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Gargoyleküsse

Magical Kisses

von Rebecca May (Autor:in)
114 Seiten

Zusammenfassung

Cara ist verlobt. Statt sich dem Willen ihres Clans zu fügen, ist die junge Magierin entschlossen, zu fliehen. Doch ihre Fluchtpläne drohen an den unüberwindbbaren Bergen zu scheitern, als sie unverhofft einen Verbündeten gewinnt: Tiran. Der Gargoyle ist an den Clan ihres Verlobten gebunden. Um ihrer beider Freiheit zu gewinnen, müssen die beiden einander vertrauen – und zur Hochzeit sind es nur noch wenige Tage. Während Cara sich zu ihrem Entsetzen in den grimmigen Gargoyle zu verlieben beginnt, scheint er in ihr nur eine Fluchtkomplizin zu sehen. Aber lässt Caras Nähe Tiran wirklich kalt, oder beginnt auch er etwas für die ungestüme Magierin zu empfinden?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


KAPITEL 1


Der Abend senkte sich mit dem zähen Nebel herab. Die Welt vor dem Kutschenfenster war düster und grau. Die magischen Lichter, die um das Gefährt flackerten, unterstrichen die Trostlosigkeit der Landschaft. Sie passte hervorragend zu Caras Stimmung, auch wenn sie darauf achtete, dass man sie ihr nicht ansah. Denn wenn ihre Eltern, die ihr gegenübersaßen, auch nur erahnten wie es wirklich in ihrer Tochter aussah, würde Cara in noch größeren Schwierigkeiten stecken als sie es ohnehin schon tat.

Sie wünschte, die Pferde würden durchgehen oder eine Radachse brechen - irgendetwas, das den Augenblick ihrer Verlobung noch einen Tag aufschieben würde. Doch das Gefährt rollte unbekümmert über die abendlichen Landwege. Cara konnte nicht einmal auf Wegelagerer hoffen. Selbst Verbrecher waren nicht dumm genug, das Tal zu betreten, das ausschließlich von Schwarzmagiern bewohnt wurde, Magiern so düster wie das Tal, das unter einer immerwährenden Nebeldecke lag.

Ihre neu erwachte Magie summte unruhig in ihr, als wollte sie aus ihr hinausfahren. Als wäre sie etwas Eigenständiges, das dem Abend mit ebenso wenig Freude entgegensah, wie Cara selbst. Cara unterdrückte ein Seufzen. Solange sie sich erinnern konnte, hatte sie auf das Erwachen ihrer Macht hingefiebert, und nun war es so ganz anders, als ihr erzählt worden war. Die magische Kraft war kein kühles Feuer, das stetig loderte, sie war mehr wie … wie ein Welpe, der voller Energie über den Hof jagte, nur um zwei Schritte weiter einzuschlafen. Wie alles in ihrem Leben kümmerten Caras Wünsche auch ihre Magie herzlich wenig. Sie verlieh ihr nichts von der ruhigen Selbstverständlichkeit, mit der ihre Eltern durch das Leben schritten. Stattdessen war die Welt lauter geworden, ein unnachgiebiges Drängen am Rande ihres Bewusstseins.

Cara presste die Stirn an die kühle Scheibe. Ich wünschte, zumindest meine eigene Magie wäre auf meiner Seite. Fast sofort schämte sie sich für ihr Selbstmitleid. Lizas entnervte Miene tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Wäre die Dienerin in der Kutsche, spätestens jetzt würde sie Cara raten, sich zusammenzureißen. »Lass dich nicht unterkriegen«, dröhnte die Stimme der Freundin in ihrem Kopf. »Kinn hoch. Du schaffst das.« Nur auf Caras »Was genau?«, war Liza ihr die Antwort schuldig geblieben.

»Cara.« Nur ihr Name, doch der Ton ihres Vaters reichte. Sie setzte sich wieder aufrecht hin. Ihre Mutter lehnte sich zu ihr vor, und richtete mit einem missbilligenden Zungenschnalzen das einzelne schwarze Haar, das sich aus der kunstvollen Frisur gelöst hatte. Cara senkte den Blick auf ihren Schoß, auf ihre geisterhaft weißen Hände, die gefaltet auf dem roten Stoff ihres Kleides lagen. Einzig der blitzende Schmuck an ihren Fingern und Handgelenken schien sie davor zu bewahren, mit der grau-weißen Welt, die sie umgab, zu verschmelzen.

Kies knirschte unter den Rädern, als die Kutsche auf den Vorplatz des Anwesens rollte. Das Licht der Laternen fiel neugierig in die Kutsche und machte ihr die dunkle Ecke streitig, in der sie sich verborgen hielt.

Cara schluckte. Zeig keine Schwäche! Sie rüstete sich innerlich für den Abend, der ihr bevorstand. Die Tür schwang auf und Cara griff nach der Hand des Kutschers, und ließ sich hinaushelfen. Nicht, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, selbst aus dem Gefährt zu klettern. Alles, was die Geste sollte, war die Hierarchie im Clan zu unterstreichen. An jedem anderen Abend hätte sie die hilfreich ausgestreckte Hand ignoriert, doch an diesem wagte sie es nicht.

Vor ihnen lag das Anwesen ihres zukünftigen Mannes. Es war ein schlossartiges Monstrum, das trotz seiner hellen Fassade feindselig wirkte. Wasserspeier und Gargoylestatuen ragten bedrohlich über die Dachkante des prunkvollen Gebäudes hinaus.

Obwohl Cara die dunklen Gemäuer des Schwarzmagierfamilie gewohnt war, konnte sie an diesem Abend ein Schaudern nicht unterdrücken. Die Fratzen der Statuen grinsten spöttisch auf sie herab, als würden sie sich über ihre Hoffnung, ihrem Schicksal zu entkommen, lustig machen.

Sie riskierte einen Seitenblick auf ihre Eltern, froh, dass die beiden ihren Anflug von Furcht nicht bemerkt hatten. Ihre Aufmerksamkeit galt den restlichen Clanmitgliedern, die aus den anderen Kutschen stiegen.

Hochgewachsen und elegant gaben die Anführer der Aswar-Familie imposante Gestalten ab.

Schließlich waren alle vollständig im Hof versammelt.

»Gehen wir.«

Ihre Eltern schritten rechts und links von Cara, die Gesichter so emotionslos und kalt wie die Juwelen, die an ihren Händen funkelten.

Hinter ihnen folgte der Rest ihres Hauses. Sie meinte, die Blicke in ihrem Rücken zu fühlen. Caras tagelange Weigerung, Elior als Gefährten zu akzeptieren, war nicht zu überhören gewesen. Die Clanmitglieder hatten sie wissen lassen, was sie erwarten würde, wenn sie entgegen ihrer Interessen handelte. Ihr einundzwanzigster Geburtstag, und damit das Erwachen ihrer Macht, lag bereits Monate zurück. Sie hatte gehofft, sich mehr mit ihrem Haus verbunden zu fühlen, doch sie fühlte sich ihm mit jedem Tag fremder.

An den großen Türflügeln des Anwesens warteten Bedienstete. Das fahle Licht der Laternen verlieh ihren Gesichtern etwas Drohendes. Cara war oft hier gewesen, doch an diesem Abend war ihr alles fremd. Sie fühlte sich mehr wie eine Gefangene als die Tochter der Anführer, als sie zwischen ihren Eltern durch die Gänge des Schlosses schritt. Denn es war ein Schloss, auch wenn die Siyar ihren Reichtum gerne herunterspielten. Doch die dicken Teppiche und kostbaren Gemälde an den Wänden widersprachen der geheuchelten Bescheidenheit. Magische Lichter hingen unter der Decke und überzogen alles mit einem kalten Schein, und Cara hörte bereits das Stimmgewirr aus der großen Halle.

Bitte, begann sie, nur um gleich wieder abzubrechen. Die Götter hatten ihre Gebete bis jetzt nicht erhört. Und wieso sollten sie auch? Die Belange der Menschen kümmerten sie meist wenig. Nein, sie musste selbst einen Ausweg finden. Wenn ich nur wüsste, wie.

Die Flügeltüren vor ihnen schwangen auf, und Cara setzte das Lächeln auf, dass sie schon als kleines Kind mit ihrem Kindermädchen vor dem Spiegel geübt hatte: hoheitsvoll und kühl.

Der Clan ihrer Gastgeber war bereits versammelt. Begrüßungen wurden ausgetauscht, die sie mit einem arroganten Nicken zur Kenntnis nahm, dem Beispiel ihrer Eltern folgend.

Auch dieser Saal strotze vor Prunk. Goldene Deckenverzierungen warfen das Licht der Kerzen zurück, Seidenteppiche dämpften die Schritte, und ein kunstvoll gearbeiteter Kamin erzählte von der Geschichte und den Errungenschaften der Siyar. Der Anblick des Reichtums ließ Caras Kehle eng werden. Die kostbaren Sitzmöbel, die bestickte Kleidung, der verschwenderisch angelegte Schmuck – das alles war der Grund, warum sie hier war.

Ihre Familie war mächtig, aber nicht reich. Nicht verglichen mit den Schätzen, die Eliors Clan angehäuft hatte, nicht einmal, wenn man ihn mit den einfacheren Anwesen weniger einflussreicher Häuser des Tals verglich. Im Gegenzug war das magische Talent der Siyar beschränkt. Die beiden benachbarten Schwarzmagier-Clans durch einen Gefährtenband zu dauerhaften Verbündeten zu machen, lag für die Anführer der jeweiligen Familien auf der Hand.

Neben dem Kamin erhoben sich ein Mann und eine Frau, formell begrüßten sich die Anführer der beiden Häuser. Cara verbeugte sich vor ihren zukünftigen Schwiegereltern. Ihr Blick fand den jungen Mann, der in einer Ecke des Raumes saß. Obwohl er scheinbar den Gesprächen der Runde lauschte, ruhte sein Blick auf ihr. Sie hatte seine Anwesenheit gespürt, sowie sie die Schwelle zu dem Raum überschritten hatte, wie man ein Staubkorn im Auge fühlte, das man nicht loswurde. Ihre Blicke trafen sich. Sie ließ das Lächeln von ihrem Gesicht gleiten.

Elior war der Sohn der Clanführer, vierundzwanzig, seit drei Jahren ein erwachter Magier und offenbar mehr als gewillt, in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten. Dass er außerdem ihr Verlobter war, hatte Cara seit drei Jahren befürchtet, doch erst vor einem Monat mit Gewissheit erfahren.

Sie grüßte in seine Richtung und er stand auf, und kam mit einem nichtssagenden Lächeln auf sie zu. Cara zwang sich, stehenzubleiben, wo sie war. Sie ließ den Blick über seine hochgewachsene Statur gleiten, die hellen Locken und grünen Augen, und versuchte verzweifelt, das an ihm zu entdecken, was die meisten ihrer Altersgenossinnen verzückt seufzen ließ, wann immer sie dem Schwarzmagier begegneten. Cara konnte sich eingestehen, dass Elior gutaussehend war, sehr sogar, doch sein Aussehen ließ sie merkwürdig kalt. Es lag eine Finsternis in seinen Augen, die sie instinktiv davor warnte, ihm zu vertrauen.

Vielleicht reagiere ich auch einfach über. Vielleicht war sie so in den Streit mit ihren Eltern verwickelt, dass sie ihm unrecht tat. Und wusste sie nicht am besten, dass kaum ein Magier sein wahres Wesen nach Außen zeigte?

Er nahm ihre Hand und küsste sie, und Cara ließ es mit einem steifen Lächeln geschehen. Bei allen Göttern, wie sehr sie hoffte, dass ihre Eltern recht behielten und sie sich nur gegen Elior als Gefährten gewehrt hatte, weil ihr Clan ihn für sie wollte. Ihr rebellischer Charakter war ein Makel, den kein Kindermädchen und kein Lehrmeister hatte ausmerzen können.

»Du siehst bezaubernd aus.« Er beugte sich vor. »Schöner als der Abendstern.« Er küsste ihre Wange.

Seine Lippen waren warm auf ihrer Haut. Dennoch musste sie sich beherrschen, um ihn nicht gewaltvoll von sich zu stoßen. Stattdessen versetzte sie ihm einen spielerisch wirkenden Schlag auf den Arm. »Eine Braut von geringerer Schönheit würde an deiner Seite auch verblassen.«

Er lachte. »Wie wahr.« Magie blitzte in seinen Augen auf, er musterte sie neugierig. Cara hielt seinem Blick gelassen stand. Er war stark, aber das war sie auch. Zumindest wenn ihre Magie sich dazu bequemte, ihr zu gehorchen. Aber wollte er eine unterwürfige Frau oder eine Partnerin auf Augenhöhe? Je nachdem konnte sie sich verstellen und so ihn dazu bringen, die Verlobung aufzulösen – doch sie wusste zu gut, dass Elior diesen Schritt nie gehen würde, gleich was er für sie empfinden mochte. Er unterstand genauso dem Befehl der Clanältesten wie sie. Elior konnte ihre Verlobung nicht beenden, selbst, wenn er es wollte.

»Bald ist es soweit«, sagte er, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Ihr Lächeln versteifte sich weiter, während sie in seiner Miene nach einem Hinweis suchte, dass die geplante Hochzeit ihn ebenso wenig begeisterte wie sie selbst.

»Ja.« Sie war erstaunt, wie ruhig sie klang. »Die Zeit scheint nur so zu verfliegen.«

»Nicht schnell genug«, sagte er galant, als er ihren Arm nahm. Und Cara fühlte nichts. Nichts von dem aufgeregten Kribbeln, als sie mit sechzehn den Lehrjungen geküsst hatte, nichts von dem Flattern in der Magengrube, als sie sich im letzten Sommer mit einem Jungmagier des West-Hauses getroffen hatte. Aber auch keinen Widerwillen oder gar Abscheu, wie zuvor bei seinem Kuss. Nur das nagende Gefühl, ihm nicht vertrauen zu können. Und das kann an mir liegen. An ihrem widerspenstigen Wesen, der Dorn in der Seite ihrer Eltern.

Im Saal wurde es ruhiger, und Cara warf einen Blick über Eliors Schulter. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Es war so weit. Die beiden Clanmitglieder, die das Verlobungsritual durchführen würden, waren eingetroffen.

Auch Elior hatte die Ankunft der Ritualsleiter bemerkt. Wieder lächelte er dieses aalglatte Lächeln, das sie nicht einordnen konnte. »Komm.« Er fasste sie bei der Hand. »Lassen wir sie nicht warten.«

Und ohne das Aufblitzen von Furcht in ihrem Blick zu bemerken, zog er sie mit sich.


KAPITEL 2


Zusammen traten sie in die Mitte des Raumes, in dem nun alles für das offizielle Verlobungsritual bereit war. Cara sah sich verstohlen um. Drei Magierinnen ihres Hauses hatten bei der Tür Aufstellung genommen. Es wirkte zufällig, doch sie erkannte die Drohung in den Mienen der Frauen: Sollte sie verwegen genug sein, tatsächlich davonlaufen zu wollen, würde sie nicht weit kommen.

Doch so dumm war sie nicht. Eine Verlobung ist noch keine Heirat. Nach ihren erfolglosen Versuchen, ihre Eltern umzustimmen, hatte Cara ihre Taktik geändert. Sollten ihre Eltern und die anderen ruhig glauben, dass sie, Cara, sich fügte. Sie würde einen Weg hinausfinden, aus dieser Ehe und dem nebligen Tal, und wenn es das Letzte war, was sie tat!

Die Ritualsführerin von Caras Clan trat vor, an ihrer Seite der Ritualmeister von Eliors Familie. Die Zeremonie begann, und Caras heimliche Hoffnung, dass sich irgendwer doch noch gegen ihre Verbindung mit Elior aussprach, zerfiel in ihr zu Staub. Was Liza wohl sagen würde, wenn sie hier wäre? Wäre sie enttäuscht über Caras Benehmen, oder erleichtert, dass sie sich nicht in Schwierigkeiten brachte?

Cara konzentrierte sich darauf, ihren nichtssagenden Gesichtsausdruck beizubehalten, während um sie herum Götter angerufen und die Familienlinie gepriesen wurde. Sie sprach die Worte mit, trank den Wein und fasste Hände von Priestern, ihren zukünftigen Schwiegereltern und die ihrer eigenen. Es war, als würde sie sich selbst dabei zusehen, wie sie die auswendig gelernten Formeln sprach, die Ritualszeichen schlug, sich zum richtigen Zeitpunkt zu Elior drehte und ihm die Hand reichte. Magie hob sich zwischen ihnen, doch sie war schwach. Die Verlobung war mehr Formsache, erst die Hochzeit würde ein tatsächliches magisches Band zwischen Elior und ihr knüpfen.

Endlich wurde die Schatulle mit den Clanringen gebracht. Mehr göttlicher Segen wurde eingefordert, und Cara spürte ängstlich der Energie im Raum nach. Aber die Götter schienen anderweitig beschäftigt zu sein, der Zauber kreiste gelangweilt um die geschnitzte Holzschachtel, ohne eine Spur göttlich verstärkter Macht. Ihre eigene Magie war da, und auch wenn sie das ungeduldige Surren der Welt draußen mit sich brachte, hatte ihre Präsenz etwas Tröstliches.

Endlich hatten die beiden Ritualsführer die letzten Symbole über ihre verschlungenen Hände gezeichnet. Die Magierin klappte die Schatulle auf und der Magier hob ehrfürchtig das Kissen mit den Ringen heraus. Mehr Symbole, mehr Formeln, dann steckte er erst Cara und danach Elior das Wappen des jeweils anderen Hauses an.

Caras Lippen bewegten sich weiter ohne ihr Zutun, als sie gehorsam die Antwortformeln sprach. Die Goldringe waren breit und schwer. An Caras Fingern stach der rote Stein störend inmitten der anderen Ringe an ihrer Hand hervor, ein feuriger Störenfried zwischen den blauen und grünen Juwelen in den filigranen Ringfassungen. Dann war es vorbei. Cara legte ihre Hand in Eliors, und ließ ihren Blick über die applaudierenden Clanmitglieder schweifen.

Ihre Eltern tauschten zufriedene Blicke aus, und als sie zu ihnen sah, nickte ihr Vater ihr kaum merklich zu. Ein hohes Lob.

Cara nahm die Glückwünsche der Magierinnen und Magier beider Clans mit hoheitsvoller Miene entgegen. An ihrer Seite scherzte Elior mit den Gratulanten. Der Strom der Clanmitglieder schien nicht abzureißen. Ihr zukünftiger Mann schien ganz in seinem Element zu sein. Caras Gedanken wanderten zurück zu den wolkenverhangenen Bergspitzen in der Ferne. Dahinter lag eine andere Welt, eine freiere. Städte, so groß, dass niemand sie finden würde. Ich muss nur über die Berge kommen. Der Gedanke beruhigte sie, wie immer. Und wie immer ignorierte sie, dass sie es nie bis zu dem Fuß des Gebirges schaffen würde, bevor ihr Haus sie wieder eingefangen hätte.

»Findest du nicht auch?«, fragte Elior zu ihr gewandt, und Cara, die ihm nicht zugehört hatte, nickte nur. Zusammen folgten sie den Familienanführern in den nächsten Raum, wo bereits eine reich gedeckte Tafel auf sie wartete. Es folgten mehr Reden zwischen den Gängen, irgendwann erhob sich auch Cara und sprach ihre Formeln, doch in Gedanken war sie auf den Bergpfaden, auf dem Weg in eine andere Zukunft.

Das Klirren von Gläsern neben ihrem Ohr riss sie aus ihren Tagträumen. An ihrer Seite warf Elior den Kopf in den Nacken und lachte laut. Sie warf einen verstohlen Blick auf ihren zukünftigen Ehemann, als die alte Hoffnung wieder in ihr auftauchte. Vielleicht spielt er nur seine Rolle, so wie ich auch. Vor dem Clangesetz hatte Elior genauso wenig zu sagen wie sie. Wollte er diese Heirat, oder beugte er sich nur dem Willen seiner Familie, wie sie es tat? Vielleicht ist er auf meiner Seite.

Nach Außen hin war Elior ganz der Erbe einer alten Familie, von den sorgsam gebändigten Locken zu den gelangweilt blickenden Augen und dem arroganten Zug um seinen Mund. Doch Cara wusste, wie sie selbst wirkte, mit ihrem glatten schwarzen Haar, das im Kerzenlicht blau wie Hexenflammen schimmerte, ihren eisig grauen Augen, die keine Emotion außer Verachtung verrieten. Sie war die Tochter des ältesten Dunkelmagierhauses, so kalt wie die Juwelen um ihren Hals, und sie wusste es besser, als sich in der Öffentlichkeit auf eine Art zu verhalten oder zu erscheinen, die Missfallen bei Ihresgleichen erregen würde. Und Elior … Vielleicht können wir beide über die Berge fliehen. Zu zweit sind wir ...

»Ich kann nicht glauben, dass die Ältesten dem zugestimmt haben! Sie mag der Alpha sein, aber als Magier steht er immer noch weit über ihr!«

»Eine Werwölfin?« Neben ihr zog Elior eine Augenbraue hoch. »Ist er sicher, dass er nicht den Küchenhund geheiratet hat?«

Cara stimmte gehorsam in das Lachen am Tisch ein, ein grausamer, glockenheller Laut, der ihren Ohren wehtat, als ihre vage Hoffnung zerstob. Er ist wie alle anderen. Wie sollte sie mit jemandem zusammenleben, der alle, die keine Magier waren, verachtete? Lizas einundzwanzigster Geburtstag und damit das Erwachen ihrer Magie stand kurz bevor. Sollte sich die Kraft nicht in der Dienerin zeigen, war Cara fest entschlossen, sie mit sich zu nehmen, doch wenn Elior … Sie presste die Lippen zusammen. In die Unterwelt mit ihm und den veralteten Vorstellungen der Magier! Sie war seine Gefährtin, nicht seine Dienerin, und sie würde Liza nicht in den Händen ihrer Familie zurücklassen!

»Ich glaube, du verschwendest deine Energie mit deiner Empörung«, sagte Elior amüsiert, der ihre grimmige Miene denkbar falsch gedeutet hatte. »Wenn er sich mit Tieren vermischen und das Blut seines Hauses schwächen will, so ist das seine Sache.«

Cara kochte innerlich, doch sie griff zu ihrem Glas und nahm einen Schluck, bevor sie mit süßlicher Stimme sagte: »Dir ist bewusst, dass auch die Blutlinie meines Clans nicht rein ist, wie ich hoffe.« Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Bildete sie es sich ein, oder war es stiller am Tisch geworden?

»Die Fehltritte der Aswar-Ahnen liegen zu weit zurück, als dass sie euch noch beflecken könnten«, sagte Elior, und sie hörte an seinem Ton, dass er es tatsächlich glaubte.

Sie dachte an ihre Magie, die sich so ganz anders verhielt, als die Lehrbücher beschrieben und die anderen Zauberweber ihr berichtet hatte. Sie öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, stand ihr Vater neben ihr. Seine Hand legte sich auf ihre Schulter, als er sich vorbeugte, um mit Elior anzustoßen. Sein Griff schmerzte, und als er das Glas gegen ihres schlug, war jede seiner Bewegungen eine stumme Warnung.

Also lächelte Cara.

Sie lächelte, bis ihre Wangen schmerzten. Die Unterhaltungen um sie herum verschmolzen zu einem sinnbefreiten Rauschen gleich dem Brechen von Wellen auf Klippen, als sie sich in ihre wilden Pläne zurückflüchtete.

Endlich wurden die Teller abgeräumt und der letzte Gang serviert. Cara erlaubte sich ein vorsichtiges Aufatmen. Bald hatten sie das Essen überstanden und in ein paar Stunden konnte sie das Anwesen wieder verlassen. Zumindest bis zum nächsten Morgen, wo sie für die Hochzeitsplanung zurückerwartet wurde. Hochzeit. Cara ließ ihren Blick über die versammelten Gäste schweifen, über die triumphierenden Mienen der Magierinnen und Magier, und die Erkenntnis, dass sie diesen Plänen nicht entkommen würde, traf sie mit plötzlicher Wucht. Ihre idiotischen Träume, über die Berge ihrer Familie und dem Tal zu entrinnen, waren nichts weiter als eine lächerliche Idee, die sich vor Jahren ein kleines Mädchen zusammengesponnen hatte. Es war Zeit, sich davon zu verabschieden. Sie war erwachsen. Sie würde heiraten. Sie würde den Nebel nie verlassen.

Cara schlang ihre Finger um den Stil ihres Weinglases, bevor jemand ihr Zittern bemerken konnte. Der schwere Goldring schlug mit einem dumpfen Laut gegen das Glas. Elior lachte über etwas, das ihre Mutter gesagt hatte. Seine Augen blitzten amüsiert, funkelten wie der rote Stein in ihren Ringen. Im Kerzenlicht erinnerte er Cara mit einem Mal an die Helden aus den alten Geschichten. So wie Elior hatte sie sich als kleines Mädchen einen Prinzen vorgestellt.

Er drehte sich zu ihr, und lächelte sie an. Automatisch erwiderte sie es. Sie sah keine Liebe in seinen Augen, aber die hatte sie auch nicht erwartet. In seinem Blick lag Bewunderung, Lust - und Respekt. Ihre Magie war mächtiger als seine, und sein Stolz, mit ihr verbunden zu werden, war offensichtlich.

Vielleicht wird die Ehe mit ihm nicht so schlimm werden. Der Neid der anderen wäre ihr gewiss, Elior galt als bester Fang unter den unverheirateten Magiern, die in ihrem Alter waren. Doch das flaue Gefühl in ihrem Magen ließ sich von dem Spiel seiner Muskeln unter dem Hemd nicht beeindrucken. Brautnerven, wie ihre Eltern ihren Protest beiseite gewischt hatten. Wenn es nur das wäre.

»Wirft seine Braut dann auch fünf Kinder auf einmal? Wie ist das bei der Hündin?«

Der Rest des Tisches unterhielt sich noch immer über die Verbindung des Magierclans mit dem Werwolfrudel. Sie ist ein Werwolf und kein Tier! Cara biss sich in die Wange. Mochten die anderen den Zorn in ihren Augen für Empörung halten. Die Luft in dem Saal war plötzlich zu dünn. Sie musste hinaus, frische Luft schnappen. Nur ein paar Augenblicke allein sein, damit sie ihr Gefühlschaos wieder unter Kontrolle bringen konnte.

»Narren!«

Ein einziges Wort, doch der Hass in ihm ließ Cara schaudern. Die Gespräche am Tisch verstummten schlagartig. Langsam wandte sie den Kopf zu dem Mann, der in der Tür stand. Er war alt, die gichtige Hand umklammerte einen Stock. Die Magierinnen und Magier erhoben sich respektvoll, und Cara tat es ihnen gleich.

»Vater«, begann Caras zukünftige Schwiegermutter, doch der Blick des greisen Magiers ließ sie verstummen. Er humpelte auf den leeren Lehnstuhl am Kopfende des Tisches zu. »Hört euch nur reden, ihr Blutverräter«, knurrte er, während er den Stock bei jedem der schwerfälligen Schritte mit einer Kraft gen Boden stieß, die seine zerbrechliche Erscheinung Lügen strafte. Der Lehnstuhl ächzte, als er sich in die Polster fallen ließ. »Lästert über die Hundehochzeit, und begrüßt gleichzeitig das Ding in unserer Mitte mit einer Feier.«

Es gab keinen Zweifel daran, wen er mit Ding meinte. Die Clanmagier wechselten unsichere Blicke. Caras Wangen brannten, sie konnte ihr Glück kaum fassen.

»Führen Sie gerne aus, was Sie sagen wollen.« Die Worte ihres Vaters wehten wie ein Eishauch durch den Raum.

»Nur die Rede eines verwirrten Alten«, ließ der Vater Eliors vernehmen. »Bitte, setzen wir uns doch.«

Die Tischgesellschaft ließ sich langsam wieder auf ihre Stühle nieder, doch das Schweigen hing weiterhin drohend über ihren Köpfen.

»Verwirrt, eh?« Der alte Magier lachte. »Wir wissen alle, dass die Gerüchte wahr sind«, setzte er an, als seine Tochter es abermals wagte, ihm ins Wort zu fallen.

»Ihre Geburtssterne sind mehr als eindeutig.« Caras Schwiegermutter schaffte es, gleichzeitig beleidigt und besänftigend zu klingen. »Sonst hätte ich die Verbindung niemals erlaubt, Vater, das weißt du doch.«

»Sterne.« Der Alte verzog verächtlich die Mundwinkel. »Du zwingst unseren Elior in eine Ehe mit ihr, weil sie ihre Mutter zum richtigen Zeitpunkt aufgeschlitzt haben. Wir alle wissen, dass die Sterne sonst ihr verdorbenes Blut verraten hätten.«

Ein Raunen ging durch den Raum. Dass Cara durch einen Leibschnitt in die Welt geholt worden war, um dem Familienfluch des vermischten Blutes zu entkommen, hatte der Clan für ein gut gehütetes Geheimnis gehalten. Bis jetzt.

Cara sah vorsichtig zu ihrer Mutter. Ihr Gesicht war weiß vor Zorn, doch noch beherrschte die Anführerin der Aswar sich. Mit eisiger, aber ruhiger Stimme erwiderte sie: »Und hat es sich nicht gelohnt? Unsere Cara ist eine der mächtigsten Magierinnen unseres Hauses. Und unser Clan ist mächtiger als die meisten, einiger Ausrutscher zum Trotz. Wozu haben wir das Wissen um die Sterne, wenn nicht, um die Welt nach unserem Willen zu beugen?«

»Ausrutscher, eh?« Der Alte schnaubte. Was ihre Mutter und der Großvater ihres Verlobten normalerweise als Ausrutscher bezeichneten, waren die Familienmitglieder ohne magische Fähigkeiten. Die Unglücklichen, deren Kräfte an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag nicht erwachten, die normale Menschen waren. Oder, in den Augen der Schwarzmagier: wertlos. Doch im Fall des Aswar-Hauses bedeutete ein Ausrutscher Schlimmeres, nämlich dass die Magie der Wesen, mit denen ihre Ahnen sich vermischt hatten, durchbrach: Mischungen aus zügelloser Djin-Magie, aus Wandlerzwängen und anderem, statt der klaren, starken Kraft der Clanmagie.

Hoffnung ließ Caras Herz flattern, während sie ihre Gesichtszüge ruhig hielt. Wenn der Alte weiter gegen sie hetzte, vielleicht würden es sich ihre Schwiegereltern anders überlegen und eine passendere Braut für ihren Sohn suchen! Oder die Schmach würde für ihre Familie zu groß sein, als dass sie der Verbindung noch zustimmen konnten, ohne vollständig das Gesicht zu verlieren.

Elior räusperte sich, und sein Großvater forderte ihn mit einem knappen Nicken zum Sprechen auf.

»Die Linie des Aswar-Clans spricht für sich«, sagte er. »Auch wenn es ein paar unglückliche Zwischenfälle gibt, niemand kann bestreiten, dass die Aswar die mächtigsten Magier im Tal hervorbringen.«

»Und wenn dein Nachwuchs nicht darunter ist?« Der Alte sah Elior an. »Was machst du dann? Das Ding mit einundzwanzig im Fluss ersäufen?«

»Rede keinen Unsinn«, erwiderte Elior steif. Caras Herz hämmerte in ihrer Brust. »Wir verkaufen sie, wie andere Häuser es auch tun.«

»Verkaufen, eh?« Der Magier wandte seinen Blick zu Cara. »Und dann? Hoffen, dass zumindest eines ihrer Brut den reinen Funken hat?«

»Wenn ihr«, die Stimme von Caras Mutter schnitt stählern dazwischen, »Bedenken wegen unserem Bund habt, so wäre es ein Einfaches gewesen, ihn abzulehnen, als wir die Frage an euch herangetragen haben.« Sie wandte sich an Eliors Eltern. »Nicht wir haben auf diesen Tag bestanden, sondern die Sterndeuter eures Clans. Ich erlaube nicht, dass mein Blut öffentlich beschämt wird.«

Ihr Blut, das war Cara. Nie ihre Tochter, immer nur die Erbin.

»Nicht doch«, beeilte sich Eliors Vater zu sagen, und warf einen strafenden Blick auf den alten Magier, der sich mit einem missbilligenden Schnauben abwandte. »Die Geburtssterne von Cara sprechen für sie.« Er sah zu ihr, und Cara lächelte steif.

»Auf Cara und Elior.« Der Schwiegervater stand auf, und hob sein Glas auf den Bund. Ein mehr als deutliches Zeichen, dass das Thema für ihn beendet war. Ein weiteres Mal an diesem Abend löste sich eine vorsichtige Hoffnung Caras in Rauch auf.

Sie erhob sich mit dem Rest. Sie leerte ihr Glas, ohne den Wein zu schmecken. Sie dachte an ihre Vorfahren, die sich vor vielen Jahrzehnten mit magischen Wesen vermischt hatten, bevor ihr Haus der Idee der Blutreinheit Treue geschworen hatte. Dieser Frevel, wie der Clan ihn nannte, zeigte sich immer noch durch die, in denen nicht die Nacht-Magie ihrer Familie, sondern anderes erwachte. Für den Clan ein Fluch. Für Cara stumme Zeugen einer Zeit, als es Liebe noch erlaubt war, diese Grenzen zu überschreiten.

Aber was halfen ihre Gedanken dazu inmitten der abgeschiedenen Bergen von Talac, umgeben von Schwarzmagierclans, die dem verfluchten Ideal der Blutreinheit anhingen? Natürlich war es untersagt, lange schon, doch die Häuser der Nebelmagier hielten ihr Lebenscredo nach außen hin vorsichtig bedeckt. So zogen sie nicht die Aufmerksamkeit des Obersten Rates des Clanreiches auf sich, dessen Urteil auch sie sich unterwerfen hätten müssen.

Doch niemand im Tal verriet die Familien, niemand schickte eine Botschaft zum Obersten Rat: Entweder, sie waren Vertreter des Blutgedankens oder aber sie waren zu feige. Wie ich auch. Cara seufzte laut, und stahlharte Blicke trafen sie.

»Cara?«, kam es von ihrem Vater, und die Gespräche wurden leiser.

»Verzeiht«, entschuldigt Cara sich. Sie machte eine unbestimmte Geste zu ihrer Schläfe, und hoffte damit zu symbolisieren, dass die erwachte Magie gemeinsam mit der Aufregung vor ihrer Hochzeit ihre Sinne aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Eine Ausrede, die sie in den letzten zwei Wochen überstrapaziert hatte, und von der sie hoffte, dass sie ihre Wirksamkeit noch nicht eingebüßt hatte.

Tatsächlich milderten sich die Blicke der Versammelten eine Winzigkeit und als Cara aufstand, und sich vom Tisch entschuldigte, wurde ihr erlaubt, zu gehen.

»Soll ich dich begleiten?«, fragte Elior, nur, dass es nicht wie eine Frage klang, sondern wie ein Befehl. Cara fasste sich an ihren Kopf. Sie tat, als hätte sie ihn nicht gehört, und verließ eilig den Saal. Kaum hatten die Bediensteten die Tür hinter ihr zugezogen, begann sie zu laufen.

Sie wusste, dass Elior ihr folgte, und sie musste allein sein. Wenigstens einen Moment. Die Wände schienen immer näher zu kommen, und auch wenn sie wusste, dass sich nichts verändert hatte, fiel ihr das Atmen schwerer.

Sie hörte die Tür des Saales und dann irgendwo hinter ihr Eliors Schritte, die immer lauter wurden. Cara zögerte. Es war die perfekte Gelegenheit, ihn allein zu sprechen und herauszufinden, wie viel von der Lehre ihrer Häuser er tatsächlich vertrat. Doch der Gedanke, an diesem Abend ein für alle Mal herauszufinden, dass er so schlimm war wie die anderen, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Ich bin ein Feigling.

»Cara?«

Er war schon ganz nah, bald würde er sie entdecken. Der Gedanke, mit ihm reden zu müssen, ließ plötzliche Panik in ihr aufflammen. Sie öffnete die nächste Tür zu ihrer Rechten und schlüpfte hindurch.

Cara sah sich um und unterdrückte einen Fluch. Der Raum, in den sie geraten war, war ein Teezimmer, mit einem einfachen Tisch, Stühlen, und einigen Musikinstrumenten, die an der Wand lehnten. Sie drehte sich verzweifelt im Kreis, doch sie sah nichts, wo sie sich verstecken konnte.

»Cara?«

Wieder dieser fordernde Ton, lauter. Es konnte sich nur noch um Momente handeln, bevor er die Tür zu dem Raum aufzog. Eine weitere Tür viel ins Schloss, und sie lief zum Fenster. Ohne sich zu erlauben, weiter darüber nachzudenken, zog sie das Fenster auf, und kletterte auf den verzierten Vorsprung. Sie war oft genug aus ihrem eigenen Zimmer durch das Fenster entkommen, wenn sie dort eingesperrt worden war, nicht immer, um sie zu bestrafen, sondern einfach, weil ihr Clan und ihre Eltern fanden, dass Abgeschiedenheit und Hunger den Charakter stärkten. Ihre Finger fanden denn oberen Fenstersims, und sie schloss das Fenster so gut sie konnte, während sie gleichzeitig dem Siyar-Clan und seiner Vorliebe für breite Fenstersimse dankte.

»Cara?« Schritte im Teezimmer. Sie presste sich neben dem Fenster an die Mauer. Elior klang mittlerweile mehr gereizt als besorgt. Sie hörte ihn zum Fenster kommen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Wie sollte sie erklären, dass sie aus dem Teezimmer ihrer zukünftigen Schwiegerfamilie geklettert war, um ihrem Verlobten zu entkommen? Auf der anderen Seite löst er dann vielleicht wirklich unsere Verlobung auf.

Sie konnte Elior am Fenster hören. Einen Wimpernschlag später hörte sie ihn ein verächtliches »Dienstboten» murmeln, und dann schloss sich der Riegel vor dem Fenster mit einem Klacken. Einen Moment später fiel die Tür zum Teezimmer wieder ins Schloss.

Cara starrte in die Nacht und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Elior hatte sie nicht gefunden, dafür hatte er sie ausgesperrt. Sie riskierte einen Blick in die Tiefe und schluckte. Der Boden war eindeutig zu weit unten. Langsam hob sie den Kopf, und sah zur Seite. Dafür war der Rauchfangschacht zum Greifen nahe, und mit tiefen Kerben versehen, die wie eine Leiter nach oben führten.

Kurzentschlossen balancierte Cara ans Ende der Fensterbank, und schwang sich auf das Mauerwerk. Sie begann, nach oben zu klettern. Die meisten Anwesen waren gleich gebaut, und sie war sich sicher, auch auf dem Dach dieses Schlosses einen Einstieg zum Trakt der Dienstboten zu finden. Denn die Diener schliefen unter dem Dach, wo es im Winter eisig und im Sommer brennend heiß war. Cara hoffte, sie entweder bestechen zu können oder wenigstens darauf zu vertrauen, dass sie es den Ärger nicht wert empfanden, die Verlobte ihres jungen Meisters so kurz vor ihrer Hochzeit bei den Clanführern anzuschwärzen. Außerdem würde Cara bald ihre Herrin sein, und sich an den Verrätern rächen können. Nicht, dass sie es vorhatte, doch die Bediensteten würden damit rechnen.

Mit einem erleichterten Keuchen zog sie sich das letzte Stück auf das Dach hoch. Ihr Kleid war feucht und schmutzig, und ihre Hände schwarz. Sie hoffte, dass die Dienstboten eine Waschkammer hatten, wo sie ihr Aussehen zumindest so weit wiederherstellen konnte, dass sie ihre Sippe nicht vollends blamierte. Wenn dir das wichtig wäre, wärst du erst gar nicht davongelaufen, belehrte sie sich streng. Aber von Davonlaufen konnte keine Rede sein, sie brauchte nur ... Luft. Nur einen Moment für sich allein, wo sie durchatmen und ihre Gedanken ordnen konnte.

Sie sah sich um. Steinstatuen in den unterschiedlichsten Formen kauerten auf dem Dach, weit aufgerissenen Mäuler zeigten spitze Zähne und schlangenartige Zungen, Krallen streckten sich ihr bedrohlich entgegen. Gargoyles.

Nur, dass es keine echten waren, nicht die furchterregenden Wesen aus Stein, deren Heere mit ihren Schwingen im Auftrag der Magier einst den Himmel verdunkelt hatten. Nein, es waren menschgeschaffene Nachahmungen der Wächter, die die Magier, ihre Herren, verraten hatten.

Trotzdem schauderte Cara. Sie schlang die Arme um sich, als sie mit gesenktem Kopf zwischen den Figuren hindurchschritt. Sie wusste, dass es nichts anderes waren als Statuen, doch im Mondlicht wirkten sie eigenartig lebendig.

Dort. Cara hatte die Dachluke erspäht. Erleichtert machte sie einen Schritt darauf zu, als in die Dunkelheit auf dem Dach Bewegung kam.

Sie schaffte es nicht mehr zu schreien. Arme packten sie, eine krallenbewehrte Hand presste sich gegen ihren Mund, und eine tiefe Stimme raunte knurrend in ihr Ohr: »Was haben wir denn da?«

KAPITEL 3


Cara wollte schreien, doch Finger presste ihren Hals zu, und es drang nur ein Röcheln zwischen ihren Lippen hervor.

»Nicht«, warnte es, als sie verzweifelt versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. »Du bist die Braut von Elior«, sagte die Stimme an ihrem Ohr weiter, ein Grollen, das aus einem Steinbruch zu kommen schien.

Magie, sie hatte Magie! Doch ihre Kraft war nirgendwo zu spüren. Siebenmal verwunschene …! Cara versuchte, ihr Gesicht so zu drehen, dass sie zumindest nach ihrem Angreifer beißen konnte.

»Wenn du dir unbedingt die Zähne ausbrechen willst, dann tu dir keinen Zwang an«, kam es amüsiert. Sie trat nach hinten, erfolglos. »Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten«, fuhr die Stimme fort, ihre Befreiungsversuche völlig ignorierend. »Entweder du verhältst dich brav, dann lasse ich dich los, und wir können in Ruhe deine Möglichkeiten besprechen. Oder aber«, der Griff wurde schmerzhaft und ihre Knochen knirschten in dem plötzlich brutaler werdenden Halt, »ich breche jeden einzelnen Kochen in deinem Körper und werfe dich vom Dach. Also? Wahl eins oder Wahl zwei?«

Der Druck um ihren Hals ließ lange genug nach, dass Cara ein »Eins« krächzen konnte.

»Schön zu sehen, dass Elior dich nicht nur wegen deines hübschen Gesichts will.« Sie wurde losgelassen.

Cara hustete, und stolperte nach vorne. »Er will mich nur wegen meines Blutes«, sagte sie, als sie sich herumdrehte - und erstarrte.

Das Wesen vor ihr grinste sie amüsiert an, und sie konnte ein erschrockenes Keuchen nicht unterdrücken. Der Gargoyle war riesig. Zwei Köpfe größer als sie, und mit massiven Muskeln aus Stein, zeigte er die spitzen Zähne mit sichtlicher Genugtuung.

»Das ist unmöglich«, brach es aus Cara heraus. Es gab keine Gargoyles im Nebeltal, schon lange nicht mehr. Außer … Aber das war absurd! Ja, natürlich hatte auch sie Geschichten gehört, dass manche Schwarzmagier Wesen gefangen hielten, doch darauf standen schwere Strafen und selbst Eliors Familie wäre nicht so vermessen ... Absurd!

»Unmöglich«, wiederholte sie, fast verzweifelt.

»Ich versichere dir, ich bin echt.« Er nahm ihre Hand, und ließ seine steinerne Kralle nachlässig über ihre Handfläche gleiten. Er ließ zu, dass sie ihren Arm zurückriss und schützend an ihre Brust presste.

»Ich sehe, du bist vernünftig genug, nicht zu versuchen zu fliehen«, sagte das Monster zufrieden.

Cara schüttelte den Kopf. Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass ihr der Gedanke bisher nicht einmal gekommen war. Zu gelähmt war sie von seinem Anblick. Seine Haut sah aus, als wäre sie aus Stein, doch trotz der Reißzähne hinter seinen Lippen, den spitzen Ohren und der kantigen Gesichtszüge, erahnte sie menschliche Züge hinter der Fratze.

Gargoyles. »Ich muss mich setzen«, murmelte sie, und tat es auch. Der Blick des Steinwesens folgte ihr überrascht, als sie sich im Schneidersitz auf das Dach sinken ließ. Ihre Hand stieß gegen ein Stück ausgebrochenen Stein, und ihre Finger schlossen sich wie von selbst darum, während all das, was sie über Gargoyles wusste, durch ihre Gedanken wirbelte.

»Das Stück Dach wird dir kaum gegen mich helfen«, kam es von oben.

Cara legte den Kopf in den Nacken, und sah zu ihm auf, als ob ein einfacher Sichtwechsel die Tatsache ändern würde, dass eines der gefährlichsten magischen Wesen vor ihr stand. »Ein Gargoyle«, hörte sie sich selbst sagen. Wie, bei allen Göttern, war es den Siwar gelungen, die Wesen zu binden? »Sie haben wirklich den Verstand verloren.«

»Auch wenn ich deine Bewunderung zu schätzen weiß«, kam es von dem Wesen. »Wir waren gerade mitten in Verhandlungen.«

»Waren wir das?« Sie spürte das bittere Lächeln, das sich auf ihre Lippen drängte. »Soweit ich mich erinnern kann, hast du mich gepackt und wirst jetzt Forderungen an mich stellen. Wie es alle tun.«

Sie wusste, dass ihre Worte vor Selbstmitleid nur so trieften, doch es war ihr egal. In wenigen Tagen würde sie die Frau eines Erben sein, dessen Haus gegen eines der obersten Gesetze verstieß: Die Versklavung anderer magischer Wesen.

Ein Gefühl von Gleichgültigkeit überkam sie. Sie würde es vorziehen, nicht von dem Monster vor ihr zerschmettert zu werden, doch sie sah auch nicht ein, sich vor ihm zu fürchten. Sie hatte die letzten Jahre in Furcht verbracht und nun – nun hatte sie genug. Der lebendig gewordene Steinbrocken vor ihr hatte die Grenze von dem gesprengt, was sie ertragen konnte. Mochten die Götter missbilligend auf sie herabblicken, Cara war ohnehin nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen.

Sie warf einen finsteren Blick in den Nachthimmel, der beschlossen hatte, sich zum Zeitpunkt ihrer Geburt in eine besonders vielversprechende Stellung zu bringen, und damit ihr Schicksal als Hoffnungsträger des Clans zu besiegeln. »Also?« Sie fixierte das Wesen vor ihr mit einem arroganten Blick. »Über was willst du verhandeln? Oder willst du mich erpressen? Mich entführen?« Sie ertappte sich bei einem hoffnungsvollen Blick.

Eine Welle ging über seine Züge, als hätte jemand einen Stein in Wasser geworfen, und Cara sah erstaunt, wie sich die Fratze vor ihr zu etwas anderem glättete. Menschliche Züge sahen Cara entgegen. Die Zähne waren immer noch schärfer, und die Gesichtszüge härter und auf eigenartige Weise solider als die eines Menschen, doch das Gesicht des Gargoyles war nicht mehr das eines Monsters.

Er sah ihre Überraschung und seine dunklen Augen blitzten amüsiert auf. »Wir haben mehr als eine Seite«, sagte er leichthin, »mehr als ein Gesicht.« Und im Gegensatz zu den Mitgliedern der Nebelclans meinte der Gargoyle das wortwörtlich.

»Wie Werwölfe«, sagte Cara, die an die unterschiedliche Erscheinung der Wölfe denken musste, an ihre menschliche und ihre Werform. Einen Herzschlag lang fürchtete sie ihn mit diesem Vergleich beleidigt zu haben, doch den Gargoyle schienen ihre Worte ohnehin nicht zu kümmern. Wieder tastete sie in ihrem Inneren nach ihrer Magie, und wieder griff sie ins Leere.

Ihr Blick gilt zu den anderen Schattenfiguren auf dem Dach. Im Gegensatz zu dem Wesen vor ihr, blieben diese Gargoyles erstarrt. »Warum bewegen sie sich nicht?«, fragte Cara. »Oder bist nur du echt? Ich dachte, ihr lebt auch in Familienverbänden? Wie wir?«

Der Gargoyle hatte wieder in seine Rolle als bedrohlicher Entführer gefunden, und bleckte die Zähne zu einem geringschätzigen Lächeln. »Das hat dich nicht zu kümmern.«

»In Ordnung.« Cara zuckte mit den Schultern. »Also? Was willst du von mir? Außer natürlich, mir alle Knochen zu brechen und mich vom Dach zu werfen.« Sie fing seinen verwirrten Blick auf, und seufzte. »Ich habe nicht ewig Zeit«, sagte sie. »Ich muss auch noch irgendeinen Weg finden, wieder unbemerkt ins Haus zu kommen und das hier«, sie gestikulierte auf den Wahnsinn, den sie mit ihrem Kleid angestellt hatte, »soweit in Ordnung bringen, dass sie mich nicht erschlagen.«

Der Gargoyle starrte sie an. »Du bist Cara«, sagte er langsam, »die Braut von Elior.« Es klang, als würde er daran zweifeln. Vielleicht ließ er sie gehen, wenn sie log? Vielleicht auch nicht.

»Höchst persönlich«, sagte sie. »Keine Sorge, du hast schon die Richtige erwischt. Für was auch immer.« Es kam keine Antwort, und Cara legte den Kopf schief und musterte das Wesen vor ihr. »Du hast keine Ahnung, was du mit mir tun sollst, nicht?«, fragte sie dann. Sie wunderte sich über ihre eigene Überraschung. Dass sie an diesem Abend aufs Dach stieg, war nicht geplant gewesen. Der Gargoyle vor ihr hatte keinen lange gehegten Plan gehabt, sondern einfach die Gelegenheit – sie – mit beiden Händen gepackt.

»Mir fällt schon was ein«, knurrte er, und Cara sah, dass er das Eingeständnis sofort bereute. Sie nickte und stützte ihr Kinn in die Hände, während sie wartete.

»Du verhältst dich nicht gerade wie eine Geisel«, sagte der Gargoyle schließlich. Cara konnte ihm nur recht geben. Sie wunderte sich über ihre eigene Ruhe. Vielleicht ist das hier ein nervöser Zusammenbruch. Ihre Tante hatte einen gehabt, nachdem sich offenbart hatte, dass ihre Tochter ohne Magie auf die Welt gekommen war. »Und auch nicht wie eine Schwarzmagierin«, fügte das Wesen dann hinzu.

»Du bist nicht der erste, der das sagt«, seufzte Cara. Ihre Finger spielten mit dem Stück Dach, das sie immer noch hielt. »Ich muss langsam ins Haus zurück«, sagte sie dann, und der Gargoyle schien sich wieder daran zu erinnern, dass er ein Geiselnehmer war.

»Du wirst uns helfen«, sagte er bestimmt.

Cara lächelte humorlos. »Ich kann mir nicht mal selber helfen«, sagte sie. »Aber gehe ich recht in der Annahme, dass ihr nicht freiwillig hier seid?«

»Kein Gargoyle hat je freiwillig einem Menschen gedient«, knurrte er. Es klang wie Felsengrollen und der Laut ließ etwas in Cara aufwimmern. Doch sie schüttelte den Schrecken entschlossen ab. Sie sah sich erneut auf dem Dach um. Wie elend, wie trostlos musste es sein, an diesen Ort gefesselt zu sein, wenn man Flügel hatte, die einen überall auf der Welt hintragen konnten? So trostlos, wie an dieses Tal gebunden zu sein.

Die Idee überfiel sie aus heiterem Himmel. Gut, aus nebelverhangenem Himmel. Aber woher auch immer der Einfall kam, er ließ Caras Herz hüpfen. Seine Flügel ermöglichten ihm, das Tal zu verlassen, und seine breiten Schultern und kräftigen Arme würden sie mühelos über die Berge tragen können.

»Ich helfe euch«, sagte sie rasch, »und ihr helft mir. Abgemacht?« Sie streckte ihm die Hand hin.

Seine Augen verengten sich misstrauisch. »Warum solltest du uns helfen?«

Cara starrte ihn an. »Ernsthaft? Du hast mich gefangengenommen, damit ich euch helfe, und jetzt, wo ich versuche euch zu helfen, traust du mir auf einmal nicht?«

Der Gargoyle schnaubte etwas, das wie ein Lachen klang. »Leute, denen man vertraut, nimmt man für gewöhnlich nicht gefangen.«

Das ... war richtig. Strenggenommen hielt er sie immer noch gefangen: Sie war noch ungeübt in ihrer Magie - vor allem gegen Gargoyles -, und er war schneller und stärker als sie. Natürlich würde er denken, dass sie ihm erzählte, was er hören wollte, weil sie Angst vor ihm hatte. Nur, dass damit sein ganzer Plan ohnehin hinfällig war. Und, dass sie keine Angst vor ihm hatte. Wieso hatte sie keine Angst vor ihm?

Cara ließ die Hand sinken, und stand auf. »Wie hast du dir das Ganze vorgestellt?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752133592
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Fantasyabenteuer Abenteuer Gargoyle Romantasy

Autor

  • Rebecca May (Autor:in)

Rebecca May lebt, arbeitet und schreibt im schönen Wien. Ihre romantischen Fantasyromane ordnet sie der „Sweet Romance“ Nische zu oder wie die Autorin es gerne nennt: Zuckerwatte in Buchform. In der Magical Kisses Reihe vereint Rebecca May ihre Liebe zur Fantasy mit der zu historischen Liebesromanen: Ihre Heldinnen und Helden durchtanzen die Nacht auf Maskenbällen – wenn sie nicht gerade vor Waldtrollen oder Angriffszaubern in Deckung gehen müssen, heißt das.
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Titel: Gargoyleküsse