschneidertes war allerdings interessant für sie. Schon länger hatte sie Probleme, passende Kleider für ihre Größe zu finden, denn mit ihren mehr als 5,8 Fuß überragte sie die meisten Damen, die eher 5,5 Fuß oder kleiner waren.

„Ich kann gern einen Tag meiner Zeit für diese Angelegenheit opfern. Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen. Und ich muss gestehen, Ihr Angebot reizt mich. Wissen Sie, maßgeschneiderte Kleidung kann ich mir eigentlich nicht leisten, und meine eigenen Nähkünste sind bescheiden. Ich habe einmal versucht, kleinere Kleidung durch zusätzliche Rocksäume und weitere Änderungen an meine Größe anzupassen, bin aber kläglich gescheitert. Und seit die Tournürenmode1 nicht mehr en vogue ist, muss ich doch einiges ändern lassen. Also von daher … sehr gern.” Sie lächelte. Die Aussicht auf ein maßgeschneidertes Kleid war nicht der einzige Grund, warum dieser Auftrag sie interessierte. Miss Blackmore war ihr sympathisch. Und das war noch nicht alles. „Abgemacht, ich versuche mich für Sie als Privatdetektivin. Das wird eine neue Erfahrung für mich. Und wer weiß, vielleicht inspiriert es mich ja für weitere Kriminalgeschichten.”

„Ich danke Ihnen.” Miss Blackmore lächelte nun ebenfalls. „Vielleicht ist die Antwort, was mein Bruder nachts treibt, ja auch ganz harmlos. Zumindest hoffe ich das.”

Josephine wollte ihrer neuen Bekannten keine falschen Hoffnungen machen. „Wir werden sehen“, erwiderte sie deshalb nur. „Haben Sie vielleicht eine Abbildung von Ihrem Bruder oder können Sie ihn mir beschreiben?”

Miss Blackmore öffnete ihre Handtasche und holte eine kleine gerahmte Ambrotypie2 heraus. „Das Bild ist schon etwas älter”, erklärte sie. „Aber es sieht ihm noch recht ähnlich.”

Drei Gestalten befanden sich im Bild: Eine etwas ängstlich wirkende Constance stand neben einem ernst dreinblickenden Jungen von vielleicht vierzehn Jahren. Im Gegensatz zu seiner Schwester hatte Eddy dunkleres Haar und ein hageres, längliches Gesicht, womit er dem älteren Mann glich, der auf der rechten Seite zu sehen war. Was für ein verkniffener Gesichtsausdruck war diesem zu eigen. Ob es an der langen Belichtungszeit lag, die für solch ein Bild notwendig war? Die idyllisch-heitere gemalte Landschaft im Hintergrund wollte nicht recht zu diesem ernsten Familienbild passen.

Josephine nickte ihrem Gast zu. „Danke. Ich schätze, ich werden Ihren Bruder wiedererkennen.”

Hoffentlich konnte sie Miss Blackmore weiterhelfen.


1 Modeerscheinung der 1880er Jahre, bei der sich die Röcke über dem Gesäß durch ein sogenanntes Tournürengestell bauschten, während es vorher kreisrunde Reifröcke gab. Diese Mode verschwand um 1889, danach verzichtete man auf die sperrigen Gestelle.

2 Vorläufer der Fotografie

4

 

Freitag, 21. Juni 1889

 

Wie verabredet harrte Josephine abends in der Nähe des Hauses mit der blauen Eingangstür in der Paddenswick Road aus, in dem die Blackmore-Geschwister lebten. Natürlich war es zu auffällig, direkt vor dem Gebäude herumzulungern, deshalb stand Josephine auf der gegenüberliegenden Straßenseite und tat so, als sei sie in die Betrachtung der Waren im Schaufenster eines Hutmachers vertieft: Zylinder, Ballonmützen aus grobem Tweed, aber auch ausladende Damenhüte mit weiten Krempen und allerlei Putz aus schimmerndem Stoff. Hin und wieder sah sie sich nach dem Haus um, denn es war bereits zu dunkel, als dass sie die Fensterscheibe des Hutgeschäfts wie einen Spiegel hätte nutzen können.

Passanten gingen an ihr vorüber; ein Mann in verdreckter Arbeitskleidung, eine Frau in einem graublauen Kattunkleid, die einen großen Korb trug. Eine weitere Frau kam mit einem halbwüchsigen Mädchen vorbei, später ein älterer Mann mit einer Brille.

Schließlich trat ein junger Mann durch die blaue Haustür. Das musste er sein: Das hagere, längliche Gesicht erkannte sie von der Abbildung wieder, die Miss Blackmore ihr gezeigt hatte. Es stimmte, er sah jung aus für seine siebzehn Jahre. Das Gesicht verbarg er halb unter einer Mütze. Er trug lässige, aber gepflegte Kleidung und hatte seine Schuhe so sehr poliert, dass sie glänzten.

Eddy Blackmore schien es eilig zu haben; mit raschen, energischen Schritten ging er die Straße entlang. Josephine folgte ihm auf der anderen Straßenseite. Er bog in die Station Hammersmith ein. Sie musste sich beeilen, um eine Karte zu kaufen und ihn gleichzeitig nicht aus den Augen zu verlieren. Er stieg in die District Line. Josephine fand noch einen Platz im gleichen Waggon der dritten Klasse.

In Paddington verlor sie ihn im Gewimmel der Leute, die nach ihrem Arbeitstag nach Hause strebten, fast aus den Augen. Eddy stieg um in die Circle Line. Der Waggon war voll, ihr blieb nichts weiter übrig, als sich in seiner Nähe hinzusetzen. Um ihm so wenig wie nur möglich aufzufallen, griff sie nach dem Groschenroman in ihrer Handtasche und vertiefte sich zum Schein in die Lektüre der Liebesschnulze. Ein, zwei Mal wagte sie einen Blick in seine Richtung. Er zupfte sich immer wieder am Kragen, schob seine Mütze herum und strich sich über einen nicht vorhandenen Bart. Warum war Eddy Blackmore so nervös?

Der Zug rumpelte nur schwach beleuchtet durch den dunklen Underground-Schacht, sie wurde dabei hin und her geschüttelt. Dennoch starrte sie auf den Groschenroman, als würde sie ihn lesen, obwohl es dazu in diesem Abteil nicht hell genug war. Um sie herum saßen und standen Arbeiter mit schlammverschmierten Schuhen, Frauen und Kinder, dazwischen auch ein angeleinter Hund, der leise winselte. Im Waggon vermischten sich die Ausdünstungen der Menschen mit einem Geruch nach Leder, heißem Metall, Rauch und Ruß. Die weißhaarige Frau neben ihr umgab ein starker Duft nach Lavendel. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Miss Blackmores Bruder, während sie weiter vorgab zu lesen.

Eddy verließ den Zug in der Station Great Portland Street. Rasch stand Josephine auf, beim Aussteigen verhedderte sie sich mit dem Rocksaum in der Tür. Erschrocken hörte sie, wie der Stoff riss. Was für ein Ärger, aber darum würde sie sich später kümmern müssen. Zum Glück war der Riss nicht allzu lang und würde nur einem aufmerksamen Beobachter auffallen.

Wo war der junge Blackmore abgeblieben? Hektisch sah sie sich um, konnte seine Ballonmütze aber nirgends entdecken. In der Station waren noch einige andere Männer mit solchen oder ähnlichen Kopfbedeckungen unterwegs, was ihre Suche erschwerte.

Da, an der Eingangstür! Er hatte die Mütze abgenommen. Sein Haar war dunkler als das seiner Schwester, wenn auch nicht so dunkel wie Josephines. In diesem Moment sah er direkt in ihre Richtung, seine Augen bohrten sich direkt in ihre. Mist, sie hatte nicht aufgepasst. Rasch wandte sie den Blick ab, tat so, als würde sie sich mit dem Verschluss ihrer Handtasche abmühen. Als sie wieder aufsah, war er verschwunden.

Hastig verließ sie die Eingangshalle der Underground Station, sah sich draußen um und entdeckte ihn gerade noch, ehe er hinter einer Straßenbiegung verschwand. Aber sie kannte sich hier nicht aus. Wohin war er unterwegs?

Diese Gegend hier, in der ihr vor allem Wohnhäuser und vereinzelt auch Geschäfte auffielen, war mindestens vier Meilen von Hammersmith entfernt. Wollte er sich hier mit Freunden treffen und einen Pub besuchen? Aber das Central Telegraph Office, in dem er arbeitete, lag noch weiter südlich von hier, in der Nähe der großen alten St. Paul’s Cathedral.

Alles nicht gerade in der Nachbarschaft der Great Portland Street, in der Eddy nun zielstrebig weiterging und sich weder nach links noch nach rechts umsah. Zum Glück waren hier noch Passanten unterwegs, so dass die Geräusche ihrer Absätze kaum auffielen, während sie sich bemühte, mit ihm Schritt zu halten, ohne zu sehr aufzuschließen.

Schließlich gelangten sie in eine breitere Straße, doch dieser folgte Eddy nicht lange, sondern bog schon bald nach rechts ab. Josephine sah ein Schild an einer Hauswand: „Cleveland Street“. Wie lange würde Eddy denn noch zu Fuß unterwegs sein? Sie schaute sich um. Diese Straße sah nach Mittelklasse aus: einzelne Geschäfte, Läden, Wohnhäuser, nichts Vornehmes. Vor einem Haus weiter unten in der Straße blieb Eddy plötzlich stehen. Direkt gegenüber befand sich ein großes Krankenhaus, wie ein Schild zeigte — „Middlesex Hospital”. In der Dämmerung, die allmählich einsetzte, wirkte es ein wenig düster und wenig vertrauenerweckend, aber dieser Eindruck mochte täuschen.

Josephine war etwa hundert Yards1 von Eddy entfernt. Ein wenig Licht drang aus den Fenstern des vierstöckigen Gebäudes, vor dem er stand; es malte schmale, helle Flecken auf seine Gestalt, als er sich der Eingangstür näherte. Er klingelte und wartete. Jemand öffnete ihm die Tür, aber von ihrer Position konnte Josephine denjenigen nicht erkennen.

Einen Moment lang schien Eddy mit jener Person zu sprechen, dann verschwand er im Haus. Josephine wartete sicherheitshalber noch ein wenig. Doch Miss Blackmores Bruder kam nicht wieder heraus, ebenso wenig wie andere Leute. Vorsichtig kam sie näher. Sie musste sich unbedingt die Hausnummer merken. Cleveland Street Nummer 19.

Die Fenster ließen keine neugierigen Blicke zu — der schwache Lichtschein drang durch die Spalten schwerer Gardinen. Josephine betrachtete die Häuser links und rechts; eines lag vollständig im Dunkeln, die Fensterläden waren geschlossen. Offenbar stand es gerade leer. Das andere entpuppte sich durch ein kleines Schild im Vorgarten als ein Schwesternheim, gewiss für die Krankenschwestern des Middlesex Hospitals. Daneben waren mehrere Häuser offensichtlich abgerissen worden, aber auf einer der Flächen wurde wohl gerade neu gebaut, denn hier lag allerhand an Baumaterial und es gab eine tiefe Baugrube, vermutlich für den Keller des Hauses, welches hier geplant war.

Für Josephine gab es keine Möglichkeit, von hier aus unauffällig das Haus Nr. 19 zu beobachten. Hätte die Baustelle direkt an das Haus gegrenzt, vielleicht, aber so … Sie sah Licht in dem Schwesternheim. Wenn jemand aus dem Fenster sah, würde er sie hier stehen sehen; keine gute Idee, hier herumzulungern. Sie lauschte auf Geräusche aus dem Gebäude, in dem Eddy verschwunden war. Doch es drang nichts nach draußen. Was immer der junge Blackmore hier machte, würde an diesem Abend wohl sein Geheimnis bleiben. Aber immerhin hatte sie jetzt eine Adresse, die sie seiner Schwester nennen konnte. Nachdenklich wandte sie sich mit raschen Schritten in der einsetzenden Dämmerung heimwärts.


1 englisches Längenmaß, entspricht 0,9144 Metern

5

 

Sonntag, 23. Juni 1889

 

„Ich habe keine Ahnung, warum Eddy freitags in die Cleveland Street gehen sollte. Ob er dort Bekannte hat? Aber das kann ich mir nicht vorstellen, wen sollte er dort kennen?” Constance Blackmore zuckte mit den Achseln und nippte an dem Tee, den Josephine für sie beide an diesem Sonntagvormittag zubereitet hatte.

„Ich konnte leider nicht erkennen, mit wem er gesprochen hat. Und ich wollte nicht einfach bei einem fremden Haus klingeln – was hätte ich denen dort sagen sollen, ohne aufzufallen?”, erklärte sie ihrem Gast.

„Natürlich.” Constance machte einen verzagten Eindruck. Gedankenverloren strich sie über das Muttermal am Mundwinkel. Ein Makel, der ihr Gesicht nicht entstellte, sondern ihrem Mund vielmehr einen sinnlichen Zug verlieh. „Wissen Sie, die Arbeit als Telegrammbote ist für einen jungen Mann nicht ungefährlich in dieser Stadt. Ich meine, wie leicht kann man an zwielichtige Leute oder in schlechte Gesellschaft geraten?”

„Sie vermuten, das seltsame Verhalten Ihres Bruders könnte im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit stehen? Das könnte natürlich sein. Hegen Sie diesbezüglich eine bestimmte Vermutung?”

Constance stellte ihre Teetasse ab. „Ich weiß es ehrlich nicht. Eddy ist ein herzensguter Mensch, das müssen Sie mir glauben. Aber es sind doch auch schon ehrbare Leute vom rechten Weg abgekommen … Mein Bruder und ich verdienen beide nicht besonders gut. Es reicht so gerade eben für uns beide und die Miete, aber manches Mal wird es schon knapp mit dem Geld. Er wird pro zugestelltem Telegramm bezahlt. Das sind pro Woche zehn bis elf Shilling. Er hofft natürlich auf eine spätere Beförderung, zum Postbeamten. Aber das wird natürlich noch dauern.”

Josephine strich sich übers Haar. Alle möglichen mehr oder weniger kriminellen Aktivitäten fielen ihr ein, die einem Telegrammboten reizvoll erscheinen könnten, der mit so wenig Geld in der Woche auskommen musste: Taschendiebstahl. Illegales Glücksspiel. Riskante Wetteinsätze auf Pferderennen. Oder auch illegale Kämpfe aller Art. Boxen. Hahnenkämpfe. Schließlich fielen ihr die jungen Männer ein, die oft am Piccadilly Circus standen und Herren ansprachen.

Sie warf Constance einen raschen Blick zu. Alle diese Vermutungen wollte sie ihrem Gast gegenüber lieber nicht äußern. Noch nicht. Aber eines war ihr klargeworden: Ihre Neugier war geweckt. Sie selbst wollte wissen, was Eddy Blackmore trieb. Sie nahm Anteil an dem Leben dieser beiden. Josephine hatte noch nie still sitzen können, wenn jemand Hilfe brauchte. Außerdem hatte sie eine Schwäche für Rätsel. Aber ob sie dieses lösen konnte? „Ich werde mich einmal umhören, ob ich etwas herausfinde über dieses Haus in der Cleveland Street. Wer dort wohnt. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen.”

„Ich hatte gerade noch eine andere Idee. Würden Sie vielleicht meinen Bruder einmal …” Ihre Besucherin verstummte, zupfte an einer verirrten Haarsträhne. „Ach, es fällt mir schwer, es überhaupt zu sagen, ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen ihm gegenüber.”

Josephine schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Nur heraus damit.”

Miss Blackmore zögerte. „Würden Sie ihn einmal … bei der Arbeit beobachten? Beobachten, wo er hingeht und ob er sich vor oder nach der Arbeit mit jemandem unterhält, egal wer es ist?”

Das klang nach einer Menge Lauferei. Nicht, dass sie dem abgeneigt war, aber sie musste auch an ihr Schreibpensum denken. „Sie machen sich wirklich sehr große Sorgen um ihn, nicht wahr?”

Miss Blackmore verzog das Gesicht. „In der Tat. Er ist alles an Familie, was ich noch habe, wenn ich unseren Vater nicht mitzähle.”

Nach diesen Worten musste Josephine nicht mehr lange überlegen. „In Ordnung, ich beschatte Ihren Bruder bei seiner Arbeit. Aber ich kann noch nicht einschätzen, wie lange das dauern wird. Und parallel schaue ich, ob ich noch anderswo mehr über das Haus in der Cleveland Street herausfinden kann.” Sie empfand Mitgefühl mit ihrem Gegenüber, denn die Sorge um ihren Bruder stand Miss Blackmore deutlich ins Gesicht geschrieben. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, legte Josephine ihre Hand einen winzigen Moment lang auf die ihres Gastes. „Ich möchte Ihnen wirklich gern helfen, wenn ich kann.”

Miss Blackmore zuckte weder zurück noch nahm sie ihre Hand weg. Stattdessen lächelte sie und stieß ein kleines erleichtertes Seufzen aus. „Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen, Miss Murray. Wann hätten Sie denn Zeit für solch eine … wie sagt man? Beschattung?”

Josephine überlegte kurz. „Am Dienstag würde es mir gut passen.“

„Das freut mich. Ich habe übrigens ein Maßband mitgebracht und mein Notizbuch. Ich könnte heute Ihre Maße nehmen, damit ich mich später bei Ihnen mit einem maßgeschneiderten Kleid bedanken kann für Ihre Hilfe.“

„Sehr gern. Geht es denn so – mit der Kleidung, die ich trage?“

„Gewiss.“

Miss Blackmore holte ein langes aufgerolltes Band aus ihrer Tasche und notierte sich nach und nach Josephines Maße. Josephine wurde rot, als die Schneiderin ihre Brust ausmaß. Die zarte Berührung hinterließ ein Kribbeln auf der Haut unter der Bluse, ein Schauer lief ihr über den Rücken. Vermutlich lag es daran, dass sie sonst nie von anderen Menschen berührt wurde, außer beim Tanztee in Lady Thelmas Club. Sie war schon eine Weile nicht mehr dort gewesen.

„Welche Farbe soll das Kleid denn haben?”, fragte Miss Blackmore und rollte das Maßband auf.

„Zu welcher Farbe würden Sie mir raten?”

„Ein pastellfarbenes Lavendel-Lila würde Ihnen gut stehen, schätze ich. Oder ein Tauben-Blaugrau, das würde zu Ihren Augen passen. Ein dunkles Waldgrün wiederum würde sich auch gut manchen, denke ich.”

Sie unterhielten sich noch eine Weile über den Stoff und weitere Details des Kleides. Miss Blackmore zeigte ihr verschiedene Schnitte aus Modemagazinen und einige Stoffproben aus dem Laden, in dem sie arbeitete. Josephine genoss die Unterhaltung mit ihr sehr und konnte sich an den wundervollen Kleidern im Magazin kaum sattsehen.

Allerdings fragte sie sich, ob ihre „Ermittlungen” wohl dem Gegenwert einer solchen Maßanfertigung entsprachen.

 

*

 

Detective Inspector Gleeson sprach mit der Madam1 des Bordells, in dem das Opfer wohl des Öfteren tätig gewesen war. Er gab sich als Freier aus, denn niemand hier würde freiwillig mit der Polizei sprechen.

„Mir wurde Sophie von einem Bekannten empfohlen”, behauptete er. „Ist sie heute hier?”

„Nein, Sir, da muss ich sie enttäuschen. Sophie ist schon seit zwei Wochen nicht mehr hier gewesen.”

„Oh, warum das denn nicht?”, fragte er und gab seiner Stimme einen ehrlich enttäuschten Klang.

Die korpulente brünette Frau, deren überdimensionierte Brüste fast zur Hälfte aus dem Ausschnitt ihres schimmernden weinroten Kleides quollen, gab ein freudloses Lachen von sich. „Ach, wer weiß schon, was in den Köpfen dieser jungen Dinger vor sich geht? Vielleicht hat sie sich eine andere Arbeitsstelle gesucht oder will unabhängig von uns arbeiten.”

„Das ist sehr schade. Ich bin extra wegen ihr hierher gekommen”, erklärte Gleeson. „Wegen der Empfehlung meines Bekannten. Hatte Sophie denn Ärger hier?”

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht”, versetzte die Madam, die ihn nun argwöhnisch musterte.

„Ach, nichts für ungut, ich war nur neugierig.” Ob es helfen würde, wenn er mit einer der anderen Prostituierten sprach? Vielleicht konnte ihm eine von denen mehr über das unglückselige Mordopfer erzählen.

„Welches Ihrer Mädchen können Sie mir denn empfehlen?”, fragte er.

„Nun, das kommt ganz darauf an, was Sie für Vorlieben haben, Sir”, erwiderte die Madam mit einem anzüglichen Lächeln.


1 Historische englische Bezeichnung für eine Bordellbetreiberin

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752100945
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
queer viktorianisch London Krimi transgender trans lesbisch Historisch

Autor

  • Amalia Zeichnerin (Autor:in)

Amalia Zeichnerin ist das Pseudonym einer Hamburgerin Autorin. Amalia schreibt Phantastik, Historisches, Cosy Krimis und Romance, gern mit queeren Protagonist*innen und Diversität, denn die Welt ist bunt und vielfältig.
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Titel: Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Cleveland Street