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Der Stern des Seth

von Amalia Zeichnerin (Autor:in)
346 Seiten

Zusammenfassung

England, 1885. Lord Eavesfield erteilt einen Auftrag für eine Expedition: Ein Erfinder, ein Wissenschaftler, ein Archäologe, eine Journalistin und ein kriegsversehrter Sergeant sollen für ihn ein altägyptisches Artefakt finden – ausgerechnet im Sudan, der von einem Bürgerkrieg zerrüttet wird. Doch was für Pläne hat ihr Auftraggeber mit diesem Artefakt?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Über dieses Buch und die Autorin

Landkarte

Die Hieroglyphen des Seth

Dramatis Personae

Kapitel 1 - Eine Einladung aufs Land

Kapitel 2 - Im Eavesfield Mansion

Kapitel 3 - Die Séance

Kapitel 4 - Die Reise beginnt

Kapitel 5 - Eisenbahn und Schaufelraddampfer

Kapitel 6 - In den Tempeln am Berg Barkal

Kapitel 7 - Tech-Nomaden

Kapitel 8 - Das Artefakt

Kapitel 9 - Rätselhaft

Kapitel 10 - Wieder im Eavesfield Mansion

Kapitel 11 - Im Totenreich

Kapitel 12 - Die Jagd beginnt

Kapitel 13 - Im Tempel des Seth

Kapitel 14 - Sprengkraft

Kapitel 15 - Die Gedenkfeier

Nachwort und Danksagung

Impressum

Amalia Zeichnerin

Der Stern des Seth

 

Steampunk-Abenteuer-Roman

 

 

überarbeitete Neuauflage

© Amalia Zeichnerin 2018

 

Inhaltswarnungen zu diesem Roman

Gewalt gegen Tiere und Menschen, Ansätze einer posttraumatischen Belastungsstörung, Tod, Leichen

Über dieses Buch

England, 1885. Lord Eavesfield erteilt einen Auftrag für eine Expedition: Ein Erfinder, ein Wissenschaftler, ein Archäologe, eine Journalistin und ein kriegsversehrter Sergeant sollen für ihn ein altägyptisches Artefakt finden – ausgerechnet im Sudan, der von einem Bürgerkrieg zerrüttet wird. Doch was für Pläne hat ihr Auftraggeber mit diesem Artefakt?

 

Über die Autorin

Amalia Zeichnerin lebt mit ihrem Mann in der Hansestadt Hamburg. Sie schreibt vor allem Phantastik und Historisches. Amalia spielt gern Pen & Paper Rollenspiel und Liverollenspiel, außerdem schreibt sie gelegentlich Artikel für das deutsche Steampunk Online-Magazin „Clockworker“. Weiteres über ihre Bücher gibt es hier: https://amalia-zeichnerin.net/veroeffentlichungen/

Der Name des Seth in Hieroglyphen

(eine von mehreren Schreibweisen, aus dem Mittleren Reich,

ca. 2137 bis 1781 v. Chr.)

 

Dramatis personae

Hauptcharaktere

Immanuel Goldstein – ungarischer Erfinder und Ingenieur

Gemma Hawthorne – junge britische Journalistin

Doctor Frederic MacAlistair – britischer Wissenschaftler im Bereich Humanmedizin, Biologie und Chemie

Ian Huntington – junger britischer Archäologe

Vincent Wright – ehemaliger britischer Soldat im Range eines Sergeants, Kriegsveteran

Lord Wilbur George Eavesfield – ein Earl, adliger Unternehmer

 

weitere Charaktere

Leah Mitchell – Doctor MacAlistairs Assistentin

Edith Goldstein – Immanuels Ehefrau

Jonah Goldstein – Immanuels Sohn

Aadil – ein älterer Nomade und Erfinder

Nacera – eine Nomadenkriegerin

Najat – Heilerin des Nomadenstammes

Jasina – eine ältere Nomadin

Zahira – eine Ägypterin

Cartridge – der mechanische Diener des Earls, ein Prototyp

Green und Wallace – zwei menschliche Diener des Earls

Rasul und Altair – zwei mechanische Falken

Tahir – ein sudanesischer Fremdenführer

Arthur Conan Doyle – ein Arzt und Schriftsteller

 

Die Muscleteers, eine Söldnergruppe

Peter Dwain – Engländer, der älteste der Söldner und ihr Hauptmann

Bill Barrow – Afroamerikaner aus Colorado

Michael ,Mad’ Hatter – ein leicht verrückter Brite

Dylan und Maureen McGrath – Zwillinge aus Irland

Jai Patel – ein Sikh aus Indien

Jesper Lindström – ein Schwede

Irina Malkova – eine Russin

Frank Bell – aus Kanada, Dwains Stellvertreter

Kapitel 1

Eine Einladung aufs Land

 

Montag, 9. Februar 1885, London

 

„Und wann werde ich mit diesem Wunderwerk der Technik etwas greifen können?“, fragte Vincent Wright den Erfinder Goldstein.

Der hochgewachsene, breitschultrige Sergeant hatte von letzterem gerade eine Prothese als Ersatz für seinen linken Unterarm und die Hand erhalten. Die verlorenen Gliedmaßen schmerzten noch immer höllisch – Phantomschmerz nannten es die Ärzte. Doch Wright lehnte es ab, weiter Morphium zu nehmen, weil das Zeug süchtig machte und ihm die Sinne vernebelte.

Seine Arm- und Handprothese bestand außen aus Edelstahl und Lederriemen, welche mit punzierten Ornamenten verziert waren. Die Finger wurden aus Edelstahlteilen gebildet, verbunden mit feinen Scharnieren. Im Inneren befanden sich künstliche Nervenfasern.

„Diese Art zählt zu den Besten, welche man heute bekommen kann. Sie ist ihren Preis wert”, erklärte der Erfinder.

„Ja, dafür habe ich mich in Schulden gestürzt“, murmelte Wright. „Mit einer herkömmlichen Prothese hätte ich nicht mal meine Finger mehr vernünftig bewegen können. Wie sollte ich dann gut arbeiten können?”

„Dann hoffe ich, dass Sie bald wieder arbeiten und Ihre Schulden abbezahlen können”, erwiderte Goldstein. „Wie ich Ihnen ja bereits bei unserem ersten Gespräch sagte: Der obere Teil der Prothese verfügt über künstliche Synapsen, welche sich mit den Nervensträngen in Ihrem verbliebenen Arm verbinden. Dadurch verschmilzt die Prothese gewissermaßen mit Ihrem Körper und der Nerventätigkeit darin. Ich habe mit mehreren Ärzten zusammengearbeitet, um diese Effekte zu erreichen. Das bedeutet, dass Sie die Prothese bald so gut wie Ihren anderen Arm und die rechte Hand steuern können werden. Alle Fingergelenke sind ebenfalls über künstliche Nervenstränge und Synapsen mit den Nerven in Ihrem Oberarm verbunden. Die Finger werden daher alle einzeln frei beweglich sein, sobald Sie die Kontrolle darüber gelernt haben.”

Der Erfinder tippte auf das Gebilde. „Im Inneren der Prothese befindet sich außerdem ein mechanisches System mit Zahnrädern, das für die Bewegungen der einzelnen Teile sorgt. Aber keine Sorge, Sie müssen den Mechanismus nicht aufziehen, das macht er automatisch, sofern die Prothese täglich in Bewegung ist. Übrigens, Sie können bei Bedarf auch noch etwas in den Prothesenarm einbauen lassen, er ist ja innen teilweise hohl.”

„Was meinen Sie damit?”, fragte Wright.

„Na ja, das kommt darauf an, was Sie brauchen. Eine kleine Taschenlampe oder ein Werkzeug passt hinein – ein Messer oder auch andere Dinge.”

„Hmm, klingt praktisch. Darüber werde ich noch nachdenken. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich mich entschieden habe. Und wie lange wird es dauern, bis ich das Ding steuern kann, Mister Goldstein?“ Vor seinem inneren Auge sah Wright schon endlose Stunden und Tage, welche er nun mit Übungen verbringen würde, um den künstlichen Arm bewegen zu lernen.

„Wenn Sie sich jeden Tag ein paar Stunden Zeit nehmen und genügend schlafen – mit der Prothese, versteht sich – schätze ich, dass Sie in etwa zwei Wochen die grundlegenden Bewegungen ausführen können sollten. Ich gebe Ihnen einige Seiten mit, auf denen ein Paar spezielle Übungen erklärt werden. Solange Sie nicht gerade Klavier spielen möchten oder andere feinmotorische Tätigkeiten unternehmen wollen...”

Wright winkte ab. „Zwei Wochen, ehrlich? Das wäre phantastisch. Scheint ja ein echtes Wunderding zu sein.“

„Danke für die freundlichen Worte. Lassen Sie mal von sich hören, wie es voran geht”, erwiderte der Erfinder.

Wright nickte. „Das mache ich.”

 

***

 

Frustriert stieß Gemma Hawthorne einen Stein vom Gehsteig auf ihrem Weg nach Hause. Seit anderthalb Jahren arbeitete sie sich nun schon in der Redaktion des London Telegraph die Finger an ihrer Schreibmaschine wund. Doch noch immer hing sie fest bei den Seiten für die „young folks“, die Zwanzig- bis Dreißigjährigen. Für gesellschaftlichen Klatsch und Tratsch war sie zuständig, für die neueste Mode, Frisuren und anderen oberflächlichen Kram, der sie nur am Rande interessierte. Von echter journalistischer Arbeit konnte da in ihren Augen kaum die Rede sein. Doch auch das heutige Gespräch mit dem Chefredakteur hatte ihr nicht das gewünschte Ergebnis gebracht.

„Ich möchte endlich echte Ereignisse recherchieren und nicht nur schreiben, welches Kleid die Adlige Sowieso auf dem Ball Irgendwo getragen hat“, hatte sie ihm gesagt; nicht zum ersten Mal.

Aber Robert M. Fielding, ein Urgestein unter den Journalisten Londons, fand leider nach wie vor, sie sei bei den Boulevardseiten genau richtig und immerhin habe sie dadurch regelmäßig Zutritt zu angesagten Gesellschaften, Bällen und Veranstaltungen – ob das etwa nichts sei? Miss Hawthorne hatte ihre spitze Antwort hinuntergeschluckt.

Jetzt kam sie nach Hause in die Pension der Mrs Maitland. Die rundliche Vermieterin öffnete der schlanken, brünetten Frau die Tür. Sie deutete auf die Kommode im Korridor. „Guten Abend, meine Liebe. Da ist ein Brief für Sie.“

„Danke, Mrs Maitland“, nickte sie ihr zu und griff nach dem Brief. Mrs Maitland sah sie erwartungsvoll an. Aber Miss Hawthorne kannte das neugierige Wesen ihrer Vermieterin. „Ich wünsche Ihnen einen guten Abend“, sagte sie nur, bevor sie sich abwandte und mit raschelnden Röcken die Treppe hochstieg.

„Möchten Sie denn nicht zu Abend essen?“, rief ihr Mrs Maitland hinterher.

„Nein danke, heute nicht!“, erwiderte Miss Hawthorne auf der Treppe. Mrs Maitlands gemurmelten Kommentar über junge Damen, die sich halb zu Tode hungerten, um sich noch enger einschnüren zu können, hörte sie noch, lächelte aber nur missmutig darüber.

Der Brief überraschte sie; kein geringerer als Earl Wilbur George Eavesfield lud sie ein, ihn am kommenden Wochenende in seinem Herrenhaus in der Grafschaft Essex zu besuchen, denn er wollte ihr ein Angebot unterbreiten. Welcher Natur dieses Angebot war, erläuterte sein Schreiben nicht näher. Er schrieb außerdem, dass er ihr die Reisekosten erstatten würde.

Gemma Hawthorne kannte den Earl nicht persönlich; seinesgleichen verkehrte nicht gerade mit einfachen Journalisten, doch sie erinnerte sich, vor kurzem erst einen Bericht über ihn gelesen zu haben. Sie ging zu ihrem Bücherschrank und durchsuchte einen Stapel Zeitschriften.

„Da haben wir ihn...“, sagte sie schließlich, als sie den Artikel wiedergefunden hatte. Lord Eavesfield war zum einen von altem Adel, zum anderen ein erfolgreicher Unternehmer in der Stahlindustrie. Der sechsundvierzigjährige Junggeselle zeichnete sich darüber hinaus durch seine Philanthropie aus. Mehr als eine Stiftung und diverse soziale Projekte gingen auf sein Konto. So hatte er zum Beispiel ein Waisenhaus und eine Schule für Arbeiterkinder gegründet. Oft sah man ihn außerdem auf Benefizveranstaltungen und auf Gesellschaften der High Society, worüber dann natürlich auch die Boulevardpresse berichtete. Mehr als eine Dame hatte schon versucht, den wohlhabenden Earl mit ihrer Tochter im heiratsfähigen Alter zu verloben, doch Lord Eavesfield gefiel sein Junggesellendasein offenbar so sehr, dass er sämtlichen Versuchen, eine Ehe anzubahnen, bisher widerstanden hatte.

Gemma Hawthorne hatte zwar keine Ahnung, warum er ausgerechnet sie einlud, und sie wunderte sich auch, woher er ihre Adresse hatte, doch sie war – ihrer Vermieterin nicht unähnlich – von Natur aus neugierig. Die Aussicht, einmal ein hochherrschaftliches Herrenhaus auf dem Lande zu besuchen, gefiel ihr sehr. Also setzte sie sich an ihren Schreibtisch, griff nach Feder und Tinte und schrieb eine schriftliche Zusage.

 

***

 

Die Tische in der Werkstatt des Immanuel Goldstein waren mit Werkzeugen aller Art übersät: Zahnräder, Scharniere, Röhren, Kupferdraht. Dazwischen fand sich auch ein Lötgerät, welches der Erfinder und Ingenieur nun in die Hand nahm und einschaltete. Eine blaue Flamme wurde sichtbar. Goldsteins Augen waren hinter einer Schweißerbrille verborgen, als er ein Kupferrohr mit einer Platte verlötete.

Er hörte das Schrillen der Haustürklingel. Goldstein arbeitete weiter, denn sein Butler Herman würde dem Besucher öffnen. Nachdem der Erfinder eine Dreiviertelstunde später einen weiteren Teil seines neuen Werkes vollendet hatte – einen automatischen Stiefelschnürer – nahm er die Schweißerbrille ab und räumte sein Werkzeug beiseite. Er zog seinen Arbeitskittel aus und schaltete das Licht in der Werkstatt aus.

Im Flur begegnete er seinem Hausdiener, welcher ihm ein Schreiben überreichte. „Ein Brief für Sie, Sir.”

„Danke, Herman”, Goldstein überflog die wenigen Zeilen. „Sieh an, der gute Wilbur lädt mich ein! Wunderbar, wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Herman, antworten Sie ihm bitte, dass ich seine Einladung gern annehme.“

„Sehr wohl, Sir. Das Abendessen steht für Sie im Salon bereit. Ihre Frau erwartet Sie dort“, erwiderte der Butler.

„Vortrefflich, mein Bester.“ Goldstein strich sich über die schwarzen Haare. Der Erfinder hatte olivfarbene Augen, einen eher dunkleren Teint und ein kantiges Kinn. Häufig wurde er gefragt, ob er aus Italien, Spanien oder Frankreich stamme. Doch er war gebürtiger Ungar und seine Familie kam aus Budapest. Nun begrüßte er seine Frau Edith im Salon mit einem Kuss auf die Wange. Er betrachtete ihr noch immer zartes, herzförmiges Gesicht liebevoll. „Du siehst heute ganz besonders bezaubernd aus, meine Liebe.“

„Und du bist ein Schmeichler, mein Lieber“, sagte sie lachend. Edith trug an diesem Abend ein veilchenblaues Kleid, das hervorragend zu ihren dunklen Locken passte und ihre vornehme Blässe unterstrich. Der Kragen des Kleides war mit kupfernen Zahnrädern verziert – ein großer Trend aus Frankreich, zurückgehend auf eine Kollektion des berühmten französischen Modemachers Etiénne Paradis, die auch in anderen Ländern hundertfach kopiert worden war.

Goldstein berichtete seiner Frau beim Aperitif von der Einladung seines alten Freundes und fügte hinzu, dass diese nur für ihn galt.

„Das ist mir recht. Ich besuche am Valentinstag Tante Ruth. Ach ja, und Jonah hat ein Telegramm geschickt, er kommt am Valentinswochenende nicht nach Hause, weil ihn sein Freund Benedict eingeladen hat, diese Tage bei seiner Familie zu verbringen.”

„Wie schön, dass unser Sohn nach so kurzer Zeit bei der Armee schon Freunde gefunden hat”, erwiderte Goldstein.

„Und davon einmal abgesehen, wollt ihr Männer doch gewiss gern einmal unter euch sein – da ihr euch so lange nicht mehr gesehen habt.“

„Meine Liebe, du triffst wieder einmal den Nagel auf den Kopf”, antwortete Goldstein lachend. Dann stellte er mit einem Blick auf ihr Kleid fest: „Ah, du trägst wieder mal Zahnräder. Ich denke ja immer noch, Zahnräder gehören in Uhrwerke und Maschinen, und nicht auf Kleidung oder in Ohrringe...“

„Etiénne Paradis’ Kollektion Das Rädchen im Getriebe mit den Zahnrädern ist hier und auf dem Kontinent eingeschlagen wie eine Bombe”, entgegnete seine Frau. „Und er soll dazu gesagt haben: ,Der Mensch ist nur ein Rädchen im großen Getriebe der Welt und der Zeit.’ Und die Zahnräder auf der Kleidung und im Schmuck sollen daran erinnern.“

„An diesem Modemacher ist wohl ein Philosoph verloren gegangen”, erwiderte er lächelnd.

 

Dienstag, 10. Februar 1885, London

 

„Hey Doctor, hier ist ein Brief für Sie.“ Frederic MacAlistairs Assistentin, Miss Mitchell, kam in das Forschungslabor, warf mit Schwung die Tür zu und schwenkte einen Briefumschlag vor seiner Nase.

„Vorsicht, nicht gegen den Tisch stoßen! Die Mischung ist noch nicht stabil. Und wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen die Tür nicht zuknallen?“ Doctor MacAlistair wischte sich ein paar verirrte rote Haarsträhnen aus dem sommersprossigen Gesicht und rückte seine Brille zurecht, während er seine Assistentin mit einem strafenden Blick bedachte.

„Muss ich mir jetzt Sorgen machen, dass uns das Labor gleich um die Ohren fliegt?“, fragte sie und schien nur mühsam ein Kichern zu unterdrücken.

„Ja, in der Tat, das sollten Sie... Scherz beiseite, geben Sie mir endlich den Brief.“

Miss Mitchell wedelte noch einen Moment lang mit dem Briefumschlag herum, aber MacAlistair griff danach und riss ihn auf. Er überflog das Schreiben auf dem feinen Büttenpapier und machte ein paar Mal „Hmm ... aha, so so ...“

„Darf ich erfahren, worum es geht?“

„Ein gewisser Lord Eavesfield lädt mich ein, ihn auf dem Land zu besuchen. Er kommt für die Reisekosten auf und will mir ein Angebot unterbreiten.“

„Mensch, Doctor, davon haben Sie doch immer geträumt – ein Mäzen, der Ihre Forschungen unterstützt!“, rief Miss Mitchell begeistert.

Doctor MacAlistair hatte Chemie, Biologie und Humanmedizin studiert und forschte seitdem über verschiedene Themen. Mittlerweile hatte er schon mehr als eine Entdeckung von wissenschaftlichem Interesse gemacht und entsprechende Texte in Wissenschaftsmagazinen veröffentlicht. Mehrere Universitäten hatten ihm Angebote gemacht, bei ihnen zu forschen und zu lehren, doch er zog es vor, unabhängig zu arbeiten. Deshalb hatte er sich hier ein eigenes Labor eingerichtet.

Vor Miss Mitchell hatte er bereits vier andere Assistenten gehabt, doch entweder hatten diese gekündigt, oder er hatte sie hinausgeworfen, weil sie in seinen Augen nichts taugten. Mit ihr war es etwas anderes, denn die beiden kannten sich noch aus Studientagen und hatten sich angefreundet. Sie war eine der wenigen, die mit seinen schnellen Gedankengängen und -sprüngen kaum Probleme hatte, was er sehr schätzte.

„Mäzene gibt es doch nur für Künstler“, erwiderte er nun. „Wenn irgendwelche Leute Forschungsprojekte unterstützen, dann bestimmt nicht aus gemeinnützigen Interessen. Ich kenne diesen Earl nicht einmal. Was will der also von mir?“

„Fahren Sie hin und finden Sie es heraus“, meinte seine Assistentin. „Ein Tapetenwechsel würden Ihnen ohnehin einmal gut tun, wenn ich das so sagen darf. Sie kommen viel zu selten heraus aus dem Labor und sind schon ganz blass um die Nase.“

„Jetzt klingen Sie wie meine Mutter“, erwiderte er kopfschüttelnd. Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe. „Na ja, wenn dieser Eavesfield Interesse an meinen Forschungen hat, sollte ich vielleicht wirklich hinfahren. Finanzielle Unterstützungen kann ich immer gut für meine Forschungen gebrauchen.”

Miss Mitchell nickte. „Soll ich ihm schreiben, dass Sie sich geehrt fühlen und die Einladung gern annehmen?“

Doctor MacAlistair hatte sich bereits wieder seiner Versuchsanordnung zugewandt und erwiderte ein wenig geistesabwesend: „Wie? Also ... ja ... aber lassen Sie das mit dem ,Geehrt-fühlen’ weg.“

Kapitel 2

Im Eavesfield Mansion

 

Sonnabend, 14. Februar 1885

 

Es regnete an diesem Valentinstag und der Wind hatte aufgefrischt, als Immanuel Goldstein aus dem Zug stieg. Er kämpfte eine Weile mit seinem Regenschirm, der aber vom Wind so herumgezerrt wurde, dass er es bald aufgab und ihn wieder schloss. Immerhin würde ihn sein Zylinder und der schwere Wollmantel ein wenig vor dem Regen schützen. Er wartete nicht erst auf einen Kofferträger, den es in diesem Provinzbahnhof wahrscheinlich ohnehin nicht gab, sondern ging rasch mit seinem Koffer in die kleine Bahnhofshalle.

Dort stand ein mannsgroßer, mechanischer Diener, der ein Schild vor der Brust hielt, auf dem „Lord Eavesfield“ stand. Hinter den Augen des Automatons – zwei einfachen runden Gläsern – leuchtete ein blaues Licht, während sein „Gesicht” aus poliertem Messing bestand. Auf der Stirn war außerdem eine Art Lampe eingebaut. Er steckte in einem offensichtlich teuren dunkelblauen Anzug, ganz wie ein Gentleman. Nur die wohlhabendsten Mitglieder der Oberschicht konnten sich einen mechanischen Diener leisten. Goldstein selbst hatte keinen, denn er interessierte sich weniger für prestigeträchtige Statussymbole dieser Art, sondern eher für praktische, alltagstaugliche Dinge, die sich auch Menschen aus der Mittelschicht leisten konnten. Die Prothesen, welche er gelegentlich für Veteranen und andere Versehrte baute, lagen bereits am oberen Rand des finanziellen Spektrums, welches er mit seinen Erfindungen abdeckte.

Er sah eine junge Dame ebenfalls aus dem Zug steigen und zu seiner Überraschung ein bekanntes Gesicht: Sergeant Wright. Er nickte ihm freundlich zu und wandte sich an den mechanischen Diener. „Guten Tag. Ich hatte eigentlich Mister Winter erwartet, den Butler des Earls.”

„Guten Tag, Sir. Mein Name ist Cartridge”, erwiderte der mechanische Diener mit schnarrend metallischer Stimme. „Ich bin der neue Butler von Lord Eavesfield.”

„Sehr erfreut. Was ist denn aus Mister Winter geworden?”

„Mister Winter ist kurz vor Weihnachten 1884 in Rente gegangen”, berichtete Cartridge mit monotoner Stimme.

„Ah, verstehe...”, antwortete Goldstein.

Nun stellte sich der Sergeant dem Diener vor. „Guten Tag, ich bin Vincent Wright. Ich habe eine Einladung von Lord Eavesfield erhalten. Mister Goldstein – schön, Sie wiederzusehen.”

„Ebenso, Sergeant Wright”, erwiderte er lächelnd.

Die Dame trat auf die beiden Männer und den mechanischen Diener zu. Bevor sie etwas sagen konnte, sprach Cartridge sie an: „Ich nehme an, Sie sind Miss Hawthorne, die Journalistin vom London Telegraph?“

„Die bin ich.“

„Sehr erfreut, Miss“, erklärte der Diener. „Dann warten wir nur noch auf Doctor MacAlistair.“

Doch die Bahnhofshalle hatte sich längst geleert; an diesem Abend waren nur wenige Fahrgäste hier ausgestiegen. Auch ein Blick auf den Bahnsteig zeigte, dass Doctor MacAlistair offenbar nicht unter den Reisenden war.

„Nun, ich nehme an, Doctor MacAlistair verspätet sich”, sagte Cartridge. „Vielleicht kommt er mit einem späteren Zug. Folgen Sie mir bitte.“

Er nahm der Journalistin ihr Gepäck ab. Kurz darauf stiegen sie alle in ein großes, elegantes Automobil, welches von einem jungen Chauffeur gefahren wurde, der sie freundlich begrüßte. Das Gefährt glitt erstaunlich leise durch den strömenden Regen.

„Wie haben Sie Ihre Hand verloren, Mister Wright – wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Miss Hawthorne.

Er verzog das Gesicht und krempelte seinen linken Mantelärmel hoch. Darunter kam auch der Prothesenarm zum Vorschein. „Es war auch der Arm – ein schwerer Fall von Wundbrand. Ich hab eine Kugel abgekriegt, die nicht gleich entfernt werden konnte. Kann froh sein, dass die nicht im Brustkorb eingeschlagen ist, sonst säße ich jetzt nicht hier. Das war vor einigen Wochen im Sudan, die Schlacht von Abu Klea, am 17. Januar.”

„Oh, davon habe ich gelesen”, erwiderte die Journalistin. „Tausendfünfhundert britische und ägyptische Soldaten, die eine Überzahl von zehntausend Mahdisten geschlagen haben.”

„Wegen der besseren technischen Ausrüstung”, ergänzte Wright. „Die Mahdisten hatten keine Dampfgewehre, und viele waren nur mit Schwertern, Dolchen oder Speeren bewaffnet.”

„In welchem Regiment waren Sie eigentlich, Wright?”, erkundigte sich Goldstein.

„Das Kamel-Corps unter Generalmajor Herbert Stewart, bei der berittenen Infanterie. Guter Mann, dieser Stewart. Wurde für seine Leistungen auch zum Knight Commander of the Order of the Bath ernannt. Ist leider vor wenigen Tagen gefallen, wie ich hörte.” Wright blickte einen Moment lang mit gequältem Blick aus dem Fenster, ehe er fortfuhr. „Jedenfalls, als ich zurück nach England kam, mussten mir die Ärzte den Arm unter dem Ellenbogen abnehmen. Damit ist meine Karriere beim Militär wohl beendet – auch wenn diese Prothese wirklich gut ist, Goldstein. Sicher, ich könnte noch am Schreibtisch arbeiten, aber das habe ich mir nie gewünscht...”

Der Regen prasselte an die Fensterscheiben des Automobils. Der Sergeant schwieg.

„Es tut mir sehr leid, was Sie alles durchgemacht haben“, sagte Miss Hawthorne.

Wright machte eine abwehrende Geste. „Na ja, immerhin bin ich noch am Leben. Ich sollte dankbar sein...“

Goldstein erzählte der Journalistin, was er Wright bereits bei ihrem ersten Treffen berichtet hatte. „Ich war früher auch beim Militär, beim Devonshire Regiment. Ich habe 1880 in Südafrika im Burenkrieg gekämpft. Ich bin auch froh, dass ich dort lebend herausgekommen bin.“

Sie nickte. „Gewiss, Mister Goldstein. Ist es nicht schrecklich, wieviele kriegerische Konflikte es allein in den letzten Jahren gegeben hat?“

„Da gebe ich Ihnen recht. Ich jedenfalls habe 1881 meinen Dienst beim Regiment quittiert und mich als Erfinder selbständig gemacht, zusammen mit einem Teilhaber.“

Kurz darauf wandte er sich an den jungen Chauffeur. „Das ist ein wunderbares Automobil, von der Firma F.H. Royce and Co., nehme ich an?“

Der Chauffeur nickte. „Ja genau, Sir. Lord Eavesfield besitzt übrigens noch ein weiteres Automobil.”

Goldstein fragte ihn: „Arbeiten Sie schon länger für den Earl?“

„Erst seit letztem Herbst, Sir. Vorher hatte er noch keine Automobile.“

„Sind Sie eigentlich beide mit dem Earl bekannt?“, erkundigte sich die Dame.

„Ich kenne ihn recht gut aus meiner Studienzeit in Eaton“, erwiderte Goldstein. „Wir haben uns ein Zimmer geteilt und waren damals gut befreundet. Er hat Geschichte und Betriebswirtschaft studiert, und ich Ingenieurswissenschaften und Technik. Aber wir haben uns schon länger nicht mehr gesehen. Ich habe zwei Jahre in Wien gearbeitet und bin erst vor drei Monaten wieder nach London zurückgekehrt.”

„Ich kenne den Earl noch nicht persönlich – ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel, warum er mich eingeladen hat“, sagte der Sergeant. „Und wie steht es mit Ihnen, Miss Hawthorne?“

„Mir geht es wie Ihnen, Mr. Wright. Ich frage mich ebenfalls, womit ich die Ehre seiner Einladung verdient habe. Sein Schreiben war recht vage.“

„Genau wie das meine“, erwiderte Wright.

„Sie werden lachen, das geht mir genauso, obwohl wir uns ja von früher kennen“, sagte Goldstein. Warum hatte sein alter Freund wohl diese Journalistin und den Sergeant eingeladen, obwohl beide gar nicht mit ihm bekannt waren? Und warum diese Gruppeneinladung?

Das Fahrzeug rollte nun langsam über die lange, von stattlichen Bäumen gesäumte Allee, welche durch den weitläufigen Park bis vor das Herrenhaus Eavesfield Mansion führte. Wie ein graues Bollwerk ragte das stattliche Gebäude aus dem Regen hervor, genau wie Goldstein es in Erinnerung hatte.

Beim Aussteigen knallte Wright versehentlich mit dem Prothesenarm gegen das Automobil. „Verdammt noch mal!”, rief er. „Entschuldigen Sie, Miss“, wandte er sich im nächsten Moment an Miss Hawthorne. „Man sollte ja nicht fluchen in Anwesenheit von Damen, aber ich habe dieses Ding erst seit drei Wochen und dazu kommt, dass ich immer noch Schmerzen im Arm habe – auch wenn er gar nicht mehr vorhanden ist. Außerdem bereiten mir viele Bewegungen immer noch Schwierigkeiten.“

Sie schüttelte den Kopf. „Bitte machen Sie sich keine Gedanken deswegen.“

Goldstein versuchte, den Sergeant zu beruhigen. „Gedulden Sie sich, Wright. In ein paar Wochen wird der Phantomschmerz gewiss verschwunden sein und Sie können die Prothese ohne Probleme verwenden.”

Wright sah ihn zweifelnd an. „Das hoffe ich sehr.“

Derweil nahm Cartridge die Koffer und Taschen der Gäste aus dem Kofferraum. Dabei war ihm ein junger menschlicher Diener behilflich, der mit einem ebenfalls menschlichen Kollegen aus dem Herrenhaus herbei geeilt war. Der Chauffeur parkte inzwischen das Automobil irgendwo hinter dem Gebäude. Cartridge wies den zweiten Diener an: „Green, führen Sie die Gäste des Earls bitte nach drinnen und zeigen Sie ihnen ihre Zimmer. Sicherlich möchten sich die Dame und die Herren nach ihrer Reise frisch machen.“

Goldstein fiel auf, dass er auch diese beiden Diener nie zuvor gesehen hatte...

 

***

 

Eavesfield Mansion war eine Augenweide, fand Miss Hawthorne, während sie und die anderen drei dem Diener Green folgten. Der Korridor, durch den er sie führte, war mit elektrischen Lampen ausgestattet.

Immanuel Goldstein deutete darauf. „Sehen Sie sich nur diese Glühlampen an. Es ist ein komplettes Edison-Beleuchtungssystem. Dieses hier wird mit einem ziemlich teuren Dampfmaschinen-Dynamo betrieben, der im Keller steht. Soweit ich weiß, hat Thomas Edison diesen höchstpersönlich hier installiert.”

Miss Hawthorne betrachtete die edle Mahagoniholzvertäfelung an den Wänden und die vielen Bilder – Jagdszenen, Portraits streng blickender Damen und Herren bis hin zu avantgardistischen Werken. Sie erkannte den Stil der französischen Impressionisten und ein Werk aus dem Kreis der Präraffaeliten. Dazwischen fanden sich einige fadenscheinige Gobelins, die vielleicht in einem Museum besser aufgehoben gewesen wären und so manche ausgestopfte Jagdtrophäe. Außerdem sah sie mehrere Objekte, die sie hier nicht erwartet hätte: grimmig wirkende Holzmasken afrikanischen Ursprungs, auf einem vermutlich orientalischen Beistelltisch Statuetten im altägyptischen Stil. Ob es Nachbildungen oder Originale waren, konnte sie nicht erkennen.

Auch ihr Zimmer war sehr schön, vor allem im Vergleich mit ihren bescheidenen Räumlichkeiten in Mrs Maitlands Pension. Es verfügte über einen eigenen Kamin, in dem ein dienstfertiger Geist schon ein Feuer entfacht hatte, welches tanzende Schatten an die Wände warf. Diese waren mit dezent gemusterten Stofftapeten bedeckt. Auf dem Boden lagen Teppiche, die auf sie orientalisch wirkten.

Sie bedankte sich bei dem Diener, der ihren Koffer brachte. „Wann werden wir denn unseren Gastgeber sehen?“

„Mein Herr ist noch geschäftlich unterwegs, außerdem erwarten wir noch einen weiteren Gast, der sich verspätet. Ich gehe aber davon aus, dass wir Sie alle in ein oder zwei Stunden zum Abendessen bitten können.“

„Sehr schön. Dürfte ich mich vielleicht solange in der Bibliothek aufhalten?“

„Sicherlich, ganz wie Sie wünschen. Die Bibliothek befindet sich im ersten Stock. Sie ist übrigens auch gut beleuchtet. Wenn Sie sich in die Eingangshalle begeben, die linke Treppe hinauf und dann die vierte Tür auf der rechten Seite.“

Miss Hawthorne lächelte. „Vielen Dank, Sie werden mich dann dort finden.“

„Sehr wohl, Ma’am.“ Der Diener deutete eine Verbeugung an und verließ rückwärts das Zimmer.

Miss Hawthorne wusste nicht recht, ob sie seinen förmlichen Abgang übertrieben finden oder sich darüber amüsieren sollte.

 

Die Bücherregale in der Bibliothek reichten bis unter die mit Stuck verzierte Decke; drei bequeme Sessel luden zum Verweilen ein. Neben einigen Deckenleuchten gab es hier drei Leselampen neben den Sesseln. Draußen hörte sie das Heulen des Windes und den Regen, welcher noch immer gegen die Fensterscheiben prasselte. Sicher kündigte sich damit der Sturm an, von dem morgens die Wettervorhersage in der Zeitung berichtet hatte.

Sie wanderte durch die Bibliothek und sog den typischen Geruch ein, welchen die Bücher verströmten – ein Duft nach altem Papier, Druckertinte und Ledereinbänden.

Sie wollte mehr über ihren Gastgeber herausfinden. Die Bücher eines Menschen vermochten viel über seinen Charakter und seine Interessen zu verraten. Sie schaute sich um – in dieser Bibliothek schien alles versammelt, was literarischen Rang und Namen hatte. Und nicht nur englische, sondern auch französische, italienische und deutsche Dichter und Autoren in Originalfassungen waren hier vertreten. Ganze Bücherregale waren außerdem Sachbüchern gewidmet, von Naturwissenschaften und Geschichte über Technik bis hin zu exotischen Themen wie Parapsychologie.

Schließlich entdeckte Gemma Hawthorne ein ihr vertrautes Gebiet: Bücher über den nahen Osten, den Orient – Reiseberichte, wissenschaftliche Abhandlungen über Archäologie in Nordafrika bis hin zu Bänden aus dem letzten Jahrhundert über das alte Ägypten. Überrascht sah sie einige Bücher in arabischer Sprache.

Mit diesem Thema kannte sie sich aus, seit sie vor mehreren Jahren ihren Onkel David in Ägypten besucht hatte; dieser hatte dort eine archäologische Ausgrabung geleitet. Zu jener Zeit hatte sie gerade die Journalistenschule beendet und auch Aussicht auf eine Anstellung, die allerdings erst ein halbes Jahr später beginnen sollte. Wie es der Zufall wollte, konnte ihr Onkel jede Hilfe bei seiner Ausgrabung gebrauchen. Er hatte ihr angeboten, für circa sechs Monate seine Assistentin dort zu werden.

Damals war sie Feuer und Flamme gewesen angesichts der Aussicht, etwas gänzlich Neues kennenzulernen. In Ägypten lernte sie nicht nur vieles über Archäologie, sondern auch einige altägyptische Hieroglyphen und deren Bedeutung kennen. Leider reichten sechs Monate nicht aus, um auch die dazugehörige alte Sprache verstehen zu lernen.

„Mach dir nichts daraus, meine Liebe“, hatte ihr Onkel sie getröstet. „Ich habe Jahre gebraucht, um das Altägyptische zu lernen. Und ich lerne immer noch dazu...“

Inzwischen war die Ausgrabung in der Nähe des ehemaligen Theben beendet und ihr Onkel zurück in Cambridge, wo er als Professor Archäologie unterrichtete. Durch seine Ausgrabungen hatte er das Britische Museum in London um so manches schöne alte Stück bereichert.

Angesichts dieser Bücher hier in der Eavesfield'schen Bibliothek fragte sie sich, welches Interesse der Hausherr am Alten Ägypten und dem Nahen Osten hatte. Ob er wohl auch Arabisch sprechen konnte?

Kurze Zeit später trat Immanuel Goldstein ein. „Ah, Miss Hawthorne, sind Sie auch auf der Suche nach Lesestoff?“

„Nein, eigentlich versuche ich mehr über unseren Gastgeber herauszufinden.“

„Nach dem Motto: Sag mir, was du liest und ich sage dir, wer du bist? Ich schätze, ich könnte Ihnen eine ganze Menge über meinen guten alten Freund erzählen, aber wo läge das Vergnügen darin? Ich möchte Ihnen Ihre Detektivarbeit nicht verleiden. Schauen Sie sich nur um und erzählen Sie mir dann, was Sie entdeckt haben. Ich bin gespannt...“

Der Erfinder nahm sich nach kurzer Suche ein technisches Sachbuch, machte es sich in einem der Sessel bequem und begann im sanften Schein der Leselampe zu lesen.

Ungefähr anderthalb Stunden vergingen, dann kam der junge Diener in die Bibliothek. „Das Essen wird nun serviert und Lord Eavesfield erwartet Sie im Speisesaal. Wenn Sie mir bitte folgen, Miss, Sir?“

Auf dem Weg zum Speisesaal fragte Goldstein die Journalistin mit einem verschwörerischen Schmunzeln: „Und, was haben Sie nun herausgefunden über Wilbur?”

„Er scheint ein sehr ausgeprägtes Interesse am Orient zu haben, insbesondere am Alten Ägypten. Möglicherweise beherrscht er die arabische Sprache. Und er ist mit Sicherheit umfassend gebildet, wenn er all die Bücher hier gelesen hat. Außerdem habe ich einige Klassiker gefunden, darunter die gesammelten Werke von Shakespeare, Marlowe und Chaucer. Die hat er offensichtlich geerbt, weil in den Exlibris andere Namen stehen.“

„Ich bin enttäuscht, Miss Hawthorne. Um das herauszufinden, hätte ich keine anderthalb Stunden gebraucht.“

„Dafür kennen Sie den Earl ja bereits seit Ihrer gemeinsamen Studienzeit.“

Goldstein lachte. „Auch wieder wahr.“

 

***

 

In Wrights Augen war der Speisesaal ebenso prunkvoll wie der Rest des Hauses. Ein überdimensionaler elektrifizierter Kronleuchter thronte an der Decke über dem langen Esstisch. Die farbenfrohen, floral gemusterten Tapeten stammten unverkennbar aus der bekannten Werkstatt des Künstlers William Morris.

Nun wurden er, Miss Hawthorne und Goldstein von ihrem Gastgeber begrüßt. Lord Eavesfield war eine beeindruckende Erscheinung, dachte Wright im Stillen – und er war nicht leicht zu beeindrucken. Der Earl war ziemlich groß und hielt sich militärisch gerade. Seine graublauen Augen hatten einen stechenden Blick und das dunkle, kurze Haar war an den Schläfen und am Backenbart fast weiß. Er stellte sich nun jedem Einzelnen vor, umarmte seinen Freund Goldstein herzlich und beehrte die einzige anwesende Dame mit einem angedeuteten Handkuss.

Miss Hawthorne knickste, wie es die Etikette verlangte.

„Es freut mich, dass Sie heute alle hier sein können”, sagte Lord Eavesfield. „Bitte setzen Sie sich doch, das Dinner wird gleich serviert.“

In diesem Moment trat ein Mann um die Vierzig mit einem Gesicht voller rötlicher Sommersprossen ein. Seine roten, zerzausten Haare waren nass vom Regen. „Verzeihen Sie die Verspätung, Lord Eavesfield. Ich habe leider einen Zug verpasst“, sagte er atemlos.

Lord Eavesfield nickte ihm zu. „Doctor MacAlistair, nehme ich an?“

„Ja, der bin ich.“

„Sie haben Ihr Eintreffen zeitlich gut abgestimmt, wir wollten gerade mit dem Essen beginnen. Meine Herren, meine Dame, darf ich vorstellen – Doctor Frederic MacAlistair, seines Zeichens Wissenschaftler im Bereich der Biologie, der Humanmedizin und der Chemie.“

Wright betrachtete den Neuankömmling. MacAlistair war blass um die Nase, so als ob er die meiste Zeit in einem Labor oder am Schreibtisch verbrachte. Sieht mir nach einem Bücherwurm aus ... Er schüttelte dem Doctor die Hand, auch die anderen beiden stellten sich vor.

Nach einigem Stühlerücken konnte das Dinner beginnen. Während die Suppe aufgetragen wurde, plauderte der Gastgeber zunächst über Belangloses – wie es üblich war bei Einladungen zum Abendessen. Er sprach über das Wetter, Nachrichten von der Börse in London, die letzten Tee-Duell-Meisterschaften und eine Benefizveranstaltung für Waisenkinder, welche er organisiert hatte. Außerdem erkundigte er sich nach dem Befinden von Goldsteins Frau und dessen Sohn. Von Wright wollte er wissen, wie dieser mit seiner Prothese zurecht kam.

„Ich habe sie vor drei Woche erhalten und Mister Goldstein meinte, es könnte zwei, drei Wochen dauern, bis ich sie steuern kann. Und er hatte recht, sie ist mir mittlerweile eine echte Hilfe”, erwiderte er.

Miss Hawthorne kam auf die Bibliothek des Earls zu sprechen. „Sie haben viele Bücher über den Nahen Osten. Woher kommt Ihr Interesse an dieser Region, wenn ich fragen darf?“

„Oh, das ist eine lange Geschichte. Aber ich erzähle sie Ihnen gern heute Abend, wenn wir noch in geselliger Runde beisammen sitzen.“

„Mit Verlaub, my Lord“, meldete sich der Wissenschaftler zu Wort. „Ich kann nicht allzu lange bleiben, meine Forschungen verlangen meine Anwesenheit in London. Ich möchte mit dem letzten Zug heute zurückfahren.“

„Oh, ist das so?“ Ein Hauch von Irritation stahl sich bei diesen Worten in die Stimme des Earls. Ihr Gastgeber blickte auf die goldene Taschenuhr, die an seiner Weste befestigt war. „Das tut mir leid, Doctor MacAlistair, aber ich fürchte, der letzte Zug ist bereits abgefahren. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Mein Chauffeur wird Sie morgen in aller Herrgottsfrühe zum Bahnhof fahren. Was halten Sie davon?“

Doctor MacAlistair schien alles andere als erfreut. „My Lord, mit Verlaub, wissenschaftliche Forschungen sind keine Briefmarkensammlung, die man nach Belieben aus der Hand legen kann. Erlauben Sie mir, Ihren Fernsprecher zu benutzen? Ich muss mit meiner Assistentin sprechen.“

„Gern, Doctor MacAlistair.“ Lord Eavesfield läutete nach einem Diener.

Sein Butler Cartridge trat ein. „Sie wünschen, my Lord?“

„Cartridge, zeigen Sie Doctor MacAlistair den Fernsprecher.“

Der mechanische Diener nickte. „Sehr wohl, my Lord.“

MacAlistair stand einfach vom Tisch auf, ohne sich bei den Anwesenden zu entschuldigen.

Was für ein ungehobelter Kerl, dachte Wright.

 

***

 

MacAlistair wurde von dem mechanischen Diener in ein kleines Empfangszimmer geführt, in dem sich auch ein Fernsprechapparat befand. Er hoffte, dass Miss Mitchell noch nicht nach Hause gegangen war. Er hatte einen Fernsprecher in seinem Labor installieren lassen, für Notfälle aller Art.

MacAlistair nahm den Hörer auf und sprach in das Mundstück des Fernsprechers: „Vermittlung? Verbinden Sie mich mit London, 548-90712.“

Nach einigem Knacken und Knistern in der Leitung hörte er die Stimme seiner Assistentin. „Leah Mitchell, Labor von Doctor Frederic MacAlistair.“

„Guten Abend Miss Mitchell, hier ist Doctor MacAlistair. Hören Sie, ich komme hier heute nicht mehr weg. Ich bin frühestens morgen um elf Uhr wieder in London. Bitte kümmern Sie sich um die Versuchsanordnung, die wir gestern aufgebaut haben. Sehen Sie um elf Uhr nach, ob sich die Lösung schon verändert hat. Und dann wieder um vier Uhr morgens. Und vergessen Sie nicht, jedes Mal drei Milliliter von dem Liptonid hinzuzufügen.“

Nach kurzem Zögern kam ihre Antwort. „Ja, Doctor. Ich werde hier mein Nachtlager aufschlagen.“

„Ich danken Ihnen. Ach, und Miss Mitchell – entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.“

„Nicht der Rede wert, Doctor.“ Falls Miss Mitchell genervt war, ließ sie es sich zumindest am Fernsprecher nicht anmerken. Einmal mehr war er froh über seine engagierte und flexible Assistentin.

 

Nach dem mehrgängigen, üppigen Abendessen begaben sich alle in den Blauen Salon. MacAlistair hatte sich ihnen nach seinem Gespräch am Fernsprecher wieder angeschlossen.

Der Salon war durchgehend in Blautönen gehalten, sodass er sich in ein Aquarium versetzt fühlte. Selbst die Lampenschirme waren aus blauem Glas gefertigt. Er war versucht, darüber einen Scherz zu machen, behielt diesen aber doch lieber für sich. Mehr als einmal hatte er die Erfahrung gemacht, dass viele Leute seine Art Humor nicht teilten.

In der Mitte des Salons stand ein Schreibtisch. Lord Eavesfield setzte sich dahinter, während seine Gäste sich davor auf weich gepolsterten Stühlen niederließen.

„Nun, meine werten Gäste, kommen wir zu dem Angebot, das ich Ihnen unterbreiten möchte. Worum es mir geht, ist Folgendes: Ich möchte Sie alle bitten – kurz gesagt – für mich ein historisches Artefakt zu finden, welches aus dem Alten Ägypten stammt. Dieses Artefakt möchte ich der Königlichen Gesellschaft für Antiquitäten und Archäologie als Ausstellungsstück zur Verfügung stellen. Es wäre ein wahres Prunkstück ihrer Sammlung. Ich bin dem Direktor der Gesellschaft einen Gefallen schuldig, daher habe ich ihm angeboten, mich auf die Suche nach diesem sagenumwobenen Artefakt zu machen. Nur sehen Sie, es ist so...“, er breitete die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit aus. „Ich kann es mir als Unternehmer nicht leisten, mir längere Zeit freizunehmen und auf Schatzsuche zu gehen, wenn man so will. Also dachte ich mir, ich lade einige Experten aus verschiedenen Gebieten ein, die vielleicht an meiner Stelle gemeinsam auf Expedition gehen möchten. Natürlich komme ich für alle Ihre Kosten auf – Anreise, Abreise, Verpflegung, Ausrüstung und so weiter. Und wenn Sie das Artefakt finden, wartet auf jeden von Ihnen eine großzügige Belohnung.“

„Was um alles in der Welt bist du diesem Direktor schuldig, Wilbur?“, platzte Goldstein heraus. „Ich meine, eine solche Expedition ist doch sehr kostspielig – “

„Und wahrscheinlich auch zeitaufwändig“, ergänzte der Earl. „Aber du weißt ja, dass Kosten für mich kaum eine Rolle spielen. Und auch wenn Zeit Geld ist, kommt es auf ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht an.“

Doctor MacAlistair ergriff das Wort: „Aber wie kommen Sie gerade auf uns, my Lord? Wie soll denn beispielsweise ausgerechnet ein Biologe und Chemiker auf einer solchen Expedition von Nutzen sein?“ MacAlistair musste an seine Versuche und Experimente denken, die es ihm nicht erlaubten, London für längere Zeit zu verlassen.

Lord Eavesfield nickte ihm zu. „Dafür habe ich mehrere Gründe. Ich weiß zum Beispiel, dass Sie auch auf dem Gebiet der Medizin bewandert sind und das kann sich in Notfällen als sehr günstig erweisen. Aber nun werden Sie einwenden, dass ich unter diesem Gesichtspunkt auch einfach einen Arzt hätte einladen können. Was aber das Artefakt angeht, so ist davon auszugehen, dass es aus einem sehr alten und empfindlichen Material besteht, das unbedingt richtig behandelt und konserviert werden muss, damit es nicht einfach zu Staub zerfällt, wenn es ausgegraben wird. Ich muss gestehen, dass keine Quellen darüber bekannt sind, aus welchem Material das Artefakt eigentlich geschaffen wurde. Aus diesem Grund erscheint es mir sinnvoll, einen Wissenschaftler an Bord zu haben, der auch auf den Gebieten der Biologie und der Chemie bewandert ist.“

MacAlistair nickte langsam, doch er hatte noch einen Einwand vorzubringen: „Aber niemand von uns ist Archäologe, und das wäre doch das passende Fachgebiet.“

„Ich habe auch einen Archäologen eingeladen, an der Expedition teilzunehmen. Sein Name ist Ian Huntington. Er arbeitet zur Zeit in Kairo. Von dort wird er zu Ihnen stoßen und Sie – sofern Sie mit dabei sind – auf der Expedition mit seinen Fachkenntnissen unterstützen. Er ist Spezialist für das Antike Ägypten und spricht fließend Arabisch.“

„Ich habe übrigens vor einigen Jahren sechs Monate lang bei einer archäologischen Ausgrabung in Ägypten assistiert”, warf Miss Hawthorne ein.

Lord Eavesfield lächelte. „Das ist mir bekannt. Ihr Onkel David hatte nur lobende Worte für Ihre Arbeit dort übrig. Ich habe ihn vor einiger Zeit auf einem Kongress der Königlichen Gesellschaft kennengelernt.“

„Aber ich bin keine Archäologin, sondern Laie auf diesem Gebiet.”

„Nun, wie ich ja bereits sagte, kann ich nicht selbst mitreisen. Ich wünsche mir allerdings einen detaillierten Reisebericht, am besten auch mit Illustrationen und wenn möglich Photographien, damit diese Expedition für die Nachwelt festgehalten werden kann. Und deshalb habe ich mir überlegt, dass eine Journalistin dieser Aufgabe sicherlich am besten gewachsen ist. Ihr Onkel sagte mir auch, Sie beherrschen die Kunst der Photographie.”

„Das ist richtig, ja. Ich habe auch bei seiner Ausgrabung einige Photographien gemacht. Und ein wenig Zeichnen kann ich auch.”

„Hervorragend”, Der Earl lächelte erfreut. „Ich werde Ihnen genügend Geld zur Verfügung stellen, dass Sie sich entsprechend ausrüsten können.”

„Das klingt gut. Sagen Sie, woher kennen Sie eigentlich diesen Mister Huntington?“, fragte Miss Hawthorne.

„Huntington ist mit Ihrem Onkel bekannt. Er hat bei ihm in Cambridge studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen. Und Ihr Onkel hat mir sowohl Sie als auch Mister Huntington gewissermaßen empfohlen. Er selbst hat im Moment keine Zeit, aufgrund seiner Vorlesungen an der Universität. Übrigens befindet sich das Artefakt gar nicht mehr in Ägypten, sondern im Sudan, also dem Nachbarland. Ich verfüge über eine mit hoher Wahrscheinlichkeit authentische Quelle, die besagt, dass es in einem Krieg mit diesem Nachbarland verschleppt wurde, schon in der Antike.“

„Was ist es denn eigentlich, dieses Artefakt?“, fragte der Sergeant nun. „Ist es eine Statue, eine alte Waffe, ein Grabstein oder etwas anderes?“

„Ich wünschte, ich wüsste eine Antwort darauf.” Die Augen des Earls wurden einen Moment lang schmal, als er weitersprach. „Das Artefakt wird der Stern des Seth genannt.” Sein Gesichtsausdruck entspannte sich wieder, er hob die Hände in einer Geste der Ratlosigkeit. „Aber es gibt keine Abbildung davon und auch keine genaue Beschreibung. Es könnte alles Mögliche sein. Vielleicht ist es auch einfach ein sternförmiger Gegenstand.“

„Dann habe ich dazu eine Frage: Wie sollen wir ihn denn finden, wenn wir gar nicht wissen, wie er aussieht?“, meinte Doctor MacAlistair. Was ist das für ein verworrener Auftrag?

Lord Eavesfield sah ihn einen Moment lang nachdenklich an, ehe er antwortete. „Der Stern des Seth ist ein sagenumwobenes Artefakt. Man könnte ihn eine Art Stein der Weisen der Archäologie nennen, denn schon viele Altertumsforscher haben versucht, ihn zu finden und sein Rätsel zu lösen. Bisher vergeblich. Doch zu Ihrer Frage: Es geht weniger darum, wonach Sie suchen sollten, sondern wo. Ich habe Hinweise auf den Ort, an welchem er versteckt wurde. Und mit Sicherheit ist der Stern des Seth etwas Imposantes, also ein relativ großer Gegenstand.“

„Zeigen Sie uns doch bitte mal Ihre Quellen, my Lord“, bat die Dame.

„Sicher, hier sind sie.“ Er klappte eine Dokumentenmappe auf, die auf dem Tisch lag, und förderte einige lose Blätter zutage. Es handelte sich offenbar um Abschriften antiker Schriftstücke, denn das Papier war neu.

„Ich werde Ihnen die Übersetzungen der Originaltexte vorlesen“, erklärte der Earl. „Ich fange an mit dem Text der Hieroglyphen: Es heißt, der mächtige Seth selbst habe den Stern angefertigt. Und in seinem Inneren glühte eine mächtige Kraft von nie dagewesener Größe.”

 

Bei diesen Worten ließ der Earl seinen Blick durch die Runde seiner Zuhörer schweifen. Beinahe ... beifallsheischend. Seltsam, überlegte MacAlistair.

 

Der Earl fuhr fort. „Wunderbar war der Stern des Seth und sein Glanz erfüllte jeden, der seiner gewahr wurde, mit Freude und Dankbarkeit. Man sagt, jeder, der den Stern sah, war fortan ein treuer Diener des Herrschers. Der Pharao Amenemhet II. ließ so manche Parade veranstalten. Dabei wurde der Stern des Seth unter die Gläubigen gebracht. Doch im 12. Jahr seiner Regentschaft, als der Pharao Krieg führte gegen die Nubier, da nahm er den Stern des Seth mit sich, auf dass dessen göttliche Macht dem Pharao und seiner Armee Glück bringe.“

Lord Eavesfield hielt kurz inne und erklärte: „Nubien war der damalige Name für den heutigen Sudan.“

Er las weiter. „Doch die Götter waren dem Pharao nicht wohl gesonnen, denn er kam beinahe um in der Schlacht vor der Stadt Napata, und der Stern des Seth ward gestohlen. Und so verschwand der Stern des Seth im Land Nubien.“

Nachdem er geendet hatte, herrschte einen Moment lang Schweigen im Salon. Dann ergriff Wright das Wort: „Schön und gut, my Lord, aber nehmen wir mal an, wir finden dieses Artefakt tatsächlich und kommen auch nicht um dabei – wie sieht es denn mit den Besitzrechten aus? Ich meine, sowohl die Britische Krone als auch die osmanische Regierung des Sudans, die Turkiyah, könnten hier ihren Besitzanspruch anmelden.“

Lord Eavesfield lächelte. „Nun, da ich beabsichtige, den Stern des Seth der Königlichen Gesellschaft für Antiquitäten und Archäologie zur Verfügung zu stellen, übergebe ich ihn ja gewissermaßen der Krone, damit dürfte diese Frage geklärt sein. Natürlich werde ich Ihnen diesbezüglich ein Schreiben mitgeben, das die britischen Beamten im Sudan von meinen Absichten unterrichten wird. Und Sie alle müssen unbedingt dafür sorgen, dass der Stern nicht in die Hände der Mahdisten oder der osmanischen Regierung fällt.“ Er blickte Wright an. „Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum meine Wahl auf Sie gefallen ist. Weil Sie sich zumindest teilweise im Sudan auskennen und wissen, dass mit den Anhängern des Mahdi nicht zu spaßen ist.“

Der Veteran deutete auf seine Armprothese. „Und wie sind Sie auf mich persönlich gekommen, my Lord?“

„Ganz einfach, Sie wurden mir empfohlen von Colonel Arthur Briggs. Er hat Sie im Kampfeinsatz im Sudan gesehen und Ihre Tüchtigkeit und Tapferkeit lobend erwähnt.”

„Ich habe nur meine Pflicht getan“, erwiderte Wright achselzuckend.

„Das ist keine Selbstverständlichkeit, Sergeant Wright“, widersprach ihm der Earl. „Colonel Briggs erwähnte außerdem, dass Sie durch Ihre Verwundung vom Militärdienst vorerst freigestellt wurden, aber liebend gern in den aktiven Dienst zurückkehren würden. Was hoffentlich auch irgendwann dank dieser Prothese möglich sein wird. Durch meinen Auftrag hätten Sie die Möglichkeit, Ihre militärischen Fähigkeiten in einem anderen Zusammenhang einsetzen zu können. Denn da diese Expedition in einem gefährlichen Gebiet stattfinden wird, brauchen die Teilnehmer auch einen ... Beschützer.“

„Sie hätten doch einfach ein paar Söldner anheuern können, my Lord“, entgegnete Wright.

„Nun, ich habe darüber tatsächlich nachgedacht. Aber erstens sind mir keine Söldner bekannt, die im Sudan gewesen sind, und zweitens wollte ich die Expeditionsgruppe so klein wie möglich halten, damit sie weniger... auffallend ist.“

„Also, nichts für ungut, aber in Nordafrika ist ein Weißer mit einer Armprothese doch schon ziemlich auffallend, finde ich“, sagte MacAlistair.

Lord Eavesfield schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn Sie sich tarnen. Das werden Sie ohnehin alle tun müssen, bei all den Aufständischen im Land. Mister Huntington meinte, es wäre gut, wenn alle Expeditionsteilnehmer einheimische Trachten tragen – die mit ihren weiten langen Ärmeln auch eine Prothese sehr gut verbergen können, zumindest aus der Ferne. Und ich bin mir sicher, Doctor MacAlistair findet mit seinen Kenntnissen der Chemie eine Möglichkeit, wie Sie sich für die Dauer Ihres Aufenthaltes in Afrika die Haut dunkler färben können.“

„Dermatologie ist zwar nicht mein Fachgebiet“, antwortete MacAlistair, „aber ich werde schauen, was sich da machen lässt. Man kann ja auch mit manchen Pflanzen erstaunliche Färbungen erzielen. Vielleicht wäre hier Walnussextrakt die richtige Wahl, oder indisches Henna...“

Goldstein warf ein: „In meinem Fall wird das nicht nötig sein. Drei Tage in der Sonne und ich bin braungebrannt wie ein Landwirt.“

„Sagen Sie, my Lord, Sie sprachen vorhin von einer Belohnung, die wir alle bei Erfolg der... Mission erhalten”, sagte Wright. „An welche Größenordnung hatten Sie denn dabei gedacht?“

„Nun, ich dachte an einhundert Pfund für jeden von Ihnen. Und natürlich auch für Mister Huntington. Betrachten Sie das auch als Gefahrenzulage für den Sudan. Und ich komme, wie gesagt, für alle Reisekosten auf.“

MacAlistair dachte an die umfangreichen Forschungen, die ihm dieser großzügige Betrag ermöglichen würde. Wissenschaftliche Forschung war oft eine teure Leidenschaft, vor allem wenn man all die Fehlversuche, missglückten Experimente und die Verbrauchsmaterialien mit einrechnete.

 

***

 

Gemma Hawthorne war einen Moment lang sprachlos. Von einhundert Pfund könnte sie ein dreiviertel Jahr oder länger ohne jegliche weitere Einkünfte leben. Ich könnte beim London Telegraph kündigen und mir eine interessantere journalistische Tätigkeit suchen... oder mich der Reiseschriftstellerei zuwenden... Wie oft schon hatte sie als Lohnsklavin ihres Chefredakteurs gefühlt. Einhundert Pfund, das wäre ein Geschenk des Himmels!

 

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Goldstein überlegte, welche neuen Erfindungen er mit diesem Geld finanzieren könnte, um sie anschließend mit noch mehr Gewinn zu verkaufen. Außerdem würde er einem alten Freund einen Gefallen tun. Und noch dazu bekam er eine Expeditionsreise in exotische Gefilde bezahlt. An dieser Stelle wollte er nicht allzu viel darüber nachdenken, dass es sich um ein Krisengebiet handelte.

 

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Wright fielen sofort die Schulden für die Armprothese ein. Schulden, welche mit dieser stattlichen Belohnung leicht beglichen werden könnten – auch wenn er dafür in den Sudan zurückkehren musste. Außerdem rannte ihm die Zeit davon. Keine Bank hatte ihm für die Spezialprothese einen Kredit gewähren wollen. Und der Kredithai, an welchen er sich letztendlich wandte – ein schmieriger Kerl namens Jenkins, mit dem er sich im Pub The Ten Bells in Whitechapel traf, hatte Wright eine Frist von drei Monaten gewährt, um den Betrag zurückzuzahlen.

Doch irgendetwas an dieser ganzen Diskussion sorgte bei ihm für Unbehagen. Warum war dieser mysteriöse Stern für Lord Eavesfield so wichtig, dass er bereit war, ein Vermögen dafür auszugeben? Noch dazu, wenn er es einem Museum zur Verfügung stellen wollte, ohne eigenen Gewinn an der Sache? Ging es ihm allein um das Prestige, ein sagenumwobenes Objekt zu finden, was seinen Worten zufolge Dutzenden von Altertumsforschern bisher nicht gelungen war? Und wie groß konnte der Gefallen schon sein, den er diesem Direktor schuldete?

Oder steckte etwas ganz Anderes dahinter? Aber wenn es so war, der Earl war offensichtlich nicht willens, es ihnen zu verraten. Jedenfalls glaubte Wright keine Sekunde daran, dass Lord Eavesfield mit dem Fund nur eine Schuld bei dem Direktor der Königlichen Gesellschaft bezahlen wollte. Auf der anderen Seite kam ihm die in Aussicht gestellte Belohnung gerade recht – und sagte man nicht: ,Man schaut einem geschenkten Gaul nicht ins Maul’?

„Ich möchte Ihnen noch ein weiteres Schriftstück vorlesen”, sagte der Earl nun. „Das Original wurde auf Altarabisch verfasst und es ist erst seit kurzer Zeit in meinem Besitz. Wundern Sie sich nicht, es ist nur ein Fragment. Hier ist eine Übersetzung: Ich hörte, der sagenumwobene Stern des Seth sei im 12. Jahr der Regentschaft Amenemhet des Zweiten nachts in einem der Tempel in Napata versteckt worden, auf dass niemand ihn jemals wiederfände. Doch einer der Verschwörer war selbst ein Anhänger des Seth. Er verriet seine Freunde und hinterließ später Spuren in mehreren Tempeln am Berg Barkal, die ein Rätsel bilden. Wer es zu lösen vermag, der mag dereinst den Stern des Seth wiederfinden.”

„Aha, wir müssen also vor Ort ein Rätsel lösen, um das Artefakt zu finden”, bemerkte Doctor MacAlistair.

„So sieht es aus”, erwiderte ihr Gastgeber. „Ich bin zwar kein Archäologe, aber aus meiner Sicht ist es wohl sinnvoll, wenn Sie in den Tempeln von Napata nach dem Namen des Seth suchen. Huntington kann Ihnen die entsprechenden Hieroglyphen zeigen. Ich denke, beide Texte sind ausreichend, um einige Anhaltspunkte zu haben, wo man das Artefakt suchen sollte. Und hier habe ich eine Karte – sie zeigt die Gegend, in der sich das antike Napata befunden haben soll.“

„Heißt das, die Wissenschaftler wissen es nicht genau?“, fragte Doctor MacAlistair mit einem Stirnrunzeln.

„Nach antiken Texten zu urteilen, befand sich Napata in der unmittelbaren Nähe des Berges Barkal”, erklärte der Earl. „Wo genau, ist allerdings nicht hundertprozentig geklärt. Aber es geht auch gar nicht um Napata, sondern vielmehr um die dreizehn Tempelruinen in der Umgebung. Diese sind den Archäologen besser bekannt. Eine davon beherbergt höchstwahrscheinlich den Stern des Seth. Die Frage ist nur, welcher Tempel es ist.”

Der Earl machte eine kurze Pause und sah in die Runde. „Meine Dame, meine Herren, denken Sie bitte über mein Angebot nach. Schlafen Sie einmal darüber. Sie haben bis morgen früh Zeit. Beim Frühstück erwarte ich dann Ihre Antwort. Und seien Sie versichert, dass ich keine Schwierigkeiten haben würde, andere Teilnehmer für diese Expedition zu finden. Sie aber sind meine erste Wahl.“

Wright ging durch den Kopf, dass sie sich untereinander alle nicht kannten. Sie waren kein erfahrenes Expeditionsteam, das die Zusammenarbeit miteinander gewöhnt war. Es erschien ihm absurd, für eine solche Unternehmung einfach vier ganz unterschiedliche Leute zusammenzuwürfeln. Und müsste ein Mann wie der Earl nicht genug Kontakte haben, um ein erfahrenes Team zusammenstellen zu können? „Sagen Sie, my Lord, nehmen wir an, wir alle sagen Ihnen zu. Wer von uns sollte in diesem Fall die Expedition leiten?“, fragte er.

„Ich würde Immanuel vorschlagen. Aber das ist nur eine Idee. Sie können diese Frage auch untereinander abstimmen, ganz wie es Ihnen beliebt.“

„Und wann sollen wir aufbrechen, Sir – ich meine, my Lord?“, fragte Wright.

„So bald wie möglich, Sergeant Wright.“

Den Wissenschaftler machte diese Aussicht offenbar nervös. Er stand auf und begann im Salon auf und ab zu gehen. „Ich habe ein gutes Dutzend unterschiedlicher Experimente laufen, die Langzeitbeobachtung benötigen. Ich kann diese Experimente weder abbrechen, noch neu beginnen, sie sind zu aufwändig und zu teuer. Wie stellen Sie sich das vor, Lord Eavesfield?“

„Wie lange, denken Sie, werden diese Experimente denn Ihre Aufmerksamkeit benötigen?“, fragte der Earl stirnrunzelnd.

„Acht Wochen ... vielleicht zwölf“, erwiderte MacAlistair.

„So lange kann ich nicht warten. Je eher Sie aufbrechen, desto besser. Ich möchte nicht wissen, wie die Situation sich im Sudan in drei Monaten verändert hat.“

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte der rothaarige Wissenschaftler mit einem Stirnrunzeln.

Lord Eavesfield setzte an etwas zu sagen, da hob Wright die Hand: „Wenn ich etwas dazu sagen darf, my Lord – im Sudan sieht es momentan so aus, dass die Mahdisten Ende Januar Khartum, also die Hauptstadt, erobert haben. Natürlich gibt es Pläne, die Stadt und das Umland zurückzuerobern, mithilfe britischer und ägyptischer Truppen, aber wer weiß schon, wie lange das dauern, beziehungsweise, wie es ausgehen wird. So oder so wäre eine Expedition dorthin gefährlich ... mehr als gefährlich. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, müssen wir nicht nach Khartum, sondern nach Napata, das liegt nach dieser Karte hier etwa zweihundertfünfzig Meilen nördlich davon. Und soweit ich weiß, gibt es dort zumindest im Moment keine größeren Kämpfe. Aber das ist nur das, was man in den Zeitungen erfährt. Sicher gibt es haufenweise Informationen beim Militär, die streng vertraulich behandelt werden, um die Truppen nicht zu gefährden.“

„Wir riskieren also alle unser Leben, wenn wir dorthin reisen“, sagte Miss Hawthorne.

„Mehr oder weniger. Es kommt darauf an, wie geschickt Sie sich anstellen“, erwiderte der Earl. „Daher biete ich Ihnen ja allen eine großzügige Belohnung an, die Sie erhalten, wenn Ihre Expedition erfolgreich verläuft.“

Unvermittelt wechselte er das Thema. „Um auf Ihre Bedenken zurückzukommen, Doctor MacAlistair: Sie haben doch Ihre Assistentin. Sie könnten sie beauftragen, in Ihrer Abwesenheit Ihre Experimente zu überwachen.“

„Das kann ich nicht allein entscheiden. Ich muss das mit meiner Assistentin besprechen.“

„Bitte“, Lord Eavesfield machte eine einladende Geste. „Sie wissen ja, wo der Fernsprecher steht.“

„Vielleicht macht es Sinn, wenn wir uns erst einmal untereinander besprechen – ob wir die Expedition überhaupt machen wollen”, erwiderte der Wissenschaftler.

 

***

 

Immanuel Goldstein war unterdessen aufgestanden und an eines der Fenster getreten. Er schob die dunkelblaue Damastgardine beiseite und sah hinaus in die Dunkelheit. Ohne sich umzudrehen, sagte er: „Ich werde nicht mitkommen können, fürchte ich. Meine Frau Edith würde sich viel zu viele Sorgen um mich machen. Sie hat ihren Bruder im Krieg in Südafrika verloren.”

Seinen alten Freund schien das wenig zu beeindrucken. „Das werden wir sehen“, antwortete er. „Und wie gesagt, ich habe einen Fernsprecher. Aber ich denke, Doctor MacAlistair hat recht: Ich werde Ihnen allen Zeit geben, sich untereinander auszutauschen. Folgen Sie mir bitte.“

Im Empfangssalon ließen sie sich in der Nähe des Kamins auf bequemen Sesseln nieder. Wilbur blieb vor dem Kamin stehen und wies seinen mechanischen Butler an, ihnen Getränke zu bringen. Die Herren wünschten sich Sherry, Whiskey und Portwein, während Miss Hawthorne um einen schwarzen Tee mit Milch bat.

„Schade, dass Winter in Rente gegangen ist, Wilbur”, bemerkte Goldstein mit einem Blick auf den Automaton.

„Oh ja, er stand lange Jahre in meinen Diensten”, erwiderte der Earl. „Aber die Zeiten ändern sich ... und als ich von dieser Erfindung hörte, konnte ich nicht widerstehen. Cartridge ist ein Unikat – ein Prototyp, genauer gesagt. Aus der Werkstatt Anton Van Bergens aus Amsterdam. Sehr intelligent, diese Maschine – und sehr diskret, selbstredend. Ich habe in den letzten zwei Jahren aber auch einige andere neue Diener eingestellt.”

„Ja, das ist mir aufgefallen. Was ist aus den anderen geworden?”

Der Earl zuckte mit den Achseln. „Meine ehemalige Haushälterin hat geheiratet, der Koch ist zur Armee gegangen und eines der Hausmädchen hat sich dummerweise schwängern lassen – von Greens Vorgänger.”

„Oh”, machte Goldstein nur. Er war froh, dass er keinem so großen Haushalt vorstand wie sein Freund, und sich dementsprechend nicht um so viele Bedienstete kümmern musste.

Cartridge brachte einen Teewagen mit Getränken herein.

„Ich werde Sie nun eine Weile allein lassen, damit Sie sich ganz unbefangen unterhalten können”, erklärte ihr Gastgeber. „Fühlen Sie sich wie zu Hause. Wenn Sie weitere Getränke wünschen, klingeln Sie einfach hier nach Cartridge.“ Der Earl deutete auf einen Klingelknopf neben der Tür, einer von mehreren Knöpfen.

Nachdem sein Freund gegangen war, ergriff er das Wort. „Vielleicht sollten wir als erstes mal fragen, wer von uns überhaupt Interesse hat, an der Expedition teilzunehmen.“

„Ich auf jeden Fall“, sagte Wright. „Ich kann die hundert Pfund sehr gut gebrauchen.“

„Das geht mir ähnlich, ich würde das Geld gern für meine Forschungen verwenden“, erklärte Doctor MacAlistair.

„Grundsätzlich bin ich auch interessiert. Ich habe allerdings Bedenken angesichts der schwierigen politischen Situation im Sudan und angesichts der ... dünnen Quellenlage bezüglich des Artefakts“, meinte die Journalistin.

„Ich für meinen Teil überlege auch, teilzunehmen“, sagte Goldstein, „und nicht nur aus Freundschaft. Lassen Sie uns doch einmal alle Bedenken sammeln, die gegen die Expedition sprechen. Einige hat Miss Hawthorne ja schon angesprochen.“

„Erstens: Einer von uns war noch nie in Afrika, das ist doch richtig?” begann Wright und sah MacAlistair an.

„Ich habe zumindest viel über diesen Kontinent gelesen“, erwiderte dieser. „Zweitens: Im Sudan herrscht Krieg. Und zwei von uns haben keine militärischen Erfahrungen. Drittens: Unsere Gruppe ist sehr klein. Wenn wir in einen Hinterhalt geraten oder in eine Schar Aufständischer, sind wir verloren.“

„Es sei denn, wir tarnen uns als Einheimische“, meinte Goldstein. „Wie es Wilbur vorgeschlagen hat. Alllerdings spricht offenbar nur dieser Mister Huntington Arabisch, ist das richtig?“

Die anderen nickten.

„Können Sie auf einem Kamel reiten, Doctor MacAlistair?“, erkundigte er sich.

„Machen Sie Witze? Ich kann nicht mal auf einem Pferd reiten. Ich habe eine Pferdehaar-Allergie.“

Goldstein verkniff sich nur mit Mühe das Lachen. Er versuchte, sich den schlaksigen Wissenschaftler auf einem störrischen Kamel vorzustellen. „Dann werden Sie es lernen müssen, Doctor.“

Der Wissenschaftler warf ihm einen bösen Blick zu, doch Goldstein ignorierte dies.

Miss Hawthorne ergriff das Wort: „Viertens: Wir haben bislang keinen blassen Schimmer, wie das Artefakt aussieht. Selbst wenn wir den Ort in diesem Napata finden, an dem es versteckt wird, wissen wir immer noch nicht, wonach wir suchen müssen.“

„Aber sagte Eavesfield nicht, es müsste sich um einen relativ großen Gegenstand handeln? Imposant, das war sein Ausdruck”, meinte der Wissenschaftler.

„Das führt mich zu fünftens“, erwiderte sie. „Wenn es wirklich ein imposanter Gegenstand ist, warum ist der bisher noch nicht gefunden worden? Und wie sollen wir ihn denn transportieren, ohne aufzufallen?“

„Vielleicht in einem Schrankkoffer, auf einem Kamel?“, überlegte Goldstein.

„Wenn uns da mal nicht das Kamel zusammenbricht”, entgegnete der Sergeant.

„Nun, zur Not baue ich uns vor Ort ein Transportgerät – ein unauffälliges“, erwiderte er. „Da fällt mir bestimmt schon etwas ein.“

„Also streichen wir diesen Punkt...”, sagte Miss Hawthorne. „Fünftens: Es ist unsicher, ob wir durch weitere Recherchen mehr über das Artefakt herausfinden. Mir wäre es ja lieber, der Earl würde uns mehr Zeit für die Entscheidung geben. Dann könnten wir weitere Nachforschungen anstellen. Und warum ist es ihm überhaupt so eilig mit der ganzen Sache? Mister Goldstein, wissen Sie mehr darüber?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht mehr als Sie. Wilbur hat mir gegenüber diesen Stern des Seth nie zuvor erwähnt. Das wundert mich an der ganzen Geschichte. Übrigens – ich habe es Mister Wright und Miss Hawthorne schon erzählt: Ich bin seit rund zwei Jahren nicht mehr hier im Herrenhaus gewesen. Wir waren beide beruflich sehr eingespannt und ich habe im Ausland gearbeitet.”

„Hmm... Also was mir ja am meisten Sorgen macht, sind diese Mahdisten“, murmelte MacAlistair.

„Können Sie mit einer Waffe umgehen?“, fragte Wright ihn.

„Ich habe während meines Studiums Fechten gelernt.“

„Ich dachte eher an Schusswaffen.“

MacAlistair schüttelte den Kopf.

Der Sergeant verzog das Gesicht. „Was ist mit Ihnen, Miss Hawthorne?“, wollte er wissen.

„Da muss ich passen.“

Goldstein fiel ein: „Ich habe einmal für eine Mitarbeiterin des Secret Service einen Fächer mit integrierten Messerklingen gebaut. Vielleicht wäre das auch etwas für Sie – ich meine, zur Verteidigung im Notfall. Oder nehmen Sie eine kleine Hartford, die passt auch in eine Damenhandtasche.“

„Dann müsste ich aber erst einmal schießen lernen. Ich glaube außerdem nicht, dass die Sudanesinnen mit Damenhandtaschen herumlaufen, und wenn wir uns als Einheimische tarnen, werde ich das sicherlich auch nicht tun. Die Idee mit dem Fächer ist besser, den kann ich an einem Gürtel befestigen.“

„Das wird kein Problem sein“, erwiderte er.

„Eine andere Frage: Wie lange würde eigentlich die Anreise dauern?“, erkundigte sich Doctor MacAlistair.

„Ich bin vor vier Jahren mit Luftschiffen angereist und habe rund drei Tage bis Khartum gebraucht”, erklärte der Sergeant. „Aber wenn wir nur bis zum Berg Barkal reisen, wo das antike Napata gelegen hat, sparen wir uns circa zweihundertfünzig Meilen, nach der Karte des Earls zu urteilen.“

„Die Frage ist, ob wir überhaupt noch mit Luftschiffen bis in den Sudan reisen können, oder ob wir nicht schon in Ägypten auf Eisenbahn, Schiff oder gar Kamele umsteigen müssen“, überlegte Goldstein.

„Hmm, ich würde eher auf die Eisenbahn und auf Schiffe tippen“, erwiderte der Sergeant. „Der Nil fließt ja quer durch den Sudan, alle größeren Städte sind an seinen Ufern zu finden. Von der Geschwindigkeit her sind zumindest Eisenbahnen ja ähnlich schnell wie Luftschiffe – selbst in Afrika fahren die in der Regel mit fünfzig Meilen pro Stunde. Es sei denn, man gerät in einen Sandsturm, dann geht erst einmal nichts mehr.“

Er trommelte mit den Metallfingern der Prothese auf seine Stuhllehne, ein hartes, klackendes Geräusch. „Ich muss schon sagen, mich reizt dieses Angebot – trotz aller Bedenken. Wie sieht es bei Ihnen aus?“ Er blickte in die Runde.

„Ich muss noch darüber nachdenken“, gab Goldstein zu, da ihm die aktuelle politische Lage im Sudan ganz und gar nicht gefiel.

MacAlistair sinnierte: „Wenn ich es mir recht überlege, wollte ich immer schon mal gern auf den ,schwarzen Kontinent’. Ich hatte nur bisher noch nie Gelegenheit dazu.“

Wright entgegnete: „Na, ich hoffe mal, Sie hegen da nicht allzu romantische Vorstellungen. Im Sudan ist es verdammt heiß, nachts dagegen tierisch kalt und man muss dauernd aufpassen, dass man nicht verdurstet – ach ja, und da gibt es jede Menge fieser Insekten, Schlangen, Skorpione und anderes Getier. Hatte ich schon die Sandstürme erwähnt?“

„Keine Sorge, das alles ist mir schon klar“, antwortete MacAlistair. „Aber es gibt ja auch Hilfsmittel gegen viele dieser... Unannehmlichkeiten.“

„Sie scheinen ja ziemlich abenteuerlustig sein, Doctor MacAlistair”, sagte die Dame.

„Wissbegierig wohl eher.“ Er lächelte. „Meine Assistentin meint jedenfalls immer, ich sollte nicht meine ganze Zeit im Labor verbringen. Da wäre eine Reise nach Afrika doch mal eine gute Abwechslung.“ Der Wissenschaftler hielt kurz inne, dann meinte er: „Da fällt mir ein, ich rufe sie lieber noch einmal an.“

Mit diesen Worten stand er auf und verließ er den Raum.

„Wenn ich dem Angebot des Earls zustimme, dann unter einer Bedingung: Ich möchte einen Exklusivbericht für den London Telegraph schreiben, sobald das Artefakt öffentlich ausgestellt wird”, sagte die Journalistin. „Dafür könnte ich ja Teile des Reiseberichts verwenden, welchen ich für den Earl schreiben soll.”

„Ich glaube nicht, dass der gute Wilbur dagegen irgendwelche Einwände hat”, erwiderte Goldstein. Er überlegte bereits, mit welchen Argumenten er seiner Frau seine Teilnahme an der Reise schmackhaft machen konnte. Sie würde keinesfalls mitkommen, denn er wollte sie unter keinen Umständen unnötig in Gefahr bringen. Außerdem litt Edith seit ihrer Jugend unter starker Höhen- und Flugangst. Letzteres hatte sie auf einer Luftschiffreise von London nach Paris herausgefunden. Deshalb war eine Reise mit einem Luftschiff für sie völlig ausgeschlossen. Und überhaupt, Edith war mit ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten so beschäftigt, dass sie diese kaum für eine mehrwöchige Reise ruhen lassen würde.

 

Kurz darauf fernsprach er mit ihr, nachdem MacAlistair von seinem Ferngespräch zurückgekehrt war. In wenigen knappen Sätzen umriss er seiner Frau Wilburs ambitioniertes Vorhaben. Zu seiner Verblüffung schien Edith nicht überrascht. Sie sagte sogar: „Du wirst dich wundern – er hat mich heute Morgen angerufen und mir von seinen Plänen erzählt. Er wollte meine Einschätzung hören, ob er auf deine Hilfe zählen könnte.“

„Ist ja nicht zu fassen“, murmelte Goldstein. „Das sieht ihm gar nicht ähnlich...“

„Nun, ich war auch überrascht von seinem Anruf. Es scheint ihm wirklich sehr wichtig zu sein. Wie siehst du das? Möchtest du an dieser Expedition teilnehmen?“

„Ich bin davon ausgegangen, dass du dagegen bist. Im Sudan ist wahrscheinlich die Hölle los.“

„Mein lieber Immanuel, ich weiß ganz genau, dass du einem Abenteuer nie abgeneigt bist. Wie könnte ich dich davon abhalten?“

Goldstein war überrascht. Sein Freund hatte offensichtlich schlagkräftige Argumente benutzt, um Edith von seinen Plänen mit ihrem Mann zu überzeugen. Er zögerte. „Aber ... wir wollten doch demnächst Urlaub machen in Brighton, mit unserem Sohn.“

„Das können wir auch nach deiner Rückkehr noch, wenn er das nächste Mal Urlaub hat.”

Goldstein erwiderte verwirrt: „Edith, ich muss schon sagen, ich bin erstaunt.“

„Nun, es freut mich, dass ich dich immer noch überraschen kann“, erwiderte sie lachend.

„Also, wenn das so ist, werde ich meinen Teilhaber verständigen, dass er während meiner Abwesenheit die dringenden Geschäfte übernehmen soll. Der Rest hat Zeit, bis ich wieder da bin.”

„Das hört sich gut an. Wie lange, schätzt ihr, wird die Expedition denn dauern?“

„Das kommt drauf an, wann wir das Artefakt finden. Vier Wochen, denke ich, vielleicht auch etwas länger. Die Hinfahrt wird nicht allzu lange dauern, wenn wir per Luftschiff und Eisenbahn reisen – schätzungsweise drei Tage.“

„Na ja, dann bleibt zu hoffen, dass eure Schatzsuche nicht allzu lange dauert”, erwiderte Edith.

„Das hoffe ich auch, Liebes“, sagte er und verabschiedete sich.

 

Nach seinem Ferngespräch kam er zurück in das Empfangszimmer. Sein alter Freund befand sich ebenfalls dort, vielleicht war er neugierig, wie sie sich entscheiden würden?
„Ich habe gute Nachrichten, Wilbur”, sagte er lächelnd. „Edith hat keine Einwände gegen meine Teilnahme an der Reise.“

„Ich muss zugeben, ich habe mit ihr gesprochen, schon im Vorwege, um sie vorzuwarnen“, antwortete Wilbur.

„Ja, das sagte sie mir“, meinte Goldstein. „Gib es zu, du hast sie überredet.“

Wilbur lachte. „Du kennst mich gut.”

„Nun, ich lasse dir das mal durchgehen, da wir alte Freunde sind. Bei jedem Anderen wäre ich nicht so gnädig.”

„Das nenne ich Glück”, erwiderte Lord Eavesfield mit einem Lächeln.

Wright stand auf. „My Lord, ich werde an der Expedition ebenfalls teilnehmen.“

„Das freut mich zu hören!“, sagte ihr Gastgeber und nickte dem Sergeant zu. „Und wie steht es mit Ihnen, Doctor MacAlistair?“

„Nun...“, MacAlistair zögerte. „Um meine Forschungen und Experimente würde sich vielleicht während meiner Abwesenheit meine Assistentin kümmern. In jedem Fall würde ich gern noch mal eine Nacht darüber schlafen und mich erst morgen früh entscheiden.“

Der Earl runzelte die Stirn einen Moment lang und bedachte MacAlistair mit einem forschenden Blick. Aber dann lächelte er und sagte einfach: „Das steht Ihnen natürlich frei.”

„Ich möchte ebenfalls noch eine Nacht darüber schlafen”, erklärte die Journalistin.

„Gewiss.”

Goldstein, Wilbur und dessen Gäste saßen noch eine Weile zusammen.

Der Earl machte sie auf einen Zeitungsartikel aufmerksam. „Im nördlichen Teil des Landes sind zur Zeit britisch-ägyptische Truppen auf dem Vormarsch. Damit wäre es für Sie zumindest im Moment nicht so gefährlich wie in anderen Teilen des Landes. Sie müssten ja in den Norden.“

„Das sind doch mal gute Nachrichten“, murmelte Wright.

„Hast du eigentlich der Königlichen Gesellschaft für Antiquitäten und Archäologie schon angekündigt, dass du eine Expedition zum Auffinden des Artefakts auf Reisen schickst?“, fragte Goldstein seinen Freund.

Wilbur schüttelte den Kopf. „Aber nicht doch. Wie stünde ich denn da, wenn die Expedition nicht erfolgreich verläuft?“

Goldstein biss sich auf die Lippe. „Auch wieder wahr...“

Inzwischen war es schon kurz vor Mitternacht und einer nach dem anderen zog sich in sein Gästequartier zurück.

Sein alter Freund und er saßen als letzte noch bei einem Glas Wein und einer Partie Schach im Salon. Wilbur gewann, was Goldstein mit einem Lachen zur Kenntnis nahm. „Du weißt doch immer genau, wie du deinen Gegner schachmatt setzen kannst – das wusstet du schon zu unseren Studienzeiten.“

Wilbur lächelte spöttisch. „Ich bin eben ein Genie.“

Goldstein lachte ein weiteres Mal. Er trank seinen Wein aus und verabschiedete sich: „Gute Nacht, Wilbur.“

„Die wünsche ich dir auch, Immanuel“, antwortete sein Freund.

 

***

 

MacAlistair wälzte sich in dem bequemen Gästebett lange hin und her. Er grübelte, warum Lord Eavesfield gerade ihn zu der Expedition eingeladen hatte. Natürlich hatte der Earl einige sinnvolle Argumente vorgebracht, doch wirklich überzeugt hatte es ihn nicht. Vielleicht sollte ich mir nicht so viele Gedanken machen und mir eher überlegen, was ich mit den hundert Pfund Belohnung anfange. Ich könnte die Forschungen für ein Heilmittel gegen die Tuberkulose weiter voranbringen... oder noch besser, für einen Impfstoff... oder...

Mit diesen hoffnungsvollen Gedanken fiel er in einen unruhigen Schlaf.

 

***

 

Wright zog sich in seinem Gästezimmer einen gestreiften Pyjama an und kletterte mitsamt seiner Prothese ins Bett. Da Teile von ihr mit seinen Nervensträngen und Synapsen verschmolzen waren, musste er sie Tag und Nacht tragen. Mittlerweile hatte er gelernt, mit der anderen Hand die äußeren Teile der Prothese zu reinigen. Als er eingeschlafen war, träumte er von den Kämpfen im Sudan, wie schon so viele Nächte zuvor...

 

Am Morgen des 17. Januars hatte das Camel Corps unter Sir Herbert Stewart den Angriff der Mahdisten auf ihr befestigtes Lager erwartet. Wenig später gab General Stewart den Befehl, ein riesiges Karree zu bilden. Allerdings wurde diese Formation, welche aus verschiedenen britischen Regimentern und einigen Söldnertruppen gebildet wurde, bald darauf von zwei Seiten von Kolonnen der Mahdisten angegriffen, die deutlich in der Überzahl waren.

Wright war Teil der berittenen Infanterie, welche in diesem Karree auf der linken vorderen Seite zu Fuß unterwegs waren. Sie wurden durch einzelne Söldnertruppen ergänzt. Die Sicht wurde erschwert durch den starken Wind, der immer wieder Sand und Staub aufwirbelte. Seit zwei Stunden bewegten sich die Soldaten bereits in diesem Karree, das sich bereits an einigen Stellen deutlich verformt hatte. Am liebsten hätte sich Wright die völlig verdreckte Schutzbrille abgerissen, doch dann hätte er vermutlich noch weniger gesehen.

Die Offiziere riefen Befehle, Kamele blökten und einige Pferde wieherten panisch. Wright begriff, dass die Mahdisten-Armee die vordere linke Ecke des Karrees angreifen wollte – seine Position. Das gesamte Karree verlagerte sich innerhalb von wenigen Minuten nach rechts, um eine bessere Angriffsposition zu erreichen. Eine große Einheit von etwa dreitausend Mahdisten, bewaffnet mit Speeren und Schwertern, griff bald darauf an.

Die Briten hatten allerdings ein Problem: Sie konnten nicht sofort das Feuer eröffnen, sondern mussten erst noch einige Scharmützler wieder in das Karree hinein lassen, die vor der Formation gekämpft hatten. Wright sah mit Schrecken, wie sich die Mahdisten rasch näherten, in einer gewaltigen Staubwolke. Seine Schutzbrille war nutzlos; er riss sie sich von den Augen und schob sie nach oben.

„Feuer!”, kam der Befehl zu seiner Linken. Wright schoss automatisch, ohne nachzudenken. Ein Mahdist war getroffen, stürzte vom Pferd.

Gerade als Wright sein Infanteriegewehr nachladen wollte, fühlte er einen Aufprall am linken Arm. Plötzlich schien die Zeit sich zu verlangsamen. Ungläubig starrte er auf seinen Arm und sah einen Blutfleck auf dem Uniformärmel, der sich rasch ausbreitete. Dann erst hörte er einen peitschenden Schuss in unmittelbarer Nähe.

Nun setzte der Schmerz ein. Wright schrie auf, ließ sein Gewehr fallen. Der brennende Schmerz riss ihn fast von den Füßen. Plötzlich tauchte neben ihm das Gesicht einer Frau mit kurzen, schwarzen Haaren auf – eine Söldnerin in der Uniform der sogenannten Muscleteers. „Nach hinten, Sergeant, da sind Sie sicherer. Oder können Sie noch schießen?”

Benommen schüttelte er den Kopf.

„Dachte ich mir.” Die Söldnerin wandte kurz den Kopf ab und feuerte auf die Gegner. Dann schrie sie einem Mann in der Nähe zu: „Dylan! Bin gleich wieder da, der Sergeant hier ist getroffen.”

Der brennende Schmerz war wie ein Feuer, das immer mehr von ihm Besitz ergriff. Wright war kurz davor, zusammenzubrechen. Die Söldnerin, welche fast einen Kopf kleiner war als er, legte sich seinen gesunden Arm über ihre Schultern, stützte ihn und schleifte ihn so in das Zentrum des Karrees. Als sie dort ankamen, wurde ihm schwarz vor Augen.

Schweißgebadet erwachte er aus diesem Albtraum, den er schon so oft geträumt hatte. Nein, kein Traum, sondern seine Erinnerungen. Plötzlich ein knallendes Geräusch; Wright schrak zusammen. Sein Herz raste. Einen Moment lang war er wieder in der Wüste bei Abu Klea und hörte die Schüsse der Angreifer. Sein erster Impuls war, in Panik aus dem Bett zu springen. Dann schalt er sich selbst und schüttelte die schrecklichen Bilder ab. Draußen heulte der Sturm ums Haus und das Knallen war noch immer zu hören. Wright hievte sich aus dem Bett und ging zum Fenster hinüber, dem lauten Geräusch entgegen. Seine gesunde Hand zitterte. Es war nur ein Fensterladen, der sich aus seiner Verankerung gelöst hatte und im starken Wind immer wieder gegen das Fenster gestoßen wurde. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, öffnete das Fenster und hängte den Fensterladen wieder ein.

 

***

 

Miss Hawthorne hörte ein Klopfen an ihrer Tür. „Herein”, sagte sie und zog gleichzeitig ihre Bettdecke über ihr Nachthemd.

Zu ihrer Überraschung trat niemand anderes als Timothy Lancaster ein, jener Journalist, der ihr vor einigen Jahren einen Heiratsantrag gemacht hatte.

„Timothy?! Was tust du hier?”, rief sie.

Er trat an ihr Bett und ergriff ihre Hand. „Gemma”, sagte er mit verträumter Stimme. „Wann wirst du dich endlich der Liebe öffnen? Du bist nicht dafür geschaffen, allein zu bleiben...”

 

Mit rasendem Herz erwachte sie aus diesem Traum, der sie aufgewühlt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Timothy im Traum erschien. Genau genommen hatte sie diesen Traum schon recht häufig gehabt. Sie rieb sich die Schläfen, denn nun hatte sie auch noch Kopfschmerzen.

Damals, als Timothy Lancaster um ihre Hand angehalten hatte, hatte sie ihn abgewiesen. Sie fürchtete, dass er ihr das Arbeiten verbieten würde, wenn sie erst einmal verheiratet waren – ganz gleich, was er ihr vorher dazu gesagt hatte. Und dass er von ihr Kinder erwartete und deren Erziehung, was mit Sicherheit über Jahre hin den Großteil ihrer Zeit in Anspruch nehmen würde. Ihr war klar, dass dies für die meisten Frauen ein hehres Ziel war. Aber Gemma Hawthorne war anders. Sie liebte es, zu schreiben, auch wenn ihre derzeitige Anstellung noch nicht der erhoffte Durchbruch war. Und es erschien ihr völlig unmöglich, gleichzeitig Journalistin zu sein – oder vielleicht sogar zukünftig Schriftstellerin? – und Kinder großzuziehen. Da versagte sie sich lieber romantische Gefühle und verzichtete auf einen Ehemann. Eine Affäre wiederum kam für sie aus moralischen Gründen auch nicht in Frage. Es war für sie unvorstellbar, die Geliebte eines Mannes zu werden, sei er nun verheiratet oder nicht. Sie wollte unabhängig bleiben, auf jeden Fall.

Das ganze Thema und auch ihre Liebe zu Timothy Lancaster hatte sie also längst abgehakt. Verwirrt fragte sie sich, warum sie immer noch ausgerechnet von diesen Traum heimgesucht wurde. Ärgerlich fegte sie die Gedanken daran beiseite und dachte stattdessen an das Angebot des Earls. Einerseits reizte sie die Reise in ein unbekanntes Land, andererseits machte sie sich Sorgen wegen der Mahdisten, und darüber hinaus zweifelte sie an den Motiven des Earls, dieses Artefakt zu finden.

Will er es tatsächlich einfach nur öffentlich ausstellen lassen in dieser Königlichen Gesellschaft? Oder ist dieser Stern des Seth in Wahrheit sehr wertvoll und er will sich daran bereichern?

Schließlich stand sie wieder auf. Mal sehen, ob ich nicht noch mehr über den Lord herausfinden kann... Sie entzündete eine Kerze in einem silbernen Kerzenhalter, schlüpfte in Nachthemd und barfuß aus ihrem Zimmer. Die flackernde Kerze warf gespenstische Schatten an die dunklen Wände des Korridors. Leise schlich sie durch Eavesfield Mansion. An jeder Ecke lauschte sie, doch bis auf das Brausen des Sturmes war nichts zu hören.

Auf Zehenspitzen ging sie hinauf in den ersten Stock; versuchte dort die erste Tür zu ihrer Linken zu öffnen, doch diese war verschlossen. Auch bei der zweiten Tür hatte sie kein Glück. Die dritte Tür dagegen ließ sich öffnen. Die Möbel in dem dahinterliegenden Raum waren alle mit weißen Laken verhängt. Im schwachen Licht der Kerze bemerkte sie einige helle rechteckige Flecken an den Wänden. Offenbar hatten hier längere Zeit Bilder gehangen, doch diese waren mittlerweile verschwunden. Nichts Interessantes zu sehen. Also versuchte sie ihr Glück bei der nächsten Tür.

Überrascht hielt sie inne. Auf dem Boden des Raumes lagen mehrere orientalische Teppiche. Gewebte Wandbehänge verzierten die Wände. In der Mitte befand sich ein niedriger Holztisch mit einer silberfarbenen runden Tischplatte, um den mehrere große Sitzkissen mit Bezügen aus glänzendem Brokat verteilt waren. Auf einer kleinen Kommode standen mehrere Statuetten im altägyptischen Stil, welche mit Hieroglyphen verziert waren. Sie betrachtete diese genauer, erkannte aber die Hieroglyphen nicht. Alles im allem sah dieser Raum wie ein orientalisches Wohnzimmer oder eine Teestube aus. An der Stirnseite gab es eine mit geometrischen Schnitzereien verzierte Holztür. Vielleicht war dies auch ein Durchgangszimmer zu einem weiteren Raum?

Ich frage mich nur, wer hier wohl wohnt... Sie durchquerte den Raum und wollte schon die Klinke der verzierten Tür herunterdrücken, als sie es sich anders überlegte und stattdessen ihr linkes Ohr an die Tür presste. Zuerst nahm sie gar nichts wahr, doch nach kurzer Zeit konnte sie jenseits der Tür Geräusche hören. Leiser Gesang, es klang wie ein Schlaflied. Zum Glück hatte sie nicht einfach die Tür aufgerissen. Eindeutig eine Frau, die dort sang, doch die Worte waren zu leise, um sie zu verstehen.

Der Earl ist nicht verheiratet und eine Tochter hat er auch nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass da ein Dienstmädchen oder die Haushälterin singt. Ob er noch eine Besucherin hat? Und warum ist dieses Zimmer so eingerichtet?

Doch wer auch immer es war, offenbar hatte der Earl kein Interesse daran, seine Gäste mit der Dame bekannt zu machen. Sie versuchte, durch das Schlüsselloch zu schauen, doch die Türklinke hatte keines. Einen Moment lang überlegte sie, die Tür einfach leise einen Spaltbreit zu öffnen, um hindurch zu blicken, aber dann dachte sie daran, dass alte Türen gern quietschten, und nach einigem Zögern entschied sie sich schweren Herzens, dass es sicherer war, wieder den Rückzug anzutreten.

Sie war gerade wieder ins Erdgeschoss hinabgestiegen, als sie auf der Treppe hinter sich Schritte vernahm. Miss Hawthorne wirbelte herum und vor Schreck ließ sie beinahe die brennende Kerze fallen. Am oberen Absatz der Treppe stand der mechanische Diener Cartridge. „Was tun Sie hier, Miss Hawthorne?“ erkundigte sich dieser mit seiner metallisch schnarrenden Stimme.

„Es tut mir leid – ich konnte nicht schlafen und ich hatte Durst, deshalb wollte ich mir in der Küche ein Glas Wasser holen.“

Der Roboter entgegnete: „Die Küche befindet sich am anderen Ende des Erdgeschosses. Gehen Sie bitte zurück auf Ihr Gästezimmer. Ich bringe Ihnen das Wasser.“

Sie nickte rasch. „Danke, Cartridge.“

Bevor er sich abwandte, sagte er noch: „Und wenn Sie sonst noch einen Wunsch haben, klingeln Sie nach einem Diener. In Ihrem Gästezimmer gibt es auch eine Klingel.“

„Oh ja, natürlich. Daran habe ich gar nicht gedacht. Entschuldigen Sie bitte.“

Miss Hawthorne fühlte sich ertappt und gemaßregelt wie ein Schulmädchen, das man bei einem Streich erwischt hatte. Und das, obwohl sie es hier im Grunde nur mit einer völlig emotionslosen Maschine zu tun hatte. Zum Glück hatte der Diener sie nicht in jenem orientalisch eingerichteten Zimmer entdeckt.

Kurz darauf klopfte es an ihrer Tür und sie öffnete dem mechanischen Diener. „Hier ist Ihr Wasser, Miss“, sagte er und reichte ihr ein Glas.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie rasch.

„Gute Nacht, Miss“, erwiderte Cartridge und ließ sie allein.

 

Sie erwachte, als die Sonne bereits aufgegangen war. Draußen vor ihrem Fenster zwitscherten die Vögel. Vergessen waren der Schrecken in der Nacht und der Sturm. Vielleicht ist der Sonnenschein ein gutes Omen ... Gemma, was soll das, du bist doch sonst auch nicht abergläubisch?! Sie fragte sich noch immer, wer wohl die geheimnisvolle Frau war, die sie in der Nacht hatte singen hören. Aber wahrscheinlich gab es eine ganz einfache Erklärung. Vermutlich war es ein Dienstmädchen oder eine andere Angestellte des Earls gewesen.

Vor dem Frühstück rief sie ihren Onkel David an. Er zählte zu den Frühaufstehern, selbst an Sonntagen bestand keine Gefahr, dass sie ihn wecken würde. Tatsächlich klang er recht munter, als er das Gespräch entgegennahm. Rasch erzählte sie ihm von dem ungewöhnlichen Angebot des Earls, ohne ins Detail zu gehen.

Er schien nicht überrascht. „Das ist eine tolle Gelegenheit für dich, wieder einmal auf archäologischen Spuren zu wandeln“, sagte er ihr. „Ich würde zu gern selbst mitkommen, aber ich schaffe es zeitlich einfach nicht. Die Prüfungen und Kolloquien stehen an, außerdem hat mich Dekan Dawson zu seiner Jubiläumsfeier eingeladen und ich kann unmöglich absagen – es wäre ein Affront.“

„Ich verstehe. Aber warum hast du mir nichts davon gesagt, dass du mich dem Earl gegenüber empfohlen hast?“

„Ich konnte ja nicht wissen, dass er dann ausgerechnet dich ansprechen würde. Ich habe ihm eine ganze Reihe an ausgebildeten Archäologen empfohlen...“

„So wie diesen Ian Huntington? Er hat der Expedition schon zugestimmt – ohne den Rest von uns zu kennen.“

„Oh ja. Guter Mann, dieser Huntington. Hat erst vor zwei Jahren bei mir seinen Abschluss gemacht. Aus dem wird mal was Großes. Ein bisschen kopflastig und manchmal zerstreut, aber ein formvollendeter Gentleman und hochintelligent. Er hat den Lehrstoff aufgesogen wie ein Schwamm und nebenbei auch noch Arabisch gelernt.“

„Das klingt nach einem Bücherwurm...“, dachte sie laut. „Vielleicht ähnlich wie dieser Wissenschaftler, der auch mitkommen soll, ein Doctor der Biologie, Chemie und Humanmedizin.“

Noch so ein Mann im Expeditionsteam? Das stelle ich mir schwierig vor..., dachte sie im Stillen.

Ihr Onkel lachte. „Du und ich, wir sind doch selbst Bücherwürmer... Nun, wenn Mister Huntington euch tatsächlich begleiten sollte, kannst du dir ja selbst ein Bild von ihm machen.“

 

Beim Frühstück erwähnte Lord Eavesfield die Begegnung seines Dieners mit Miss Hawthorne mit keinem Wort. Vielleicht hatte Cartridge ihn auch gar nicht davon in Kenntnis gesetzt. Sie wusste nicht genau, wie es im „Gehirn” eines mechanischen Dieners aussah und wie weitreichend dessen künstliche Intelligenz war.

„Ich hoffe, Sie alle hatten eine ruhige Nacht, trotz des Wetters?”, erkundigte sich ihr Gastgeber.

„Nein, eher durchwachsen. Aber das lag keineswegs an Ihrer Gastfreundschaft, sondern eher an meinen Träumen und dem Sturm”, erwiderte Wright, der dunkle Ringe unter den Augen hatte.

„Danke der Nachfrage, ich habe gut geschlafen”, sagte sie. „Und ich gehe auf Ihr Angebot ein, my Lord. Unter einer Bedingung...”
„Und die wäre?”
„Sollten wir das Artefakt finden, möchte ich einen exklusiven Bericht darüber für den London Telegraph verfassen, auf der Basis meines Reiseberichts.”

Der Earl nickte. „Das können Sie gern tun, Miss. Und ich freue mich, dass Sie auf mein Angebot eingehen.”

Er wandte sich an den Wissenschaftler. „Dann steht nur noch Ihre Entscheidung aus, Doctor MacAlistair.“

Dieser runzelte die Stirn. „Ich bin einverstanden. Auch wenn ich ehrlich gesagt nicht weiß, ob ich das nicht bereuen werde.“

„Sie kennen doch das Sprichwort, Doctor – No risk, no fun1“, sagte der Erfinder.

„Und damit Sie alle auf der sicheren Seite sind”, erklärte Lord Eavesfield nun, „habe ich für Sie selbstverständlich auch Expeditionsverträge aufgesetzt.“

„Das freut mich zu hören“, erwiderte Doctor MacAlistair.

„Cartridge, bringen Sie bitte die Verträge“, wies der Earl seinen Diener an.

Wenig später las Miss Hawthorne ihren Vertragstext. Lord Eavesfield hatte offensichtlich an alles gedacht; vom Umgang mit dem Artefakt, falls sie es finden sollten, bis hin zum Erlöschen aller Ansprüche auf die festgelegte Belohnung in bestimmten Fällen, wie dem eigenen Tod – ob der nun durch einen Unfall oder gar eine Gewalttat verursacht wurde. In solchen Fällen war ausgeschlossen, dass Angehörige die Belohnung erhielten. Das Artefakt selbst sollte stets gut verhüllt und verpackt werden. Vor der Übergabe an den Earl durfte es niemand anderem gezeigt werden.

„Ich bin damit einverstanden”, sagte der Erfinder.

Auch Sergeant Wright hatte keine Einwände, wollte aber gern eine Kopie für sich davon anfertigen.

Sie selbst unterschrieb den Vertrag gleich an Ort und Stelle. Sie hatte Angst, dass sie sich es sonst anders überlegen würde.

„Ich möchte erst noch einen Anwalt einen Blick darauf werfen lassen“, erklärte der Wissenschaftler. Offensichtlich war er noch misstrauischer als sie, während Goldstein wohl vollstes Vertrauen in seinen Freund hatte.

Der Wissenschaftler sagte nun: „Bevor ich das entscheide, muss ich außerdem erst noch mit meiner Assistentin sprechen. Darf ich bitte noch einmal Ihren Fernsprecher benutzen, my Lord?”

Lord Eavesfield bedachte den Wissenschaftler mit einem stechenden Blick. Doch im nächsten Moment machte er eine einladende Geste. „Selbstverständlich, Doctor.”

 

***

 

Kurz darauf fernsprach er mit seiner Assistentin Miss Mitchell. Sie war einverstanden, seine Forschungen während der Dauer der Expedition zu überwachen. Angesichts ihres Verständnisses und der raschen Zusage hegte MacAlistair den leisen Verdacht, dass sie eigentlich ganz froh war, eine Zeit lang allein arbeiten zu können. Als einzige Bedingung für die anfallenden Überstunden bestand sie auf einem längeren Urlaub nach seiner Rückkehr. Es fiel ihm schwer, seine Forschungen derart zu vernachlässigen, doch andererseits vertraute er auf Miss Mitchells Fähigkeiten.

Er hatte gerade den Hörer wieder aufgehängt, als Goldstein hereinkam. „Wie sieht es aus, Doctor MacAlistair?“

„Meine Assistentin wird sich um die Forschungen kümmern, in vollem Umfang. Und nach meiner Rückkehr einen längeren Urlaub machen. Den wird sie sich dann sicherlich auch verdient haben.“

Goldstein nickte. „Das klingt nach einer fairen Abmachung.”


1 englisches Sprichwort: Kein Risiko, kein Spaß

Kapitel 3

Die Séance

 

Donnerstag, 19. Februar, London

 

Zwei Wochen lang wollten sich die vier zukünftigen Expeditionauten auf ihre Reise vorbereiten. Sieben Tage waren bereits vergangen. In dieser Zeit hatte Gemma Hawthorne Informationen über die antike Stadt Napata recherchiert und dazu auch ihren Onkel am Fernsprecher befragt. Ein längerer Besuch der Königlichen Bibliothek in Westminster brachte ihr zudem neue Erkenntnisse über diese Stadt des antiken Nubiens.

An diesem Donnerstagnachmittag musste sie ihren Chefredakteur von der Expedition überzeugen. „Hören Sie, Mister Fielding”, sagte sie in seinem Büro. „Ich habe die einmalige Gelegenheit, an einer Expedition in den Sudan teilzunehmen. Lord Eavesfield ist unser Auftraggeber. Was halten Sie davon, wenn ich darüber einen Bericht schreibe? So etwas lesen die Leute doch immer gern, Reiseberichte aus fernen Ländern ...”

Fielding musterte sie nachdenklich. „Hmm. Wie lange werden Sie denn unterwegs sein?”

„Geben Sie mir vier Wochen, dann sind wir sicherlich wieder in London.”

„Vier Wochen?! Meine gute Miss Hawthorne, das ist eine lange Zeit.”

„Aber nicht zu lange, wenn ich Ihnen einen spannenden Bericht liefere. Und alles wird von Lord Eavesfield bezahlt. Er stellt mir sogar eine photographische Ausrüstung.”

Fielding stand auf und wanderte ein wenig auf und ab, ehe er sich wieder seiner Mitarbeiterin zuwandte. „Also schön. Aber ich erwarte einen ausführlichen Bericht, mit Illustrationen und Photographien.”

Am liebsten hätte Miss Hawthorne Mister Fielding umarmt, doch natürlich ziemte sich so etwas nicht. Deshalb blieb sie sitzen, während ihr Lächeln immer größer wurde.

„Aber bevor Sie abreisen, habe ich noch einen weiteren Auftrag für Sie”, erklärte der Chefredakteur. „Am Sonnabend findet im Haus von Lady Albright in Bloomsbury eine Abendgesellschaft mit einer Seánce statt. Sie werden daran teilnehmen und für den Telegraph einen Gesellschaftsbericht darüber verfassen – insbesondere über die Séance, so etwas lieben unsere Leserinnen und Leser.“

Miss Hawthorne verzog das Gesicht.

„Séancen sind der letzte Schrei in der gehobenen Gesellschaft zur Zeit”, erklärte er. „Es wird Zeit, dass wir vom Telegraph uns mit diesem Phänomen auch einmal auseinandersetzen. Ich kenne Lady Albright sehr gut, denn sie ist eine Freundin meiner Frau. Und sie hat nichts dagegen, wenn jemand von der Presse anwesend ist, solange Sie sich unauffällig verhalten. Das wäre dann alles, Miss Hawthorne.”

„Wie Sie wünschen, Sir”, sagte sie und stand auf.

Séancen!, dachte sie im Stillen. Welch ein Quatsch. Mit Geistern aus dem Jenseits sprechen? Das ist doch alles Lug und Trug, Illusionen zur schaurigen Abendunterhaltung.

 

Sonnabend, 21. Februar 1885 – Bloomsbury, London

 

Lady Albrights Haus am Russell Square war groß und herrschaftlich, wenn auch nicht ganz so sehr wie der Landsitz des Earls. An diesem Abend waren hier die oberen Zehntausend der Stadt versammelt. Prunkvoller Schmuck an Hälsen und Händen schimmerte, feine Seidenstoffe raschelten, die Herren umgab der Duft von Zigarren, und in den Gläsern perlte französischer Champagner.

Miss Hawthorne trug ihre beste Abendgarderobe aus violettem Taft mit einem lavendelfarbenen Blütenmuster, die nach neuesten französischen Schnittmustern angefertigt worden war. Zumindest hatte das die Schneiderin behauptet. „Wenn ich Ihnen hier am Kragen noch ein paar Zahnräder aufnähe, könnte man es glatt für ein neues Kleid von Etiénne Paradis halten.” Aber das wäre ihr dann doch zu weit gegangen, und sie hatte sich statt der Zahnräder einfach einen Spitzenbesatz gewünscht.

Das Dinner war eine opulente, mehrgängige Angelegenheit mit exquisiten Speisen – einer cremigen Gemüsesuppe, Wildbraten mit mehreren Beilagen, danach Forellen und schließlich zum Abschluss einem nach Vanille duftenden Custard als Dessert.

Dieses köstliche Essen macht meinen merkwürdigen Auftrag hier mehr als wieder wett, dachte sie, als sie den letzten Löffel der süßen Creme verspeiste.

An der Festtafel saß sie neben einem dunkelhaarigen Mittzwanziger mit einem breiten Gesicht und einem stattlichen Schnurrbart. Als sie zum Dessert kamen, musterte er sie eingehend und bemerkte: „Sie gehören wohl eher nicht zu den engsten Freunden unserer Gastgeberin.”

Überrascht sah sie ihn an. „Wie meinen Sie das, Sir?”

„Nun, Ihr Kleid imitiert die französische Mode, wurde aber mit hoher Wahrscheinlichkeit hier in der Stadt hergestellt, denn genau diesen Stoff habe ich schon mehrfach an anderen Damen gesehen. Sie tragen ein zwar modisches, aber auch günstiges Halsband aus schwarzem Satin, während andere Damen zu einem solchem Anlass ein teures Collier anlegen und meistens dazu noch teureren Haarschmuck. Und da Sie auch keinen Ring am linken Ringfinger über Ihrem Handschuh tragen, ist davon auszugehen, dass Sie weder verlobt noch verheiratet sind.”

Vor Verblüffung klappte sie ihren schwarzen Spitzenfächer zu, doch der junge Mann sprach bereits weiter: „Noch unverheiratet zu sein wäre angesichts Ihres Alters – ich schätze mal sechs- nein, siebenundzwanzig – ausgesprochen ungewöhnlich, wenn Sie aus der Oberschicht stammten. Außerdem haben Sie Ihre Frisur – sehr kleidsam übrigens, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben – offensichtlich selbst gemacht und hatten keine Hilfe von einer Zofe.”

Miss Hawthorne unterbrach ihn stirnrunzelnd. „Möchten Sie mich bloßstellen, Mister...?”

„Aber nicht doch, Miss, ich habe Ihnen lediglich meine Beobachtungen mitgeteilt. Oh, verzeihen Sie, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Doyle ist mein Name, Arthur Conan Doyle.”

Miss Hawthorne legte ihren Fächer beiseite. Ihr Interesse war geweckt. „Erfreut, Sie kennenzulernen, mein Name ist Gemma Hawthorne. Und mit Ihren Beobachtungen haben Sie übrigens ins Schwarze getroffen, Mister Doyle. Ich bin von der Presse, aber bitte verraten Sie es nicht weiter. Mein Vorgesetzter ist ein Bekannter von Lady Albright.”

Sie schenkte ihm ein herzliches Lächeln. „Nun, da Sie so viel über mich wissen, verraten Sie mir etwas über sich? Was halten Sie zum Beispiel von Séancen, Mister Doyle?”

Doyle zupfte nachdenklich an seinem Schnurrbart. „Nun, als Mediziner bin ich selbstredend der Wissenschaft verpflichtet. Ich habe seit einigen Jahren eine Arztpraxis in Southsea, bei Portsmouth. Im Wesentlichen glaube ich an das, was wissenschaftlich bewiesen werden kann. Auf der anderen Seite bin ich der Meinung, dass es durchaus vieles geben kann, was noch nicht wissenschaftlich belegt wurde und das womöglich dennoch existiert. Wie es schon bei Shakespeare heißt: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde...

Als eure Schulweisheit sich träumen lässt”, vollendete Miss Hawthorne das Zitat.

„Genau das. Auf jeden Fall bin ich sehr gespannt auf die Séance heute Abend, denn ich war noch nie Zeuge einer solchen Veranstaltung”, sagte Doyle.

„Was das betrifft, sitzen wir im selben Boot”, erwiderte sie.

„Dann lassen Sie uns anstoßen – auf all die seltsamen Dinge zwischen Himmel und Erde”, meinte Doyle und hob sein Glas.

„Auf all die seltsamen Dinge”, antwortete sie lachend und stieß mit ihm an.

Nach dem Dinner spielten einige Musiker zum Tanz auf, was die anwesende High Society nutzte, um sich bei Walzer, Polka oder Quadrille miteinander bekannt zu machen. Miss Hawthorne beobachtete das bunte Treiben auf der Tanzfläche von einem eleganten Chippendale-Stuhl aus, während sie noch ein wenig Champagner trank und sich frische Luft zufächelte.

Als es auf Mitternacht zuging – und die Gäste deutlich ausgelassener wurden – ertönte das feine „Ping” eines Löffels, der gegen Kristallglas geschlagen wurde. Es war Lady Albright, eine attraktive Frau von Anfang Fünfzig in edler Abendgarderobe mit Zahnradschmuck (Von Etienne Paradis vermutlich, machte sie sich eine geistige Notiz). Die Gastgeberin hielt eine kurze Ansprache: „Meine lieben Freunde, es macht mich froh, Sie heute Abend alle hier zu sehen. Ich hoffe, Sie haben das Dinner und die Tänze genossen.”

Zustimmendes Gemurmel war aus den Reihen ihrer Gäste zu hören.

„Nun möchte ich überleiten zu einem etwas ... geheimnisvolleren Teil des Abends”, fuhr Lady Albright fort. „Heute ist ein Medium bei uns zu Gast, Said Ben El Sayed aus Ägypten. Mister El Sayed ist auf der Durchreise, daher ist es eine besondere Ehre für uns, dass er heute hier sein kann.”

Lady Albright deutete auf eine Flügeltür. „Ich bitte nun diejenigen, die mutigen Herzens sind und sich nicht scheuen, mit dem Jenseits in Kontakt zu treten, mir in den Roten Salon zu folgen, wo uns Mister El Sayed bereits erwartet.”

Miss Hawthorne schob sich unauffällig durch die Menge bis in Lady Albrights Nähe und folgte der Dame. Ein Kammerdiener öffnete die Flügeltür, durch die sich nun eine Handvoll unerschrockener Gäste drängte. Im Roten Salon sorgten nur Kerzen für etwas Licht. Sie erblickte einen Mittvierziger, der wie ein Wüstenscheich gekleidet schien, mit einem langen weißen Gewand und einem hellen Kopftuch, das von einer schwarzen Kordel festgehalten wurde. Im schummrigen Licht konnte sie nicht erkennen, ob seine etwas dunklere Hautfarbe geschminkt oder echt war. El Sayed saß an einem großen ovalen Tisch, um den zwölf Stühle aufgestellt waren. Im hinteren Teil des Salons standen mehrere Stühle in Reihen, wie in einem Zuschauersaal. Die Gäste tuschelten untereinander, manche der jüngeren Damen kicherten.

Lady Albright ergriff erneut das Wort. „Nehmen Sie Platz am Tisch, wenn Sie es wagen, meine Freunde. Und heißen Sie bitte alle Mister El Sayed willkommen.”

Höflicher Applaus ertönte im Raum, als El Sayed sich schweigend von seinem Platz erhob und eine Verbeugung andeutete.

Miss Hawthorne war eine der ersten, die sich an den Tisch setzten; gegenüber von El Sayed, damit sie ihn genau beobachten konnte. Vier weiße Kerzen brannten auf dem Tisch, die in einem Quadrat aufgestellt waren. Unter denen, die sich offenbar ebenfalls zu den Mutigen zählten, war auch Arthur Conan Doyle, der Miss Hawthorne freundlich zuzwinkerte.

Lady Albright setzte sich in die erste Reihe der Zuschauer. Vielleicht war das hier für die Gastgeberin einfach nur ein amüsantes Spektakel, überlegte Miss Hawthorne.

„Seien Sie willkommen”, sagte El Sayed, dessen dunkle, volltönende Stimme von einem starken Akzent geprägt war, wie ihn Miss Hawthorne aus Ägypten kannte. „Legen Sie bitte alle Ihren Schmuck ab. Sie können ihn vor sich auf den Tisch legen.”

Die mit Juwelen geschmückte Dame neben Miss Hawthorne warf ihr einen fragenden Blick zu, woraufhin sie einfach mit den Schultern zuckte. Die Dame öffnete daraufhin den Verschluss ihrer Halskette. Nach und nach landeten Colliers, Ketten, Ringe, Broschen und Ohrringe auf dem Tisch.

„Reichen Sie nun einander die Hände”, sagte El Sayed.

Miss Hawthorne ergriff die kühle Hand der Dame zu ihrer Linken und die linke Hand von Arthur Conan Doyle, der neben ihr Platz genommen hatte. Sie nickte ihm zu und konzentrierte sich dann auf das Medium.

„Ich bitte nun um absolute Ruhe, Ladies und Gentlemen”, sagte El Sayed gebieterisch.

Das Getuschel im Salon verstummte.

„Schließen Sie Ihre Augen. Wenden Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit der Stille zu ... darin verbergen sich Dinge, die wir sonst in der Geschäftigkeit unseres Lebens weder hören noch sehen können ... ” El Sayed klang wie der Schlangenbeschwörer, den sie einmal in einem Zirkus gesehen hatte; seine Worte wirkten geradezu hypnotisierend.

Sie starrte ihn an. Er hatte die Augen geschlossen. Nur leise Atemzüge waren noch zu hören im Raum, ein unterdrücktes Hüsteln, das Rascheln eines Kleides ...

In die Stille hinein dröhnte plötzlich El Sayeds Stimme. „Ihr Geister ... Wesen aus einer anderen Dimension, die ihr vorangegangen seid in das Land, von des Bezirks kein Wanderer wiederkehrt ... ich rufe euch! Kommt zu uns ... sprecht mit uns ... durch mich, der ich euer bescheidener Diener bin ... ”

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739490779
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Altes Ägypten Abenteuer England Spannung Steampunk Historisch Reise

Autor

  • Amalia Zeichnerin (Autor:in)

Amalia Zeichnerin ist das Pseudonym einer Hamburgerin Autorin. Amalia schreibt Phantastik, Historisches, Cosy Krimis und Romance, gern mit queeren Protagonist*innen und Diversität, denn die Welt ist bunt und vielfältig.
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Titel: Der Stern des Seth