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Schattengänger

von Craig H. Manhoff (Autor:in)
264 Seiten

Zusammenfassung

Rory McAllister, Polizist in Monterey, hat das Gefühl, vom Regen in die Traufe zu kommen. Ursprünglich Officer in Los Angeles ließ er sich in die kleine Stadt Monterey versetzen, um von nun an nichts mehr mit Kapitalverbrechen zu tun zu haben. Ausgerechnet in Monterey nimmt eine Mordserie ihren Anfang, bei der die Opfer in wenigen Sekunden eingefroren werden. Die undurchsichtige und rätselhafte Immobilienmaklerin Mara Bergner ist seine erste Verdächtige, doch was wirklich hinter den Morden steckt, wird ihm erst nach und nach klar. Doch dann ist nichts mehr so, wie es mal war.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Carl Henderson rekelte sich im Liegestuhl und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Der erste Urlaubstag seit ... er wusste gar nicht mehr genau, wann er den letzten Urlaub genommen hatte. Für den Aufbau seines kleinen Unternehmens hatte er in den vergangenen Jahren seine ganze Kraft gebraucht. Dankbar ergriff er die Hand seiner Frau Paula, die sich just in diesem Augenblick neben ihm sonnte. Ohne ihre Unterstützung hätte er es nie durchgestanden, doch nun hatten sie es endlich geschafft. Das Geschäft florierte und warf gute Gewinne ab. Sie waren weit davon entfernt, Millionäre zu werden, aber sie konnten sorgenfrei davon leben.
Nun ließen sie sich auf einer angemieteten Jacht treiben, eine Meile vor der Küste von Monterey. Drei Wochen Urlaub lagen vor ihnen. Erholung, die sie beide nötig hatten.

»Würdest du mir einen Gefallen tun?«, erkundigte sich Paula in diesem Moment bei ihm.

»Aber sicher doch, mein Mäuschen. Was soll denn dein moppeliger, dicker Kater für dich tun?«

»Könntest du mir bitte die Sonnencreme von unten holen?«

Carl benötigte ein paar Sekunden, bis er sich von seinem gemütlichen Liegestuhl erhoben hatte. Mit nackten Füßen tapste er die Treppe hinab in den Innenraum der kleinen Jacht. Sie hätten sich auch durchaus ein größeres Schiff mieten können, aber irgendwie hatte Paula diese intime, kuschelige Atmosphäre in der Kabine besonders gut gefallen.
Carls erster Weg führte ihn zu dem winzigen Kühlschrank, aus dem er ein Bier entnahm. Mit einem schlechten Gewissen blickte er an seinem Körper hinunter. Er war noch keine vierzig Jahre alt, aber sein Bauch fiel ihm bereits über den Gummizug seiner Badehose. Das Leben in den letzten zehn Jahren hatte ihn regelrecht aufgeschwemmt. Zu viel Arbeit und zu wenig Sport. Dazu kam noch die schädliche Angewohnheit, fast täglich Bier zu trinken und sich ungesund zu ernähren. Das musste anders werden und er würde heute damit beginnen. Oder doch erst morgen? Nein, heute!

Resolut stellte er das Büchsenbier zurück in den Kühlschrank, bevor er sich auf die Suche nach der Sonnencreme für seine Frau begab.

»Carl?«, rief ihn seine Frau, noch bevor er den Schrank geöffnet hatte.

»Ich komme gleich. Ich habe die Sonnenmilch noch nicht gefunden.«

»Komm bitte nach oben, Carl!«

Er zog verwundert eine Augenbraue nach oben. Was konnte es denn so Dringendes geben? Dennoch bequemte er sich die Treppe hinauf, bis er wieder das Deck betrat.

»Was gibt es denn, mein ...«

Doch der Kosename blieb ihm im Hals stecken, als er das Naturschauspiel sah. Dichter, dunkler Nebel hatte sich auf dem Meer ausgebreitet und näherte sich langsam und irgendwie bedrohlich der Jacht.

»Wir sollten zurückfahren, Carl.«
Er warf einen Blick in Richtung Himmel. Kaum ein Wölkchen zu sehen. Was also hatte es mit dem Nebel auf sich?

»Vielleicht klart es gleich wieder auf«, verlieh Carl seiner Hoffnung Ausdruck. »Am Himmel deutet jedenfalls nichts auf schlechtes Wetter hin.«

Das Ehepaar sah fasziniert dem Schauspiel zu, als sich der Nebel langsam auf die Meeresoberfläche senkte. Ein merkwürdiges Zischen und leises Krachen ertönte und ließ die Verwunderung der beiden Menschen in Besorgnis umschlagen.

Alarmiert zeigte Paula auf das Meer hinaus. »Was passiert hier? Was ist das?«

Carl glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Er sah, wie Eisplatten von einer Sekunde auf die andere das Meer bedeckten und sich bedrohlich der Jacht näherten.

»Lass uns hier verschwinden!«, sagte er schließlich und eilte nach oben zum Cockpit der Jacht.

Mit fliegenden Fingern startete er den Motor. Brummend sprang die Maschine an, doch als er Gas gab, rührte sich die Heckschraube nicht und die Jacht nahm keine Fahrt auf. Entsetzt sah er hinunter auf das Eis, dass die Jacht nun schon komplett einschloss.

»Geh in die Kabine, Paula!«, rief er seiner Frau zu, während er versuchte, die Schraube durch abwechselnde Vor- und Rückfahrt freizubekommen.

Sie hastete nach unten in die Kajüte, warf die Tür hinter sich zu und kroch auf das Sofa, das an der Rückwand der Kabine stand und nachts als Bett diente. Panisch vor Angst musste sie mit ansehen, wie die Bullaugen langsam von Eis bedeckt wurden und das Licht im Innenraum immer mehr dämmte. Eisige Kälte griff nach ihr. Mit schon steifen Fingern zog sie die Decken zu sich heran, um ein wenig Schutz zu finden.

»Carl!«, flüsterte sie noch, schon am Rande der Bewusstlosigkeit.

Dann war jedes Geräusch auf dem Schiff erstorben.

Gefroren

Mit verkniffener Miene stand Rory McAllister, Detective bei der Polizei in Monterey, am Kai des kleinen Schiffverleihs. Seit sechs Monaten war er nun hier im Dienst und das Schlimmste, was in diesem Zeitraum passiert war, hatte mit zerkratztem Lack an einem alten Dodge zu tun. Monterey war so eine gemütliche, verschlafene Kleinstadt und ausgerechnet hier musste so eine Scheiße passieren.

Der Schlepper mit der Jacht am Haken war höchstens noch fünfzehn Minuten vom Kai entfernt. McAllister fröstelte es ein wenig bei dem Gedanken, was er wohl gleich zu sehen bekäme.

»Der Strand und der Boulevard sind weiträumig abgesperrt«, meldete sein Kollege Fred Halpert, der zu ihm herangetreten war. »Meinst du, diese Dinger sind wirklich notwendig?«, fragte er, während er auf die Schutzanzüge zu ihren Füßen deutete. »Es sind fast dreißig Grad. Da drin schwitzt man doch bestimmt wie in der Sauna.«

»Willst du dir vielleicht etwas einfangen?«, fragte Rory kühl. »Der Bericht des Bootsverleihers war jedenfalls nicht so, dass ich mich der Jacht ohne besonderen Schutz nähern würde. Und du auch nicht, sonst darf ich nachher noch einen Bericht schreiben, wenn du japsend und mit grünem Schleim bedeckt im Krankenhaus liegst.«

Was das zu erwartende wenig angenehme Klima in den Schutzanzügen anging, hatte McAllister aber trotz seiner motivierenden Ansprache ähnliche Befürchtungen. Daher warteten beide Männer mit dem Anlegen der Schutzkleidung, bis der Schlepper die Jacht an den vorbestimmten Liegeplatz gezogen hatte. Sie waren gerade mit der Einkleidung fertig geworden, als sich zwei weitere Männer in vergleichbarer Kluft zu ihnen gesellten. Die beiden medizinischen Spezialisten hatte McAllisters Vorgesetzter direkt nach der Meldung vom Bootsverleiher beim LAPD angefordert. Sie hatten sich als Dr. Jones und Dr. Jackson vorgestellt und die Nachdrücklichkeit, mit der sie die Doktortitel betonten, hatten ihnen einen Eintrag unter ’Arrogante Fatzken' in McAllisters Notizbuch verschafft.

»Fassen Sie bitte nichts an, wenn mein Kollege oder ich es Ihnen nicht ausdrücklich erlauben«, wurden McAllister und Halpert von Dr. Jackson belehrt.

»Elender Wichtigtuer«, murmelte McAllister leise, während die Vierergruppe die Jacht betrat.

Halpert und Jones machten sich an der Kabinentür zu schaffen, derweil sich McAllister und Jackson dem Cockpit der Jacht näherten. Trotz der Hitze im Schutzanzug spürte Rory, wie es ihm eiskalt den Rücken herunterlief. Hoch aufgerichtet stand eine tiefgefrorene Gestalt vor dem Sitzplatz und hatte eine Hand am Steuerrad und die andere am Gashebel platziert.

»Erfroren«, stellte der Detective fest.

»Was Sie nicht sagen. Darauf wäre ich nie gekommen«, kam Jacksons bissige Replik, der damit nicht gerade Sympathiepunkte auf Rorys Konto ansammelte.

Dennoch schluckte McAllister die scharfe Erwiderung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. »Aber wie ist das möglich? Wir hatten die letzten Tage nie unter zwanzig Grad hier in Monterey.«

Jackson gab zunächst keine Antwort, sondern nahm die Leiche genauer in Augenschein. »Als ob ihn jemand in flüssigem Sauerstoff gebadet hätte.«

»Vielleicht war ihm zu warm und er hat ihn sich über den Kopf gegossen.«

Jackson schenkte McAllister nur einen finsteren Blick. »Sorgen Sie für den Abtransport in die Pathologie. Mein Kollege und ich werden uns den Toten genauer ansehen, nachdem er aufgetaut wurde.«

»Wir werden ihn wohl aus dem Boden sägen müssen«, murmelte McAllister, während er sich die Füße der Leiche ansah.

»Wir haben unten noch eine Tote«, meldete sich Fred Halpert, der aus dem Inneren der Jacht an Deck gekommen war.

Im Vorbeigehen schlug McAllister seinem Kollegen aufmunternd auf die Schulter. Er konnte nachvollziehen, wie schlecht sich der Mann fühlen musste. Halpert versah nun seit zwei Jahren seinen Dienst in Monterey, aber von zwei Eifersuchtsdramen abgesehen hatte er es noch nie mit Kapitalverbrechen zu tun gehabt. Und nun bekam er so etwas serviert.

»Gleiche Todesursache wie bei dem armen Tropf an Deck«, meldete Jackson nach kurzer Untersuchung.

»Wir werden die Decke entfernen müssen, um an den Körper zu gelangen«, sagte Halpert mit nicht ganz sicherer Stimme.

»Den Mann oben scheint es sofort erwischt zu haben. Sie hingegen hat wohl noch versucht, sich irgendwie zu schützen«, ergänzte Jackson.

»Da hätte Sie aber noch einige Decken mehr gebraucht«, sagte McAllister lakonisch und kassierte prompt einen Rüffel von Dr. Jones.

»Ich bitte mir etwas mehr Pietät aus, Detective. Hier handelt es sich aller Voraussicht nach um ein Kapitalverbrechen und nicht um einen Eierdiebstahl, mit dem Sie es gewöhnlich zu tun bekommen.«

Halpert kannte die aufbrausende Art seines Kollegen und zog ihn am Arm aus der Kabine, bevor die Stimmung eskalieren konnte.

*****

Die beiden Polizisten hatten alles Nötige in die Wege geleitet, standen nun am Kai und sahen dem Abtransport der tiefgefrorenen Leichen zu. Sie hatten sich mittlerweile der Schutzkleidung entledigt und McAllister zündete sich nachdenklich eine Zigarette an.

»Ich dachte, du hättest das Rauchen aufgegeben?«, zog ihn sein Kollege auf.

»Ich dachte auch, ich hätte diese oder ähnlich kranke Scheiße hinter mir gelassen, als ich mich von Los Angeles nach Monterey versetzen ließ. Da haben wir uns wohl beide geirrt.«

»Was glaubst du, wie die beiden gestorben sind?«

McAllister zuckte mit den Schultern. »Ins Blaue hinein geraten würde ich vermuten, dass man sie irgendwo erschossen und danach tiefgefroren hat. Dagegen spricht aber die Aussage des Bootsverleihers, dass ein Ehepaar dieses Boot gemietet hat. Falls dieses Pärchen unsere beiden kalten Turteltäubchen sind, ergibt meine Theorie wenig Sinn. Warum sollte der Mörder sie von dem Boot entführen, an einem anderen Ort töten, einfrieren und dann wieder auf die Jacht bringen? Wir müssen ohnehin erst einmal abwarten, was die Obduktion für Ergebnisse bringt, bevor wir weiter spekulieren.«

Für einen Moment standen die beiden Männer schweigend nebeneinander.

»Der Chief will uns übrigens nachher sprechen«, sagte Halpert schließlich nach einer Weile.

»Hab ich mir schon gedacht.«

McAllister schnippte die halb gerauchte Zigarette in den Sand. »Dann lass uns mal fahren. Ich fürchte, unser Vorgesetzter wird über den Bericht nicht sonderlich erfreut sein.«

*****

Die Pathologie hatte schon in Los Angeles nicht zu Rorys bevorzugten Aufenthaltsorten gehört. In Monterey hatte er sie bisher nicht aufsuchen müssen, doch nun stand er hier und sog die so unangenehm vertrauten Gerüche ein. JayJay, wie der Detective die beiden Doktoren Jones und Jackson insgeheim mittlerweile nannte, standen um die männliche der beiden tiefgefrorenen Leichen herum. Auf Schutzanzüge konnte man nach Jacksons Aussage verzichten. McAllister war dies einerseits ganz recht, weil diese Anzüge äußerst unbequem waren, aber andererseits fühlte er sich in Gegenwart dieser Erfrorenen ohne zusätzlichen Schutz nicht ganz wohl.

»Wann können wir mit den ersten Ergebnissen rechnen?«, erkundigte er sich bei Dr. Jones, der mit etwas verkniffener Miene neben ihm stand.

»Kann ich nicht genau sagen«, lautete die brummige und unbestimmte Antwort.

»Warum nicht?«

»Weil wir warten müssen, bis ... der Auftauvorgang gestaltet sich schwieriger, als wir es erwartet haben.«

»Wieso?«

McAllister genoss es, die offensichtlich leicht verwirrten JayJays zu piesacken und auf die Palme zu bringen.

»Weil sich etwas ... dagegen wehrt, aufgetaut zu werden.«

»Aha. Soll ich das so dem Chief mitteilen? Ich bin untröstlich, Chief, aber das Eis weigert sich leider, aufzutauen.«

»Wir melden uns, sobald wir nähere Erkenntnisse haben, Detective«, kam Jackson seinem Kollegen zu Hilfe. »Bis dahin lassen Sie uns bitte unsere Arbeit machen.«

»Natürlich. Falls die Herren Wissenschaftler noch in Erfahrung bringen wollen, bei welcher Temperatur Eis schmilzt, könnte ich Ihnen mit einem Physikbuch für Anfänger aus der Klemme helfen.«

McAllister wäre auf der Stelle tot umgefallen, wenn einer der Doktoren den Todesblick beherrscht hätte. So aber konnte der Polizist mit einem breiten Grinsen auf den Lippen die Pathologie verlassen. Schlecht schien der Tag dann doch nicht zu werden.

Mara

Mara genoss die morgendliche Dusche, mit der sie die Spuren ihres Frühsportprogramms einfach abspülte. Dieses Ritual gehörte zu ihrem Tagesablauf dazu, genau wie das Frühstück, das sie im Morgenmantel auf dem Balkon ihrer Wohnung mit Blick auf den Strand einnahm.

Später schob sie bedauernd ihre bequeme Freizeitkleidung im Kleiderschrank zur Seite und entnahm ihm stattdessen ein hochmodernes Kostüm, das ihre Figur betonte. Heute standen drei Termine und ein geschäftliches Mittagessen auf ihrer Agenda. Auch wenn sie ihre Arbeit zum Tragen von Businesskleidung zwang, weil ihre Kunden dies erwarteten, so gehörte der Job doch zu den Angenehmsten, die sie bisher ausgeübt hatte. Seit acht Jahren arbeitete sie nun schon als Maklerin und ebenso lange wohnte sie auch in Monterey. Langsam näherte sich der Zeitpunkt, an dem sie sich von ihrer Wohnung und von ihrem Arbeitsplatz würde verabschieden müssen. Früher war es ihr immer leicht gefallen, aber diesmal, das wusste sie, würde es anders sein. Es war ja nicht nur die Stadt und die Arbeit, die ihr außergewöhnlich gut gefielen; sie hatte auch Freunde gefunden. Und schon bald würde sie all dies zurücklassen müssen.

*****

Mara liebte es, zu Fuß durch Monterey zu gehen. Sie hatte nie verstanden, warum die meisten Menschen in den USA für jede noch so kleine Entfernung unbedingt ihren Wagen benutzen mussten. Selbst hier in Kalifornien, wo das äußere Erscheinungsbild für jeden Mann und jede Frau so eminent wichtig war, wurde das Fahrzeug für jede Besorgung verwendet. Man fuhr zum Fitnesstraining, benutzte den Aufzug oder die Rolltreppe, um zum Studio zu gelangen, und simulierte dort auf einem Stepper das Treppensteigen. 'Einfach absurd', lächelte sie nachsichtig.

Sie hingegen ließ den Wagen, so oft es möglich war, in der Garage stehen. Selbst bei ihrer Arbeit als Immobilienmaklerin versuchte sie, auf ihr Fahrzeug zu verzichten, wenn das zu besichtigende Objekt innerhalb der Stadtgrenzen lag.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Heute Abend würde sie Geschäftliches mit Privatem verbinden. Die Dawsons hatten sie zum Abendessen eingeladen, um den Einzug in ihr neues Heim zu feiern, das Mara ihnen zu einem sehr guten Preis vermittelt hatte. Bill und Joana waren aber nicht nur ihre Kunden, sondern auch gute Freunde. Oftmals hatte Mara das Eingehen von Freundschaften nach Möglichkeit vermieden. Mit jemandem befreundet zu sein, führte in ihrem Fall früher oder später zu Komplikationen. Doch immer konnte sie diese Regel nicht durchhalten, denn sie war nicht zur Einsiedlerin geboren.

*****

»... und hier ist mein kleiner Partykeller.«
Stolz deutete Bill auf die vier Barhocker, die in einer Ecke standen und noch komplett in Folie eingewickelt waren. Sonst war der Raum vollkommen leer. Für die Glühbirne, die nackt an einem Kabel von der Decke baumelte und den Keller in ein schummriges Licht tauchte, gab es noch nicht viel zu beleuchten.

»Ja, ich kann jetzt schon die ausladende Theke, die Spielautomaten, das Billard und die Lichtorgel an der Wand sehen«, lachte Mara. »Übertreib es aber nicht mit der Feierei.«

»Ich habe schon so einiges bestellt«, erwiderte Bill. »Die Sachen werden nächsten Monat geliefert und dann steigt auch die große Einweihungsparty. Hüte also deine spitze Zunge, sonst verpasst du die Party deines Lebens!«

»Hat dir mein Mann schon von dem Flipperautomaten erzählt, den er dort hinten in die Ecke stellen will?«, erkundigte sich Bills Frau Joana, die nun ebenfalls den Keller betreten hatte, mit gutmütigem Spott.

»Ein restauriertes Modell aus den späten achtziger Jahren«, verkündete Bill stolz. »Den Flipper wollte ich schon immer kaufen, aber ich hatte nie den Platz, um ihn aufzustellen.«

»Bedank dich bei Mara«, forderte Joana ihn auf. »Ohne ihr Talent hätten wir für dieses Domizil viel mehr bezahlen müssen oder wir wären immer noch auf der Suche nach unserem Traumhaus. Sie ist eine Super-Maklerin!«

»Das ist nicht mein Verdienst«, wehrte Mara bescheiden ab. »Der Kunde musste dringend verkaufen, weil er einen sehr guten Posten an der Ostküste bekam und ich hatte Glück, dass ich mit euch sofort einen Käufer an der Angel hatte. So kam eins zum anderen und wir haben alle bekommen, was wir wollten.«

»Jetzt kommt aber ins Wohnzimmer«, forderte Joana ihren Mann und Mara auf. »Sonst kann ich das Abendessen direkt im Mülleimer entsorgen.«

*****

Nach dem gemütlichen Beisammensein geleitete Joana ihren Gast noch durch die verschiedenen Räume.

»Dieses Zimmer ist mein persönliches Refugium«, sagte die Gastgeberin schließlich mit ein wenig Stolz in der Stimme, als sie Mara in einen Raum im ersten Stock führte. »Bill hat seinen Partykeller und ich habe mir hier einen kleinen Rückzugsort eingerichtet.«

Mara nickte anerkennend, während sie die Einrichtung des Zimmers begutachtete. Neben wandhohen Regalen für Bücher, einer Vitrine mit allerlei Zierrat und einer Musikanlage befand sich auch ein ausgesprochen bequem aussehender Liegesessel in dem Raum. Mit kaum verhüllten Stolz war Joana an der Tür stehen geblieben, derweil sich Mara beeindruckt im Zimmer umsah.

»Kann ich mich hier einmieten?«, erkundigte sie sich mit einem Augenzwinkern. »Hast du denn genug Bücher, um die ganzen Regale zu füllen?«

»Mehr als genug«, winkte Joana ab. »Ich werde wohl später noch ein paar Regale über der Tür anbringen müssen. Mit dem vorgesehenen Platz für die Lautsprecher bin ich auch nicht vollständig glücklich. Aber das wird schon noch. Ich habe ja Zeit.«

»Ein paar Dinge musst du wohl noch einräumen«, lachte Mara und deutete auf ein rundes Dutzend Umzugskartons, die an der Wand neben der Vitrine aufgereiht waren.

Sie trat zu den Kisten hin und fuhr mit einer Hand über den oberen Karton. Sie hatte die Pappe kaum berührt, als sie blass werdend zusammenfuhr und zwei Schritte zurücktorkelte.

»Ist dir nicht gut?«, erkundigte sich Joana besorgt, während sie zu ihrer Freundin hintrat.

»Nein, es geht schon«, beruhigte Mara sie. »Ich war nur für einen Augenblick ... egal. Lass uns doch wieder nach unten gehen. Ich habe heute vielleicht zu wenig Flüssigkeit zu mir genommen.«

*****

In der Küche trank Mara hastig zwei volle Gläser Wasser, die sie von ihrer besorgten Freundin gereicht bekam.

»Fühlst du dich wieder besser, Mara?«

Sie nickte und bedankte sich. »Viel besser. Ich muss mir wirklich angewöhnen, tagsüber mehr zu trinken.«

Joana führte ihre Freundin zurück ins Wohnzimmer, wo Bill bereits den Sekt präpariert hatte, mit dem sie nun auf den Hauseinzug anstoßen wollten. Mara versuchte krampfhaft, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken - ohne viel Erfolg. Sie konnte sich selbst nicht erklären, was mit ihr los war. Während des gemütlichen Beisammenseins schweiften ihre Gedanken immer wieder zu dem kurzen Augenblick ab, an dem sich ein grelles, erschreckendes Bild vor ihrem geistigen Auge geformt hatte. Sie konnte sich einfach nicht erklären, was passiert war.

Obwohl sie sich immer wieder zusammenriss, um den Abend mit ihren Freunden zu genießen, war sie dennoch froh, als sie sich verabschieden konnte. Joana umarmte sie zum Abschied und zum zweiten Mal an diesem Abend erlebte Mara eine Überraschung. Sie schmunzelte ein wenig, als sie das Haus ihrer Freunde verlassen hatte, und fragte sich, ob Joana wohl schon wusste, dass sie seit rund drei Wochen schwanger war.

Lucius

Zum ersten Mal seit langer Zeit war Mara nicht sonderlich aufmerksam bei der Arbeit. Sie musste sich immer wieder zusammenreißen, um ihre Gedanken nicht zum gestrigen Abend hin abschweifen zu lassen. Das Ehepaar, dem sie gerade eine kleine Eigentumswohnung am Strandboulevard schmackhaft zu machen versuchte, warf sich schon fragende Blicke zu.

»Wir können auch gerne morgen wiederkommen, wenn Sie heute etwas Besseres zu tun haben«, warf der Mann bissig ein, als Mara erneut rückfragen musste.

»Es tut mir leid«, erwiderte sie mit einem peinlich berührten Lächeln. »Sie haben recht, ich bin heute etwas unaufmerksam. Entschuldigen Sie bitte, es kommt nicht noch einmal vor.«

»Private Probleme?«, erkundigte sich die Kundin mitfühlend. »Es kommen auch wieder bessere Tage, glauben Sie mir.«

Mit einem leichten Kopfnicken bedankte sich Mara für den gespendeten Trost, bevor sie ihre Kunden zum Bad führte.

»Das Badezimmer wurde erst vor zwei Jahren neu gefliest und mit qualitativ hochwertigen Armaturen versehen. Neben der ...«

Mara stockte in ihren Erklärungen, drehte sich langsam um und schritt auf die Ausgangstür zu, als ob sie in Trance wäre. Das Ehepaar sah sich verwundert an.

»Also, das ist doch ...«, knurrte der Mann verärgert. »Miss? Hallo, Miss? Kennen Sie uns noch, oder sind Sie nun ins Traumland abgereist? ... Komm, Emilia, wir gehen!«

Resolut packte er seine Frau bei der Hand. Sie stürmten an Mara vorbei, die versonnen durch das Fenster blickte, durch das sie den Strand sehen konnte. Selbst die laut zugeschlagene Wohnungstür holte sie nicht aus der Erstarrung. Erst nach mehreren Minuten verließ sie ebenfalls die Wohnung.

Sie betrat den Bürgersteig vor dem Haus und überquerte die Straße, ohne auf den Straßenverkehr zu achten. Quietschende Reifen und empörte Rufe störten Mara nicht. Sie ging unverdrossen weiter geradeaus. Verwundert sahen die zahlreichen Passanten mit an, wie eine elegant gekleidete Frau in hochhackigen Schuhen durch den Sand in Richtung des Ozeans ging.

Das salzige Wasser umspülte bereits ihre Füße, als Mara stoppte, in die Hocke ging, die Augen schloss und ihre beiden Hände in den nassen Sand presste.

Im nächsten Augenblick befand sie sich mitten in einem Inferno. Das Meerwasser hatte sich in feurige Lava verwandelt. Der Himmel glühte rot und die Wolken waren nicht mehr weiß, sondern gräulich-schwarz. Sie warf einen Blick auf die Strandpromenade hinter sich. Die Häuser entlang der Straße standen ausnahmslos in hellen Flammen. Menschen torkelten in Feuer gehüllt schreiend umher oder brachen zusammen. Als Mara wieder auf das Lavameer hinausblickte, sah sie aus den Flammen Kreaturen auftauchen, die aus einem Horrorfilm entsprungen schienen. Riesige Insekten mit glühend-roten Augen, Chimären, in deren Mäulern rasiermesserscharfe Zähne blitzten und fliegende Greife mit brennenden Flügeln.

Mara holte entsetzt Luft und riss die Augen auf. Sie kniete mitten im flachen Wasser und hatte immer noch die Hände in den Sand gepresst.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte ein kleines Mädchen.

Mara brachte nur ein verzerrtes Lächeln zustande, während sie sich langsam wieder erhob

»Mit mir ist alles in Ordnung. Danke für deine Sorge um mich.«

»Dann ist es ja gut.«

Sie sah dem Mädchen nach, das nun sorglos zum Strand zurücklief. Mara hingegen zitterten von ihrer Vision noch die Beine und ihre nun vollends ruinierten Schuhe waren auch nicht hilfreich, um das Gleichgewicht zu halten. Sie zog daher die Fußbekleidung aus und stopfte sie in den nächsten Mülleimer.

An einer nahe gelegenen Strandbar fand sie nach einem Cuba Libre ihre seelische Balance wieder. Sie hatte schon sehr lange keine solche Vision mehr gehabt. Schon gestern in Joanas Bibliothek hatte sie etwas gespürt, eine Art Bedrohung, aber das war beileibe nicht so intensiv gewesen, wie vorhin. Dies war kein gutes Zeichen und sie würde definitiv Hilfe brauchen. Mit einem Wink bestellte sie beim Barkeeper einen weiteren Cocktail. Sie würde für den bevorstehenden Anruf jede erdenkliche Unterstützung benötigen, die sie kriegen konnte.

*****

Die Bar, in der Lucius regelmäßig seine nachmittäglichen Drinks zu sich nahm, gehörte nicht unbedingt zu den Schenken in New York, in denen sich Touristen verirrten. Eigentlich suchten nur zwielichtige Gestalten diese Hinterhofkneipe auf, aber genau aus dem Grund gefiel es ihm hier. Den Barkeeper interessierte es nicht, wenn vor seinen Augen irgendwelche Geschäfte liefen, solange genügend Alkohol dabei umgesetzt wurde. Und Lucius trank häufig und viel, war daher auch ein gern gesehener Stammgast.

Das Geräusch der sich öffnenden Tür ließ ihn einen Blick in den kleinen Spiegel hinter der Bar werfen. Aus irgendeinem Grund hatte Carlos, der Inhaber dieser Spelunke, ihn dort aufgehangen und es war so ziemlich der einzige Einrichtungsgegenstand in der Kneipe, der regelmäßig gesäubert wurde. Daher konnte Lucius auch die drei Kleiderschränke identifizieren, die soeben die Bar betreten hatten. Er kannte die Typen und wusste daher auch, dass Ärger ins Haus stand.

»Vladimir will mit dir reden!«, knurrte der größte und wahrscheinlich auch hirnloseste der drei Muskelprotze.

Sein starker russischer Akzent war nicht zu überhören.

»Sag Vlad, er muss sich noch ein wenig gedulden. Ich werde ihm schon noch bei Gelegenheit seinen Frontspoiler neu justieren.«

Lucius drehte sich nach diesen Worten um und konnte sehen, wie die drei Gestalten seine Worte erfolglos zu verarbeiten versuchten.

»Vladimir will dich sehen!«, entschied sich das Genie von vorhin, die Aufforderung noch einmal zu wiederholen.

Um seinem Willen den nötigen Nachdruck zu verleihen, hob er den Schürhaken drohend an, den er in der rechten Hand trug. Lucius lächelte grimmig, stieß sich von der Theke ab und ging auf die Gruppe zu, bis er direkt vor dem offensichtlichen Anführer der drei Schläger stand.

»Ich habe mir schon gedacht, dass meine gewählte Ausdrucksweise für dein Spatzenhirn ein wenig zu hoch ist. Daher will ich es noch einmal in auch für dich verständlichen Worten ausdrücken: Ich werde Vladimir demnächst mächtig auf die Schnauze hauen!«

Diese Worte hatte der Kleiderschrank verstanden, aber er konnte wohl nicht glauben, was er da gehört hatte, und glotzte Lucius nur ungläubig an.

»Nix kapiert?«, erkundigte sich Lucius. »Dann will ich es mal demonstrieren.«

Mit einer schnellen und kraftvollen Bewegung riss er dem Schläger den Schürhaken aus der Hand und rammte ihm das stählerne runde Griffende mit voller Wucht in das Gesicht. Wo vorher noch die Nase des Mannes gewesen war, sprudelte nun helles Blut wie aus einer Fontäne und besudelte dessen Kleidung. Rücklings brach er zusammen und riss dabei zwei Stühle mit sich zu Boden. Dem zweiten Kleiderschrank erging es nicht besser, nur traf ihn der Schürhaken an der Schläfe.

Bevor sich Lucius dem letzten Gegner widmen konnte, krachte ein Schuss. Der dritte Schläger hatte seine Überraschung abgeschüttelt, eine Waffe gezogen und seinem Gegenüber in die Brust geschossen. Ungläubig blickte Lucius auf das Einschussloch in der Lederjacke.

»Die Jacke war brandneu und mit Sicherheit teurer als alles, was du in deinen dreckigen Taschen mit dir herumschleppst!«, zischte er dem letzten noch aufrecht stehenden Russen zu.

Der stierte seinen Kontrahenten nur fassungslos an, bekam aber keine Zeit, sich von dieser Überraschung zu erholen. Mit einem heftigen Schlag auf das Handgelenk entwaffnete Lucius seinen Gegner. Er legte das Griffstück des Schürhakens um dessen Hals, wirbelte ihn herum und ließ den Mann Kopf voran in die Thekenbegrenzung knallen. Rasch setzte er nach, schlug dem Russen den Feuerhaken in den Rücken und trat ihm danach sofort in die Rippen, sodass der wieder auf demselbigen zu liegen kam. Lucius lächelte grimmig, während er das spitze Ende des Schürhakens wenige Zentimeter vom Auge des wie gelähmt daliegenden Russen entfernt hielt.

»Welches von deinen Augen willst du denn verlieren? Noch hast du die Wahl ... Entschuldige bitte einen Moment«, sagte er, da sein Handy klingelte.

Ohne die eiserne Waffe zurückzuziehen, zog er das Telefon aus der Hosentasche und nahm das Gespräch an.

»Ja?«

»Hallo Lucius, hier ist Mara. Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«

Der Mann verdrehte die Augen. »Frauen!«, sagte er entschuldigend und lächelte den stocksteif daliegenden Russen zu seinen Füßen freundlich an. »Es dauert nicht lange.«

»Was gibt es denn?«, fragte er die Anruferin. »Ich quatsche gerade mit einem Freund über meine ruinierte Jacke. Hat es nicht noch etwas Zeit? Außerdem hätte ich nicht gedacht, so bald wieder von dir zu hören. War denn nicht ausgemacht ...«

»Hör mir endlich zu!«, zischte Mara ins Telefon. »Wenn es nicht wichtig wäre, dann würde ich dich auch nicht anrufen! Folgendes ist passiert ...«

»Ich ruf dich gleich zurück, Schätzchen. Ich muss erst noch meinen Kumpel verabschieden.«

»Es ist dringend, Lucius!«

»Ja ja, das habe ich schon verstanden, aber du wirst es ja wohl noch ein paar Minuten abwarten können.«

Ohne auf eine Reaktion zu warten, beendete er das Gespräch und wandte sich wieder seinem russischen Gesprächspartner zu.

»Jetzt hör mal zu, Ivan ...«

»Sergej!«

»Klingt auch nicht besser. Dann hör mir zu, Sergej! Bestell Vlad von mir, dass er mir nicht auf die Pelle rücken soll. Andernfalls werde ich ihm dieses Teil hier so tief in seinen Arsch schieben, dass es oben wieder herauskommt. Hast du alles verstanden?«

»Da!«, bestätigte der Russe ängstlich. »Keine Pelle, sonst im Arsch.«

»Kann ich so akzeptieren«, erwiderte Lucius, entfernte den Schürhaken von Sergejs Gesicht und ließ ihn aufstehen. »Und jetzt nimm deine schlafenden Kumpane ans Händchen und verschwinde!«

Das ließ sich der Schläger nicht zweimal sagen, und noch bevor sich Lucius zur Bar umgedreht hatte, fiel die Ausgangstür auch schon hinter Sergej ins Schloss.

»He, du hast deine Freunde vergessen!«, rief Lucius ihm noch nach, aber der Russe war schon verschwunden. »Dann eben nicht«, brummte er nur gleichgültig.

Mit einer Handbewegung bestellte er ein neues Getränk, pulte im Einschussloch in seiner Jacke herum und förderte eine Kugel zutage.

»Hier!«, sagte er dem Barkeeper und rollte ihm die Kugel hin. »Steck sie zu den anderen Andenken.«

»Immer gut, wenn man eine kugelsichere Weste hat«, grinste der Wirt faunisch, während er die Kugel von der Theke entfernte.

»Genau«, wiederholte Lucius nachdenklich. »So etwas sollte man immer anziehen, bevor man in eine Bar geht. Wenn man eine hat.«

*****

Angenehm berauscht verließ Lucius nach einer weiteren Stunde die Bar und lehnte sich draußen an die Wand, während er in den Taschen nach seinen Zigaretten kramte. Er förderte eine fast leere Packung aus der Hosentasche, entnahm den letzten Glimmstängel und ließ die Zigarettenpackung achtlos auf den Boden fallen.

'Wieder kein Feuerzeug', dachte er seufzend. 'Dann muss es halt so gehen'.

Lucius steckte die Zigarette in den Mund und hielt die Innenseite seiner Hand an das Zigarettenende. Nach wenigen Augenblicken konnte schon er den Tabakrauch inhalieren, bevor er sich auf den Weg zu seiner Wohnung machte. Er hatte kaum drei Schritte zurückgelegt, als das Mobiltelefon in der Jackentasche zu klingeln begann. Lucius' Mienenspiel zeigte deutlich, dass er mit Ärger rechnete. Das Gespräch hatte er ganz vergessen. Mara würde sauer sein. Er zögerte kurz, nahm aber dann doch sein Handy aus der Hosentasche.

»Bevor du mich wüst beschimpfst, weil ich dich nicht zurückgerufen habe: Ich war beschäftigt!«, versuchte er sich an einer Entschuldigung.

»Spar dir deine Ausflüchte«, kam es ziemlich laut aus dem Handy. »Ich bin auch nicht scharf darauf, mit dir zu reden.«

»Da haben wir ja etwas gemeinsam.«

»Sei still und hör einfach nur zu!«

Mara erzählte ihm alles über das Bedrohungsgefühl, das sie bei den Dawsons erlebt hatte, und auch über die Vision, die sie heute am Strand gesehen hatte. Lucius rauchte derweil seine Zigarette auf, schüttelte hin und wieder gelangweilt den Kopf und stand zweimal kurz davor, das Gespräch zu beenden und das Handy zu entsorgen.

»Und warum glaubst du, dass mich dies interessiert?«, erkundigte er sich, nachdem Mara ihre Geschichte beendet hatte.

»Ja verstehst du es denn nicht? Dieses Gefühl, die Vision ... alles deutet doch auf einen Skiadolon, vielleicht auf einen Schattengänger hin!«

»Und was geht es mich an? Es sind deine Freunde, deine Visionen, deine Probleme. Ich habe hier nichts festgestellt, was mir Sorgen bereiten könnte. Du kannst mich ja noch einmal anrufen, wenn du ein geöffnetes Portal aufgetrieben hast. Oder besser noch: Ruf mich nicht mehr an, Mara! Es hat seine Gründe, warum du an der Westküste und ich an der Ostküste lebe. Das Arrangement hat sich bewährt und dabei wollen wir es auch belassen. Viel Vergnügen in Kalifornien!«

Lucius beendete das Telefonat und schaltete das Handy aus. Unschlüssig blieb er ein paar Augenblicke stehen, bevor er in die Bar zurückging. Das Gespräch hatte seinen Rausch verfliegen lassen. Er musste dringend nachtanken. Wenn Mara ihn anrief, dann stand etwas Unangenehmes bevor. 'Wer weiß, wie lange ich noch ungestört etwas trinken kann', dachte er nur, während er einen neuen Drink bestellte.

Die Bibliothek

Vorsichtig stieg Joana mit einem Dutzend Büchern die Leiter nach oben. Sie hoffte nur, dass Bill nicht in diesem Moment ins Zimmer kommen würde. Er wäre nicht davon angetan, dass sie diese etwas wackelige Kletterpartie ohne seine Absicherung unternahm. Aber die Gefahr bestand nicht, da er sicher noch eine ganze Weile mit der Einrichtung des Partykellers beschäftigt sein würde. Zudem war heute sein geliebter Flipper geliefert und aufgestellt worden und es würde sie sehr überraschen, wenn ihr Mann nicht schon die eine oder andere Partie gespielt hätte.

Behutsam stellte Joana die Bücher in das Regal und richtete sie in einer geraden Linie aus. Bücher waren für sie zwar ein Gebrauchsgegenstand, aber dies bedeutete ja nicht, dass es dabei unordentlich aussehen musste. Bill zog sie oft genug mit ihrer Ordnungsliebe auf, aber schließlich war dies ihr Zimmer und da wurde dann auch nach ihren Regeln gespielt.

Sie stieg die Leiter wieder nach unten und besah sich zufrieden ihr Werk. Die Hälfte der Bücher stand nun im Regal und sie freute sich schon auf den Abend. Da würde sie eine schöne CD in den Player einlegen und es sich mit einem Glas Wein und einem guten Buch im Liegesessel bequem machen.

Joana fröstelte es ein wenig und sie rieb sich über die Gänsehaut auf ihren Armen. Es war erstaunlich frisch für diese Jahreszeit. Sie ging zum Thermostaten neben der Tür und stellte ihn ein wenig höher ein. Ihr Blick fiel auf das halbe Dutzend Umzugskartons, in denen die restlichen Bücher darauf warteten, von ihr in die Regale eingeräumt zu werden. Doch zunächst legte sie eine CD in den Player, machte es sich im Sessel bequem, schloss die Augen und ließ die Musik auf sich wirken.

’Ich habe mir wohl eine kleine Pause verdient', dachte sie. Aber es gelang ihr nicht, sich ein wenig zu entspannen. Schon nach kurzer Zeit lief ihr ein Schauer über den Rücken. Warum war es nur so empfindlich kalt im Zimmer? Sie stand auf, rieb sich die klammen Hände und ging zum Heizkörper. Er strahlte eine wohlige Hitze aus, aber warum wurde es im Raum einfach nicht wärmer? Erneut ging sie zum Thermostaten und drehte ihn auf die höchste Stufe.

»Ich brüte doch hoffentlich keine Erkältung aus?«, murmelte sie, während sie sich an einem weiteren Karton zu schaffen machte.

Wie im Akkord beförderte sie die Bücher aus dem Umzugskarton auf den Boden in der Hoffnung, sich damit ein wenig Wärme zu verschaffen. Doch es half einfach nicht. Die letzten Bücher bekam sie kaum noch zu fassen, so steif waren ihre Hände vor Kälte. Sie konnte ihren Atem sehen, als ob sie an einem kalten Wintertag im Wald spazieren gehen würde. Am Fenster und den Glasscheiben der Vitrine zeigte sich Raureif und die Wände des Raumes begannen zu glitzern, als sich die Feuchtigkeit des Zimmers zu Eiskristallen kondensierte.

Mühsam erhob sich Joana aus ihrer knienden Stellung. Die Kälte war mittlerweile nicht nur unangenehm, sondern biss nun schmerzhaft in die Gelenke. Die Luft, die sie einatmete, brannte eisig in den Lungen. Was zur Hölle war denn nur los? Sie hatte nur noch einen Gedanken: Sie musste raus aus dem Zimmer!

»Bill!«, versuchte sie ihren Mann zu rufen, doch es kam nur noch ein heiseres Krächzen aus ihrer Kehle.
Das Glas der Vitrine zersplitterte und aus den Wänden, von der Decke, ja sogar aus den Büchern kam dichter, schwarzer Rauch. Er nahm ihr die Sicht und ließ ihre Angst in nackte Panik umschlagen. Blindlings tastete sie sich vor in Richtung Tür, aber jemand oder etwas hielt sie zurück. Es zog an ihrer steif gefrorenen Kleidung und zerrte an ihren Haaren, sodass ihr Kopf hart zurückgerissen wurde. Joana konnte sich nicht mehr bewegen. Sie konnte spüren, wie ihr Körper erstarrte, wie der Blutkreislauf stockte und wie ihre letzten Gedanken zerfaserten. ’Bill', dachte sie noch, bevor alles Leben in ihr erlosch.

*****

Fast hätte Bill seinen bisherigen High-Score noch einmal überboten, doch er musste mit ansehen, wie die silberne Stahlkugel den Weg ins Aus fand. Unschlüssig überlegte er, ob er ein neues Spiel starten sollte, doch ein Blick auf die Uhr ließ ihn dann doch den Flipper ausschalten. Heute Abend würde er aber noch eine weitere Runde wagen, nahm er sich vor.

Er verließ den Keller, besorgte sich eine Cola aus der Küche und wägte ab, ob er nun lieber Fernsehen, oder doch besser seiner Frau helfen sollte. Er entschied sich für Letzteres. Er wusste, wie viele Bücher Joana einzuräumen hatte und sie würde seine Hilfe bestimmt erwarten. Bill bekam ein schlechtes Gewissen, als er an die zahlreichen Umzugskartons mit den Büchern und gleichzeitig an die Zeit dachte, die er mit dem flippern totgeschlagen hatte.

Er stieg die Stufen in den ersten Stock hoch und ging zu dem Zimmer, in dem sich Joana ihre Bibliothek einrichten wollte. Er legte die Hand auf die Türklinke - und zog sie überrascht wieder zurück. Die Klinke war kalt. Eiskalt. Entgeistert benutzte er seinen Pullover als Schutz gegen das kalte Metall, drückte die Klinke hinunter und versuchte, die Tür aufzudrücken. Sie klemmte. Besorgt rammte er seine Schulter gegen das Holz der Tür und nach dem zweiten Stoß sprang sie endlich auf. Bill stolperte in den Albtraum seines Lebens.

Mitten im Zimmer stand seine Frau. Ihr Körper war mit glitzerndem, weißen Eis bedeckt, die Arme zur Tür ausgestreckt. Die Augen waren geschlossen und der Mund als Kontrast wie zu einem stummen Schrei weit aufgerissen. Im gesamten Zimmer sah es aus, als hätte ein Blizzard Wände und Fußboden mit einem dichten Eispanzer überzogen. Das Eis knirschte unter seinen Hausschuhen, als Bill verwirrt und geschockt einige Schritte in den Raum hineinging. Die Kälte griff seine Haut an und die eiskalte Luft erschwerte das Atmen.

»Joana ... wie ... was ist passiert?«, stammelte er sinnlos.

Er berührte Joanas Gesicht - und schrie auf. Hastig zog er die Hand zurück, die zu bluten anfing, weil er sich bei dieser Bewegung Hautfetzen von den Fingerkuppen gerissen hatte. Ungläubig sah er, wie sich nun auch auf seinen Händen das Eis auszubreiten begann. Wie in Trance taumelte Bill aus dem Zimmer, lehnte draußen den Kopf an die Wand und übergab sich.

*****

Rory McAllister fand Bill auf den Treppenstufen zum Hauseingang sitzend. Das Handy, mit dem Dawson die Polizei gerufen hatte, hielt er noch in der Hand. Der Arzt würde später feststellen, dass Bill einen schweren Schock und ernsthafte Erfrierungen erlitten hatte.

»Erst die beiden tiefgekühlten Turteltäubchen auf der Jacht und nun dies hier«, knurrte Halpert, der sich mit seinem Kollegen den Tatort ansah. »Und der Ehemann hat von alldem nichts mitbekommen?«

»Nein, angeblich nicht. Mehr haben wir noch nicht aus ihm herausbekommen. Der Rettungswagen bringt ihn erst einmal ins Krankenhaus. Solange er in dem Zustand ist, wird er uns kaum helfen können.«

Fred Halpert kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Was hältst du von der Sache? Hattest du in Los Angeles schon mal einen solchen Fall?«

McAllister schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mal etwas annähernd Ähnliches. Eine tiefgefrorene Leiche? So einen Fall hatte ich schon mal, aber den Toten hatten wir nicht auf einer Jacht oder in einem ganz normalen Zimmer gefunden, sondern in einem speziell eingerichteten Labor. Wir sollten als Erstes überprüfen, ob es eine Verbindung zwischen den Dawsons und den Toten von der Jacht gibt. Frag du doch mal bei den JayJays nach, ob die schon etwas herausgefunden haben. Ich seh mich noch einmal drinnen um, beaufsichtige den Abtransport der Leiche und versiegele das Haus.«

McAllister sah seinem davoneilendem Kollegen nach und zündete sich eine Zigarette an. Hustend inhalierte er den Rauch. »Was für eine Scheiße!«, murmelte er angewidert, bevor er in das Haus zurückging.

Maras Spurensuche

Mara hatte fast die ganze Nacht vor dem Telefon zugebracht und auf Lucius' Anruf gewartet. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihn diese Nachrichten einfach kalt ließen. Doch bei Sonnenaufgang musste sie sich eingestehen, dass dem wohl doch so war.
»Du blödes Arschloch!«, rief sie ebenso laut wie ärgerlich aus und fetzte das unschuldige Telefon vom Sideboard.

'Na toll!', dachte sie ärgerlich, als sie das zertrümmerte Gerät am Boden liegen sah. 'Jetzt muss ich mir auch noch ein neues Telefon besorgen.'

Während sie ihren Morgenkaffee trank, dachte sie über die weitere Vorgehensweise nach. Sie würde Joana aufsuchen und sich genau im Zimmer umsehen, egal, was ihre Freundin dazu sagen würde. Sollte sie Mara für eine Spinnerin halten, dies war ihr gleich. Sie machte sich bereits jetzt, nur zwei Tage nach ihrer ersten Sinneswahrnehmung, heftige Vorwürfe, dass sie die Untersuchung nicht schon an jenem Abend vorgenommen hatte, spätestens aber nach ihrer Vision.

Während Mara zu Fuß durch Montereys Straßen zum Haus der Dawsons marschierte, legte sie sich einen Plan zurecht. Sie würde Joana erzählen, dass der Vorbesitzer in dem Raum etwas zurückgelassen hatte, was Mara nun finden wollte. Irgendwo im Fußboden oder hinter der Tapete. Gut, das klang jetzt sehr weit hergeholt, aber Mara hoffte, dass Joana sie gewähren lassen würde. Ihr fiel einfach kein triftigerer Grund ein, warum sie im Haus durch das Zimmer kriechen sollte. Mara seufzte, während sie in die Straße einbog, in der sich das Haus ihrer Freunde befand. Wenn dies aus irgendeinem Grund nicht funktionieren würde, dann musste sie die beiden ’überreden', ihr die Untersuchung zu ermöglichen. Das wollte Mara nach Möglichkeit vermeiden.

Sie sah schon aus zwanzig Metern Entfernung, dass etwas nicht stimmte. Polizeiabsperrband hatte nur selten etwas Gutes zu bedeuten. Besorgt ging sie den kurzen Weg durch den Vorgarten, bis sie vor der Haustür stand. Ein Polizeisiegel. Nachdenklich legte sie ihre Fingerkuppen an das Holz der Tür ... und schreckte zurück. Sie spürte eine Präsenz, die noch vor wenigen Stunden an diesem Ort gewesen war. Hass, abgrundtiefer Hass, durchzog die Gebäudestruktur. Es war hier gewesen. Mara wusste nun, dass sie zu spät gekommen war.

Dennoch durchtrennte sie entschlossen das papierene Siegel am Türspalt, legte einen Finger auf das Schloss, lauschte auf das leise Klacken und schob die Tür auf. Die Schwingungen, die sie im Haus spürte, verursachten bei ihr ein Gefühl, was Schmerzen sehr nahe kam. Mara biss sich auf ihre Lippen und stieg langsam die Stufen in den ersten Stock hinauf. Eine unsichtbare Gewalt drängte sie auf das rückwärtige Zimmer zu, dorthin, wo Joana ihre kleine Bibliothek eingerichtet hatte, wie sie vom letzten Besuch noch her wusste. Unwillkürlich legte sie eine Hand an die Dielenwand ... und zuckte zurück. Die Empfindungen, eine Mischung aus Hass, Angst und grenzenloser Wut, hatten sich tief in die Gebäudestruktur eingebrannt.

Sie zögerte. Sie wollte nicht in den Raum gehen, aber sie wusste instinktiv, dass sie keine Wahl hatte. Beinahe ängstlich öffnete sie vorsichtig die Tür zu dem Raum, in welchem sich etwas Furchtbares abgespielt haben musste. Der Anblick des Zimmers bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Sogar sie spürte die eisige Kälte im Raum, doch sie spürte auch die Monstrosität, die diese Geschehnisse ausgelöst hatte. Mara konnte die Fußspuren ihrer Freundin erkennen. Die letzten Schritte, die diese in ihrem Leben zurückgelegt hatte. Tränen verschleierten Maras Blick, während sie sich hinkniete und ihre Hände auf die eiskalten Fußabdrücke presste.

Im nächsten Moment verschwamm die Umgebung vor ihren Augen. Sie sah, wie Joana förmlich zu Eis erstarrte. Sie spürte die Angst und den Schmerz ihrer Freundin, das Unverständnis, die Qual, die Todesangst. Doch sie fühlte auch den unbändigen Hass der Kreatur, die für diese Tat verantwortlich war und auch die Verachtung, die dieses Monster allem Lebendigen gegenüber empfand. Die Szenerie wechselte erneut und nun stand Mara mitten in einem Lavasee. Sie blickte nach oben, dorthin, wo normalerweise der blaue Himmel sein sollte. Doch sie sah nur ein riesiges, feuriges Tor, durch das geflügelte Kreaturen hinabstürzten.

»Was tun Sie hier? Sie haben hier nichts verloren! Dies ist ein Tatort, Miss! Stehen Sie auf!«

Eine barsche Stimme riss Mara aus ihrer Vision und dagegen hatte sie wahrlich nichts einzuwenden. Sie stand vom Boden auf und drehte sich bedächtig um. McAllister hatte den Raum betreten, hielt seine Dienstwaffe in der rechten Hand und löste mit seiner anderen Hand die Handschellen von seinem Gürtel.

»Kommen Sie langsam zu mir her und verzichten Sie auf jede hastige Bewegung.«

Mara gehorchte, doch als der Officer ihr die Handschellen anlegen wollte, berührte sie ihn leicht am Arm.

»Ich habe nichts gemacht und darf gehen«, sagte sie einschmeichelnd.

McAllister sah ihr verwundert ins Gesicht. »Natürlich dürfen Sie gehen, Miss. Sie haben schließlich nichts getan.«

»Wo haben Sie Bill Dawson hingebracht?«, wollte sie wissen.

»Er ist in der Monterey-Klinik, Zimmer 204.«

»Vielen Dank für Ihre Mitarbeit. Sie bleiben jetzt noch fünfzehn Minuten in diesem Haus. Danach können Sie gehen.«

»Ich warte noch fünfzehn Minuten, bevor ich gehe«, bestätigte der Polizist.

»Danke.«

Mara verließ das Haus, während McAllister mit einem seltsam verträumten Ausdruck auf dem Gesicht im Zimmer zurückblieb.

*****

Fred Halpert hatte noch die Obduktion des Mordopfers in der Pathologie abgewartet. Joana Dawsons Leichnam hatte problemlos aufgetaut werden können, aber Dr. Jackson hatte keine weiteren Erkenntnisse geliefert. Die Frau war einfach erfroren - dies war die Todesursache gewesen. Auch die beiden Todesopfer von der Jacht waren mittlerweile soweit aufgetaut, dass man sie obduzieren konnte. Aber auch hier hatten die Ärzte keine Besonderheiten feststellen können - von der Tatsache einmal abgesehen, dass beide Menschen bei über zwanzig Grad erfroren waren.

Nun war Halpert gerade vor dem Haus der Dawsons vorgefahren, wo er sich mit seinem Kollegen treffen wollte, um die Nachbarn zu verhören. Sie erwarteten beide nicht sehr viel von diesen Befragungen. Was sollte dabei herauskommen? Überrascht sah er McAllister aus dem Mordhaus treten. Hatte sein Kollege eine Idee gehabt, die er sofort hatte überprüfen wollen?

»Was ist los, Rory?«, fragte Halpert, nachdem er seinen Kollegen erreicht hatte. »Hast du etwas entdeckt?«

McAllister rieb sich über die Augen, während er sich verwirrt umsah.

»Nein ... ich weiß nur, dass ich hier vorgefahren bin, und ...«

»Hast du das Siegel entfernt?«, wollte Halpert wissen, als er die Haustür in Augenschein nahm.

»Nein ... es war diese ... Frau, ja die Frau. Sie war oben ... Ich habe das durchgerissene Siegel gesehen und bin ins Haus. Danach habe ich ... keine Ahnung, irgendwie ist alles danach so verschwommen.«

»Geht es dir nicht gut?«

»Doch, doch, es ist nur ... ich weiß nicht.«

Rory McAllister atmete tief durch und schüttelte seinen Kopf, als ob er ihn klar bekommen wollte. »Lass uns jetzt die Nachbarn befragen.«

Halpert sah seinen Kollegen etwas skeptisch an. »Ich schlage vor, du fährst zurück zum Revier und ich führe die Befragung alleine durch. Du scheinst mir nicht in bester Verfassung zu sein.«

McAllister wollte schon widersprechen, aber er musste seinem Kollegen recht geben. Er fühlte sich wirklich nicht besonders gut.

»Vielleicht hast du recht, Fred. Ich bringe noch rasch ein neues Siegel an der Tür an und fahre anschließend zum Revier. Nachher können wir dann gemeinsam die Aussagen abgleichen und ich gebe dir einen Kaffee aus.«

»Aber keinen aus dem Automaten!«, grinste Halpert. »Du wirst mir einen aus der Kantine besorgen!«

»Natürlich. Ich will dich schließlich nicht vergiften.«

*****

Gegen ihre Gewohnheit hatte Mara ein Taxi genommen. Sie musste ins Krankenhaus und mit Bill sprechen. Vielleicht wusste er etwas, was ihr weiterhalf. Und sie sollte sich beeilen, denn wer konnte schon sagen, wie lang ihr noch Zeit blieb, bevor ...

»Wir sind da, Miss. Das macht dann acht Dollar sechzig.«

Mara gab dem Taxifahrer einen Zwanzigdollarschein und winkte ab, als der Mann das Wechselgeld herausgeben wollte. Ohne auf seinen Dank zu reagieren, schlug sie die Wagentür zu und eilte auf den Krankenhauseingang zu. Dank des freundlichen Polizisten von vorhin musste sie erst gar nicht mühsam die Zimmernummer in Erfahrung bringen, sondern eilte die Treppe in den zweiten Stock hinauf.

Sie hatte kaum das Treppenhaus verlassen, als sie auch schon feststellen musste, dass ihr Plan nicht so leicht in die Tat umzusetzen war. Vor der Tür zu Bills Zimmer hielten zwei Polizisten Wache und die sahen nicht so aus, als ob sie sich von einem freundlichen Lächeln beeindrucken lassen würden. Mara zermarterte ihr Gehirn nach einer Lösung. Wenn es nur ein Officer gewesen wäre, so hätte sie ihn problemlos überreden können. Wahrscheinlich würde es auch bei beiden gleichzeitig funktionieren, aber es war ein zu großes Risiko dabei.

Ihr Blick fiel auf einen Raum am Ende des Ganges, den soeben eine Krankenschwester mit einem weißen Kittel über den Arm verließ. ’Das könnte klappen', schoss es ihr durch den Kopf. Unauffällig schlenderte sie wie eine Besucherin über den Flur, bis sie vor der Tür zur Kleiderkammer stand. Mara versuchte, die Tür aufzudrücken, aber sie war abgeschlossen. Eine kleine Tastatur, die neben der Tür angebracht war, sagte ihr, dass sie einen Code benötigen würde. Oder etwas anderes. Vorsichtig sah sie sich nach allen Seiten um, bevor sie ihre Hand flach auf die Tastatur legte. Ein leises Klacken ertönte und schon konnte Mara die Tür öffnen. Hastig schlüpfte sie hinein und nach kurzem Suchen hatte sie auch schon etwas gefunden, was ihr bei ihrer Aufgabe nützlich sein würde.

*****

Die Tracht einer Krankenschwester war für Mara etwas ungewohnt und sie versuchte, die Kleidung in etwas bequemere Form zu zupfen. Aber ohne viel Erfolg. Schließlich gab sie es auf und trat wieder hinaus auf den Gang. Den Blick starr auf die Zimmertür gerichtet, hinter der sie Bill wusste, ging sie den Klinikflur entlang. Die Ruflampe am Raum 203 zeigte ihr, dass derzeit kein Arzt in Bills Krankenzimmer war. Sie konnte nur hoffen, dass niemand Verdacht schöpfen würde.

»Verzeihung Miss«, hielt sie einer der beiden Polizisten auf, als sie das Zimmer betreten wollte. »Der diensthabende Arzt hat nicht erwähnt, dass eine Schwester zum Patienten kommen würde.«

»Nun, jemand sollte sich aber um die Infusionen kümmern«, versetzte Mara in einem ziemlich schnippischen Tonfall. »Wenn Sie aber meine Arbeit übernehmen wollen, dann tun Sie sich keinen Zwang an, denn auf diese Weise kann ich früher Feierabend machen.«

Der Polizist warf seinem Kollegen einen fragenden Blick zu, der aber nur gleichgültig mit den Schultern zuckte. Fast schon resignierend gab er den Weg frei.

»Vielen Dank, Officer«, sagte Mara noch, bevor sie den Raum betrat und hinter sich die Tür schloss.

Erleichtert registrierte sie, dass kein weiterer Patient im Raum war. Dies würde ihr Vorhaben deutlich erleichtern. Sie huschte an das Bett und berührte Bill leicht am Arm.

»Bill! Bill! Ich bin es, Mara.«

Doch der Mann hielt die Augen fest geschlossen. Die Monitore neben ihm und die zwei Infusionsschläuche zeigten ihr, dass es ihn ziemlich schwer erwischt haben musste. Ein normales Gespräch würde sie jedenfalls nicht mit ihm führen können.

»Es tut mir leid, Bill«, flüsterte sie, »aber ich habe keine andere Wahl. Ich muss wissen, was genau passiert ist und was Ihr in den letzten Tagen gemacht habt.«

Sie setzte sich auf die Bettkante, zögerte einen Moment und legte Bill schließlich ihre rechte Hand auf das Gesicht. Hunderte von Eindrücken, Erinnerungsfetzen und Gefühlen durchströmten sie, während sich Bills Körper unruhig zu bewegen begann. Mara schloss die Augen und versuchte, die Informationsfetzen zu ordnen. Sie sah Bill und Joana bei der Renovierung des Hauses, konnte Bill an seinem Flipper sehen und fühlte seine Freude, als Mara ihm den Schlüssel zum Haus überreichte. Ungefiltert und ungeordnet drangen mehr und mehr von Bills Erinnerungen in Maras Geist. Doch die jüngsten Eindrücke und alles, was damit zusammenhing, schien Bill zu verdrängen und tief in sich einzusperren.

»Tut mir wirklich leid, Bill, aber es muss sein!«, flüsterte Mara und eine steile Falte zeigte sich auf ihrer Stirn.

Die Unruhe, die Bill bereits ergriffen hatte, steigerte sich und er verkrampfte in seinem Bett, als Mara tiefer in seine Erinnerungen vordrang. Sie sah Bill, wie er verzweifelt die Tür zu Joanas Bibliothek zu öffnen versuchte. Sie spürte das Entsetzen und die Verzweiflung, als Bill seine Frau zu Eis erstarrt vorfand. Tiefer und tiefer grub sie in seinen Erinnerungen.

Mara hörte nicht den Alarm, den die Apparate schlugen, als Bills Puls und Blutdruck jegliche Grenzen sprengten, doch endlich fand sie die Information, die sie gesucht hatte. Sie hatte eine Spur.

»Treten Sie sofort von dem Bett zurück!«

Ohne dass Mara es beachtet hatte, waren die Polizisten und ein Arzt in das Zimmer gestürmt. Sie zitterte am ganzen Leib, als sie die Hand von Bills Gesicht löste, von der Bettkante erhob und sich zu den Polizisten umdrehte. Bills Körper entspannte sich, Puls und Blutdruck fielen wieder in die normalen Regionen zurück. Zwei Krankenschwestern hatten den Raum betreten und kümmerten sich um den Patienten.

»Was haben Sie hier drin zu suchen? Wie kommen Sie überhaupt an diese Kleidung?«, herrschte sie der Arzt an.

»Das würden Sie nicht verstehen«, erwiderte Mara erschöpft.

»Sie kommen mit uns auf das Revier«, sagte einer der Polizisten barsch, während er ihr Handschellen anlegte.

Widerstandslos ließ sich Mara abführen. Sie würde eine Weile brauchen, um sich von dieser Anstrengung wieder zu erholen. Doch es hatte sich gelohnt. Sie wusste nun, wo sie mit ihrer Suche beginnen konnte.

Der Nachtclub

Lucius merkte schon nach dem Klopfen an die Tür seines bevorzugten Nightclubs, dass etwas anders war als sonst. Niemand sah durch die Luke in der Tür, ob der potenzielle Gast, der da Einlass begehrte, auch zu der gewünschten Klientel gehörte. Stattdessen schwang die Tür auf und man ließ ihn einfach eintreten.

»Habt Ihr heute Tag der offenen Tür?«, fragte er den Türsteher, der aber nur wortlos die Eingangstür hinter ihm zusperrte.

Lucius ging die Treppe hinunter, um in den Innenbereich zu gelangen. Das Licht war noch gedämpfter als gewöhnlich und die Musik hatte nur wenig mit dem Technobeat zu tun, der üblicherweise im Club gespielt wurde. Auch auf der Tanzfläche herrschte eine düstere Atmosphäre und die Beleuchtung, die normalerweise in allen Farben den riesigen Raum erhellte, war heute in einem gespenstischen graublau gehalten. Die Tanzpaare bewegten sich in langsamen, selbstvergessenen Bewegungen zum Klang der finsteren Musik.

Er strich sich durch seine Haare. Er erkannte den Club nicht wieder. ’Vielleicht brauche ich erst einmal ein paar Drinks zum warm werden', dachte er, trat an die große Bartheke und winkte den Barkeeper herbei.

»Einen Martini.«

Langsam machte sich der Mann daran, das Getränk vorzubereiten.

»Nur keine Eile«, spottete Lucius. »Ich habe ja den ganzen Abend Zeit.«

Endlich stand das gewünschte Getränk vor ihm.

»Sag mal, wäre es tatsächlich zu viel verlangt, die Heizung hochzudrehen? Hier drin ist es arschkalt. Ich meine, ich liebe ja unheimliche Locations, wirklich, aber Ihr übertreibt es ein wenig.«

Lucius erhielt auf seine Tirade keine Antwort, zuckte mit den Schultern und nahm das Glas vom Tresen, doch bevor er einen Schluck nehmen konnte, stockte ihm der Atem. Hart stellte er das Getränk wieder auf der Bar ab.

»Hör mal zu, Freundchen! Ich bin ja normalerweise ein netter Kerl und sehr umgänglich, aber wenn du mir nicht sofort diesen Scherz erklärst, dann wirst du mich von einer unangenehmen Seite kennenlernen! Für gewöhnlich erwarte ich nämlich nichts anderes als Oliven in meinem Martini und ganz bestimmt akzeptiere ich keine Augäpfel als kleine Zugabe!«

Er hätte noch so einiges mehr von sich gegeben, doch als er einen ersten Blick in das Gesicht des Barkeepers warf, schenkte er sich die weiteren Worte. Es hätte ohnehin nichts gebracht, so wie der Mann aussah. Zumindest wusste Lucius nun, woher die Fremdkörper in seinem Martini kamen. Er wandte sich von der Theke ab und sah sich nun gründlicher im Club um. Lucius war wirklich kein zartbesaiteter Mann und er hatte sich immer für einen harten Knochen gehalten, doch der Anblick der Gäste versetzte ihm einen ziemlichen Schock. Die Tanzpaare, die er nun etwas genauer betrachtete, waren schlicht und ergreifend tot. Zumindest hoffte er es für diese bedauernswerten Kreaturen, denn nun sah er die teilweise grauenhaften Verstümmelungen, die diese Menschen an ihren Gliedmaßen erlitten hatten.

»Was geht hier vor, verdammt noch mal?«, murmelte er, während er sich langsam in Richtung des Ausgangs zurückzog.

Unwillkürlich musste er an das Telefonat mit seiner Lieblingsgegnerin Mara denken. Sie hatte wohl doch recht, was ihre Befürchtungen betraf. Eine Berührung an der linken Schulter ließ ihn herumfahren. Reflexartig wich er zwei Schritte zurück, als er den Barkeeper hinter sich stehen sah.

»Bleib mir bloß vom Leib, du Zombie!«, zischte er.

Ungerührt hob sein Gegenüber einen Arm und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Empore im ersten Stock. Lucius hatte kein sonderlich großes Interesse daran, was ihm der Barkeeper mit den leeren Augenhöhlen im Kopf wohl zeigen wollte. Dennoch drehte er sich wie unter Zwang stehend um. Er konnte nichts erkennen, aber was er sah, war, dass nun alle anwesenden Toten ihre Arme erhoben hatten und auf die Galerie deuteten.

»Ich denke, das soll wohl eine Einladung darstellen«, sagte er zu sich selbst.

Lucius hatte im Laufe seiner Existenz schon einigen Gefahren gegenübergestanden, doch niemals zuvor hatte er ein mulmigeres Gefühl gehabt, wie jetzt, als er die Treppe nach oben stieg. Je näher er der Empore kam, desto kälter wurde es. Die bedauernswerten Kreaturen, an denen er vorbeikam, waren gleichsam tiefgefroren und verfolgten ihn nur mit den Augen - sofern sie noch welche hatten. Als er den ersten Stock erreicht hatte, da wusste er, dass Mara mit ihrer Vermutung richtig lag. Lucius wurde nicht von einem Wesen, sondern von einem körperlosen Schatten erwartet. So sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, sein Gegenüber zu fixieren. Vor ihm stand tatsächlich ein Schattengänger.

»Willkommen in meinem Club, Lucius von den Odirern!«, ertönte eine tiefe Stimme, die von überallher zu kommen schien.

»Nettes Lokal hast du da, wenn es hier drin auch ein wenig frisch ist. Aber du wirst nicht gerade großen Erfolg haben, wenn du immer alle Gäste umbringst. So etwas spricht sich schnell herum.«

Das hämische Lachen des körperlosen Schattens drang Lucius durch Mark und Bein.

»Wie erquickend es ist, einem von euch Odirern zu begegnen. Du kannst dir denken, dass ich sehr überrascht war, jemanden wie dich in dieser Dimension zu treffen - und zusätzlich noch eine von deinen schlimmsten Feinden.«

»Und was führt ein Wesen wie dich auf eine Welt wie diese? Und was willst du eigentlich von mir?«

Lucius spürte, wie sich ein eiskalter Schatten über ihn legte - kein sehr angenehmes Gefühl. Dennoch ertrug er es mit stoischer Gelassenheit. Er wollte dem Schattengänger nicht die Genugtuung geben, ihm zu zeigen, wie unwohl er sich fühlte.

»Schließ dich mir an!«, flüsterte ihm die Stimme einschmeichelnd zu. »Du und ich gemeinsam - wir können aus dieser Welt einen Spielplatz machen und uns von den Lebewesen auf dem Planeten nehmen, was immer wir wollen. Du kannst dich an deine Gegenspielerin vergreifen, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen kann. Das muss dich doch reizen! Wie lange bekämpfen sich die Odirer und die Amoraner schon, ohne dass eine Seite bisher den Sieg davontragen konnte? Zumindest auf dieser Welt könntest du das ändern!«

»Ein reizvolles Angebot«, gab Lucius zu. »Ich werde darüber nachdenken.«

»Denk nicht zulange nach, Odirer!«, erwiderte die Stimme, während sich der Schatten langsam zurückzog. »Ich halte mein Angebot nicht mehr lange aufrecht.«

Im nächsten Augenblick spürte Lucius, wie sich die Präsenz des Schattengängers abschwächte und schließlich verschwand. Gleichzeitig mit ihm entfernte sich auch die Macht, die bisher die toten Menschen in der Gewalt gehabt hatte. Überall im Club brachen Männer und Frauen zusammen und die hier im Club übliche Musik setzte in voller Lautstärke ein. Auch die düsteren Lichter wurden von den farbenfrohen Lichtorgeln abgelöst.

Der Anblick der vielen Leichen auf dem Fußboden in Kombination mit der stampfenden Musik und der grellen Beleuchtung wirkte auf Lucius fast noch verstörender als der Schattengänger. Schließlich konnte er die Erstarrung abschütteln. Er musste hier raus. Lucius eilte von der Empore hinunter und hatte schon die Treppe zum Ausgang erreicht, als er sah, wie die Eingangstür zum Club aufgestoßen wurde und uniformierte Männer im Türrahmen auftauchten. Die Cops! Die hatten gerade noch zu seinem Glück gefehlt.

Hastig zog er sich zurück und überlegte fieberhaft sein weiteres Vorgehen, während er die Tanzfläche überquerte und sich bemühte, nicht auf die Leichen zu treten. Er würde nun tatsächlich das alte Klischee strapazieren müssen und durch das Fenster der rückwärtigen Toiletten fliehen. Mit knapper Not gelang es ihm, den Gang zu den hinteren Räumlichkeiten zu erreichen, bevor die ersten Polizisten am vorderen Treppenaufgang erschienen. Lucius konnte sich lebhaft ausmalen, wie entsetzt die Cops auf das offensichtliche Massaker reagieren würden.

Er riss die Toilettentür auf und war froh, dass er auf etwaige Geräusche keine Rücksicht nehmen musste. Die immer noch laut dröhnende Musik aus dem Club übertönte alles, was er hier hinten unternahm. Dazu gehörte auch das Öffnen des quietschenden Fensters. Lucius warf einen Blick auf die kleine, dreckige Seitengasse, auf die das Toilettenfenster hinausführte. Er hatte mal wieder Glück - kein Polizist weit und breit zu sehen, aber er war sich sicher, dass dies nicht mehr lange so bleiben würde. Ein Club mit ungefähr drei Dutzend Toten gehörte auch in New York nicht gerade zu den alltäglichen Vorkommnissen.

Lucius verlor keine Zeit mehr und stieg durch die Fensteröffnung. Ohne jede Hast verließ er die Gasse und war im nächsten Moment in der Menschenmenge auf dem Bürgersteig verschwunden. Rasch näherkommende Sirenen zeigten ihm an, dass die Cops Verstärkung angefordert hatten. Mit einem leichten Bedauern warf er einen Blick zurück auf den Eingang des Clubs. Ihm hatte es dort immer sehr gut gefallen, aber nun würde er sich wohl einen neuen Lieblingsort suchen müssen.

Lucius zog sein Handy aus der Jacketttasche und wählte Maras Nummer, doch er erreichte nur ihre Mailbox.

»Blödes Stück«, grummelte er. »Musst du wieder rumzicken?«

Er wischte sich über die Stirn, während er das Telefon wieder einsteckte. Klar, sie gehörte zu seinen Feinden, aber sie war auch gleichzeitig die Einzige, mit der er über das aufgetauchte Problem reden konnte. Für einen kurzen Moment dachte er darüber nach, das Angebot des Schattengängers anzunehmen. Doch dieser Augenblick ging schnell vorüber. Er hatte absolut keine Lust, demnächst nur noch solchen Menschen zu begegnen wie denen, die er gerade im Club gesehen hatte. Doch dies würde zwangsläufig passieren, wenn er mit dem Schattengänger zusammenarbeiten würde. Also blieb nur noch Mara als Verbündete übrig.

Leider.

Das Verhör

McAllister stand vor dem Verhörzimmer, genoss den heißen Kaffee und blickte durch die verspiegelte Sichtscheibe.

»Ist sie das?«, hörte er Halpert in seinem Rücken fragen.

McAllister nickte versonnen.

»Soll ich das Verhör führen, Rory?«

Der Detective schüttelte nur den Kopf und stellte seine Kaffeetasse ab.

»Nein, das übernehme ich schon selbst. Ich bin viel zu neugierig auf die Geschichten, die sie mir auftischen wird.«

Er griff schon zur Türklinke, als er sich noch einmal zu seinem Kollegen umdrehte.

»Eins vorab: Sollte sie hier rausspazieren wollen und sagen, ich hätte es gestattet ... glaub ihr kein Wort, verstanden?«

Halpert grinste schief. »Natürlich. Wenn sie uns nicht auch alle verzaubert, halten ich und die Kollegen sie hier auf. Unter Einsatz unseres Lebens.«

»Blödmann«, murmelte McAllister, bevor er entschlossen die Tür aufzog und den Verhörraum betrat.

Die Frau sah ihm mit einem fast schon unverschämt gleichgültigen Gesichtsausdruck entgegen, während sich der Detective ihr direkt gegenübersetzte und umständlich Papiere aus einer Mappe zog.

»Sie heißen Mara Bergner?«

»Das ist richtig, Officer.«

»Und Sie arbeiten als Immobilienmaklerin?«

»Auch das ist korrekt.«

McAllister brummte nur etwas Unverständliches und fuhr fort, in der Mappe herumzublättern.

»Sind diese Handschellen wirklich notwendig?«, fragte Mara schließlich und hob ihre Hände leicht an.

»Auf jeden Fall!«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

»Auch wenn ich Ihnen verspreche, ganz brav zu sein?«

»Vergessen Sie es!«

»Könnte ich dann wenigstens etwas zu trinken und zu essen bekommen?«

Der Detective stieß geräuschvoll die Luft aus seinen Lungen.

»Wir haben Sie an einem Tatort angetroffen, an dem ein Mensch ermordet wurde und wo Sie nichts zu suchen hatten. Nur wenig später haben wir Sie dann im Krankenzimmer des Ehemannes des Opfers entdeckt. Sie sollten sich besser keine Gedanken um ein schmackhaftes Abendessen machen, sondern sich überlegen, wie Sie sich da wieder herauswinden wollen, Miss Bergner.«

Mara zuckte nur mit den Schultern und lehnte sich in ihren Stuhl zurück.

»Also, was haben Sie im Haus der Dawsons gesucht?«, fuhr McAllister fort.

»Eine Spur.«

»Was für eine Spur?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie würden es nicht verstehen.«

»Oh, ich bin ganz Ohr. Stellen Sie mich auf die Probe. Ich habe schon so einiges gehört und bin daher ziemlich abgehärtet, was abstruse Geschichten angeht.«

Mara lächelte ein wenig hinterhältig. »Ich wollte mich vergewissern, ob Joana tatsächlich von einem Schattengänger ermordet wurde. Also habe ich die Schwingungen des Hauses überprüft und dank dieser eine Vision erhalten.«

McAllister glotzte! Anders konnte man den Blick nicht nennen, mit dem er Mara bedachte.

»Ich habe ja gesagt, Sie würden es nicht verstehen!«, ergänzte sie süffisant mit einem Achselzucken.

Ärgerlich schob der Polizist die Mappe von sich. »Sie scheinen das hier für einen großen Witz zu halten, nicht wahr?«

Maras Gesichtsausdruck wurde schlagartig ernst. »Ganz bestimmt nicht, Detective! Ein Schattengänger ist nichts, was ich auf die leichte Schulter nehmen würde.«

McAllister atmete tief ein und versuchte, sich auf diese Wiese wieder zu beruhigen. Er hasste es, mit Verrückten zu reden, aber es war nun einmal ein Teil seines Berufes.

»Nun gut, Miss Bergner, dann kommen wir mal zum Besuch im Krankenhaus. Ich nehme ja nicht an, dass Sie im Zweitberuf Krankenschwester sind. Warum haben Sie sich zu Mister Dawson ins Zimmer geschlichen?«

Mara lächelte schon wieder. »Sie werden mir ...«

»Hören Sie auf!«, unterbrach McAllister Mara rüde. »Überlassen Sie es gefälligst mir, was ich glaube oder was ich nicht glaube. Antworten Sie einfach auf meine Fragen!«

»Ich habe mir von Bill Informationen besorgt. Der Schattengänger wird etwas im Haus meiner Freunde gesucht haben und ich wollte wissen, was es war.«

»Mister Dawson hat Ihnen die Information gegeben?«

»Ja, das hat er.«

»Sie lügen, Miss Bergner!«, knurrte McAllister grimmig. »Bill Dawson war und ist bewusstlos! Die Ärzte haben ihn in diesen Zustand versetzt, weil er einen schweren Schock davongetragen hat. Er konnte Ihnen gar keine Antwort geben!«

Mara zuckte nur gleichmütig mit den Schultern. »Ich habe mir die Information aus seinem Gedächtnis geholt.«

McAllister war noch nie für seine Geduld bekannt gewesen. Und nun war für ihn das Maß bereits voll. Wütend fegte der Detective die Mappe mit den Unterlagen vom Tisch. »Ich habe genug von Ihren Geschichten. Sie lügen doch, wenn Sie nur den Mund aufmachen. Wenn es nach mir ginge ...«

Die Tür zum Verhörraum wurde geöffnet und Fred Halpert betrat das Zimmer.

»Das reicht jetzt erst einmal, Rory. Ich übernehme die weitere Befragung.«

McAllister fuhr zornig herum, schien noch etwas sagen zu wollen, besann sich aber dann eines Besseren und verließ den Raum.

Mit einem finsteren Gesichtsausdruck marschierte er zurück zu seinem Schreibtisch, ließ sich auf seinen Stuhl nieder und suchte in den Schubladen nach seinen Reservezigaretten. Er entwickelte sich gegen seinen Willen zurück zum Kettenraucher, aber dieser Fall mit all seinen Begleitumständen ging ihm mächtig an die Nieren. Eigentlich hatte er sich vor zwei Jahren vom LAPD nach Monterey versetzen lassen, um solchen Verbrechen aus dem Weg zu gehen. Gewiss, auch in dieser Kleinstadt waren nicht nur Engel ansässig, aber solch brutale Morde waren hier schon seit mehreren Jahren nicht mehr vorgekommen. Schon gar nicht unter diesen merkwürdigen Begleitumständen.

McAllister hatte eine gute halbe Stunde über den Unterlagen gebrütet, als sein Kollege aus dem Verhörraum kam. Neugierig sah er ihm entgegen.

»Und?«, fragte er, als Halpert sich ihm gegenüber auf einer Ecke des Schreibtisches gesetzt hatte. »Hast du etwas aus ihr herausgequetscht?«

Fred schüttelte nur den Kopf, was McAllisters Laune nicht gerade verbesserte. Vollends in den Keller rutschte sie aber, als er mit ansehen musste, wie Mara den Verhörraum ohne Handschellen und ohne Bewachung verließ.

»Was soll das?«, fauchte er seinen Kollegen an. »Warum spaziert sie hier heraus? Hat sie dich etwa auch ... ?«

»Hör mit dem Unsinn auf, Rory! Wir haben keine Handhabe, sie noch länger hier festzuhalten. Sie wird eine Anzeige bekommen, weil sie sich in das Krankenzimmer eingeschlichen hat und sie wird gewiss auch eine Strafe erhalten, weil sie ein amtliches Siegel zerstört hat. Aber wir haben keinerlei Beweise, die sie mit dem Mord in Verbindung bringen. Sie kannte die Dawsons und sie hat ihnen das Haus vermittelt, das ist schon alles. Sollen wir sie deshalb auf den elektrischen Stuhl setzen?«

Aus McAllisters Kehle drang ein dumpfes Grollen. Fred Halpert sah seinem Kollegen halb besorgt und halb belustigt ins Gesicht.

»Warum geht es dir eigentlich so nahe? Aus deiner Zeit in Los Angeles müssten dir doch ganz andere Verbrechen im Gedächtnis geblieben sein, oder?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739427980
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Außerirdische Bedrohung Rätsel Portal Paralleldimension Invasion Urban Fantasy

Autor

  • Craig H. Manhoff (Autor:in)

Craig H. Manhoff ist das Pseudonym von Gerd Hoffmann.
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Titel: Schattengänger